Orangenblüten von Nekoryu ================================================================================ Kapitel 3: Verloren ------------------- Sechs Quadratmeter und eine erbärmlich langsam zuckende Uhr. Die Bewegung des Sekundenzeigers konnte Alina KAUM als Ticken bezeichnen. Es war das klebrige, qualvolle Zucken der Zeit. Ihr Magenknurren brachte sie um, tötete jedes Gefühl für Konzentration und damit auch ihre Liebe zu den stupiden Listen und Zahlen, die man ihr aufgebrummt hatte. Sie wusste, man hatte ihr diese als Bestrafung für das gestrige „frühzeitige Verlassen des Arbeitsplatzes“ gegeben. Sie murrte innerlich zufrieden, als der große Zeiger seine Position ENDLICH verließ und die 360 Grad voll machte. Sie stand auf. Endlich essen. Sie holte sich in der Kantine ihre „Bento Box“ ab; sie konnte dem „europäischen“ Essen hier nichts abgewinnen- und wenn sie schonmal in Japan war, sollte sie die Möglichkeit nutzen und es auch ein bisschen genießen. Doch statt sich einen Platz in der Menge zu suchen, machte sie kehrt und stieg aufs Dach. Sie setzte sich auf eine Bank, lehnte sich an und begann in den Himmel zu sehen, während sie an ihrem Essen knabberte. Hier oben war es ruhig. Hier oben war der Lärm der Autos wie ein fernes Rauschen des Meeres. Sie schloss die Augen und der Wind strich ihr über die Haare. Sie wünschte sich, die sechszehn Monate wären bereits vorüber. Sie griff nach den Essstäbchen und griff sich damit eine Garnele. Sie musste heute raus. Sie hörte, wie zwei Frauen kicherten und sah sich um. Sie waren nicht auf „ihrer Seite“. Also hatten sie Alina nicht gesehen- oder zumindest ignorierten sie sie. Alina aß ihre Garnelen und nahm sich ein Odango. „Schonmal bei nem Konzert an den Boxen gestanden?" Alina wurde hellhörig; sie sprachen Englisch. Britischer Akzent. Wahrscheinlich arbeiteten sie in derselben Abteilung wie sie. "Nicht nur gestanden!" Alina konnte das dreckige Grinsen direkt hören. Der Akzent hatte eher etwas von jemanden, dessen Muttersprache nicht Englisch war. "Oho! Erzähl mir mehr davon!" Die Britin kicherte wie ein Schulmädchen, hellhörig geworden. "Nachdem du fertig bist, mir das mit diesem "Aroma Paradiese zu erklären!" "Oh, natürlich, wie dumm von mir! Pass auf, von dem Laden sagt man sich, der Besitzer wäre ein absolutes Genie mit Düften. Wenn man einen der Serie auflegt ziehst du die Typen an wie die Motten das Licht!" "Erzähl keinen Scheiß!" "DOCH! Ich habs gestern versucht und- naja, sagen wir, ich bin die Nacht nicht zum Schlafen gekommen!" Alina hörte weg. Sie stand auf und ging, Hunger hatte sie keinen mehr. ***** Alina lief durch die Straßen, gedankenverloren und vor allem: verloren. Sie hatte sich nicht verlaufen, aber sie verspürte nicht den geringsten Drang, in ihr kleines Appartment zurückzugehen. Der Tag war zu lang, um dort noch rumzusitzen (und übrigens hatte sie keine Lust auf die Erinnerung, dass sie eine Fernbeziehung führte.). Sie zog ihren MP3-Player aus ihrer Tasche und suchte ein neues Lied. Natürlich lief sie prompt in den nächstbesten. „Ah, Sumimasen!“ stotterte sie. HA! Zumindest „Es tut mir leid“ hatte sie sich auf Japanisch merken können. Sie sah auf- und riss ihre Augen auf. Oh mein Gott, der Typ von neulich! Sie brachte nur ein verschrecktes Fiepen auf und ging hastig einige Schritte rückwärts. Ein Wunder, dass sie dabei nicht den nächsten anrempelte. Dann rannte sie los. Rannte los wie eine Idiotin, die ihre Idiotie erkannt hatte. Sie brauchte eine Weile und ein paar Straßenecken, bis sie bemerkte, wie BESCHEUERT die Idee gewesen war: nun hatte sie sich total verlaufen! Das war eine Katastrophe! Sie sollte sie zurückfinden? Sie konnte doch kein Wort japanisch! Und mit Englisch war ihr hier nicht geholfen! Von ihrem Herzen her bahnte sich ein Brocken Verzweiflung mühelos ihren Weg nach oben. NICHT HEULEN! schoss es ihr durch den Kopf, Um Gottes Willen, NICHT heulen! Sie drehte sich um: okay, sie war ja nicht vollkommen BLIND gelaufen, an einige Sachen würde sie sich sicher erinnern! Ja! Sie fasste wieder Hoffnung und neuen Mut. Unsicher wandte sie sich der Kreuzung zu, bereits darauf gefasst, sich mühevoll zurückkämpfen zu müssen. Sie kreischte erschrocken laut auf, als jemand aus einer Gasse hervorgesprungen kam: atemlos, verschwitzt und über seine Knie gebeugt. Oh Gott! ER schon wieder! War er ihr die ganze Zeit nachgerannt?? So langsam wurde der Typ ihr unheimlich... Sie machte ein paar Schritte zurück und wollte wieder losrennen, doch er hielt sie fest: „Chotto matte kudasai!“ Er flehte sie förmlich an und sie hielt inne. „Gargh!“ stieß sie erschrocken aus und begann sofort, in ihren Taschen zu fingern. Dabei war das Offensichtliche direkt vor ihren Augen: Das war ihr MP3 Player! Sie hatte ihn verloren, wahrscheinlich, als sie sich umgedreht und losgelaufen war. Sie nahm ihm das schlichte Gerät aus der Hand: „A-arigatou!“ Das hörte sie in permanenz. Von daher war es das einzige Wort, dass sie wirklich gelernt- und behalten(!)- hatte. Er war zu Luft gekommen, richtete sich auf und lächelte: erleichtert und happy über seine gute Tat. „Dozo.“ Das hatte sie nun nicht verstanden, aber den Regeln der Kommunikation nach sollte das wohl „Keine Ursache!“ heißen. Sie klickte auf play, sichtlich unsicher darüber, was sie jetzt tun sollte. Dieser Typ hatte sie gestern geküsst. In einem Café. Unter dem Tisch. Und heute brachte er ihr eine ihrer Kostbarkeiten, ihre Musik zurück. Musik? Welche Musik? „Oh nein.“ Die Verlegenheit und Unsicherheit erstarben und zurückblieb Enttäuschung, Frustration und vor allem Trauer: Der Sturz schien für das Gerät ein bisschen zuviel gewesen zu sein. „Sonna.“ Sie sah auf, er lächelte noch immer. Die Verwirrung in ihrem Blick war allerdings unübersehbar. „Sore wa da yo.“ fügte er hinzu. Ihr verdammter MP3 Player war kaputt. Sie sollte nochmal nett Danke sagen und gehen. Gerade, als sie dazu ansetzte, fühlte sie eine warme Hand an ihrem Handgelenk und der Zug daran trieb sie vorwärts, ihm nach. Japanische Worte prasselten auf sie ein, sie war kaum in der Lage, auszumachen, WAS zur Hölle gerade passierte. Und dann standen sie in einem Kaufhaus in der Elektronikabteilung. Mp3-Player. WAS ZUR HÖLLE? Er drückte ihr ein ultrakrasses Teil in die Hand: es war so klein, auf eine Haarspange geklebt und in ihre Haare gebrachte würde es nicht auffallen! Oh Gott! Das Ding würde sie nur verlieren! Und überhaupt: Was machten sie hier? Wollte er ihr einen neuen MP3-Player kaufen? Wieso tat er das? Ihr eigener war doch nur kaputt gegangen, weil sie zu blöd war, um auf ihre Sachen aufzupassen! Und der Preis! Das Ding kostete doch ein Vermögen! Wenn sie das bezahlen sollte, würde sie alt aussehen! Alina war sich sicher, dass es ein Missverständnis ihrerseits war: Er hatte sie nur hergeschleift, damit sie sich einen neuen kaufen konnte. Sie legte das Teil vorsichtig wieder zurück. Normalerweise würde sie sich keinen neuen MP3 Player kaufen. Aber sie überlebte die Nächte nicht ohne Musik! Die Zikaden- die reinste Hölle! Früher hielt sie das alles für Übertreibungen aus Anime. Aber heute, so mittendrin in allem? Sie griff nach einem, der ihr handlicher erschien. Das Display war gut zu lesen, es hatte offenbar auch noch eine Englische Spracheinstellung (wieso auch immer) und der Speicherplatz war enorm. Wie gut, das ihre ganze Musik zuhause auf dem Rechner war... Sie nahm das Ding und wurde von ihrem Begleiter zur Kasse geschleift. Er nahm es ihr ab, sie kramte in ihrer Tasche herum und sah auf, als es piepte und ein „Arigatou“ mit nachfolgenden, unverständlichen Wortlaut ertönte. Was denn? Sie hatte noch nicht bezahlt! Sie sah das breite Grinsen des Typen, der ihr die Tüte hinhielt wie ein- Geschenk. THE HELL? Sie zögerte, er nahm ihre Hand und drückte die Tüte in besagte. Dann zögerte er- oder er wartete auf etwas. Sollte sie anfangen zu quieken wie ein kleines Schulmädchen? Sie kam sich deplatziert vor. Und irgendwie war es auch unangenehm, von einem Fremden etwas anzunehmen. Sie wusste nicht, ob und was er erwartete. Was sie erwartete. Oder glaubte, zu erwarten. Auf der anderen Hand wollte sie ihn aber auch nicht vor dem Kopf stoßen. Innerlich beschloss sie, einfach nett zu sein. „uuhm. Arigatou.“ sie dachte nach, herauskramend, was sie überhaupt an Japanisch behalten hatte. Der Vorbereitungskurs war ein Witz gewesen. Das merkte sie nun immer deutlicher. „...gozaimasu.“ fügte sie an. Wahrscheinlich war das durch ihr Zögern nun komplett aus dem Kontext gerissen. Verdammt! Er schien sich sichtlich zu freuen, antwortete etwas, was sie aber genausowenig verstand wie ihr eigenes Gesülze auf Japanisch (wenn sie ehrlich war, war die Bedeutung nicht gleichbedeutend mit dem Sinn eines Wortes) und schien sie etwas zu fragen. Er wartete. Ah. Sie musste ihm verklickern, dass sie kein Japanisch konnte. Sie räusperte sich, um die ihr unangenehm erscheinende Stille zu unterbrechen. „Watashi wa hoton-wah!“ Sie fühlte, wie er sie stürmisch an die Hand nahm und ins nächste Taxi verfrachtete. Und dann saß er neben ihr. WAS ZUR...?! „Eeeh....Anou....“ Sie sah ihn an: seine schwarzen Haare hatten etwa Kinnlänge. Die Frisur hatte etwas..eigenartiges. Ihr fiel die blonde Strähne auf, die sich quer über seine rechte Gesichtshälfte zog. Hatte er sie nicht gehört? Vielleicht war sie auch zu leise gewesen. „uuhm...sumimasen, “ versuchte sie es wieder. Er drehte sich zu ihr und grinste sie verschmitzt an. „watashi wa hontodo wuaah-“ Er hatte sie sich gegriffen und an sich gezogen. ZUR HÖLLE?? Was machte der Typ da? Sie lehnte nun, halb im Arm eines fremden Typen an dessen Schulter. Sie konnte sein Parfum riechen. Es roch nach....nach....Sie wusste nicht was, aber sie kannte sich sowieso nicht aus. Alina wollte sich aufrichten, doch er hielt sie sehr fest und irgendwie tat es auch gut, einen Moment lang sich vorzulügen, sie wäre nicht alleine hier. Alina seufzte leise und sah aus dem Fenster: Das war der Platz, in dem sie in ihn reingerannt war. Ah! Hatte er sie extra den ganzen Weg- bis hierher- im Taxi mitgenommen?? Sie richtete sich auf, als er bezahlte und sie ausstiegen. Das ganze Geld, dass da mal eben den Besitzer wechselte, hinterließ bei ihr ein noch unangenehmeres Gefühl. Er strich ihr, mit einer sehr freundlichen, warmen Geste eine Strähne aus dem Gesicht und verabschiedete sich. Alina blieb verwirrt zurück. Was machte sie eigentlich hier? Sie war verlobt. Sie war immer noch verlobt. Wenn sie zurückkam, in ein paar Monaten, würde sie heiraten, ihren Job in good, old Germany antreten und über kurz oder lang in ein Haus ziehen. Hier, in Japan ließ sie es zu, dass sie ein Wildfremder erst küsste und ihr dann auf der Rückbank eines Taxis den Arm umlegte, als wären sie ein frisch verliebtes Paar! Sie fühlte sich mit einem Mal schmutzig und- schuldig. Schuldig, weil sie es nicht fertig brachte, den simplen Satz : „Ich spreche kaum Japanisch, tut mir leid.“ rauszuwürgen und dann auf Englisch zu sagen, dass sie ihn nett fand, aber nunmal vergeben war. Sie kam sich vor, als würde sie ihren Verlobten betrügen. Und das war ein schreckliches Gefühl.... ***** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)