Orangenblüten von Nekoryu ================================================================================ Kapitel 1: Aromatherapie ------------------------ Ihr kleines Reich war fünf, vielleicht sechs Quadratmeter groß und genaustens durch Wände aus Pappe, vielleicht auch Sperrholz, eingezäunt. Der Tisch in diesen engen Reich war angefüllt mit Akten, drei oder vier beschrifteten USB sticks, einem Stapel gebrannter DVDs, noch mehr Akten, einem Rechner mit flachen Bildschirm der Marke Samsun und Schreibzeug. Die Firma verbot zwar jede Art von persönlichen Gegenständen auf dem Arbeitsplatz, aber sie hatte hinter den aufgeklebten Blättern mit Daten und ihrem Wochenplan ein Foto mit ihren Freunden, ihrer Familie und ihrem Verlobten angebracht. Es schimmerte durch und jemand, der nur flüchtig vorbeisah und ihre Arbeit kontrollierte, würde das nicht auffallen. Dabei kamen sie oft und kontrollierten sie. In den ersten Wochen hatte es sie verdrängt, aber nun störte es sie nicht mehr. Sie war nun einmal „die Neue“. Nicht nur neu in der Firma, sondern auch neu in ihrem Beruf: Die Uni lag ein Halbes Jahr hinter ihr und nur, weil sie sich in der deutschen Zweigstelle den Arsch aufgerissen hatte, saß sie nun im Hauptsitz an einen mit Pappe eingezäunten Schreibtisch in einem Großraumbüro mit vielleicht hundert anderen Mitarbeitern. Sie schielte über die Brille hinweg zur Uhr: eigentlich müsste sie 15 Minuten früher Schluss machen, da sie 15 Minuten früher zur Arbeit erschienen war. Aber das war nicht das über korrekte Deutschland, in dem jeder nur so lange am Arbeitsplatz blieb, wie er unbedingt musste. Bei den Asiaten arbeitete man gern etwas länger und mehr. Nur: Sie war keine Asiatin... Sie räumte ihren Arbeitsplatz auf und warf sich ihre Jacke um. Es war Zeit, dass ihre Welt die sechs Quadratmeter Marke sprengte. Sie brauchte Abwechslung und machte Feierabend. Etwas ziellos lief sie herum, durch Seitenstraßen und Gassen. Innerlich fühlte sie sich etwas verloren. Wie denn auch nicht? So weit weg von allem, was sie kannte, alles, was sie liebte. Sie war allein hier, auf sich gestellt. Und dass ihre Kollegen nicht gerade auf ihrer Wellenlänge lagen, machte es nicht leichter, sich einzugliedern. Alles war fremd, alles war anders. Auch die Sprache, die sie weder verstehen, noch sprechen noch schreiben konnte. Auf festgeschriebenen Pfaden zu bleiben war jedoch nicht ihre Art. Sie scheute zwar Risiken, weil diese ihr meist nur Ärger einbrachten, blieb doch irgendwie immer ein Abenteurer. Deswegen hatte es sie Millionen Kilometer von zu Hause nach hier verschlagen. Sie blieb vor einem Laden stehen und ging hinein. Es roch gut, so gut, dass sie sich fühlte, als könnte sie alles, was sie bedrückte loslassen. Doch sie klammerte sich daran, als würde ihr Leben davon abhängen. Man bot ihr kleine Fläschchen und soweit sie es verstand, sollte sie sich 4 davon aussuchen, die sie widerspiegelten. Sie entschied sich für Orange, Sandelholz, Vanille und etwas, was sie an etwas erinnerte, was sie in der Kindheit begleitet hatte. Sie konnte nicht verstehen, was es war, denn auch, wenn die Angestellte sich bemühte, Englisch zu reden, konnte sie diese kaum verstehen. Dennoch versuchte sie, ihre Bemühungen nicht ins Leere laufen zu lassen und sie zu frustrieren, denn es kam SELTEN vor, dass jemand Englisch mit ihr sprach. Sie ließ sich etwas von der Mischung auf den Nacken tupfen und sie zahlte. Weit kam sie nicht, denn sie ihr Blick streifte beim Verlassen ein kleines Café und ihr Magen meldete sein Recht an. „Alina, du wirst fett, wenn du noch mehr Kuchen isst!“ seufzte sie in sich hinein und ging durch die Tür. Schon am Eingang lief ihr das Wasser im Mund zusammen: Bei den ganzen Cremetorten ging ihr das Herz auf. Sie entschied sich für einen Orangenkuchen mit wenig Creme, erfahrungsgemäß waren sie hier mit dem Zucker wesentlich großzügiger, als sie das in Europa kannte. Sie setzte sich in eine Ecke des Ladens, in dem sie ihre Ruhe hatte und schnupperte gedankenvoll an dem Parfum und tupfte noch etwas auf ihr Handgelenk. Zu Hause, in Deutschland, hatte sie überall Duftkerzen aufgestellt und aus alten Orangenschalen sich ein eigenes Öl hergestellt. Wäre Obst aus Europa nicht so überteuert würde sie zumindest das in ihre Winzigwohnung einführen. Aber so war das Leben. Sie war schließlich hier, um in Deutschland dicke Hose zu machen. Als erstes würde sie ihre alte Küche rauswerfen, für die sie sich unendlich schämte. Sie zuckte zusammen, als irgendwas zu Boden fiel und an ihr Bein rollte. Da hatte jemand orangen fallen gelassen und sammelte sie nun leise fluchend zusammen, während ein paar der Leute tuschelten. Sie legte das Fläschchen in ihre Tasche zurück und duckte sich, um das, was unter ihren Tisch gerollt war, einzusammeln. „Verflixt.“ murmelte sie, als ihr eine der Orangen noch ein Stück weiter unter die Bank gerollt war. Sie rutschte ganze unter den Tisch- so, wie die Früchte aussahen, mussten sie pro Stück doch etwa ein, zwei Euro gekostet haben. Andererseits verstand sie nicht viel davon, den aktuellen Kurs hatte sie nicht im Kopf. Sie griff nach der unter ihrer Bank, als sie beim Umdrehen ihn das Gesicht des Eigentümers sah. „Kagamimochi.“ sagte er lächelnd und erfreut. Er sagte noch etwas auf Japanisch, was sie jedoch nicht verstand und so entfuhr ihr ein verständnisloses „Hä?“ Sie blinzelte irritiert, als er noch eins drauflegte und sie etwas fragte, sehr eindringlich fragte und sie keine Antwort darauf wusste. Erfahrungsgemäß hatte es keinen Sinn, Englisch zu reden, weil zumindest die Menschen, die nicht in die Dienstleistungsbranche fielen. Irgendwo in ihrem Hirn war doch der Satz für „Ich spreche kein Japanisch“ vorhanden! Ah, ja: „Uuhm, eeh, watashi wa uuhm, hotondo-“ Weiter kam sie nicht, denn urplötzlich legten sich zwei Lippen auf ihre und fühlte, wie sie erst behutsam, aber verdammt keck geküsst wurde. In einem Café. Unter einem Tisch. Von einem Wildfremden. Noch bevor sie dazu kam, sich der Situation vollkommen klar zu werden, löste sich der Typ von ihr, grinste sie kess an und krabbelte wieder unter dem Tisch vor, ihr noch so etwas wie ein „Bis bald“ auf Japansich nachrufend. Bis bald? Spinnt der? Sie rieb sich unwillkürlich über die Lippen und stellte ihre Tasche- als wäre sie der Grund, weswegen sie unter einem Tisch gehockt hatte- wieder auf die Sitzecke zurück. Die Orange hatte sie immer noch in der Hand. Verdammt! Was bildete sich dieser Typ überhaupt ein?! Und dann hieß es, die Japaner würden selbst beim Händchenhalten rot anlaufen. Und überhaupt, wieso hatte sie die Orange noch?! War sie gerade dreist angegraben wurden?! War das etwa eine Vertuschungsaktion für sein eigentlich Vorhaben? Ach, das konnte nicht sein, immerhin: woher wollte er wissen, dass sie die Orange auch wirklich unter dem Tisch vorholen würde? Davon abgesehen: küssen konnte der Typ. „Du lieber Himmel!“ schoss es Alina durch den Kopf, „Du bist verlobt! Wie kannst du sowas denken?“ Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder, als ihr das wieder bewusst wurde: sie war verlobt, glücklich verlobt und ein fremder Typ hatte sie gerade unter dem Tisch geküsst in einen gut besuchten Café! Schuldgefühle kamen in ihr auf. Sie musste ihm davon erzählen- halt, besser nicht! Das Handy fiel wieder in die Tasche zurück: Er wäre nur verletzt und sie hätte nur einen unnützen Streit, der sich über die Entfernung überhaupt nicht lösen lassen würde. Und es war nur ein Kuss. Den sie noch nichtmal provoziert, geschweige denn gewollt hatte. Weiß der Geier, was in den Typen gefahren war. Sehr unwahrscheinlich, dass sie den wiedersah. Kein Grund, deswegen ein Drama zu riskieren. Es war ja nicht so, dass sie sich da unten die Klamotten vom Leib gefetzt hatten. Trotzdem schlug ihr Herz schneller, als sie die Orange in die Tasche packte.... Kapitel 2: Orangenkuchen ------------------------ Eigentlich wollte er nur Orangen kaufen. Das tat er Freitags immer. Freitag war Orangentag. Er liebte den Geruch von geschälten Orangen und er liebte es, Samstag morgen Orangen in die Presse zu stecken und den Saft zu trinken, während er Zeitung las. Das inspirierte ihn. Sein Gemälde waren Gerüche, doch er war noch nie dazu gekommen, ein Parfüm zu komponieren, dass ganz aus Orangen bestand. Die Leute mochten es nicht, nach Orangen zu riechen- zumindest nicht, wenn es nicht Seife, Shampoo oder andere Körperpflegeprodukte waren. Zudem hielt der Duft nie wirklich so an, wie er sollte. Oftmals blieb ein Geruch zurück, der eher an überlagerten Orangen erinnerte und nicht an den Duft eines Orangenhains. Natürlich könnte er auch Aromaöle benutzen- aber die waren zu stark und wirklich nur zur Aromatherapie gedacht. Und wenn er sie verdünnte, rochen sie nicht mehr so wie er fand. Kurzfristig beschloss er, sich einen Kaffee zu genehmigen und betrat das Café. Er bestellte sich einen Obstkuchen mit Mandarinen und ging zu einem Tisch. Er gab sich Mühe, nicht die Nase zu rümpfen: dieser Eintopf aus Parfüms, alle aus seinem Laden, machte ihn noch ganz kirre. Manchmal fragte er sich, ob die Leute nicht mehr alles Tassen im Schrank hatten, soviel davon zu benutzen. Auf der anderen Hand konnte es ihm ganz recht sein: je mehr sie verschwendeten, desto früher kamen sie wieder und kauften mehr. Wenn sie beim kaufen nur an ihren eigenen Geruch dachten! Aber diesen wollten sie überdecken, so, wie viele ihre Persönlichkeit mit einem falschen Lächeln überdeckten. Oder ihr Gesicht mit einer Maske. Er verstand die Menschen nicht: er liebte seine Arbeit und wollte, dass die Menschen damit das Beste in sich unterstrichen. Statt dessen verdeckten sie sich selbst... Er setzte sich und sah gefrustet drein, bis er den Kaffee bekam. Plötzlich blinzelte er: Er roch Orangen. Das war, angesichts der Tatsache, dass er neben sich eine ganze Tüte davon hatte, nichts ungewöhnliches. Aber es roch wie Orangen, die frisch geschält waren. Und noch nach etwas anderem. Er schloss die Augen und schnupperte unauffällig. Orangen. Er bekam bei dieser Suppe den Rest nicht heraus. Wenn er die Quelle ausmachen konnte, vielleicht rausfinden, was es war. Er stützte seinen Kopf auf seine Hand und schnupperte um sich. So wurde das nichts- er war ja kein Hund! Wieder öffnete er seine Augen und sah sich um. Es konnten nur drei Personen um ihn herum sein. Außer ihm. Der Mann vor ihm sicher nicht- es gab nur wenige seines Geschlechts, die derart nach dem Geruch von Orangen gierten wie er. Die Schülerin neben schräg gegenüber sah eher nach dem blumig-süßen Typ aus. Er schielte nach links- und sah ein Fläschchen mit einem Etikett das er kannte: Eine selbst zusammengestellte Mischung. Die Frau, die sie gedankenverloren beschnupperte, hatte rote Haare, zu einem Zopf hochgesteckt. Er erkannte blonde Strähnen in dem Rot, aber sie flossen in das Rot wie die Milch in seinem Kaffee. Er konnte ihre Augen nicht erkennen, sie hielt sie gesenkt. Sie wirkte rundlich, ebenso wie ihr Gesicht. Er beobachtete sie, wie sie ein wenig des Fläschchens auf ihr Handgelenk tupfte, so wenig, als wäre es das Kostbarste überhaupt. Sie schnupperte daran, packte das Fläschchen weg und versank in Gedanken. Sie wirkte Einsam, allein und traurig und er fragte sich, woran sie gerade denken mochte. Auf der einen Hand war es sehr dreist, sie anzustarren, aber andererseits: wenn jemand Orangen, den Geruch von Orangen so sehr mochte, dass er diesen Duft als Parfum nehmen mochte, dann konnte er kein schlechter Mensch sein. Dann mochte er sie kennenlernen. Er trank seinen Kaffee aus und atmete tief durch. Wie sollte er sie ansprechen? Ob sie Japanisch sprach? Sein Englisch war furchtbar, obwohl er sich abmühte; er konnte Englisch besser schreiben als sprechen. Und wenn sie Japanisch konnte, was sollte er sagen? „Entschuldigen Sie, mir ist ihr Parfum aufgefallen, wo haben Sie das her?“ Blöder Anfang für ein Gespräch! Und dann, was sollte er sagen, wenn sie ihn ansah wie ein Auto? Konversation mit Frauen war nicht seine Stärke- zumindest solange er eine kennenlernen wollte. Vorausgesetzt, sie sprach seine Sprache... Er zögerte noch. Wenn er einfach hinging und fragte, ob der Platz frei war? Es war ja nicht falsch, noch einen Kaffee zu trinken, an ihrem Tisch? Diese Frage würde er sogar zweisprachig hinbekommen! Ach, einfach aufstehen und fragen. Er nahm seine Tüte Orangen, stand auf- leider recht abrupt und er zerriss sich mit der Tischkante die Tüte, in der sich die Orangen befanden. Befanden! Denn diese purzelten nach unten, rollten über den Boden und er hatte Mühe, keine davon aus den Augen zu verlieren! Er fluchte leise während er sich bückte, um die kugeligen Früchte einzusammeln, während alle anderen um ihn herum anstarrten. Ach, die konnten ihn doch mal den Buckel runterrutschen! Sie benutzten sein Parfum, verdammt! Und dann auch noch wie Badewasser! Er entdeckte eine Orange unter einem Tisch und krabbelte in die Richtung. Als er danach griff, bemerkte er, wie das Mädchen, das nach den Früchten roch, die er gerade im Raum verteilt hatte, unter den Tisch kroch und eine Orange unter ihrem Sitz hervorholte. DIE Gelegenheit, an ihr zu schnuppern und herauszufinden, was zum Donnerwetter sie noch in die Mischung getan hatte! Er kam sich vor wie ein Stalker und sein Herz klopfte bis zum Hals. Er schlich sich unter der Tischplatte durch an sie heran und wollte gerade eine kleine Nase nehmen, als sie sich umdrehte und ihn überrascht ansah. „Uuuhm, hi, Orangentörtchen[1]?“ NEEEIN; er war so ein Idiot! Wieso musste er das sagen? WIESO NUR? Er wollte gerade den Himmel anflehen, dass sich die Erde unter ihm auftun und ihn verschlingen möge, als er ein irritiertes „hä?“ als Antwort vernahm. Ihrem Ausdruck zu urteilen, verstand sie ihn nicht. „eehm, Hallo Akazukin-chan[2], du fragst dich sicher, was ich hier tue. Unter deinem Tisch. Hinter dir.“ Was faselte er für eine Scheiße. Er hoffte, sein Lächeln würde davon ablenken und er hoffte, dass sie wirklich KEIN WORT Japanisch sprach. Wieder ein irritierter Blick ihrerseits. Sie sprach kein Japanisch. Er war glücklich. Sie hatte dieses Elend nicht verstanden! Er könnte sie Küssen vor Freude! „Uuhm, eeh,“ hub sie an, als würde sie verzweifelt nach einer Antwort suchen. Küssen...Wieso eigentlich nicht?!- Sein Glücksgefühl darüber, dass er sich NICHT zum Vollaffen gemacht hatte, triumphierte. Und zwar endlos. Und schaltete seinen Verstand aus. „watashi wa uuhm, hotondo-[3]“ weiter ließ er sie nicht kommen, er beugte sich vor und berührte ihre Lippen, unter einem Tisch in diesem Kaffee. Küsste vollkommen berauscht vom Geruch der Orangen dieses Mädchen, er versank darin und Himmel, sie SCHMECKTE sogar nach Orangen. ...Zur Hölle was tat er hier eigentlich?? Er löste sich, faselte ein schnelles „Entschuldigung, bis bald“ und machte, dass er weg kam. Bevor sie noch Gelegenheit hatte, die Bezahlung in Form einer saftigen Ohrffeige dafür zu fordern. Sie roch nach Orangen, sie schmeckte nach Orangen. Und Sandelholz. Sandelholz! Welch Geniestreich! Sein Orangen-Rotkäppchen war ein Genie! Zu dumm, dass er sie nicht nach der Telefonnummer hatte fragen können! ******* [1]Ich habe „kamimochi“ mit „Orangentörtchen“ übersetzt. Richtig lautet es aber „Mochi mit Orangengeschmack“ [2]Name der Protagonistin des Märchens „Rotkäppchens“. Also „Rotkäppchen“. [3]Halbfertiges „Watashi wa hotondo nihongo o hanase-masen.“- Ich kann kaum Japanisch sprechen. Merkt euch den. Sie wird den noch sehr oft versuchen, rauszuwürgen :D Quellenangabe für Japanisch: http://www.wadoku.de/index.jsp http://eva-armageddon.com/Vokabeln.php http://www.dicts.info/dictionary.php?l1=English&l2=Japanese_Romaji Kapitel 3: Verloren ------------------- Sechs Quadratmeter und eine erbärmlich langsam zuckende Uhr. Die Bewegung des Sekundenzeigers konnte Alina KAUM als Ticken bezeichnen. Es war das klebrige, qualvolle Zucken der Zeit. Ihr Magenknurren brachte sie um, tötete jedes Gefühl für Konzentration und damit auch ihre Liebe zu den stupiden Listen und Zahlen, die man ihr aufgebrummt hatte. Sie wusste, man hatte ihr diese als Bestrafung für das gestrige „frühzeitige Verlassen des Arbeitsplatzes“ gegeben. Sie murrte innerlich zufrieden, als der große Zeiger seine Position ENDLICH verließ und die 360 Grad voll machte. Sie stand auf. Endlich essen. Sie holte sich in der Kantine ihre „Bento Box“ ab; sie konnte dem „europäischen“ Essen hier nichts abgewinnen- und wenn sie schonmal in Japan war, sollte sie die Möglichkeit nutzen und es auch ein bisschen genießen. Doch statt sich einen Platz in der Menge zu suchen, machte sie kehrt und stieg aufs Dach. Sie setzte sich auf eine Bank, lehnte sich an und begann in den Himmel zu sehen, während sie an ihrem Essen knabberte. Hier oben war es ruhig. Hier oben war der Lärm der Autos wie ein fernes Rauschen des Meeres. Sie schloss die Augen und der Wind strich ihr über die Haare. Sie wünschte sich, die sechszehn Monate wären bereits vorüber. Sie griff nach den Essstäbchen und griff sich damit eine Garnele. Sie musste heute raus. Sie hörte, wie zwei Frauen kicherten und sah sich um. Sie waren nicht auf „ihrer Seite“. Also hatten sie Alina nicht gesehen- oder zumindest ignorierten sie sie. Alina aß ihre Garnelen und nahm sich ein Odango. „Schonmal bei nem Konzert an den Boxen gestanden?" Alina wurde hellhörig; sie sprachen Englisch. Britischer Akzent. Wahrscheinlich arbeiteten sie in derselben Abteilung wie sie. "Nicht nur gestanden!" Alina konnte das dreckige Grinsen direkt hören. Der Akzent hatte eher etwas von jemanden, dessen Muttersprache nicht Englisch war. "Oho! Erzähl mir mehr davon!" Die Britin kicherte wie ein Schulmädchen, hellhörig geworden. "Nachdem du fertig bist, mir das mit diesem "Aroma Paradiese zu erklären!" "Oh, natürlich, wie dumm von mir! Pass auf, von dem Laden sagt man sich, der Besitzer wäre ein absolutes Genie mit Düften. Wenn man einen der Serie auflegt ziehst du die Typen an wie die Motten das Licht!" "Erzähl keinen Scheiß!" "DOCH! Ich habs gestern versucht und- naja, sagen wir, ich bin die Nacht nicht zum Schlafen gekommen!" Alina hörte weg. Sie stand auf und ging, Hunger hatte sie keinen mehr. ***** Alina lief durch die Straßen, gedankenverloren und vor allem: verloren. Sie hatte sich nicht verlaufen, aber sie verspürte nicht den geringsten Drang, in ihr kleines Appartment zurückzugehen. Der Tag war zu lang, um dort noch rumzusitzen (und übrigens hatte sie keine Lust auf die Erinnerung, dass sie eine Fernbeziehung führte.). Sie zog ihren MP3-Player aus ihrer Tasche und suchte ein neues Lied. Natürlich lief sie prompt in den nächstbesten. „Ah, Sumimasen!“ stotterte sie. HA! Zumindest „Es tut mir leid“ hatte sie sich auf Japanisch merken können. Sie sah auf- und riss ihre Augen auf. Oh mein Gott, der Typ von neulich! Sie brachte nur ein verschrecktes Fiepen auf und ging hastig einige Schritte rückwärts. Ein Wunder, dass sie dabei nicht den nächsten anrempelte. Dann rannte sie los. Rannte los wie eine Idiotin, die ihre Idiotie erkannt hatte. Sie brauchte eine Weile und ein paar Straßenecken, bis sie bemerkte, wie BESCHEUERT die Idee gewesen war: nun hatte sie sich total verlaufen! Das war eine Katastrophe! Sie sollte sie zurückfinden? Sie konnte doch kein Wort japanisch! Und mit Englisch war ihr hier nicht geholfen! Von ihrem Herzen her bahnte sich ein Brocken Verzweiflung mühelos ihren Weg nach oben. NICHT HEULEN! schoss es ihr durch den Kopf, Um Gottes Willen, NICHT heulen! Sie drehte sich um: okay, sie war ja nicht vollkommen BLIND gelaufen, an einige Sachen würde sie sich sicher erinnern! Ja! Sie fasste wieder Hoffnung und neuen Mut. Unsicher wandte sie sich der Kreuzung zu, bereits darauf gefasst, sich mühevoll zurückkämpfen zu müssen. Sie kreischte erschrocken laut auf, als jemand aus einer Gasse hervorgesprungen kam: atemlos, verschwitzt und über seine Knie gebeugt. Oh Gott! ER schon wieder! War er ihr die ganze Zeit nachgerannt?? So langsam wurde der Typ ihr unheimlich... Sie machte ein paar Schritte zurück und wollte wieder losrennen, doch er hielt sie fest: „Chotto matte kudasai!“ Er flehte sie förmlich an und sie hielt inne. „Gargh!“ stieß sie erschrocken aus und begann sofort, in ihren Taschen zu fingern. Dabei war das Offensichtliche direkt vor ihren Augen: Das war ihr MP3 Player! Sie hatte ihn verloren, wahrscheinlich, als sie sich umgedreht und losgelaufen war. Sie nahm ihm das schlichte Gerät aus der Hand: „A-arigatou!“ Das hörte sie in permanenz. Von daher war es das einzige Wort, dass sie wirklich gelernt- und behalten(!)- hatte. Er war zu Luft gekommen, richtete sich auf und lächelte: erleichtert und happy über seine gute Tat. „Dozo.“ Das hatte sie nun nicht verstanden, aber den Regeln der Kommunikation nach sollte das wohl „Keine Ursache!“ heißen. Sie klickte auf play, sichtlich unsicher darüber, was sie jetzt tun sollte. Dieser Typ hatte sie gestern geküsst. In einem Café. Unter dem Tisch. Und heute brachte er ihr eine ihrer Kostbarkeiten, ihre Musik zurück. Musik? Welche Musik? „Oh nein.“ Die Verlegenheit und Unsicherheit erstarben und zurückblieb Enttäuschung, Frustration und vor allem Trauer: Der Sturz schien für das Gerät ein bisschen zuviel gewesen zu sein. „Sonna.“ Sie sah auf, er lächelte noch immer. Die Verwirrung in ihrem Blick war allerdings unübersehbar. „Sore wa da yo.“ fügte er hinzu. Ihr verdammter MP3 Player war kaputt. Sie sollte nochmal nett Danke sagen und gehen. Gerade, als sie dazu ansetzte, fühlte sie eine warme Hand an ihrem Handgelenk und der Zug daran trieb sie vorwärts, ihm nach. Japanische Worte prasselten auf sie ein, sie war kaum in der Lage, auszumachen, WAS zur Hölle gerade passierte. Und dann standen sie in einem Kaufhaus in der Elektronikabteilung. Mp3-Player. WAS ZUR HÖLLE? Er drückte ihr ein ultrakrasses Teil in die Hand: es war so klein, auf eine Haarspange geklebt und in ihre Haare gebrachte würde es nicht auffallen! Oh Gott! Das Ding würde sie nur verlieren! Und überhaupt: Was machten sie hier? Wollte er ihr einen neuen MP3-Player kaufen? Wieso tat er das? Ihr eigener war doch nur kaputt gegangen, weil sie zu blöd war, um auf ihre Sachen aufzupassen! Und der Preis! Das Ding kostete doch ein Vermögen! Wenn sie das bezahlen sollte, würde sie alt aussehen! Alina war sich sicher, dass es ein Missverständnis ihrerseits war: Er hatte sie nur hergeschleift, damit sie sich einen neuen kaufen konnte. Sie legte das Teil vorsichtig wieder zurück. Normalerweise würde sie sich keinen neuen MP3 Player kaufen. Aber sie überlebte die Nächte nicht ohne Musik! Die Zikaden- die reinste Hölle! Früher hielt sie das alles für Übertreibungen aus Anime. Aber heute, so mittendrin in allem? Sie griff nach einem, der ihr handlicher erschien. Das Display war gut zu lesen, es hatte offenbar auch noch eine Englische Spracheinstellung (wieso auch immer) und der Speicherplatz war enorm. Wie gut, das ihre ganze Musik zuhause auf dem Rechner war... Sie nahm das Ding und wurde von ihrem Begleiter zur Kasse geschleift. Er nahm es ihr ab, sie kramte in ihrer Tasche herum und sah auf, als es piepte und ein „Arigatou“ mit nachfolgenden, unverständlichen Wortlaut ertönte. Was denn? Sie hatte noch nicht bezahlt! Sie sah das breite Grinsen des Typen, der ihr die Tüte hinhielt wie ein- Geschenk. THE HELL? Sie zögerte, er nahm ihre Hand und drückte die Tüte in besagte. Dann zögerte er- oder er wartete auf etwas. Sollte sie anfangen zu quieken wie ein kleines Schulmädchen? Sie kam sich deplatziert vor. Und irgendwie war es auch unangenehm, von einem Fremden etwas anzunehmen. Sie wusste nicht, ob und was er erwartete. Was sie erwartete. Oder glaubte, zu erwarten. Auf der anderen Hand wollte sie ihn aber auch nicht vor dem Kopf stoßen. Innerlich beschloss sie, einfach nett zu sein. „uuhm. Arigatou.“ sie dachte nach, herauskramend, was sie überhaupt an Japanisch behalten hatte. Der Vorbereitungskurs war ein Witz gewesen. Das merkte sie nun immer deutlicher. „...gozaimasu.“ fügte sie an. Wahrscheinlich war das durch ihr Zögern nun komplett aus dem Kontext gerissen. Verdammt! Er schien sich sichtlich zu freuen, antwortete etwas, was sie aber genausowenig verstand wie ihr eigenes Gesülze auf Japanisch (wenn sie ehrlich war, war die Bedeutung nicht gleichbedeutend mit dem Sinn eines Wortes) und schien sie etwas zu fragen. Er wartete. Ah. Sie musste ihm verklickern, dass sie kein Japanisch konnte. Sie räusperte sich, um die ihr unangenehm erscheinende Stille zu unterbrechen. „Watashi wa hoton-wah!“ Sie fühlte, wie er sie stürmisch an die Hand nahm und ins nächste Taxi verfrachtete. Und dann saß er neben ihr. WAS ZUR...?! „Eeeh....Anou....“ Sie sah ihn an: seine schwarzen Haare hatten etwa Kinnlänge. Die Frisur hatte etwas..eigenartiges. Ihr fiel die blonde Strähne auf, die sich quer über seine rechte Gesichtshälfte zog. Hatte er sie nicht gehört? Vielleicht war sie auch zu leise gewesen. „uuhm...sumimasen, “ versuchte sie es wieder. Er drehte sich zu ihr und grinste sie verschmitzt an. „watashi wa hontodo wuaah-“ Er hatte sie sich gegriffen und an sich gezogen. ZUR HÖLLE?? Was machte der Typ da? Sie lehnte nun, halb im Arm eines fremden Typen an dessen Schulter. Sie konnte sein Parfum riechen. Es roch nach....nach....Sie wusste nicht was, aber sie kannte sich sowieso nicht aus. Alina wollte sich aufrichten, doch er hielt sie sehr fest und irgendwie tat es auch gut, einen Moment lang sich vorzulügen, sie wäre nicht alleine hier. Alina seufzte leise und sah aus dem Fenster: Das war der Platz, in dem sie in ihn reingerannt war. Ah! Hatte er sie extra den ganzen Weg- bis hierher- im Taxi mitgenommen?? Sie richtete sich auf, als er bezahlte und sie ausstiegen. Das ganze Geld, dass da mal eben den Besitzer wechselte, hinterließ bei ihr ein noch unangenehmeres Gefühl. Er strich ihr, mit einer sehr freundlichen, warmen Geste eine Strähne aus dem Gesicht und verabschiedete sich. Alina blieb verwirrt zurück. Was machte sie eigentlich hier? Sie war verlobt. Sie war immer noch verlobt. Wenn sie zurückkam, in ein paar Monaten, würde sie heiraten, ihren Job in good, old Germany antreten und über kurz oder lang in ein Haus ziehen. Hier, in Japan ließ sie es zu, dass sie ein Wildfremder erst küsste und ihr dann auf der Rückbank eines Taxis den Arm umlegte, als wären sie ein frisch verliebtes Paar! Sie fühlte sich mit einem Mal schmutzig und- schuldig. Schuldig, weil sie es nicht fertig brachte, den simplen Satz : „Ich spreche kaum Japanisch, tut mir leid.“ rauszuwürgen und dann auf Englisch zu sagen, dass sie ihn nett fand, aber nunmal vergeben war. Sie kam sich vor, als würde sie ihren Verlobten betrügen. Und das war ein schreckliches Gefühl.... ***** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)