Der Blutmaler von Sky- ================================================================================ Kapitel 10: Treffen ------------------- Naomi wachte um 7 Uhr auf und rieb sich müde die Augen. „Frau Misora, wir müssen jetzt gehen. Die Sonne geht bald auf.“ Doch sie brauchte erst einmal einen Kaffee, bevor sie irgendetwas anderes in Angriff nehmen konnte und eigentlich wollte sie sich noch ein Frühstück machen, aber Beyond ermahnte sie noch einmal, lieber mit leeren Magen zu gehen. Also beherzte sie lieber den Rat und folgte Beyond zum Hafen, um dort ein Boot zu mieten. Der Himmel war mit dunkelgrauen Wolken verhangen und es donnerte. Solange es noch trocken war, mussten sie zur Karasumainsel bevor die Strömung unberechenbar wurde und es noch gefährlich werden könnte. Sie mieteten sich ein kleines Boot und fuhren aufs Meer hinaus. Es zeigte sich, dass Beyond ziemlich gut fahren konnte und meinte nur nebenbei, dass es gar nicht so schwer sei. „Wir müssen so weit rausfahren, bis wir einen kleinen Felsen sehen, der auch „Drachenkopf“ genannt wird. Dann müssen wir nach Nordosten weiter bis wir die Insel sehen. Nehmen Sie das Fernglas und halten Sie Ausschau.“ Naomi holte aus Beyonds Tasche das Fernglas und sah sich um. Aber sonst war da nicht viel. Nur das offene Meer. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken und zog ihre Jacke fester zu. Irgendwann sah sie den Felsen und gab Beyond Bescheid, der noch ein wenig darauf zu fuhr und dann nach Nordosten einlenkte. Auf einmal glaubte Naomi einen unangenehmen Geruch wahrzunehmen, der von irgendwo herwehte. „Irgendwie stinkt es hier…“ „Der weht von der Insel rüber. Es ist der Geruch des Todes und er ist stärker, als ich ihn mir vorgestellt habe. Machen Sie sich also auf das Allerschlimmste gefasst, Frau Misora.“ Es dauerte eine Weile, bis sie die Insel sah, die von der Familie Karasuma bewohnt wurde. Sie war nicht gerade groß und von einem Ring von Bäumen eingeschirmt, wodurch man von keiner Seite aus direkt zum Anwesen sehen konnte. Wie eine Art natürlicher Sichtschutz. Hoffentlich konnten wenigstens ein paar flüchten und sich im Wald verstecken. „Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass niemand überlebt hat?“ „Etwa zu 99,9%.“ „Aber… das sind 40 Leute!“ „Na und? Das wird für Rumiko auch kein besonderes Hindernis darstellen…“ Beyond schien sich da wohl ziemlich sicher zu sein, aber Naomi konnte sich nicht vorstellen, dass eine einzige Person 40 Menschen innerhalb einer Nacht umbringen und so zurichten konnte, wie die Opfer, die sie als Blutmalerin begangen hatte. Erst einmal erforderte es unglaubliche körperliche Kraft und außerdem blieb es doch nicht unbemerkt, wenn plötzlich mehrere Leute aus einer Gruppe verschwanden. Und wenn man die Leichen gefunden hatte, dann musste doch jemand Alarm schlagen. Es sei denn, Rumiko hatte es so geschickt angestellt, dass niemand etwas bemerken konnte. In dem Falle war es wirklich sehr wahrscheinlich, dass alle bereits tot waren. Trotzdem hatte Naomi noch Hoffnung, wenigstens einer hätte überlebt. Sie legten am Strand an, der einzigen Möglichkeit, ohne auf ein Riff oder auf unterirdische Felsen zu stoßen. Etwas weiter weg trieben die verkohlten Überreste des Schiffes, mit dem die Familie Karasuma hierhergekommen war. Anscheinend hatte Rumiko das Boot von der Anlegestelle losgemacht und angezündet. Durch die Strömung trieb es ein Stück weit weg und schlug schließlich auf ein Riff auf oder auf einen Felsen, durch das es zerstört wurde. Somit war der einzige Fluchtweg von der Insel abgeschnitten. Sie vertäuten das Boot und gingen am Steg entlang, bis der Weg in einen kleinen Kiespfad endete, der direkt in den Wald führte. „Ich habe auch eine Karte der Insel auftreiben können. Warten Sie einen Moment…“ Beyond kramte sie hervor und breitete sie aus. „Wie Sie sehen können, schließt der Wald den Rest der Insel wie eine Mauer ein. Danach geht es einen Hügel rauf und auf diesem steht das Anwesen der Familie Karasuma. Es gibt ein großes Gewächshaus und einen See etwas weiter weg vom Haus. Wir werden durch das Gewächshaus ins Anwesen gelangen und uns dann erst einmal umsehen. Wir müssen uns zuerst genau die Umgebung ansehen, bevor wir uns um Rumiko kümmern. Wenn wir sie einfach so angreifen, ist es fatal wenn wir nicht wissen, wohin wir rennen und am Ende noch in einer Sackgasse landen.“ Naomi nickte und folgte Beyond durch den Wald hindurch. Der Weg war breit genug, um ungehindert durchzukommen und wieder stieg ihr dieser seltsame Geruch in die Nase. Je näher sie sich dem Anwesen näherten, desto intensiver wurde er und als sie endlich nahe genug am Haus waren, packte sie das Entsetzen. Auf dem Dach lagen, soweit sie mit ihrem Fernglas richtig sah, Leichen… Aufgeschlitzte nackte Leichen, auf die bereits die Krähen mit ihren Schnäbeln einhackten, um sie Stück für Stück aufzufressen. Überall hörte sie das Krächzen der Vögel und ein Schauer überkam sie. Doch das Schlimmste war der Zaun: Auf ihn waren abgeschlagene Köpfe aufgespießt wie zu Zeiten der französischen Revolution und auch hier hatten die Raben bereits die Augen gefressen und Wunden ins Fleisch gerissen. Am Haupteingang dann der Schreck: Dem Butler hatte man mit Nägeln an die Tür genagelt und seine Arme waren wie beim Christus ausgebreitet. Der Kopf war verdreht und sein Bauch aufgeschlitzt. Das Gedärm hing zur Hälfte raus und Fliegen schwirrten umher. Naomi wurde schlecht als sie das sah und sie wich einen Schritt zurück. Beyond zeigte keinerlei Gefühlsregung und packte Naomis Arm und zerrte sie in Richtung Gewächshaus. „Reißen Sie sich bitte zusammen.“ Das Gewächshaus war ein einziger Urwald, wo alle Arten von giftigen Pflanzen gezüchtet wurden. Nicht nur Farne und Adonisröschen sondern auch der Aronstab, Fingerhut, ein Buchsbaum und sogar Tollkirsche und Herbstzeitlose. Da schien jemand ein echt seltsames Hobby zu haben. Schließlich kamen sie an einem Tisch, wo ein Glas stand, auf dem „κώνειον“ geschrieben stand. Naomi nahm das Glas und schnupperte daran. „An Ihrer Stelle würde ich das nicht trinken“, warnte Beyond und Naomi stellte das Glas zurück. „Die Aufschrift ist griechisch und bei dieser Flüssigkeit handelt es sich um den so genannten Schierlingsbecher, mit dem Sokrates hingerichtet wurde. Hochgiftig also.“ Sie fanden nicht nur giftige Pflanzen, sondern auch Pilze. Warum zum Teufel züchtete man hier hochgiftige Pflanzen? Wollten die Karasumas etwa ihre Feinde vergiften? Oder etwa… die Kinder, die in der Hauptfamilie geboren wurden und überflüssig waren? Nein, das konnte nicht sein. Sonst wäre Rumiko kurz nach ihrer Geburt getötet worden… „Das erinnert mich an diese eine megareiche Geschäftsfrau Rachel Heaven. Die hat einen eigenen Zoo speziell für tödlich giftige Schlangen und andere gefährliche Reptilien. Sie wurde schließlich die „Kobra“ genannt. Sie sehen Frau Misora, reiche Leute haben echt komische Hobbys.“ Das sagt gerade der Richtige, dachte die FBI Agentin und ging weiter. Er hatte doch das merkwürdigste Hobby aller Zeiten: Menschen zu töten. Naja, sie hatte aber auch schon von anderen verrückten Menschen gelesen. Von einem Gefängniswärter, der angeblich die Tattoos seiner Insassen gesammelt hatte, einem anderen Menschen, der gerne Todesanzeigen sammelte oder von einem Geisteskranken aus Schottland, der einen Heidenspaß daran hatte, Häuser abzufackeln. Diese Welt war manchmal wirklich ein Sammelbecken für echt merkwürdige Gestalten. Sie kamen schließlich in die Abteilung für Fleischfressende Pflanzen und fanden auch hier viele exotische Exemplare. Dann aber erreichten sie die Tür, die ins Innere des Anwesens führte. Naomi, die sich vorsorglich schon die Handschuhe angezogen hatte, legte ihre Hand auf den Türgriff, zögerte jedoch. Dann aber nahm sie all ihre Kraft zusammen und öffnete sie. Der Schwall, der sie überkam wie eine Sturzflut, war überwältigend. Der Gestank der Leichen und des Blutes durchdrang sie vollständig und schien sogar von ihrer Kleidung aufgesaugt zu werden. Es fehlte nicht mehr viel und sie hätte sich übergeben müssen. Stattdessen schlug sie sich hustend die Hand vor dem Mund und verzog angewidert das Gesicht. „Mein Gott, das ist ja mörderisch…“ „Damit treffen Sie auch den Nagel auf dem Kopf, meine liebe Frau Misora. Also dann, rein ins Vergnügen.“ Sie erreichten das Foyer, wo schon der blutrote Teppich für sie ausgelegt war. Es sah aus als hätte ein Schlachthaus alles Blut hier abgeladen. Der Teppich war getränkt davon und so hinterließen sie überall blutige Fußabdrücke. Auf der großen breiten Treppe, die in die obere Etage führte, lagen die zerstückelten Leichen zweier Dienstmädchen. An den Wänden klebte Blut, die Gemälde waren mit einem Messer zerstört worden und in einer Tür steckte noch eine Axt. Vorsichtig öffnete sie die Tür und betrat einen riesigen Raum, der wohl als Konferenzraum diente. An den Wänden stand geschrieben „Lügner!“ und vom Kronleuchter baumelte eine Frau herunter, deren untere Hälfte fehlte. Diese fand sich auf dem Tisch mit verdrehten Füßen. Noch immer tropfte Blut herunter und entsetzt sah Naomi, dass diese Tote die Mutter von Yumiko und Rumiko war. „Wie zum Teufel hat sie das hinbekommen?“ „Den Kronleuchter kann man mithilfe eines Mechanismus herunterholen und was die Leiche angeht: Mit einer Säge lässt sich vieles bewerkstelligen.“ Immer mehr kam sich Naomi wie in einem furchtbaren Museum vor, in dem Mordopfer auf bizarrste Art und Weise präsentiert wurden. Das zeigte sich besonders in der Küche, wo sich die Innereien der Küchenhilfen im Kühlraum befanden und der Kopf des Küchenchefs im Backofen vor sich hinschmorte. Ein Apfel steckte in seinem Mund und auf seine Stirn stand geschrieben „Guten Appetit“. Es stank abscheulich und schnell stellte Naomi den Ofen aus, dann öffnete sie ein Fenster. Die Luft war hier dermaßen schlecht, dass sie glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Doch das war noch nicht alles gewesen, was sie hier erwartete. Die Arme waren an die Wand genagelt worden und in den Töpfen köchelte etwas. Vorsichtig trat Beyond näher und schien sich ebenfalls alles andere als wohl zu fühlen. Er hob den Deckel hoch, sah rein und sah aus, als müsse er sich übergeben. Hustend sank er in die Knie und sofort war Naomi zur Stelle um zu sehen, was da drin war. Doch sah sie nur eine blutig rote Masse da drin und mehrere Augenpaare, die sie anstarrten. Nun bekam sie Panik, wahrscheinlich durch die stinkende beklemmende Luft und dem grausigen Anblick hier ausgelöst. Schnell verließen sie die Küche und fanden eine Tür mit der Aufschrift „Toiletten“. „Ich glaube… den Anblick da drin können wir uns sparen…“ Naomi nickte und folgte Beyond bis sie den Fahrstuhl erreichten. Er war nicht groß und offenbar für jene gedacht, die nicht in der Lage waren, die Treppe zu benutzen. Wenigstens war hier drin kein Leichnam, aber dafür war alles mit Blut vollgespritzt. Sie sahen sich die anderen Räume an und bemerkten schnell, dass diese mit den anderen Räumen ebenfalls verbunden waren. Die Türen waren noch intakt und außen steckten überall die dazugehörigen Schlüssel. Das änderte Beyond schnell, indem er die Schlüssel herauszog und nach innen steckte. Nur bei den Verbindungstüren ließ er alles so wie es war. „Wir müssen uns genau merken, wie die Schlüssel bei den Verbindungstüren positioniert sind. Wenn wir flüchten müssen, kann es uns zum Verhängnis werden, wenn wir jetzt extra den passenden Schlüssel suchen oder herausziehen müssen.“ Dieses ganze Anwesen war wie ein mörderisches Spielfeld. Es ging einzig und allein darum, wer es besser kannte. In den weiteren Räumen, die sie besichtigten, fanden sie weitere Leichen, die vollständig gehäutet worden waren. Die Häute waren wie zu einem Quilt zusammengenäht und geschrieben stand „Haltet mich auf!!!“ Ein Hilfeschrei eines verzweifelten Menschen, der sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Irgendwann schien Naomi gegen diesen Gestank resistent zu werden und sie glaubte auch, dass sie nichts mehr noch schocken könnte. Überall sah es entsetzlich aus und die Leichen waren aufs Bizarrste entstellt und zur Schau gestellt worden. In einem der Schlafzimmer fanden sie ein Paar, das man wie Marionetten an Klaviersaiten aufgehängt hatte. In die Gesichter war ein blutiges Grinsen geschnitten und mit einem Faden wieder zusammengenäht worden. Die Augen wurden entfernt und durch Glasmurmeln ersetzt. Irgendwann aber konnte sie nicht mehr, da die Übelkeit einfach zu groß war und so setzte sie sich in eine Ecke, da sie lieber nicht die Treppe nehmen wollte, wo immer noch die toten Dienstmädchen lagen. Beyond sah sie ein wenig besorgt an. „Sie sind ganz schön blass Frau Misora.“ „Im Gegensatz zu Ihnen bin ich solch einen Anblick nicht gewöhnt…“ „Hey, ich sehe so etwas auch zum ersten Mal in dieser Form.“ „Ja schon gut… aber wir haben uns jetzt fast überall umgesehen und Ihre Adoptivschwester ist nirgendwo.“ „Doch, aber sie will uns Zeit geben, ihr Werk zu bewundern und das Spielfeld genau zu studieren, bevor es losgeht.“ Beyond reichte ihr die Hand und half ihr hoch, dann wollten sie sich auf den Weg zum Ostflügel machen. Kaum hatten sie diesen erreicht, erklang eine Melodie. Sie kam so plötzlich, dass Naomi erschrocken zusammenzuckte und beinahe einen Schuss abgefeuert hätte. Irgendjemand spielte im Ostflügel Klavier. Nein, nicht irgendjemand sondern Rumiko Karasuma. Nun überkam Naomi die Angst. Jetzt wusste sie mit Sicherheit, dass die wahnsinnige Serienmörderin, die mit Sicherheit über 44 Menschen getötet hatte, hier in diesem riesigen Haus war. Innerlich hatte sie gehofft gehabt, Rumiko wäre nicht da. Mit so einem gefährlichen Gegner hatte es Naomi noch niemals zu tun gehabt und sie glaubte nicht, dass sie ohne einen Kratzer aus dieser Sache herauskommen würden. Das Klavierspiel wurde lauter und Beyond zerrte Naomi unbeirrt weiter. Innerlich überkam sie ein Schauer, denn sie spürte diese unheimliche Präsenz von etwas, das nicht menschlich war. Sie war um weiten stärker ausgeprägt als bei Beyond, da bei ihm höchstens die Tiere etwas spürten, was Ihnen Angst einjagte. Sie waren noch nicht einmal in ihrer Nähe und schon schrie Naomis Unterbewusstsein förmlich danach, die Beine in die Hand zu nehmen und abzuhauen, solange noch die Chance dazu bestand. Aber sie musste sich an Beyonds Worte erinnern, dass er es allein nicht schaffen würde. Sie konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen… dann könnte sie sich niemals wieder im Spiegel ansehen. „Keine Sorge Frau Misora, ich werde nicht zulassen, dass Rumiko Ihnen etwas antut.“ „Für Anbaggerungsversuche ist hier wirklich nicht der richtige Ort.“ „Wer sagt hier was von anbaggern? Ich wollte Sie nur aufmuntern. Meine Güte, Sie denken aber auch nur an das Eine.“ Zur Strafe für diesen unverschämten Kommentar fing sich der Serienmörder einen Ellebogenstoß in die Seite ein. Sie suchten nach der Quelle der Melodie und gingen schließlich ins obere Stockwerk, wo es lauter wurde. Das Klavierspiel war ein wenig düster, aber sie schien ein wenig zu Rumiko zu passen, jedenfalls war Naomi so der Meinung. Nicht ein einziger Fehler, alle Noten harmonierten perfekt und alles war in einem perfekten Gleichgewicht. Egal wie verrückt diese Rumiko auch war, musikalisch war sie wirklich talentiert. „Soweit ich gehört habe, hat sie unter dem Namen Ruby Miller nicht nur ihre Geschichte „Das Grab der Schmetterlinge“ geschrieben, sondern auch als Musiklehrerin unterrichtet.“ „So eine unterrichtet auch noch?“ „Rumiko ist nicht durch und durch schlecht. Es war schon immer ihr Traum gewesen, eines Tages Musiklehrerin zu werden und sie hat niemals einen Schüler angegriffen.“ Wenigstens das, dachte Naomi und atmete tief durch. Vorsichtig öffneten sie die Tür des Salons, einem riesigen Raum, wo es einen Kamin und schwere Sessel gab. Die Fenster waren riesig und die schweren purpurnen Vorhänge ließen nur wenig Licht durch. An den Wänden hingen riesige Gemälde von Leuten, die wahrscheinlich zur Hauptfamilie der Karasuma gehörten. Sie waren jedoch beschmiert, sodass man die Gesichter nicht erkennen konnte. Dieser Raum hier war der Einzige, in dem sich keine Leiche befand. In einer Ecke saß an einem Flügel Rumiko und spielte. Da sie keinerlei Reaktion zeigte, bedeutete wohl, dass sie die beiden gar nicht bemerkte. Naomi sah ihre Chance und richtete ihre Waffe auf die Pianistin, um auf sie zu schießen, doch Beyond hielt sie davon ab. „Es ist unhöflich, eine Dame bei ihrem Spiel zu unterbrechen.“ „Und außerdem würde das nur von Feigheit zeugen. Du hast dir wirklich einen merkwürdigen Menschen ausgesucht, kleiner Bruder.“ Naomi zuckte innerlich zusammen, als sie das hörte. Rumiko hatte sie also längst bemerkt und trotzdem besaß sie die Ruhe, um Klavier zu spielen. Entweder war sie verrückt, oder sie war sich ihrer Sache sicher. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch Klavier spielst. Du hast es doch vor Jahren schon aufgegeben, als ich angefangen habe, es zu lernen.“ „Stimmt“, sagte Rumiko und lächelte. „Ich habe stattdessen Geige gespielt, um eines Tages mit dir Duett spielen zu können…“ Rumikos Hände zitterten ein wenig und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Beyond drückte Naomi ein wenig nach hinten und stellte sich vor sie. „Kannst du noch durchhalten?“ „Kaum noch… warum?“ „Weil ich gerne etwas wissen möchte: Warum das alles? Warum hast du dich damals für dieses Leben entschieden?“ „Weil… weil…“ Rumiko begann zu weinen und unterbrach ihr Klavierspiel. Irgendetwas schien sie schwer traumatisiert zu haben und es musste ziemlich schlimm gewesen sein. „Ich wollte leben… deswegen hab ich mich dafür entschieden, ein Monster zu werden. Ich war es leid immer nur verprügelt, missbraucht, mit Steinen beworfen oder ausgelacht zu werden. Alles was ich wollte war doch nur, dass wir eine normale Familie sein können. Aber das Schlimmste war immer noch, dass Jamie…“ „Wer ist Jamie?“ „Der Nachbarsjunge der verschwunden ist“, erklärte Beyond und sah sehr besorgt aus. „Ich habe doch erzählt, dass er und Rumiko verschwanden und sie erst zwei Tage später wieder auftauchte.“ In Rumikos Augen leuchtete wieder dieses dämonische Rot auf und ihr Blick veränderte sich. Nicht mehr lange, dann würde das Monster in ihr erwachen und sie würde jeden töten, der in ihr Blickfeld geriet. „Ich habe an jenem Tag auf Jamie gewartet, damit wir gemeinsam unsere Flucht planen konnten. Doch er kam nicht. Dafür aber sein Vater mit einer roten Sporttasche. Er stellte sie ab und verschwand kurz. In der Tasche… darin…“ Rumiko sah auf ihre Hände, die immer heftiger zitterten, genauso wie ihre Stimme und die Tränen rannen ihre blassen Wangen hinunter. „Er hat ihm den Kopf abgeschlagen. Er hat sein eigenes Kind umgebracht… Ich sah in Jamies tote Augen und hatte seinen Kopf in den Händen. Mir wurde klar, dass er mich ebenfalls töten würde und habe mich in der Hütte am See in einer kleinen Kiste versteckt. Aber kaum hatte ich sie von innen verschlossen, stürzte ein Regal darauf und ich war zwei Tage darin eingesperrt. Ich habe geschrieen und mit aller Kraft versucht mich zu befreien. Dabei… habe ich mir die Fingernägel ausgerissen.“ Fassungslos starrte Naomi auf sie und konnte selbst ihre Tränen kaum zurückhalten. Was für eine schreckliche Geschichte. Rumiko war in einer kleinen Kiste eingesperrt und das zwei Tage lang und hatte dann auch noch die zerstückelte Leiche ihres Freundes gefunden? In was für einer grausamen Welt war sie da nur aufgewachsen? „Es war so unglaublich heiß und stickig in der Hütte und am zweiten Tag wurde mir klar, dass mich niemand retten kommt… weil mich keiner will. Aber dann hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, dass es jetzt Zeit wäre, endlich abzurechnen. Wenn ich leben wolle, dann sollte ich die Kraft annehmen, die ich wirklich besitze. Hätte ich es nicht getan, dann wäre ich damals wirklich gestorben. Und ich hatte nur einen Gedanken: Jamies Tod zu rächen und so nahm ich die Axt aus dem Schuppen und schlug 25 Mal auf diesen Kindsmörder ein. Ich hackte ihm den beschissenen Kopf ab und sagte dann lachend „Siehst du? Jetzt hast du nichts mehr zu lachen, du Wichser!“ Danach habe ich den Kopf in den See geworfen. Dieser Bastard hat es nicht anders verdient, genauso wie es deine Eltern verdient haben zu sterben. Ich habe die Pistole genommen und das ganze Magazin in den Körper deines Vaters reingeschossen und deine Hexe von Mutter vor den Zug gestoßen.“ Die traurige und verzweifelte Rumiko wechselte immer mehr zur hasserfüllten und aggressiven Rumiko Karasuma und es war erschreckend, wie schnell das ging. „Um in dieser Welt zu überleben, habe ich diese Kraft angenommen und mich an jenen gerächt, die es nicht anders verdient haben. Ich habe es diesen Rotzgören in meiner Schule heimgezahlt und mit dem Besenstil auf meinen Peiniger Roger Myers eingeprügelt und anschließend den Arm gebrochen. Und ich habe den Wagen meines Psychiaters sabotiert, dass er bei einem Unfall verunglückt. Ja, meine Liste ist unglaublich lang. Ich habe sogar den Kindern, die mich gezwungen haben verdorbene Milch zu trinken, die Haustiere mit Bleichmittel vergiftet und sie übers Wochenende in der Besenkammer des Hausmeisters der Schule eingesperrt. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen. Das war wunderbar!“ So war das also, dachte Naomi und hob wieder die Beretta. Rumiko enthauptete ihre Opfer, weil sie sich immer wieder den Tod ihres einzigen Freundes vor Augen hielt. In dem abgeschlagenen Kopf sah sie Jamie und musste wieder daran denken, dass es sein eigener Vater gewesen war und spürte dann wieder diese rasende Wut über diese Grausamkeit, die sie nicht verhindern konnte. Trauer und Angst wurden zu Hass… so funktionierte das Monster in ihrem Inneren. Kein Wunder also, dass sie es nicht kontrollieren konnte. „Und nun werde ich jene töten, die mich im Stich gelassen haben. Ja genau Bruderherz, ich werde dich töten und jeden anderen Menschen in der Stadt. Oh ja, sie alle werden mit ihrem Blut bezahlen, dass sie meine Hilfeschreie ignoriert haben. Und du wirst auch bezahlen Beyond. Die ganze Zeit habe ich mich für dich aufgeopfert und du hast nichts anderes als Vorwürfe für mich übrig gehabt.“ Rumiko stand auf, ging direkt auf Beyond zu und gab ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. „Was hattest noch mal gesagt gehabt, als ich versucht habe, dich vor deinem Vater zu verstecken? Sag schon, was hast du gesagt? Ich will es hören?“ „Das ist alles nur deine Schuld und ich wünschte, du würdest verrecken…“ Naomi ahnte, dass da ein ganz gewaltiger Geschwisterstreit am Laufen war und der ausgerechnet heute ausgetragen wurde. Rumiko war in einer Art Hassliebe gefangen. Sie hasste ihn dafür, dass er ihr diese Dinge an den Kopf geworfen hat und wollte ihn töten, aber andererseits liebte sie ihn und konnte ihm das nicht antun. „Also lassen wir jetzt diese überflüssige Konversation und kommen endlich zur Sache. Bringen wir das zu Ende, was wir 17 Jahre lang aufgeschoben haben. Ich erklär noch mal die Spielregeln: Jede Waffe darf benutzt werden, die Räume ebenfalls. Der Kampf findet einzig und allein hier statt und wenn ihr auch nur versucht Hilfe zu holen, dann werde ich richtig böse. Unsere werte FBI Agentin hier ist besonders gewarnt. Solltet ihr schummeln, dann wird Raye Penber einen Kopf kürzer gemacht!“ „Wir werden nicht kneifen und auch nicht fliehen.“ „Fein“, sagte Rumiko mit einem verächtlichen Lächeln und sah sie beide abwechselnd an. „Dann wollen wir mit dem Spiel beginnen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)