Conspiracy Dwelling (Two Rooms) von Kiru (Freunde können manchmal grausamer sein als Feinde.) ================================================================================ „Du wolltest mich retten“ ------------------------- Rating: PG-13/R Word Count: 6.231 ~*~ Der junge Polizist ergriff seine Hand und schüttelte sie mit einem freundlichen Nicken, ehe er wie angewiesen auf einem der Stühle am Tisch Platz nahm. Daisuke rubbelte noch etwas seine Haare trocken und brachte das Handtuch zurück ins Badezimmer, ehe auch er sich am Tisch nieder ließ, schräg neben seinem Besucher. „Wie ich hörte, ist Ihr Bekannter seit Samstag spurlos verschwunden, und laut seiner Freundin Hiko auch nicht der Typ, der irgendwohin abhauen würde, ohne jemanden vorher darüber in Kenntnis zu setzen. Wir sind auf der Suche nach eventuellen Spuren, ob er ein Reiseziel genannt hat, ob er Feinde hatte, ob er vielleicht doch mit jemandem durchgebrannt ist... Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.“ Die wachen Augen, von denen Daisuke gemustert wurde, gefielen ihm kein bisschen, aber er zwang sich, gelassen mit den Schultern zu zucken. „Ich stehe wie Sie vor einem Rätsel. Ich kann mir wie Hiko nicht vorstellen, dass er durchgebrannt ist oder quasi eine Auszeit nimmt... aber Feinde hatte er meines Wissens nach auch nicht. Nein, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“ „Nur, um es noch einmal klar zu haben – Sie sind mit ihm befreundet?“, wollte Daigo wissen und neigte seinen Kopf neugierig zur anderen Seite. „Ich war“, korrigierte Daisuke ihn freundlich und hätte am liebsten die Zähne gefletscht, als er bemerkte, wie der Polizist die Ohren spitzte. „Wir waren seit der Mittelschule befreundet, haben uns aber dann nach der Highschool aus den Augen verloren, nichts Dramatisches, es gab kein böses Blut zwischen uns.“ „Nein, nein, sicherlich nicht, darauf wollte ich auch gar nicht hinaus“, wehrte der andere lächelnd ab. „Waren Sie denn eng befreundet?“ Daisuke antwortete wieder mit einem Achselzucken. „Na ja, was man so unter ‚eng’ versteht. Es war nicht so, dass wir beste Freunde wären.“ „Und trotzdem haben Sie sich nach Ihrem Auseinanderleben noch weiterhin für ihn interessiert, nicht wahr? Seine Freundin erzählte mir, dass Sie über ihn ziemlich gut Bescheid wissen“, warf Daigo ein, erneut lächelnd, „aus dem Grund komme ich überhaupt erst zu Ihnen.“ Eines stand fest: Dieser Polizist erklomm gerade Platz für Platz auf Daisukes schwarzer Liste. Er gab vor, freundlich zu sein, während er seinen Gesprächspartner wahrscheinlich die gesamte Zeit prüfend taxierte, um mögliche Lügen auf der Stelle zu bemerken, Daisuke konnte es geradezu spüren. Dieser Typ besaß eine gewisse Intelligenz, die Daisuke unbehaglich war, eine Intelligenz, die er bei Hiko gänzlich vermisste. Nur deshalb hatte er sich überhaupt an sie heran machen können. „Das stimmt schon“, gab er zu. „Ich interessiere mich natürlich weiterhin für sein Leben, wie bei anderen ehemaligen Freunden auch.“ „Sie müssen sich wohl wirklich nahe gestanden haben“, nickte Daigo verständnisvoll und deutete anschließend mit dem Kinn in Richtung der Kommode, wo die drei gerahmten Fotos standen. Das rechte davon zeigte Daisuke und Aie zu ihrer Highschool-Zeit, ein Bild, das – sah man genauer hin – deutliche Spuren von Abnutzung aufwies. Daisuke überkam ein unbändiges Verlangen, den neugierigen Polizisten einfach aus seiner Wohnung zu werfen. „Aber ich fürchte, ich kann Ihnen trotzdem nicht weiterhelfen“, wechselte er mehr oder weniger gekonnt das Thema. „Es muss ihm irgendetwas zugestoßen sein, etwas anderes kann ich mir wirklich nicht vorstellen.“ „Wenn ihm etwas zugestoßen sein sollte, hätten wir ihn längst gefunden“, versicherte Daigo ihm nicht sonderlich beruhigend. „Ich spreche aus Erfahrung – entweder, jemand Verschwundenes ist tatsächlich in die Karibik abgehauen, oder er wird spätestens nach zwei Tagen irgendwo entdeckt. Es muss sich jemand große Mühe gemacht haben, ihn zu verstecken, die Frage ist nur: Wer?“ Hellbraune Augen blitzten Daisuke an. Sein Gemüt verfinsterte sich weiter. Er fühlte sich, als könnten diese Augen geradewegs in seinen Schädel, seine Gedanken, sein Herz hineinschauen, und das gefiel ihm nicht, das gefiel ihm gar nicht. „Das frage ich mich auch“, wich er aus. Er musste es schaffen, aus der Defensive in die Offensive über zu gehen, sonst... „Und Sie haben wirklich keine Ahnung?“ Daigos Tonfall hatte nun einen beiläufigen Plauderton angenommen. „Aus seiner Familie hegt niemand einen Groll gegen ihn? Vielleicht sogar jemand aus seinem Freundeskreis? Eine eifersüchtige Liebhaberin oder ein Freund, dem er die Freundin weggeschnappt hat?“ „Selbst wenn, bezweifle ich, dass er oder sie dann dazu in der Lage wäre, Aie etwas anzutun“, schnaubte Daisuke verächtlich. „Menschen sind tiefgründig, Daisuke“, widersprach der Polizist ihm nun schulterzuckend. „Niemand kann in ihre Seele blicken oder sie vollständig verstehen. Sie tun Dinge, die anderen unerklärlich sind und für sie vollkommen sinnvoll erscheinen. Schließen Sie so etwas nicht kategorisch aus.“ Dieser verdammte... „Nein, aber mir fällt weder aus der Familie noch aus seinen Freunden jemand ein, tut mir leid.“ „Kennen Sie seine Freunde? Nur so aus Interesse.“ Daigos Lächeln war wieder zurückgekehrt mit seiner enervierenden Hartnäckigkeit. „Ich hatte noch nie wirklich mit ihnen zu tun, nein. Sie wirkten aber auch nicht unsympathisch auf mich, daher bezweifle ich, dass einer von ihnen-“ „Einen Moment“, fiel er seinem Gesprächspartner ins Wort, seine Stirn sichtbar künstlich gerunzelt. „Sagten Sie ‚nicht unsympathisch’? Von seiner Freundin, Hiko heißt sie meines Wissens, hörte ich, dass Sie beide seinen Freunden nicht allzu wohlgesonnen waren.“ „Sagen Sie...“, begann Daisuke nachdenklich, als fiele es ihm erst jetzt auf, „...wird das hier ein Verhör? Es ist mir etwas unangenehm, dass Sie solche persönlichen Fragen stellen, die mit Aies Verschwinden ganz offensichtlich nichts zu tun haben.“ „Oh, das tut mir leid, falls ich Ihnen zu nahe getreten bin“, wehrte Daigo auf der Stelle so freundlich wie möglich ab. „Ich wunderte mich nur und damit ich ihn finden kann, benötige ich so viele Informationen wie ich beschaffen kann. Wenn Sie auf meine Fragen nicht antworten wollen, habe ich aber auch Verständnis dafür. Es ist nur eigentlich in Ihrem Interesse, dass Sie mich unterstützen.“ Daisuke kämpfte die spontane Welle von Zorn nieder, die in ihm aufbrandete ob dieser Worte. „Ich kann allerdings nur das wiederholen, was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe: Ich weiß zu wenig, als dass ich Ihnen weiterhelfen könnte.“ „Kennen Sie...“ Der Polizist zog ein kleines Notizbüchlein hervor, in dem er offenbar etwas nachlas, ehe er fortfuhr. „Kennen Sie eine junge Dame namens Arika? Sagt Ihnen der Name etwas?“ Wie viel hat Hiko ihm erzählt?, dachte Daisuke erbost, Wahrscheinlich alles. „Ja, der Name ist mir bekannt“, entgegnete er trocken. „Sie ist mit einem Freund von Aie zusammen. Und wahrscheinlich haben Sie schon von Hiko gehört, dass ich Aie verdächtige, mit ihr eine Affäre gehabt zu haben.“ „Genau darauf wollte ich hinaus“, nickte Daigo, sichtlich zufrieden. „Ich wollte Sie fragen, ob das Ihres Erachtens nach eine Spur ist, die es sich zu verfolgen lohnt.“ „Das kann ich nicht sagen – ich habe Hiko bereits geraten, mit Arika zu reden, ich weiß allerdings nicht, was-“ „Entschuldigen Sie, da habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt“, unterbrach der Polizist ihn auf seine irritierend freundliche Art. „Ich meinte nicht, dass Aie eventuell bei Arika untergekommen ist – das hat Hiko bereits selbst überprüft, sie hat mit ihr gesprochen und das Ergebnis des Gesprächs war, dass Arika tatsächlich eine Affäre mit ihm hatte, allerdings auch besorgt und unwissend um seinen Aufenthaltsort war, sie weiß offenbar nichts.“ Und ICH weiß etwas?, fuhr es Daisuke durch den Kopf, Ich muss etwas wissen, da ich offensichtlich nicht ‚besorgt’ genug bin. Oh bitte. „Was meinten Sie denn dann?“ „Ich sprach von Arikas Freund, ich habe seinen Namen verbummelt, habe ich ihn nicht irgendwo aufgeschrieben...? Na, egal. Könnte er nicht unter Umständen etwas mit dem Verschwinden zu tun haben?“ Wache, wachsame Augen taxierten Daisuke. Es war, als würde er geprüft. „Sie meinen, dass er von der Affäre erfahren hat und Aie aus Rache...? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem bezweifle ich, dass er tatsächlich davon wusste“, winkte Daisuke ab. „Wieso?“ „Sonst wäre er doch sicherlich nicht mehr mit ihr zusammen, oder?“ Daigo dachte so ausdrücklich nach, dass Daisuke nur mit Mühe ein Augenrollen unterdrücken konnte. „Es kann doch so sein, dass er sie zu sehr liebt, als dass er sie aufgeben wollte, und statt IHR etwas anzutun, dann-“ „Aber finden Sie das Motiv ausreichend?“, wollte Daisuke skeptisch wissen. „Um jemanden... verschwinden zu lassen, bedarf es meines Erachtens nach etwas mehr als solch-“ „Unterschätzen Sie niemals die Eifersucht, Daisuke. Was sie aus uns Menschen machen kann, ist erschreckend“, warf Daigo kopfschüttelnd ein. Es trat eine kleine Stille ein, die der Polizist jedoch nach kurzer Zeit selbst wieder unterbrach. „Entschuldigen Sie, aber dürfte ich wohl Ihre Toilette benutzen?“ „Natürlich, einfach durch die Tür“, teilte Daisuke ihm mit einem Handwedeln mit und verfolgte den anderen jungen Mann mit den Augen, wie dieser das Badezimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Er war sich sicher, dass der andere das Zimmer auf den Kopf stellen würde, hätte er die Zeit dazu, so jedoch würde er sich nur umsehen und nichts Verdächtiges finden. Sicherlich hatte Hiko ihm von dem vermeintlichen Wassermangel bei ihrem Besuch erzählt, deshalb hatte er Daisuke nun auf die Probe gestellt. Er würde eine Weile im Badezimmer herumsuchen, dann die Spülung betätigen und so tun, als wäre nichts gewesen. Daisuke hatte sich in eine Ecke drängen lassen, was alles andere als gut war. Aber sie hatten keine handfesten Beweise, und so lange sie diese noch nicht vorweisen konnten, war er sicher. Länger würde er sicherlich auch nicht brauchen, allerdings widerstrebte es ihm, unter Druck zu arbeiten. Er wartete eine Weile, bis er die obligatorische Toilettenspülung vernahm, und zauberte wieder ein höfliches, aber distanziertes Lächeln auf sein Gesicht, kurz bevor der Polizist herauskam. „Es tut mir leid, falls ich Sie belästigt habe, ich werde Sie auch gleich wieder in Ruhe lassen – das Gespräch mit Ihnen hat mich durchaus weitergebracht“, verkündete Daigo ihm freundlich und schüttelte erneut Daisukes Hand. „Ach ja, bitte glauben Sie nicht, dass die Polizei jederzeit so früh Studenten aus dem Bett klingelt, ich hatte nur gehört, dass Sie sich bereits am vorigen Abend von der Universität aufgrund einer Krankheit abgemeldet hatten, daher war ich so sicher, Sie hier anzutreffen.“ Sein Lächeln strahlte. „Aber gut zu sehen, dass es Ihnen offenbar wieder besser geht.“ Dieser gerissene Sack, dachte Daisuke und entgegnete höflich: „Danke für Ihre Sorge. Ich fühlte mich nicht allzu gut, aber nachdem ich eine Nacht durchgeschlafen habe, geht es mir auch besser. Ab morgen sollten Sie davon absehen, so früh bei mir aufzutauchen.“ „Das werde ich. Vielen Dank noch einmal für Ihre Kooperationsbereitschaft.“ Daigo stand bereits in der Tür, als Daisuke sich ein letztes Mal an ihn wandte: „Was meinen Sie, werden Sie ihn finden?“ Der Polizist lächelte. „Ja. Wir finden ihn. Auf Wiedersehen, Daisuke.“ Damit verließ er die Wohnung und hinterließ ein Gefühl der Beklemmung, das in der Luft hing, das Gefühl einer drohenden Gefahr... Es waren zwei Seen aus Traurigkeit, die Daisuke anblickten, kurz bevor er das Küchentuch losband. Der Körper schlaff, die Miene resigniert, die Augen traurig. Die Gestalt, welche der Schwarzhaarige die Treppen heruntergeschleppt hatte, hatte nichts mehr mit derjenigen zu tun, neben der er am Morgen aufgewacht war. Sie hatten mittlerweile beide begriffen, dass dies kein Spiel mehr nur zwischen ihnen beiden und eventuell noch Hiko war, sondern von äußeren Einflüssen alles andere als geschützt, es war fragil, gefährdet, gefährlich. Das Spiel konnte jederzeit beendet werden, bekam es jemand mit – doch Daisuke war es nicht, den diese Erkenntnis am meisten mitnahm. Im Gegenteil, es war Aie. „Ich sehe es dir an“, murmelte Daisuke und hängte das Küchentuch an die Türklinke über Aies Kopf. Er hatte den anderen an die Wohnungstür gelehnt und hockte vor ihm, ihre Gesichter auf der gleichen Höhe. „Du wolltest mich retten. Du wolltest mit mir reden, es mit mir aushalten, mich zur Vernunft bringen. Du wolltest mir helfen. Aber so funktioniert es leider nicht, Aie, du kannst es nun mal nicht allen recht machen. Vor allem nicht, wenn die anderen es nicht wollen. Ich habe eine Straftat begangen, Aie, es gibt kein Zurück mehr. Du kannst mich nicht retten, sieh es ein.“ Mit den Worten richtete er sich wieder auf und ging zum Küchentisch, nahm sich von dort eine der allgegenwärtigen Zigaretten aus der Packung und zündete sie sich an. „Ich kann dich retten, Daisuke“, kam es leise von der Tür her. Aie hatte die Augen geschlossen und spürte, wie Kälte in sein Innerstes drang. Auf dem Dach hatte ein frischer Wind geweht und trotz der Jahreszeit hatte er deutlich gefroren. In der Wohnung war es zwar von der Temperatur her warm, allerdings war er von einer ganz anderen Kühle empfangen worden. „Ehrlich gesagt bin ich der einzige, der dich jetzt noch retten kann.“ „Ach?“ Der Angesprochene hob seine Augenbrauen und merkte, wie er sich über sich selbst ärgerte: Seine Finger hatten wieder angefangen zu zittern. Er schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und zog freihändig an ihr, während er abwesend seine Finger massierte. Es half nichts. Ihm war, als läge der durchdringende Blick des Polizisten noch immer auf ihm und würde geradewegs bis hin zu seinen behütetsten Geheimnisse sehen können. Er schaute zur Kommode herüber, zu den drei Fotos, wandte sich jedoch schnell wieder ab, hin zu Aie. „Und wie stellst du dir das vor?“ „Du lässt mich gehen“, begann der andere langsam, er klang erschöpft, „und ich erstatte keine Anzeige, ich sage aus, dass du mir nichts angetan hast und dass ich, um ein bisschen Ruhe zu bekommen, bei dir Asyl gesucht habe. Wenn es keinen Ankläger gibt, gibt es auch keine Straftat. Lass mich gehen, Daisuke, und ich sorge dafür, dass dir nichts passiert.“ „Wenn ich es auch nicht wage, diesen Vorschlag dumm zu nennen, so ist er doch sicherlich naiv“, erwiderte Daisuke und war kurz davor, seine Zigarette fallen zu lassen. „Was glaubst du: Dass ich dadurch gerettet würde, dass ich für eine begangene Straftat nicht gerade stehen muss? Wie stellst du dir das vor – soll ich dadurch mein Seelenheil erringen? Mir geht es nicht darum, dass mir von irgendwem verziehen wird, weder von dir noch vom Staat. Du hast noch immer nicht begriffen, worum es mir eigentlich geht, so scheint es. Aber lass dir eins gesagt sein: Ich habe meinen Weg gewählt, ich habe ihn eingeschlagen und ich lasse mich nicht von ihm abbringen. Ich weiß, was ich dir erzählen will, und ich weiß, was ich dich verstehen machen will – und ich weiß, womit es endet. Daran ist nichts zu rütteln, Aie. Auch an meinem Ende nicht.“ An der Stelle schlug Aie nun doch seine Augen auf, voller Verzweiflung und Ungläubigkeit. „Sprich es nicht aus“, bat er kaum hörbar und wusste doch, dass er es nicht würde verleugnen können. „Ich werde mich umbringen, Aie, und daran kannst auch du nichts ändern.“ Die Endgültigkeit, mit der die Worte aus seinem Mund entkamen, erschreckte ihn selbst. Er hatte noch nicht allzu viele konkrete Gedanken daran verschwendet, der Entschluss jedoch stand für ihn schon länger fest. Nur wie er es letztendlich durchführen wollte, das hatte er noch nicht entschieden. Er vertraute darauf, dass ihm eine angemessene Methode einfallen würde. Es folgte kein Schock, was darauf hindeutete, dass Aie seit Längerem begriffen hatte. Stattdessen verfluchte er sich dafür, dass er so machtlos war. Was sollte er tun, gab es noch irgendetwas im Bereich des Machbaren, wie er es abwenden konnte? Wie er Daisuke zur Vernunft bringen konnte? „Nein“, flüsterte er mit unsicherer Stimme. „Nein, Daisuke, nein... Warum? Was bringt es dir...?“ „Es bringt mir Frieden.“ Daisuke drückte die Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus und kehrte zum anderen zurück, ließ sich vor ihm nieder. Er zwang sich, den traurigen, trauernden Blick des anderen zu erwidern, und fuhr fort: „Es ist die einzige Möglichkeit, wie ich wirklich zur Ruhe komme. Jeder Mensch muss in seinem Leben nach Glück streben und streben können; wenn ich allerdings weiß, dass ich meines nie erreichen werde, sehe ich keinen Sinn mehr in meiner Existenz. Ich kann nicht ohne dich leben, Aie, nicht mehr, nicht, nach allem, was in den letzten Jahren und in den letzten Tagen passiert ist. Aber ein Leben MIT dir ist ebenso unmöglich. Was bleibt mir übrig? Habe ich denn wirklich eine Wahl?“ Während über Aie eine neue Welle der Verzweiflung zusammenbrach, konnte er nicht anders, als nach dem anderen zu treten und ihn wütend, frustriert, enttäuscht anzufunkeln. „Warum nimmst du keine Rücksicht auf MEINE Gefühle?!“, rief er mit brüchiger Stimme. „Warum hast du nie darüber nachgedacht, was ICH denke und fühle? Du zwingst mir deine auf, Daisuke, du stellst Erwartungen an mich, die ich erfüllen muss, und hast doch niemals den Willen gezeigt, dich um meine Gefühle zu kümmern! Ist es dir egal, was ich denke?! Du zwingst mich, dir zuzuhören, und bist nicht daran interessiert, MIR zuzuhören!“ Es war ein letztes hoffnungsloses Aufbäumen gegen das Unausweichliche, das war ihm bewusst, und dennoch konnte er sich nicht kontrollieren. „Was würde es denn ändern, wenn ich dir zuhörte?“, fuhr Daisuke scharf dazwischen und hielt Aies Knöchel fest. Die Haut war vom Seil aufgescheuert und gerötet. „Was glaubst du, dass es die Situation vollkommen verändern würde? Nein, ich würde nur die Bestätigung dessen bekommen, was ich ohnehin schon weiß – dass ich einfach niemand Besonderes für dich bin, dass du dich sowieso nicht um mich kümmerst!“ „Wie kommst du darauf?“ Der gekränkte Tonfall war kaum auszuhalten, fand Daisuke. Er fixierte sein Gegenüber verbissen. „Hör dir an, was ich zu sagen habe, und versuche, mir hinterher weiszumachen, dass es noch eine andere Interpretation gibt. Vor etwa einem Jahr liefen wir uns mehr oder weniger zufällig über den Weg und verbrachten drei, vier Freitagabende in einer kleinen Bar. Wie du dich sicherlich erinnerst, endete einer davon in einem Love Hotel und einem Fiasko. Zu dem Zeitpunkt dachte ich mir noch, dass du wahrscheinlich einfach nicht mehr wusstest, was du tatest. Knapp ein Jahr später erfahre ich durch Zufall von einem Unbeteiligten, dass man dich in jenem Love Hotel bereits kennt, da du dich wohl öfter dort mit einer gewissen blonden Schlampe triffst, die auch unter dem Namen Arika bekannt ist. Nun sag mir, Aie, ob ich so falsch liege: Meine Schlussfolgerung war, dass du vor einem Jahr versucht hast, mich in deinen Kanon von Schlampen einzureihen, derer du dich bedienst, wenn du Hiko überdrüssig wirst. Du wolltest mich ausnutzen als einen unter vielen, dir was es vollkommen egal, ob ich dich von Herzen liebte oder lediglich körperlich an dir interessiert war, solange du das bekamst, was du wolltest. Hiko liebst du selbstverständlich weiterhin, aber sie alleine scheint dir nicht genug zu sein, also suchst du dir noch jemand anderen... wobei Hiko natürlich weiterhin die Nummer Eins bleibt.“ Seine Fingernägel gruben sich unwillkürlich in Aies Haut, was der andere jedoch nicht zu bemerken schien. Er schaute Daisuke vor sich nur elend an. „Das war es, was letztendlich in mir den Ausschlag gegeben hat. Dass du unsere Freundschaft ausnutzen und etwas mehr Trost als üblich verlangen wolltest, das hätte ich dir noch verziehen. Aber dass du dich keinen Deut um mich als Persönlichkeit gekümmert hast, dass du mich zum Lustobjekt degradieren wolltest, DASS DU MICH AUF EINE STUFE MIT DIESER ARIKA GESTELLT HAST, das war zu viel. Das war eindeutig zu viel.“ Aie schwieg. Ihm war, als habe sich letzten Endes der Vorhang doch noch gelüftet und anstatt ein Schauspiel genießen zu können, erwartete ihn ein Anblick des Schreckens. Er wandte seinen Blick ab, schaute nach draußen, zum Bett, zum Küchentisch, zur Badezimmertür, zur Küche. Dann wieder in Daisukes ernstes Gesicht. „Das ist also die wahre Ursache“, stellte er leise fest. „Deshalb bin ich hier.“ Daisuke nickte langsam, offenbar von einer grimmigen Zufriedenheit erfüllt, da der andere endlich verstanden hatte. Das sah er ihm an. „Aber das ist nicht der wahre Grund. Der wahre Grund ist, dass du einfach ... einfach nur jemand Besonderes für mich sein wolltest. Dass ich dir einen Platz in meinem Herzen einräume, der auf ewig für dich reserviert bleibt.“ Wieder nickte Daisuke. „Das ist genau das, was ich erreichen will. Und da ich es offensichtlich nicht dadurch geschafft habe, dass ich dir mit schönen Erinnerungen im Gedächtnis verbleibe, habe ich mich entschlossen, es mit dem Gegenteil zu versuchen. Ich wollte dich für das büßen lassen, was du mir angetan hast, wollte dich verstehen lassen und wollte, dass du mich niemals mehr vergisst. Das reicht mir.“ Die Luft schien aus Teer zu bestehen, nur mühsam drang sie in Aies Lungen, erfüllte dort kaum ihren angedachten Zweck und kroch beinahe schmerzhaft wieder aus seinem Körper. Das Licht schien nicht mehr dafür gemacht, ihn sehen zu lassen, sondern stattdessen, um ihn zu blenden, um in die hintersten Ecken seiner Wahrnehmung zu dringen und sein Gehirn zu behindern. Der Boden gab ihm keinen Halt mehr, die Wände des Raums wollten ihn erdrücken und die Kleidung an seinem Körper rieb unangenehm an seiner Haut. Nur Daisuke saß noch vor ihm, blickte ihn an, seine Hand auf Aies Knöchel, und wirkte genauso verloren wie Aie sich fühlte. „Ich kann mich nicht entschuldigen“, begann Aie mit belegter Stimme. „Ich kann mich auch nicht rechtfertigen. Ich kann dir nur eins sagen: Du warst immer jemand Besonderes für mich. Du bist der einzige, einzig richtige Freund, den ich je in meinem Leben hatte. Ich kann dir nicht sagen, warum ich mich immer wieder von dir distanziert habe, aber ich kann dir sagen, dass ich es jedes Mal bereute. Ich wollte immer mit dir befreundet bleiben. Und wenn dir so wichtig ist, dass ich dich in Erinnerung behalte, dann ...bring dich nicht um. Bitte. Das würde ich dir nie verzeihen.“ Ein dünnes Lächeln erschien auf Daisukes Lippen. „Gut. Wut verraucht über die Jahre, Zuneigung versiegt und Hass verpufft... aber Groll, Enttäuschung, Frustration, Machtlosigkeit – diese Gefühle bleiben. Und mit ihnen die Erinnerungen.“ Aie schüttelte nur den Kopf, hin und her, die Augen auf Daisuke fokussiert, die gefesselten Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt, alles in ihm ob seiner Verzweiflung protestierend. Er öffnete gerade den Mund, als das Telefon klingelte. Dieses Mal jedoch brachte das unerwartete Geräusch Daisuke nicht so aus der Fassung. In ihm war Ruhe eingekehrt, Stille herrschte anstatt der zuvor allgegenwärtigen Wut. Es war bald vorbei, das spürte er bereits. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, hatte dafür gesorgt, dass es nicht auf taube Ohren stieß, und er war nach wie vor entschlossen, was das Ende anging. Er verspürte zum ersten Mal seit etlichen Jahren inneren Frieden. Es war ein herrliches Gefühl. Er stand auf und trat zum Tisch, ergriff das schnurlose Telefon und nahm den Anruf an. „Daisuke...?“, tönte ihm Hikos unsichere Stimme entgegen. „Ach, Hiko“, erwiderte er freundlich und zwang sich, keinen Blick in Aies Richtung zu werfen. „Was gibt’s?“ Eine kurze Stille folgte. „Weißt du schon irgendetwas Neues?“, wollte sie dann wissen, noch immer zögerlich, als habe sie ein schlechtes Gewissen. Vielleicht wegen des Polizisten, den sie zu Daisuke geschickt hatte. „Ich fürchte nicht, nein“, antwortete er gelassen. „Gerade war ein Polizist namens Daigo hier und hat mich über Aie ausgefragt.“ Wieder war eine Weile nur Schweigen zu hören. Währenddessen begriff er langsam. „Daisuke-“ „Du hast schon mit ihm gesprochen“, stellte er nüchtern fest. Hiko holte zittrig Luft. Ihre Frage kam langsam, aber dadurch nicht weniger unerwartet. „Er ist bei dir, oder?“ Daisukes Finger fanden ihren Weg und hatten, bevor er tatsächlich Zeit hatte nachzudenken, bereits aufgelegt. Das Telefon fiel mit einem lauten Geräusch auf die Tischplatte und blieb still liegen, während der eine Schwarzhaarige sich zum anderen umwandte. Aie folgte ihm mit wachen Augen, Hikos Name hatte ihn offensichtlich aufgeschreckt. Daisuke schritt zurück zur Wohnungstür, hockte sich dieses Mal neben Aie und schloss dessen Handschellen auf. Er richtete sich wieder auf und half auch Aie auf die Füße. „Sie weiß es“, murmelte Aie und hob den Blick zögernd, als sei es seine Schuld. „Selbstverständlich weiß sie es“, gab Daisuke schulterzuckend zurück und ließ die Handschellen zu Boden fallen. Das hätte er sich denken können. Sie hatte zu früh mit Arika geredet, war zu früh von der Polizei erhört worden, hatte zu früh angefangen, selbst zu denken. „Geh.“ Er trat einen Schritt zurück und nickte in Richtung Wohnungstür. Aie trat vom einen Fuß auf den anderen und sah sein Gegenüber unglücklich an. „Ich sagte: Geh“, wiederholte Daisuke eindringlich. „Geh zu ihr. Geh zurück in dein Leben. Triff dich mit deinen Freunden, beende dein Studium, betrüge Hiko, such dir einen Job, zeug Kinder, kauf dir ein Haus. Mach, was du willst, ich habe ohnehin keinen Einfluss mehr auf dich. Aber vergiss mich nicht.“ Aie schlug die Augen nieder. „Ist dir die Freiheit auf einmal so wenig wert? Du solltest längst an der frischen Luft sein.“ Aie begann, auf seiner Unterlippe zu kauen und rührte sich nicht von der Stelle. „Geh, Aie. Bitte. Geh.“ Aies Unterlippe begann zu zittern, doch noch bevor die erste Träne über seine Wange rollen konnte, hatte er seine Lippen auf Daisukes gedrückt und seine Arme um den Körper des anderen geschlungen. Daisuke konnte nicht anders, so sehr er auch wollte, als den Kuss zu erwidern, als die Umarmung zu erwidern, als die Emotionen zu erwidern. Sie klammerten sich aneinander, während Aie zum ersten Mal seine Arme frei bewegen konnte; seine Hände wanderten gierig über Daisukes Körper, ertasteten seine Figur, erfühlten seine Haut, sie fuhren unter sein Shirt und über seinen Rücken, über seine Brust, über seinen Bauch, über seinen Nacken und über sein Gesicht. Daisuke prägte sich währenddessen ein, wie es sich anfühlte, Aie so nah zu sein, körperlich wie seelisch, und musste sich eingestehen, dass es ein Fehler gewesen war, dem anderen nicht zu vertrauen. Ein Körper, der wie geschaffen schien, um sich an ihn zu schmiegen, und ein Geist, dessen Verbundenheit mit seinem eigenen er die gesamten letzten beiden Tage hatte spüren können... Er kam wieder zur Vernunft und schob den anderen bestimmt von sich. In Aies Miene spielten Verlangen, Hilflosigkeit, Mitgefühl und Traurigkeit, ein Anblick, der sich tief in Daisukes Herz einbrannte. Es war ein würdiger Anblick für ihren Abschied, beschloss er, und entfernte sich erneut räumlich vom anderen, indem er nach hinten trat. „Geh jetzt. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ Er unterstrich seine Worte damit, dass er sich abwandte und auf dem Weg zum Fenster eine weitere Zigarette aus der Schachtel holte, sie sich anzündete. Seine Finger waren ruhig, so ruhig wie er selbst. Es hatte ein Ende gefunden. Nicht gerade ein Ende nach seinem Geschmack, dafür war es zu plötzlich gewesen und zu großen Teilen von äußeren Einflüssen verursacht, aber doch auch kein Ende, mit dem er vollkommen unzufrieden war. Als er zum ersten Mal an seiner letzten Zigarette zog, hörte er, wie seine Wohnungstür geöffnet wurde. Er stellte sich vor seine Couch ans Fenster und blickte nach draußen. Es war früher Vormittag, wahrscheinlich vor zwölf Uhr, und die Sonne war noch immer auf ihrem Weg nach oben. Die wenigen Menschen auf der Straße gingen ihren Geschäften nach, hatten kaum einen Blick füreinander übrig und waren meist in Eile. Autos fuhren vorbei, kaum sah man sie, vergaß man sie auch wieder. Die Wohnungstür fiel mit einem dumpfen Geräusch wieder ins Schloss. Die meisten Fenster des gegenüberliegenden Hauses waren blind und erlaubten oft durch Gardinen und ähnliches keinen Einblick in das dahinter liegende Zimmer. In einem Raum flimmerte ein Fernseher. Daisuke schaute kaum hin, als er nach links griff, den Rahmen zu fassen bekam und ihn mit aller Kraft auf den Boden schmetterte. Das Glas zersprang mit einem unangenehmen Klirren und der Schwarzhaarige spürte Glassplitter neben seinem nackten linken Fuß. Er blies zum wiederholten Mal den blauen Dunst an die Decke, ehe er sich seine Zigarette zwischen die Lippen schob und sich langsam bückte, um den Rahmen aufzuheben. Das Foto darin war unbeschädigt; Daisuke erinnerte sich noch ganz genau an den Tag, an dem sie das Bild aufgenommen hatten. Sie waren an einem Sonntag zusammen an einen nahe gelegenen See gefahren, in irgendwelchen Sommerferien war es gewesen, da die Sonne ihnen ins Gesicht schien. Die meisten der größeren Glassplitter waren noch im Rahmen geblieben und Daisuke suchte sich den spitzesten aus; er maß etwa 10cm in der Länge, das würde sicherlich reichen. Er löste ihn vorsichtig heraus und stellte den Rahmen zurück auf den Boden, ehe er sich wieder aufrichtete. Seine Faust schloss sich sicher um das Glas, auch noch, als die Kanten in sein Fleisch schnitten. Er unterdrückte den Schmerz und ignorierte das Blut, das nach kurzer Zeit am Splitter entlang lief und zu Boden tropfte. Selbstverständlich hatte er die fehlenden Schritte am Anfang bemerkt und das Rascheln der Kleidung wahrgenommen. Natürlich war ihm die gespannte Stille aufgefallen zusammen mit dem Blick, der sich in seinen Rücken gebohrt hatte. Zweifelsohne überhörte er auch nicht die Schritte, die sich ihm nun näherten, gefolgt vom Knirschen der Glassplitter, und registrierte den angehaltenen Atem. Daisuke fragte sich nur: Warum das Ganze? Weshalb war er nicht gegangen? Zwei Arme, die endlich von ihrem Gefängnis befreit worden waren, legten sich von hinten um seine Schultern, zogen ihn ein kleines Stück nach hinten und drückten ihn an den warmen Körper hinter sich; ein Kinn legte sich auf seine rechte Schulter, ein Ausatmen kitzelte seine Wange. Er sagte nichts. „Ich werde Hiko verlassen.“ Kaum mehr ein Flüstern an seinem Ohr kaum mehr als ein Wispern das Lippen entstammte die zu berühren es Daisuke nie stärker verlangt hatte. „Ich werde nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ich werde zu dir zurückkehren, Daisuke, ich werde den Kontakt zu meinen sogenannten Freunden abbrechen. Ich werde bei dir bleiben. Ich will bei dir bleiben, Daisuke.“ Sein Blick war aus dem Fenster gerichtet doch sah er schon lange nichts mehr. „Warum?“ fragte er nur und fragte sich selbst nicht warum er es tun wollte sondern warum er es gesagt hatte. „Weil ich dich... auf meine eigene Art, in einer gewissen Weise auch liebe.“ Die Worte kamen zögernd unsicher. Daisuke verstärkte seinen Griff um den Glassplitter. Der Schmerz tat ihm gut er hatte etwas Ernüchterndes das ihm half klarer zu denken. Aus dem Grund fragte er sich auch nicht ob er den Worten Glauben schenken konnte oder ob er ihnen Glauben schenken wollte. Er stand da und fühlte die Körperwärme des anderen so wie er die Wärme seines eigenen Bluts fühlte. Draußen fuhr ein Auto vor hielt abrupt einige Männer sprangen heraus. Der Fernseher im Fenster gegenüber flimmerte weiter. Die Menschen gingen weiterhin ihren Geschäften nach. Die Erde drehte sich weiter. Und die Sonne stand noch nicht auf ihrem Zenith. Es war das Ende. „Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass du dich umbringst.“ Dieses Mal nur ein Hauchen. Daisuke senkte den Kopf und schaute auf den rot gefärbten Splitter in seiner Hand. Er hörte die Schritte auf der Treppe. Er spürte Aies Herzschlag an seinem Rücken. Er roch sein eigenes Blut. Es würde gleich vorbei sein. ~*~ Jemand rief bereits auf der Treppe nach seinem Chef, während vor dem Haus einige Bewohner standen und sich aufgeregt, schockiert unterhielten. Die Wagen waren bereits gefahren, es herrschte Ruhe in dem großen, leeren, kalten Raum. Eine Ruhe wie auf einem Friedhof. Einiges hatte sich im Raum geändert vom Samstagmorgen bis hin zum Montagmittag, von da an jedoch war das Zimmer zusammen mit dem anliegenden Badezimmer bis zum Dienstagabend weitestgehend gleich geblieben, wie als wäre die Wohnung konserviert worden. Die größte Veränderung stellte ein Polizist dar, der auf dem gleichen Stuhl saß wie am Vortag, das Gesicht in den Händen vergraben hatte und sich weiterhin vorerst weigerte, zu seiner eigenen Wohnung zurück zu kehren. Er sog die Atmosphäre auf und spürte, wie sie schwer auf ihm lastete. Der andere Polizist, der soeben die Treppe hinauf gestiegen war, betrat den Raum vorsichtig und fragte erneut nach seinem Chef. Daigo hob den Kopf und betrachtete den Neuankömmling niedergeschlagen. „Habt ihr mehr über ihn heraus gefunden?“, wollte er schwach wissen. Sein Gesprächspartner nickte ebenfalls bedrückt. „Ja. Seine Eltern wohnen in Toyama und haben wohl auch kaum mit ihm gesprochen in den letzten zwei Jahren, nachdem sie dorthin gezogen sind und er hier geblieben ist. Sie wussten auch nichts von seinem Herzleiden; ich habe einen Arzt gefragt, der meinte, dass es auch noch kein Heilmittel für seine besondere Erkrankung gäbe. Er hatte eine ältere Schwester, die verheiratet war und eine Tochter hatte, alle drei sind allerdings vor weniger als einem Jahr in einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt.“ Daigo rappelte sich auf und trat etwas näher an die Kommode neben der Couch heran. „Ich nehme an, das ist sie“, murmelte er mehr für sich selbst und betrachtete das mittlere Foto mit der strahlenden jungen Frau und dem Baby auf ihrem Arm. „Ansonsten war er wohl kaum auffällig, er hatte ein scheinbar völlig normales Privatleben und war in seinem Studium erfolgreich. Meines Erachtens nach hatte er keinerlei Motiv, etwas derartiges-“ „Sag es nicht!“, fuhr Daigo ihn plötzlich verärgert an. „Ohne ein Motiv wird er wohl kaum so etwas getan haben, also unterstell es ihm nicht! Ich habe ihn getroffen und ich kann dir sagen, dass die Abgründe, die ich in seinen Augen gesehen habe, so tief waren, dass ich selbst Angst bekam, hinein zu fallen. Du weißt, dass ich ein Menschenkenner bin und viele wie ein offenes Buch lesen kann, aber ihn... ich habe wahrscheinlich nur einen flüchtigen Einblick in die Dunkelheit bekommen, die in ihm lauert, aber das hat mir gereicht. Was auch immer ihn veranlasst haben mag, es war sehr tief in ihm verankert.“ „Richtig, du hast ja mit ihm gesprochen...“ Der andere Polizist sah sich kurz um. „Wie bist du eigentlich auf ihn gekommen?“ „Diese junge Frau, Hiko hieß sie, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich überhaupt noch jemand anderes um ihren Freund gesorgt hat, eben dieser Daisuke. Ich habe sie etwas über ihn ausgefragt und dann beschlossen, ihm einen Besuch abzustatten, weil manches, was sie erzählt hat, verdächtig klang. Beispielsweise hatte er sich krank gemeldet, ohne seinen Bekannten Bescheid zu geben, was quasi noch nie vorgekommen ist – Hiko hat das irgendwie mitbekommen.“ Zum allerersten Mal kam Daigo der Gedanke, dass Daisuke bewusst hatte auffallen wollen durch sein Fehlen. Vielleicht hatte er dies als letzten Hilferuf benutzt – und er hatte ihn nicht ernst genommen, nicht begriffen, nicht verstanden... „Und selbst wenn er keine Spur gewesen wäre, so hätte er mir doch helfen können. Na ja... mir wurde klar, dass er mehr wusste, als er zugab, aber richtig verhören konnte ich ihn nicht. Ich habe mich in seinem Badezimmer etwas umgesehen und zwei Dinge gefunden, die entscheidend waren.“ „Ich erinnere mich“, stimmte sein Gesprächspartner ihm zu. „Der Rest Klebeband an der Wand und der zusammengeknüllte Zettel im Mülleimer.“ „Genau. Dann habe ich Hiko den Zettel gezeigt und sie wirkte, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Ab da war es mir eigentlich klar.“ Die beiden Polizisten schwiegen wieder eine Weile. Daigo musterte genau die gleichen Dinge wie zuvor die etlichen Male: Die Glassplitter auf dem Boden. Der eine, große Blutfleck. Die vielen anderen Blutspritzer daneben. Der blutbesudelte Rahmen, der auf dem Boden stand. Die anderen beiden Fotos auf der Kommode. Die halb abgebrannte Zigarette auf dem Boden. Das ordentlich gemachte Bett. Der Nachttisch, in dem sie ein blutiges Taschenmesser und eine Tube gefunden hatten. Das Bett, in dem sie Rückstände von dem Inhalt der Tube und noch etwas anderem feststellen konnten. Der Kleiderschrank, in dem sich ein durchgeschnittenes Hanfseil und ein zweites Paar Handschellen befunden hatten. Die Spülmaschine, in der ein Glas gewesen war, aus dem Aie getrunken hatte. Die Tür mit dem Küchentuch über der Klinke. Das Badezimmer, in dessen Mülleimer er den Zettel und eine Packung Haarfarbe gefunden hatte; an dessen Wand er den Klebebandrückstand entdeckt hatte; in dessen Schrank eine zu großen Teilen verbrauchte äußerst wirksame Packung Schmerzmittel sowie flüssiges Betäubungsmittel, das wohl an mehreren Stellen gezielt eingesetzt worden war, gelagert waren. Der Tisch mit dem darauf liegenden Telefon, an dem Daigo gesessen hatte; an dem Daigo und Daisuke gesessen hatten. „Ich kann und will mir nicht vorstellen, was hier innerhalb der zwei Tage passiert ist“, stellte Daigo sehr leise fest. „Übrigens, kannst du es in Zukunft unterlassen, über Lebende in der Vergangenheit zu sprechen? Er lebt. Es war ein verdammt großes Glück, dass er noch lebt, aber er lebt. Wie geht es ihm?“ „Sein Zustand ist stabil“, teilte der andere Polizist ihm mit. „Im Krankenhaus versucht man, sich entsprechend um ihn zu kümmern, aber-“ „Sie müssen ihn rund um die Uhr überwachen!“, fuhr Daigo dazwischen. „Es besteht hohe Suizidgefahr, er hat schon einmal versucht-“ Ein Handyklingeln unterbrach ihn. Er versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen; dieser Fall nahm ihn zu sehr persönlich mit. Er hatte der Freundin die schreckliche Nachricht überbracht, er war sogar zu den Eltern gefahren, um es ihnen mitzuteilen. Zumindest einer hatte überlebt und Daigo wagte nicht einmal zu denken, dass es der Falsche gewesen war. Als der andere das Telefongespräch beendet hatte, wollte er gerade vorschlagen, dass sie diesen Ort des Schmerzes verließen, aber er stockte, als er das Gesicht seines Kollegen sah. „Es war das Krankenhaus“, begann dieser langsam. Dann schüttelte er nur leicht den Kopf, wie als spräche er das Todesurteil selbst aus. Daigo musste sich abwenden und fuhr sich durch die Haare, ehe er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich habe es ihnen eingeprägt!!“, rief er aufgebracht. „Ich habe es ihnen mehrmals gesagt, sie sollten ihn- ...“ Er atmete einmal tief durch und vergrub wieder das Gesicht in den Händen. „Und er hatte noch sein ganzes Leben vor sich“, bemerkte der andere schwermütig. Der junge Polizist blickte wieder zu dem ganzen Blut, spürte wieder den Schmerz, der sich in den letzten Tagen im Raum angesammelt hatte, dachte zurück an die Finsternis in den zwei Augen. „Nein. Das denke ich nicht.“ Er schaute zur Kommode und zu den drei Fotos, von denen eins nun auf dem Boden stand. „Ich denke, es ist das Gegenteil.“ ~*~ A/N: Ich habe Schwierigkeiten, mich in vielen Hinsichten festzulegen, etwa wer von beiden der Täter und wer das Opfer ist... Tja, außerdem habe ich das Gefühl, dass es insgesamt zu lang ist, an manchen Stellen nicht nachvollziehbar, und überhaupt zweifle ich manchmal an der Authentizität |D Was denkt ihr darüber? Abgesehen davon gibt es ein alternatives Ende, das sogesehen einfach an das normale Ende drangehängt wird, hier: http://i.imgur.com/tBt4L.png Und eine kurze Erklärung dazu hier: http://i.imgur.com/QxE00.png Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)