Gemeinsame Geschichte VII von Eruwen (Hüter) ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 8: Hüter --------------------------- Entgegen Rufus tiefster innerer Erwartungen, klickte das Schloss leise. „Guten ‚Morgen‘, Hüter“, las er auf dem Betrayal, ehe der Einband aufklappte und ihm das Innerste des Buches offenbarte. Er war gekommen. Der Moment, auf den Rufus lange gewartet hatte. Er würde endlich erfahren, was in dem Buch stand und möglicherweise auch, was ihn wie auf magische Weise zu ihm gezogen hatte. Und zwar so stark, dass er dafür Schläge von seinem Stiefvater riskiert hatte. Vielleicht würde er nun etwas finden, das ihn durch diesen Sturm aus Ereignissen leiten konnte, die er so wenig verstand. Eine Erklärung. Ein paar Antworten auf die vielen Fragen, die wie ein Schwarm wilder Raben in seinem Kopf umherflatterten. Ein Hinweis. Irgendetwas, woran er sich klammern konnte. Er wäre für alles dankbar. Gespannt ließ er seinen Blick weiter nach unten gleiten und kämpfte nicht im Mindesten gegen die elektrisierende Aufregung an, die von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Er fühlte sich wie ein Entdecker, der die Außenmauern einer geheimnisvollen Burg überwunden hatte und nun mit ausgestreckter Hand vor der Tür stand, die zu geheimnisvollen Innenräumen führte. Nichts trennte ihn mehr von dem Inhalt. Zumindest nichts von körperlicher Gestalt, musste Rufus sich enttäuscht eingestehen, als seine Augen die Zeichen auf den Seiten des Buches erfassten. Fremde Zeichen. Zeichen denen auf dem alten Ledereinband gleich. Zeichen, die er nicht lesen konnte. Resigniert ließ der Junge seine Schultern sinken, die er vor lauter Anspannung völlig unbemerkt ein Stück angehoben hatte. Sein Kopf folgte keine Sekunde später. All die Aufregung umsonst. Warum tat das Buch das? Es begrüßte ihn, bestätigte mit seiner Bezeichnung als Hüter Helenas Worte, öffnete für ihn die schützende Mauer, nur um ihn dann gegen eine andere rennen zu lassen. Was war der Sinn? War das reine Schadenfreude? Ein schadenfrohes Buch? Mehr als nur verwirrt versuchte Rufus, etwas auf den Seiten auszumachen, das ihm bekannt vorkam. Doch da war nichts. Nur diese mysteriösen, gewundenen Zeichen. Vielleicht auf einer anderen Seite. Zaghaft, weil ihm das Buch allmählich nicht mehr so ganz geheuer war, übte er mit einem Finger ein wenig Druck auf eine Seite aus, um sie umzublättern, zog ihn jedoch sofort wieder ruckartig zurück. Und zwar nicht nur, weil eine unheimliche Energie in diesem Buch pulsierte, die seine Fingerspitze bei der bloßen Berührung hatte vibrieren lassen, sondern auch, weil sich die Seite nicht bewegte. Wieso lockte Betrayal ihn an, nur um ihm dann jeglichen Zugang zu verwehren? Verdattert schaute er auf und erblickte dabei Helena. Es war merkwürdig. Das Buch hatte ihn so in seinen Bann gezogen, dass er ihre Anwesenheit völlig vergessen hatte. Dabei hatten sie sich noch vor wenigen Minuten unterhalten. "Warum...?", brachte er aufgewühlt hervor. Zu mehr war er nicht imstande. Es war irgendwie alles zu viel. Er hatte sich Klärung erhofft für all diese Ereignisse. Warum hatte sein Stiefvater dieses Buch gesucht? Warum arbeitete er mit den Bibliothekaren zusammen? Wer waren die überhaupt? Wer waren die Leute, die ihn verfolgt und seinen Stiefvater fast getötet hatten? Wer war Helena und was hatte es mit diesen Raben auf sich? Wie war er da nur hineingeraten und warum hatte das Buch ausgerechnet ihn zum Hüter erkoren? Er war doch nur ein Junge, der noch nichts von der Welt gesehen hatte! Er war sich sicher, dass er so weit wie noch nie vom Haus seines Stiefvaters entfernt war, denn dieser hatte ihn nie wirklich rausgelassen. Das war ein Grund, warum er dieses Haus so hasste, es war ihm immer wie ein Gefängnis vorgekommen. Rufus hatte immer geglaubt, das sei, um ihn zu bestrafen, denn er konnte es seinem Vormund nie Recht machen. Er schien einen nicht enden wollenden Groll gegen ihn zu hegen, doch gleichzeitig sorgte er auf seine Weise für ihn. Das Wenige, was Rufus in der Bibliothek seines Stiefvaters gelesen hatte, konnte ihn auch nicht wirklich über die Welt aufklären. Sicher, er hatte von Maulwurfsmenschen und Zwergen gelesen, aber nichts von sprechenden Raben, mächtigen Büchern und obskuren Organisationen, die um sie kämpften. Doch die Hoffnung auf Klärung war vorerst zerstört. Nun saß er hier, wusste nicht, wie es weitergehen sollte und kam sich unendlich klein und hilflos vor. Das musste sich auch in seinen Augen gespiegelt haben, denn Helenas Züge wurden ein wenig weicher, als sie zu einer Antwort ansetzte. "Vielleicht wollte dir Betrayal nur zeigen, dass du noch eine Menge zu lernen hast." Diese Antwort trug nicht dazu bei, Rufus' Verwirrung zu mindern. Und trotz seiner Hilflosigkeit nahm sich sein Bewusstsein einen Augenblick Zeit, um festzustellen, dass Helena gleich ganz anders wirkte, wenn ihr Blick nicht verhärtet war und jede Sympathie im Keim zu ersticken suchte. "Warum hat es sich nicht einfach jemanden gesucht, der nicht so unerfahren ist?", fragte Rufus und nahm in diesem Moment den ihm verliehenen Titel an. Ja, er war mit dem Buch verbunden. Diese starke Anziehungskraft hatte ihn schließlich erst auf den Dachboden geführt. Und ja, es war für ihn natürlich wie ein Instinkt, das Buch zu schützen, wenn er an all die überstürzten Ereignisse der letzten Zeit dachte. Er hatte den Mann gebissen, um das Buch zu schützen. Er hatte mit seinen von Betrayal eingenommenen Armen bei dem Sprung aus dem Fenster eine Verletzung riskiert, weil er es nicht zuerst werfen und auch nicht loslassen wollte. Selbst als er in dieser fremden Umgebung aufgewacht war, hatte sein erster Gedanke dem Buch gegolten. Er war wohl wirklich der Hüter eines mächtigen Buches, dessen Existenz er sich vor Kurzem noch nicht einmal bewusst gewesen war. Dieses Eingeständnis führte zu einem Wirrwarr weiterer Fragen. Wann genau war er zum Hüter geworden? Hatte sich das Buch seinen Weg zu ihm gesucht? Wie genau konnte sich ein unbeweglicher Gegenstand eigentlich seinen Weg suchen? Aber, so gestand sich Rufus mit einem Anflug von Gänsehaut ein, vielleicht war das Buch nicht so unbeweglich wie er dachte. Ein schöner Hüter war er, der ein bisschen Angst hatte vor genau dem Gegenstand, den er zu beschützen suchte. Und genau genommen hatte ihn das Buch zuerst beschützt, indem es ihm geraten hatte, sich umzudrehen. Vielleicht war es diese Erinnerung, die in Rufus ein Widerstreben erwachen ließ, Betrayal als Gegenstand zu bezeichnen. Das Buch hatte zweifelsohne eine Form von Bewusstsein. Brauchte es ihn überhaupt? Und während all diese Gedanken durch seinen Kopf schossen und einen Keil formten, der klar wie ein Lichtstrahl durch all das Chaos drang, fasste er einen Entschluss: Er würde seine neue Rolle zunächst weiter ergründen und dann versuchen, in sie hineinzuwachsen. Sein Stiefvater hatte schließlich ebenfalls sein Leben für Betrayal riskiert. Und auch wenn er Angst hatte, so spürte er, dass er bereit war, ebenfalls so weit zu gehen. Das Chaos lichtete sich langsam, denn jetzt hatte er ein Ziel. Als er sich wieder auf Helena konzentrierte, stellte er fest, dass sie ihn erneut amüsiert musterte. "Du bist ein interessantes Kerlchen. Erstaunlich, wie schnell dein Gemüt von verunsichert auf entschlossen wechseln kann." Rufus zog ein wenig beleidigt die Brauen zusammen. Er war kein Kerlchen! "Ihr habt meine Frage nicht beantwortet. Warum hat Betrayal ausgerechnet mich erwählt und nicht jemanden, der stärker ist? Und was ist aus all den anderen Hütern geworden? Wie soll ich überhaupt diese Rolle erfüllen? Was muss ich tun?“ "Das zu beantworten obliegt nicht mir", antwortete Helena und warf dem einzigen Raben im Raum, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, einen unergründlichen Blick zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)