Conspiracy Dwelling (Two Rooms) von Kiru (Freunde können manchmal grausamer sein als Feinde.) ================================================================================ „Ich kann mit meiner Liebe zu dir nicht glücklich werden“ --------------------------------------------------------- Rating: G/PG Word Count: 5.712 A/N: Argh. ~*~ Daisuke goss das heiße Wasser über die beiden Packungen Fertig-Ramen und füllte das restliche Wasser in eine Tasse mit Teebeutel. Ihm war an diesem Abend nicht nach Bier. Er hatte die beiden Nudelportionen ungleich verteilt und der einen nur die Hälfte übrig gelassen – er wollte schließlich nicht, dass Aie körperlich wieder fit wurde. Nein, so schwach, wie er im Moment war, gefiel er ihm ganz gut. Zumindest für seine Gefangenschaft. Eigentlich tat es dem Schwarzhaarigen in der Seele weh, seinen ehemaligen besten Freund so abgewrackt zu sehen, mit Ringen unter den Augen, knurrendem Magen, um jedes Glas Wasser bettelnd. Nein, er musste dafür sorgen, dass es bald endete. Noch innerhalb der nächsten Tage. Er warf einen Blick zurück zu dem anderen Schwarzhaarigen, der auf dem Bett lag, weiterhin zur Decke sah und rauchte. Daisuke hatte ihm eine Zigarette ‚danach’ gewährt, wobei das keine zutreffende Bezeichnung war, da es normalerweise vorangegangenen Sex implizierte. Davon hatte Daisuke jedoch zunächst abgesehen. Er hatte Zeit, musste sich nicht hetzen. Es reichte, wenn Aie mit drei Fingern noch nicht überfordert war. Dass er allerdings nur davon kommen würde, dass er befingert wurde, hätte Daisuke noch nicht erwartet. Umso besser. Zunächst brachte er seine Tasse Tee ans Bett, wo er sie auf den Nachttisch stellte, ehe er die beiden Schüsseln mitnahm. Er hatte Aies Arme wieder vom Bett befreit, sodass diese nun auf Aies Bauch ruhten. Er rauchte mit geschlossenen Augen, bis Daisuke ihm die Zigarette abnahm und sie kurzerhand im Aschenbecher ausdrückte. Aies Augen flogen auf und er unternahm Anstalten, sich die Zigarette wiederzuholen, aber Daisuke drückte ihm stattdessen die Schüssel in die Hand. „Jetzt wird erst einmal gegessen“, bestimmte Daisuke ruhig und nahm auf dem Stuhl Platz. „Außerdem ist Rauchen ohnehin nicht gesund.“ „Du rauchst auch wie ein Schlot“, entgegnete Aie trotzig und stellte die Nudeln einen Moment beiseite, um sich in eine sitzende Position aufrichten zu können, wobei er kurz das Gesicht verzog. „Und du ernährst dich nicht richtig. Du bist zu dünn.“ „Schlechten Menschen geht es immer gut“, warf Daisuke ein, ohne dem anderen besondere Beachtung zu schenken. „Ach ja? Und ich bin ein ‚guter’ Mensch?“, wollte sein Gegenüber spöttisch wissen und zog seine Hose zurecht. Er war zuvor vom anderen angezogen worden. „Das habe ich nicht impliziert. Außerdem – geht es dir gerade schlecht?“ Hätte Daisuke eine Brille getragen, so hätte er Aie nun über den oberen Rand prüfend taxiert. Aie seufzte nur einmal tief und betrachtete die Fertig-Ramen mit sichtlicher Lustlosigkeit. „Ist dem Herrn das Essen nicht gut genug?“ Daisukes Stimme hatte einen spitzen Tonfall angenommen, den er gut von sich kannte. Allerdings mochte er ihn nicht besonders. Meistens bedeutete es nichts Gutes, wenn er hörbar gereizt wurde. „Ich habe keinen Appetit“, entgegnete Aie zögernd und sah den anderen nicht direkt an. „Das glaube ich dir nicht.“ „Ich habe nicht gesagt, dass ich keinen Hunger habe. Ich habe keinen Appetit. Ich habe keine Lust zu essen“, erklärte er geduldig. Daisuke musterte ihn abschätzend. „Der Appetit kommt beim Essen.“ Es folgte keine Reaktion. „Aie“, fuhr er warnend fort, „zwing mich nicht dazu, etwas Unnötiges zu tun.“ Der andere wich weiterhin seinem Blick aus. „Das ist deine letzte Chance, Aie. Iss.“ Sein Gegenüber hatte die Augen niedergeschlagen und rührte sich hartnäckig nicht von der Stelle. Er wusste nicht, was die Konsequenzen sein würden, aber er wollte genau das herausfinden. Der andere Schwarzhaarige musterte ihn nachdenklich und schlürfte währenddessen weiterhin seine Nudeln. „Es bringt nichts, in einen Hungerstreik zu gehen“, stellte er gelassen fest. Gut. Das war gut – wenn er ruhig blieb, dann hatte keiner von ihnen beiden etwas zu befürchten. „Ich werde dich einfach zwingen zu essen, Aie. Es reizt mich allerdings auch herauszufinden, was stärker ist: Dein Wille oder deine Schmerzempfindlichkeit. Gib dir Mühe, ja?“ Er aß die Ramen in Rekordzeit auf, entfernte den Teebeutel aus seiner Tasse und brachte erst das Geschirr weg, ehe er zur Kommode ging, eine Schublade aufzog und etwas darin herum kramte. Als er sich wieder zum Bett wandte, musste er feststellen, dass Aie vergeblich hastig versuchte, den Knoten des Seils aufzubinden, der sein rechtes Bein am Bettgestell fixierte. Ohne etwas von seiner Ruhe zu verlieren, nahm Daisuke wieder auf dem Küchenstuhl Platz, erwog kurz, ob er Aie seine Hilfe anbieten sollte, lehnte sich zurück und stieß mit dem Fuß gegen Aies gebrochene Rippe. Er hatte nicht einmal richtig getreten, dennoch entfuhr Aie ein Keuchen und er erstarrte in seinen Bewegungen. „Das sind vermeidbare Schmerzen“, stellte Daisuke ungerührt fest und trat ein zweites Mal zu, woraufhin Aie sich wieder auf das Bett sinken ließ. Er wehrte sich nicht, als seine Hände wieder mit den Handschellen am Bett festgemacht wurden, sondern ließ die Augen geschlossen und schien sich allein auf seinen Atem zu konzentrieren. „Ich verstehe nicht, weshalb du dir so etwas selbst antust, Aie, oder warum du mich so unbedingt verärgern willst. Das kann nicht in deinem Interesse sein.“ „Wie kannst du mir wehtun?“, fragte Aie leise. „Ich bin nicht in der Lage, dich körperlich zu verletzen, sonst wäre ich nicht mehr hier. Das weißt du, das wissen wir beide. Würde ich es drauf anlegen, könnte ich dich ernsthaft verletzen oder sogar umbringen und einfach fliehen. Aber das kann ich nicht. Und wieso kannst du mir dann so etwas antun? Hast du kein Mitleid?“ Daisuke wartete, bis der andere ihn ansah, ehe er antwortete. „Du kennst sicherlich Leute, die sich aus Selbstmitleid die Pulsadern aufschlitzen, nicht wahr? Sie tun das, um Aufmerksamkeit zu erlangen oder weil sie meinen, dass es ihnen dadurch besser geht.“ Er zeigte Aie seine Handgelenke. „Ich habe hier keine Schnitte. Meine Schnitte sind dafür woanders, Aie, und ich habe auch aus dem gleichen Grund verletzt: Um Aufmerksamkeit zu erlangen – aber nicht, damit es mir besser geht. Ich habe mich längst damit abgefunden, nicht mehr glücklich zu werden. Meine Schnitte, Aie, meine Schnitte sind hier.“ Und bei den Worten strich er mit den Fingerspitzen über Aies rechten Handrücken, wo die noch immer nicht zur Hälfte verheilten Papierschnitte seine Knöchel säumten. „Und sie haben den gleichen Nebeneffekt: Sie tun mir weh. Du fragst, ob ich kein Mitleid besitze. Hast du darüber nachgedacht, dass ich vielleicht zu viel davon habe? Hast du darüber nachgedacht, dass ich dich verletze, obwohl ich mindestens den gleichen Schmerz empfinde?“ Aie hatte ihm mit zunehmend bestürzter Miene zugehört und schüttelte nun verständnislos den Kopf. „Wofür dann das Ganze, Daisuke? Geht es dir darum, dich selbst zu verletzen? Oder nimmst du das nur in Kauf? Was willst du, Daisuke?“ „Ich will dir klarmachen, wie ich mich die letzten Jahre gefühlt habe. Ich will, dass du dich an mich erinnerst. Ich will mich besser fühlen, indem ich dir Schmerzen zufüge, und ich will mich schlechter fühlen, indem ich dir Schmerzen zufüge. Ich bezweifle, dass du das verstehst, aber das verlange ich nicht. Außerdem will ich, dass du deine Nudeln isst.“ Ein beängstigendes, trauriges Lächeln hatte sich auf Daisukes Lippen gelegt, das er auch noch trug, während er einige Stecknadeln aus der kleinen Kiste hervorholte, die er aus der Kommode genommen hatte. „Wenn du freiwillig isst, musst du nur Bescheid geben“, fügte er noch hinzu und schob sich einige Nadeln zwischen die Lippen, hielt sie dort fest, und griff sich noch eine heraus. „Was meinst du damit, ich soll mich an dich erinnern?“, fragte Aie sehr leise, dessen Schrecken wenig mit den Nadeln zu tun hatte. „Daisuke?“ Der andere griff nach Aies bereits mitgenommener rechten Hand, ohne zu antworten. „Daisuke, das kannst du nicht ernst meinen“, brachte Aie noch heraus, ehe der plötzliche Schmerz ihm die Sprache raubte. Er keuchte auf, gab ein winselndes Geräusch von sich und begann zu weinen. Dass er den Kopf abwandte und mit aller Mühe versuchte, die Tränen zurückzukämpfen, war nutzlos, das wusste er selbst, aber er kam nicht dagegen an. Die salzigen Tropfen brannten in seinen Augen und hinterließen feuchte Spuren auf seinen Wangen, während der unerträgliche Schmerz aus seiner rechten Hand seinen Arm hinaufzukriechen schien. Daisuke betrachtete das Ergebnis seiner Taten beinahe erschrocken. Selbstverständlich hatte er sich gedacht, dass es schmerzhaft war, eine Nadel direkt unter den Fingernagel getrieben zu bekommen, allerdings hatte er mit solch einer heftigen Reaktion nicht gerechnet. Bis jetzt hatte Aie sich ziemlich gut geschlagen, wenn es darum ging, körperlichen Schmerz zu ertragen. Aber wahrscheinlich hatte Daisuke mittlerweile nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele so weit verletzt, dass er nicht mehr anders konnte, als seine Gefühle herauszulassen. So vorsichtig wie möglich zog er die Nadel wieder heraus und legte sie zusammen mit den anderen zwischen seine Lippen auf den Nachttisch, ehe er mit dem Schlüssel, den er dauerhaft an seiner Hose befestigt hatte, die Handschellen wieder aufschloss. Aie schenkte ihm nur wenig Beachtung; kaum dass seine zusammengeketteten Hände wieder vom Bett befreit waren, versuchte er, sich auf die Seite zu rollen, von dem anderen abgewandt. Nun jedoch meldete sich auch seine Rippe wieder – das Schmerzmittel hatte längst nachgelassen. Er presste sich die Handballen auf die Augen, um seine Tränen zu stoppen, und gleichzeitig wusste er, dass es nichts bringen würde. Er weinte nicht nur wegen seiner Verletzungen. Ein wenig ratlos verfolgte Daisuke die Beherrschungsversuche seines Gegenüber. Er wusste, was er tun sollte, er wusste aber auch, was er tun WOLLTE. In ihm kämpfte seine eigene Beherrschung gegen den beinahe unwiderstehlichen Drang, Aie in irgendeiner Weise Trost zu spenden. Sei es mit Worten, mit Gesten, mit Berührungen – er ertrug es nicht, ihn dort so liegen zu sehen. Aber er durfte eine Linie nicht überschreiten, die er sich selbst gezeichnet hatte, und daher war es unmöglich für ihn, sich um Aie zu kümmern. Allerdings hatte er es bereits einmal von sich gegeben: Wenn Aie weinte, verlor Daisuke sämtliche Motivation, ihm weh zu tun. Und er wusste, dass er Aie weh tun würde, wenn er tatenlos sitzen blieb. Außerdem konnte es durchaus sein, dass Aie sich bewusst bemitleidenswert gab, damit der andere ihm nachgab – so etwas Ähnliches hatte er schließlich bereits am Morgen versucht, unter der Dusche, wenn auch auf eine etwas andere Weise. Und nicht zum ersten Mal stellte er sich diese Frage: Wann war es so schief gelaufen? Ohne eine Antwort von sich selbst zu erwarten, griff er in seine Hosentasche, zog eine Zigarette hervor und zündete sie sich an. Wenn er sich weiterhin zurückhalten wollte, brauchte er etwas, mit dem er sich beschäftigen konnte. Rauchen schien eine gute Alternative zu sein. Er musterte den dünnen Körper vor sich, der bei jedem kleinen Beben fast zusammenzucken zu schien, stand auf, räumte die Stecknadeln wieder zurück in die Kommode und ging ins Badezimmer. Dort öffnete er zunächst das kleine Fenster, ließ sich auf dem Toilettendeckel nieder und atmete einmal tief durch. Sein erster Impuls war, aufzustehen, Aie loszubinden und ihn endlich richtig in den Arm zu nehmen, aber er kämpfte ihn mit Mühe und Not nieder. Dazu durfte es nicht kommen. Er durfte nicht nach seinen Impulsen handeln, er musste die Kontrolle über die Situation behalten. Richtig, er musste die Kontrolle behalten. Er hatte sie nicht verloren, als Aie sich vor ihm gewunden und gestöhnt hatte, er hatte sie nicht verloren, als Aie versucht hatte, sich loszubinden. Er hatte sie verloren, als Aie ihm vorgeworfen hatte, nie etwas gesagt zu haben. Wie hatte er sich das denn vorgestellt?! Was glaubte er denn, wie er reagiert hätte, wenn Daisuke eines Tages zu ihm gekommen wäre und ihm eröffnet hätte... Er merkte, wie die zuvor unterschwellige Wut erneut in ihm aufbrodelte. Wut war gut, Wut war definitiv besser als die mitfühlende Hilflosigkeit. Nachdem er ins Waschbecken geascht hatte, holte er eine weitere Schmerztablette aus dem kleinen Schrank hervor und verließ das Bad wieder, um ein halbes Glas Leitungswasser abzufüllen. Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Bett, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Aie noch immer festgebunden war. Demnächst sollte er ihn nicht losmachen und unbeaufsichtigt lassen. Aie lag wieder auf dem Rücken, sein Fingernagel leicht violett angelaufen, seine Tränen getrocknet, sein Gesicht ausdruckslos, seine Augen gerötet und auf Daisukes Gesicht fixiert. Er nahm die Tablette wortlos und richtete sich ein wenig auf, um sie mit dem Wasser herunter zu spülen, ehe er sich wieder sinken ließ und langsam tief Luft holte, wie um sich selbst zu beruhigen. „Warum können wir uns nicht gegenseitig trösten?“, wollte er leise wissen. Die Frage war kein Vorschlag, sie ging hörbar von Tatsachen aus und hinterfragte lediglich den Grund. Sie beide wussten, dass sie sich nicht helfen konnten. Zumindest nicht gegenseitig. „Weil ich dich nicht an mich heran lasse“, antwortete Daisuke ruhig und nahm Aie das Glas wieder ab. Als der andere Anstalten machte, nach seiner Hand zu greifen, stand Daisuke auf und ging zurück zur Küchenecke, wo er das Glas abstellte, ehe er sich noch einmal umdrehte. „Und weil ich dich nicht trösten will.“ Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Spüle und rauchte freihändig weiter, die Brauen zusammengezogen. „Ich glaube, dass du mich doch hasst“, murmelte Aie so leise, dass der andere ihn kaum verstehen konnte. „Und gleichzeitig... liebst du mich, sodass du es nicht zugeben kannst. Aber dass du mich liebst, kannst du nicht zugeben, weil du mich so hasst.“ Daisuke war eine Weile still. „Und wenn es so wäre, würde es letztendlich auch nichts ändern“, entgegnete er schließlich und drückte seine Zigarette im Aschenbecher auf der Fensterbank aus. „Weißt du eigentlich, wann ich dich schon immer am wenigsten leiden konnte?“, wechselte Aie das Thema. „Wenn du nicht mehr hast mit dir reden lassen. Das kam nicht oft vor, aber wenn, dann konnte es mich zur Weißglut treiben. Wenn du wolltest, konntest du verdammt stur sein. Hattest du Angst, dass ich dich kritisieren, dich ändern, dich angreifen wollte? Wenn ja, warum lässt du mich dann jetzt nicht an dich heran? Gerade jetzt sollte ich doch nicht in der Lage sein, dir irgendetwas zu tun.“ „Ich bin nicht nur stur, ich bin auch rechthaberisch“, griff Daisuke das Gesagte auf. „Am liebsten würde ich anderen immer schon vorher die Möglichkeit nehmen, mir in gewissen Punkten zu widersprechen. Schau dir doch nur diese Situation hier an: Ich entführe und bestrafe dich, weil ich der Meinung bin, dass du leiden solltest. Dir bleibt kein Spielraum, dich zu rechtfertigen – alles, was du als Verteidigung hervorbringen könntest, wird von mir als unter Zwang Behauptetes verstanden. Unter diesen Bedingungen muss ich nichts ernst nehmen, was du sagst, Aie, ist dir das klar? Ich habe ideale Bedingungen geschaffen, damit du sagen kannst, was du willst, meinetwegen, dass du meine Gefühle eigentlich erwiderst – für mich spielt es keine Rolle, weil es in meinen Ohren als Lüge ankommt. Ich bin immer schon den feigeren Weg gegangen, Aie. Gibt mir jemand ein Glas, das zur Hälfte gefüllt ist, und mich fragt, ob es halb leer oder halb voll ist, trinke ich es heimlich aus, stelle fest, dass es leer ist, und lache den anderen aus.“ „Aber... wenn du es doch weißt...“ Aie schüttelte verständnislos den Kopf. Es erschreckte ihn tatsächlich, wie klar Daisuke noch denken konnte – denn dass er so dachte, bedeutete, dass er es eigentlich hätte besser wissen müssen. Und er tat es trotzdem nicht. „Und... hast du nicht behauptet, stark zu sein?“ Daisuke schnaubte spöttisch, die Arme wieder verschränkt. „Man kann feige UND stark sein, Aie. Manchmal ist Feigheit die wahre Stärke. Ich musste stark sein, um feige sein zu können. Ich habe dir nie ins Gesicht gesagt, was ich für dich fühlte, deshalb musste ich stark sein, um alle Konsequenzen zu ertragen: Dass du dir Freundinnen angelacht hast, dass du mich ausgenutzt hast... denn ich bin so lange bei dir geblieben, bis du mich von dir gewiesen hast. Dafür musste ich sowohl ein Feigling als auch mental stark sein. Das heißt, ich war mein ganzes Leben feige. Also dachte ich, könnte ich zum Schluss auch noch eins drauf setzen...“ „Ich finde nicht, dass du feige bist“, widersprach Aie ihm leise. „Ich finde aber auch nicht, dass du stark bist. Vor allem, wenn du dich immer beherrscht hast, wenn du das, was du wirklich wolltest, kontrolliert hast... dann warst du eigentlich verletzlicher, als hättest du dir selbst nachgegeben. Du hast dich selbst zurückgehalten und dich daran gehindert, glücklich zu werden-“ „Hast du es immer noch nicht verstanden?“, fiel Daisuke dem anderen ins Wort und musterte ihn stirnrunzelnd. „Wie hätte ich glücklich werden können? Hätte ich es dir gebeichtet, hättest du mich zurückgewiesen. Begreifst du, was das für mich bedeutet hätte?“ „Natürlich wäre es ein Schock gewesen!“ Aie spürte, wie er nun selbst langsam wütend wurde. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich gefühlt hättest, aber danach wäre es zwischen uns geklärt gewesen und du hättest-“ „Was hätte ich?!“ Der andere funkelte ihn an. „Darüber hinwegkommen können? Mich damit abfinden können? Dich vergessen können? Willst du etwas in der Richtung sagen? Spar dir den Atem, Aie, bitte! Das ist lächerlich, du kannst dir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie ich mich gefühlt hätte!“ „Es hätte doch nicht dein gesamtes Leben ruiniert, wenn ich dir einen Korb gegeben hätte!!“ „Überleg doch mal!“ Daisukes Tonfall rutschte wieder in die Gereiztheit ab, die er eigentlich hatte vermeiden wollen. „Ich habe eigentlich alles, was man sich als junger Mann in meinem Alter wünschen könnte: Ich habe Freunde – ich habe gute Freunde, nicht solche Ausreden von Freunden wie du –, ich bin ein durchaus erfolgreicher Student mit blendenden Zukunftsaussichten, ich habe Eltern, die sich um mich kümmern und mich unterstützen, ich könnte mit mindestens fünf Kerlen aus meinem Bekanntenkreis eine Beziehung anfangen und mit etwa doppelt so vielen Frauen, und dabei zähle ich nicht einmal diejenigen mit, mit denen ich überhaupt gar nicht auskomme. Aber bin ich glücklich? Wirke ich wie jemand, der sich zwischendurch freie Zeit nimmt, sich unter einen Baum setzt und darüber nachdenkt, wie schön das Leben doch ist? Bin ich jemand, der auch nur mit dem zufrieden ist, was er hat? Bin ich jemand, der das zu schätzen weiß, was er hat? Objektiv betrachtet müsste ich ein sorgenfreies Leben führen, aber subjektiv gesehen könnte ich unglücklicher nicht sein.“ „Und weißt du auch, warum? Weil du dich unheimlich gerne in dieser Opferrolle siehst, weshalb du dich so sehr in deinem Selbstmitleid herumwälzt, dass du selbst dein größtes Hindernis dabei bist, zufrieden zu sein! Du hast objektiv gesehen keinen Grund, unglücklich zu sein, deshalb erfindest du einfach einen und steigerst dich so sehr hinein, dass du kaum mehr Augen für alles andere hast! Das ist erbärmlich!“ Kaum hatte er es ausgesprochen, da bereute Aie es bereits. Das letzte war ihm so herausgerutscht, obwohl er sich zwingen wollte, es nicht einmal zu denken – und nun hatte er es laut gesagt. Jetzt hatte er keine Chance mehr, es zurückzunehmen. Doch anstatt dass Daisuke fuchsteufelswild wurde, ließ er nur seine Arme sinken und sah den anderen auf seinem Bett mit einer Mischung aus Verletztheit und Resignation an. „Erbärmlich“, wiederholte er betont ruhig. „Das nennst du erbärmlich? Hör zu, Aie. Ich habe dich bis zum Schluss, bis zu dem Zeitpunkt, an dem du den Kontakt zu mir abgebrochen hast, nicht verurteilt. Ich habe mich nicht in Selbstmitleid gewälzt, weil ich bereit war, weiterhin mit dir befreundet zu bleiben. Ich habe die positiven Aspekte gesehen – deine Gesellschaft war mir immer wichtiger als die Art, wie du mich behandelt hast. Wenn du jetzt jedoch sagst, dass ich mich in irgendwelche erfundenen Ungerechtigkeiten hineingesteigert habe, sag mir bitte, welche das sein sollen. Habe ich unzutreffende Beschuldigungen gegen dich vorgebracht, die es mir erlaubt haben, mich als Opfer selbst zu bemitleiden, obwohl es keinen Anlass dafür gab?“ Aie schwieg nur. Er wollte, dass Daisuke aufhörte zu reden, damit er nicht hören musste, was er zu sagen hatte. „Soweit ich weiß, waren meine Vorwürfe an manchen Stellen etwas überzeichnet, aber niemals falsch. Womit du allerdings ins Schwarze getroffen hast, war die Aussage, dass ich für alles andere keinen Blick übrig habe. Aber das liegt keineswegs daran, dass ich mich selbst bemitleide.“ Daisuke neigte seinen Kopf zur Seite und machte eine kurze Sprechpause, in der seine Stirn sich erneut in Falten legte. „Der größte Fehler meines Lebens war, dass ich mich in dich verliebt habe, Aie. Meine Gefühle keimten und wuchsen und wuchsen und waren mit einem Mal derart mächtig, dass ich mich nicht mehr gegen sie zur Wehr setzen konnte. Ich habe mich auch nicht hinein gesteigert, im Gegenteil, ich versuchte schon sehr früh, mich dagegen zu wehren. Aber es hatte keinen Zweck. Es hatte keinen Zweck, Aie, dafür habe ich dich viel zu sehr geliebt. Mein restliches Leben verblasst zu kaum mehr als Nebel, wenn ich über dich nachdenke. Es war schon immer so, als würde jede deiner Handlungen auf ein Vielfaches verstärkt; freundliche Gesten erwärmten mein Herz wochenlang – und auch nur die kleinste Zurückweisung zugunsten eines oder vielmehr einer anderen stürzte mich fast in Verzweiflung. Ich bezweifle, dass du dir vorstellen kannst, was in mir vorgeht, wenn ich dich ansehe. Ich liebe dich so sehr, dass ich ohne dich nicht glücklich sein kann. Das ist der Fluch, den ich mir selbst auferlegt habe, ohne den Gegenfluch zu kennen: Ich kann mit meiner Liebe zu dir nicht glücklich werden, das ist unmöglich, das war mir von Beginn an klar. Du würdest mich zurückweisen, deshalb schreckte ich davor zurück, es dir zu beichten. Wenn ich wenigstens in deiner Nähe sein konnte, hätte ich mich auf Dauer vielleicht zufrieden gegeben. Aber ich bekam nie die Chance, es auszuprobieren. Ich habe mich damit abgefunden, niemals glücklich sein zu können, weil ich begriffen habe, dass du mich immer zurückweisen wirst. Und nicht, weil ich mir in der Opferrolle so gut gefalle. Wenn du das erbärmlich nennen willst, bitte. Tu dir keinen Zwang an. Aber sei dir darüber im Klaren, dass niemand dir jemals auch nur annähernd ähnliche Gefühle entgegen bringen wird.“ Der Schwarzhaarige auf dem Bett ertrug den Blick des anderen nicht mehr und schloss daher die Augen. Es war, als drückte eine unsichtbare Macht auf seinen Brustkorb und hindere ihn am Luft holen. Seine eigenen Gefühle tobten in ihm wie ein Wirbelsturm, so durcheinander, dass er sie nicht identifizieren konnte. Einzelne Satzfetzen tauchten immer wieder vor seinem inneren Auge auf und ließen einen Knoten in seinem Bauch entstehen. Es war ein Teufelskreis, das bemerkte er erst jetzt. Irgendwo hatte er angefangen, dann war er zu der Phase übergegangen, wo Daisuke ihn liebte; Aie verletzte ihn – ob absichtlich oder unabsichtlich –, Daisuke vergab ihm, Aie war wieder nett zu ihm, Daisuke liebte ihn noch mehr, Aie verletzte ihn wieder... Daraus hatte ihre Beziehung bestanden; und die gesamte Zeit über hatte Daisuke ihn nicht an sich heran gelassen, Aie war zu blind, seine Gefühle zu bemerken, und sie hatten sich gegenseitig deshalb nicht unterstützen und trösten können. Doch plötzlich war dieser Teufelskreis unterbrochen worden, das sah Aie jetzt: Daisuke hatte sich ihm endlich geöffnet und ihm alles gebeichtet; und er, Aie, war gezwungen worden, seine eigenen Fehler und Daisukes Gefühle einzusehen. Dass die endlose Kette aus Verletzen und Vergeben unterbrochen worden war, ließ nur einen Schluss zu, was nun zu tun war, wollte Aie versuchen, ein friedliches Ende zu finden. Er öffnete die Augen wieder und war nicht überrascht, dass Daisuke ihn noch immer anschaute. „Du machst mir Angst“, stellte er leise fest. Daisuke zog einen Mundwinkel in einer Karikatur eines Lächelns zur Seite. „Ich mir selbst auch“, entgegnete er. Seine Miene gefror jedoch, als Aie seine Arme etwas anhob und ihm die Hände entgegen hielt. Daisuke wandte seinen Kopf zur Seite und versuchte, seine Ohren zu verschließen, als Aie seinen Namen aussprach. „Daisuke, unser gesamtes Leben lang standen wir kaum einen Meter voneinander entfernt“, fügte der Gefesselte hinzu mit einem Tonfall, in dem für Daisukes Geschmack zu viel Hoffnung lag. „Ich habe meine Hand zu dir ausgestreckt“, erwiderte er erschöpft. „Und ich habe dir den Rücken zugedreht. Jetzt sind wir nicht weiter auseinander als zuvor und ich habe meine Hand zu dir ausgestreckt. Du wendest mir den Rücken zu, aber das hindert mich nicht daran, nach dir zu rufen. Und du musst mich bemerken, Daisuke. Du kannst es nicht als Zufall oder als gezwungene Handlung verstehen.“ Manchmal kann man beobachten, dass man weiß, in welche Richtung andere Menschen gleich gehen werden, noch bevor sie den ersten Schritt getan haben. Ihr Körper neigt sich in die entsprechende Richtung und ihre Haltung ändert sich komplett, als würde sie von dieser einen Richtung angezogen werden. Genau das Gleiche passierte mit Daisuke. Noch bevor er den ersten Schritt in Aies Richtung tat, wusste er, dass er dorthin gehen würde. Er könnte selbstverständlich noch fliehen, allerdings war er mittlerweile müde vom ganzen Davonlaufen. Ein Mal, dieses eine Mal, besaß er keine Energie mehr, weiter vor Aie zu fliehen. Dieses Mal ließ er sich von ihm einholen und fangen. Langsam, fast bedächtig, trat er an das Bett heran, den Blick auf Dinge gerichtet, die er nur kaum wahr nahm. Noch langsamer sank er auf die Bettkante, die Hände in den Schoß gelegt und die Augen auf dem Nachttisch. Er musste daran denken, den Aschenbecher zu säubern. Den Wecker stellen sollte er auch und die Blumen gießen, das durfte er nicht vergessen... Er sah nicht auf, als Aie sich unter einiger Anstrengung in eine sitzende Position aufrichtete; er blinzelte nicht, als die mit Handschellen gefesselten Arme sich fast behutsam um seinen Nacken legten; er schaute weiterhin geradeaus, als Aie sein Kinn auf Daisukes Schulter legte und ihre Köpfe aneinander lehnte. Erst als Aie ihn etwas fester an sich drückte, fielen Daisukes Augen zu und seine Arme schlangen sich um den schmalen Oberkörper des anderen. Er konnte Aies Atem spüren und hören, merkte, wie er ein wenig auswich, als Daisuke an die lädierte Rippe stieß, und fühlte nach einigen Augenblicken das Herz desjenigen schlagen hören, den er in seinen Armen hielt. Sie saßen so für eine lange Zeit. Keiner von ihnen sprach, da Worte überflüssig waren, keiner von ihnen rührte sich, um die Zeit weiterhin anzuhalten, keiner von ihnen erlaubte sich selbst klare Gedanken. Es war bereits nach einer kurzen Weile für beide sehr unbequem geworden, allerdings interessierte es keinen auch nur ein bisschen. Es gab Wichtigeres. Draußen setzte die Sonne unbeirrt ihre Reise in Richtung Horizont fort, nur noch partiell aufgehalten von den vereinzelten Wolken, die noch vom Gewitter übrig geblieben waren. Innerhalb der Wohnung war es absolut still, bis auf den Nachhall der noch vor Kurzem so vehement gerufenen verletzenden Worte, die zu oft ihr Ziel gefunden hatten. Diesen jedoch konnte man kaum mit dem Ohr wahrnehmen; die Seele war es, die angekratzt worden war, wenn man untertreiben wollte. Doch nun wurden Wunden versorgt, die Blutungen gestoppt und die Heilung unterstützt. Das Desinfektionsmittel, um die entstandenen Verletzungen vom Schmutz zu reinigen, war salzig, leise und heimlich. Es war Daisuke, der irgendwann die Stille unterbrach, die wie eine Wolke aus Einverständnis über sie gekommen war. „Das reicht nicht“, sagte er leise. „Das reicht nicht, Aie. Es reicht einfach nicht. Lass mich los.“ „Das verlangst du von mir, während du selbst nicht loslässt“, entgegnete Aie ebenfalls gedämpft, hob jedoch seine Arme an und befreite den anderen somit. Noch bevor sie Blickkontakt aufnehmen konnten, stand Daisuke wieder auf und trat etwas unsicher vom Bett weg, das Gesicht abgewandt. Er wusste nicht so recht, wo er hin sollte, er wusste nur, dass er von Aie fort musste. Nicht nur physisch. „Daisuke?“ Er antwortete nicht, als er angesprochen wurde, aus Angst, was er sich würde anhören müssen. „Ich habe Hunger.“ Damit hätte er am wenigsten gerechnet, aber gerade aus diesem Grund ließ er ein angedeutetes Lächeln zu. „Ich koche uns was“, versprach er dem anderen mit ruhiger Stimme und begab sich in die Küchenecke. Das war gut, so konnte er Aie den Rücken zuwenden, sich ablenken und sorgte zusätzlich noch dafür, dass der andere etwas aß. Die Nudelsuppe von zuvor konnte er sicherlich entsorgen. Hätte er lange Ärmel gehabt, hätte er sich diese hochgekrempelt, bevor er mit der Arbeit anfing. Es war, als wäre endlich Frieden eingekehrt in dem großen Raum, der innerhalb der letzten zwei Tage so viel Schmerz, Wut, Hass und Enttäuschung hatte erleben müssen. Man konnte beinahe denken, dass zwei Freunde irgendetwas gemeinsam überstanden hatten und nun froh waren, dass es vorbei war – ohne das Bedürfnis, sich darüber auszutauschen. Manchmal waren Worte eben überflüssig. Daisuke und Aie waren beherrscht von einer Ruhe, die sie selbst nicht so recht verstanden; es war nicht so, als schwiegen sie sich an, sie unterhielten sich schon noch, allerdings oft kurz über Belanglosigkeiten, bei denen meistens mindestens einer von ihnen mit einem Lächeln auf den Lippen oder in den Augen zurückblieb. Es war keine harte Geräuschlosigkeit, sondern eine sanfte Ruhe, in der sich beide endlich einmal entspannen konnten. Doch wie so oft konnte der Schein trügen. Es ging ihnen nicht gut, im Gegenteil: Aie litt nicht nur unter körperlichen Schmerzen und Daisuke fühlte sich leer, nachdem er endlich seinen Gefühlen Luft gemacht hatte. Es war, als habe er sie über die Jahre hinweg angestaut, mit einem Mal entweichen lassen und plötzlich war nichts mehr da, das ihn ausfüllte, das ihn ausmachte, das er WAR. Zudem wussten sie beide, dass es längst nicht beendet war. Daisuke hatte ohnehin noch etwas zu offenbaren, nämlich den wahren Grund, weshalb Aie überhaupt hier war, und Aie ließ sich nicht durch den Stimmungswandel darüber hinweg täuschen, dass er weiterhin mit Handschellen und einem Seil gefesselt war und seine angeknackste oder gebrochene Rippe nur mühsam und oft auch nur spärlich von der Schmerztablette unterdrückt wurde. Dennoch verbrachten sie den Abend ruhig. Sie aßen zusammen, Aie wurde eine zweite Zigarette erlaubt, und während der Fernseher lief, beschäftigte Daisuke sich eine Weile mit seinem Laptop. Gegen elf Uhr beschlossen sie, schlafen zu gehen – wobei es selbstverständlich hauptsächlich Daisukes Entschluss war – und gerade, als Daisuke seinen Gefangenen nach einem kurzen Badezimmerbesuch wieder mit den Handschellen am Bettgestell befestigen wollte, schüttelte der nur leicht mit dem Kopf. „Was willst du?“, fragte Daisuke mit erhobenen Augenbrauen. Dass sie sich die letzten paar Stunden gut verstanden hatten, sollte keinesfalls bedeuten, dass er Aie nun mehr Privilegien einräumen würde als vorher. „Nur, weil du einen Hund die ganze Zeit an der Leine lässt, heißt das nicht, dass er auf der Stelle davon läuft, wenn du ihn losmachst“, erwiderte Aie leise. Der andere Schwarzhaarige betrachtete ihn nachdenklich. „Der Rest bleibt dran“, entgegnete er mit einem fragenden Unterton und musterte sein Gegenüber skeptisch. Das jedoch nickte nur. Wenn Aies Hände weiterhin zusammen gekettet blieben und sein Bein am Bett festgebunden, sollte er so schnell nicht entkommen können. Außerdem hatte Daisuke ohnehin einen leichten Schlaf – sollte der andere sich befreien wollen, würde er es mit Sicherheit mitbekommen. „Meinetwegen“, stimmte er schließlich zu und kroch ebenfalls unter die Bettdecke, mit dem gleichen Abstand wie in der Nacht zuvor. Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf seinen eigenen Atem und stellte sich aufs Schlafen ein. „Daisuke?“ Er kannte diesen Tonfall. Das erste Mal hatte er ihn gehört, als Aie und er in der Mittelschule spätabends unterwegs gewesen waren und der andere in der Dunkelheit Angst bekommen hatte. Eines der letzten Male war bei ihrem Treffen vor etwa einem Jahr gewesen, als Aie kurz davor war, sich von Hiko zu trennen und vom anderen wissen wollte, was er tun sollte. Es war ein Tonfall reserviert für Momente, in denen man wusste, dass man etwas sagen würde oder implizierte, was man normalerweise sein gelassen hätte. Da Daisukes Augen geschlossen waren, konnte er sie jedoch leider nicht verdrehen. „Was ist?“, murrte er zurück. Keine Antwort. Das war ja zu erwarten. „Aie?“ Er drehte sich zum anderen um. „Was?“ „Rückst du... rückst du zu mir?“ Obwohl Aie mit dem Rücken zu ihm lag, ins Kissen genuschelt hatte und seine Forderung an sich vollkommen unmöglich war, war sich Daisuke ziemlich sicher, genau das verstanden zu haben, was er glaubte. „Willst du mich verarschen?“, fragte er leise. Eine – von Aies Seite als äußerst unangenehm empfundene – Stille folgte, in der Daisuke vergeblich auf eine Zustimmung wartete. Als diese nicht kam, rutschte er etwas näher an den anderen heran und legte einen Arm um ihn. Fast augenblicklich schlossen sich zwei Hände um seine eigene und drückten diese sanft. „Was soll das?“ „Ich... weiß nicht“, flüsterte Aie zögerlich zurück. „Es fühlt sich nur... gut an.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich nach zwei Tagen schon so weit habe, dass du die Liebe, die ich dir geben kann, einforderst“, bemerkte Daisuke halb amüsiert und halb ernst. „Gewöhn dich nicht dran.“ Anstatt eine verbale Antwort zu geben, rückte Aie nun seinerseits etwas dichter an den anderen hinter ihm und seufzte leise. Das war es, was in Daisuke den Ausschlag gab. Er schmiegte sich so eng wie möglich an Aie, drückte ihn fest an sich und vergrub das Gesicht in seinem Nacken, woraufhin er eine Gänsehaut bei dem anderen bemerkte. Eine durchaus anregende Feststellung, das musste er zugeben, allerdings zwang er sich, derlei Gedanken zu unterdrücken. Zumindest für diese Nacht. Aber am nächsten Tag würde Aie fällig sein. Das wusste er. Und konnte sich vorstellen, dass Aie es auch wusste. Lange lagen sie nur da, in Schweigen und Dunkelheit gehüllt und versuchten sowohl ihre eigenen als auch die Gedanken des jeweils anderen zu ergründen. Ob sie dabei erfolgreich waren, konnten sie nicht mit Sicherheit sagen, vor allem, da sie sich anders verhielten, als sie es sich erklären konnten. Aie spürte den Atem des anderen in seinem Nacken und ließ die Frage nicht zu, weshalb es sich angenehm anfühlte, ließ auch keine Gedanken an ein eventuelles Später oder ein bestimmtes Früher zu, ließ auch keine Erinnerung an Hiko zu oder an Shiira oder an Arika... Erst als Aies Atmung gleichmäßig geworden war, erlaubte Daisuke sich, den Griff um den warmen Körper neben sich zu entspannen, als habe er Angst gehabt, der andere könne jeden Moment versuchen zu fliehen. Wie hieß es noch: Wenn du jemanden liebst, lass ihn gehen – wenn er zurückkommt... Nein. Daisuke unterdrückte mühsam eine Gänsehaut. Nein, wenn er Aie gehen ließ, würde er nicht zurückkommen. So viel war sicher. Und daher besorgte er sich mit Gewalt seine Aufmerksamkeit... hinterher würde er ihn gehen lassen. Hinterher würde er keinen Einfluss mehr auf ihn haben, haben können. Daisuke öffnete seine Augen und spürte ein Lächeln auf seinen Lippen spielen, als Aies Haare sich in seinen Wimpern verfingen. Selbst im schwachen Licht, das von den Straßenlaternen oder sogar vom Mond hereinfiel, konnte er kaum Konturen ausmachen. Die Dunkelheit beruhigte ihn so sehr wie die Wärme neben sich, und so schloss er seine Augen wieder. ~*~ tbc~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)