Conspiracy Dwelling (Two Rooms) von Kiru (Freunde können manchmal grausamer sein als Feinde.) ================================================================================ „Ich glaube dir nichts mehr, wenn ich es besser weiß“ ----------------------------------------------------- Rating: PG-13/R-ish Word Count: 8.363 ~*~ Als Aie das nächste Mal erwachte, dröhnte sein Kopf, er war bewegungsunfähig, hungrig, durstig und lag obendrein noch auf einem harten, kalten Untergrund. Bis auf das Letzte kam ihm die Situation irgendwie bekannt vor – am vorigen Tag war er mit ähnlichen Empfindungen aufgewacht. Doch dieses Mal befand er sich in einem anderen Raum und konnte sich noch weniger bewegen als zuvor. Er brauchte einige Wimperschläge, bis er begriff, dass er auf den Boden von Daisukes Badezimmer geklebt worden war. Unzählige breite und vor allem lange Streifen von silbern glänzendem Klebeband hielten Aies Körper in einem eisernen Griff auf den Fliesen. Er stemmte sich einige Male mit aller Kraft dagegen, erreichte jedoch überhaupt nichts, außer dass ihm seine Position nun noch unbequemer vorkam als zuvor. Wenigstens bin ich nicht tot, dachte er, Wenigstens das. Er erinnerte sich an Daisukes Reaktion auf seine Bitte und konnte ihn überraschenderweise verstehen. Er sollte das Missverständnis am Besten so schnell wie möglich aufklären, was ihm allerdings gerade unmöglich war. Ein unangenehm reißfester Streifen des silbernen Bands klebte quer über seinem Mund, sodass er nur schwer Luft bekam. Dadurch, dass er auf dem Bauch lag, fiel ihm das Atmen ohnehin schwer. Er legte den Kopf auf die Seite und bemerkte da erst den Zettel, der nun genau in seinem Blickfeld an der Wand angebracht war. ‚Mach einen Laut und ich tue ihr was an. Scheiß auf Kalender.’ Aie verstand zunächst nicht, was Daisuke ihm sagen wollte, dann jedoch hörte er, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und nicht nur eine, sondern zwei Personen hereintraten. „Ich glaube, ich war noch nie vorher bei dir zuhause“, stellte eine Frauenstimme verwundert fest. „Das waren noch nicht viele“, entgegnete Daisuke ruhig. „Du bist eine von wenigen.“ „Da fühle ich mich ja gleich geschmeichelt!“ Hiko. Das war Hiko. Daisuke hatte Aies Freundin mit nach Hause gebracht, Aie auf dem Badezimmerboden festgeklebt und ihm deutlich gemacht, dass Hiko wohl besser nichts von ihm erfuhr, wollte er, dass sie diese Wohnung lebend verließ. Das war schlimmer als alle physische Folter, die der ehemals Rothaarige sich vorstellen konnte. Hiko und er waren nur durch eine Tür getrennt, eine einzige Tür. ‚Mach einen Laut und ich tue ihr was an. Scheiß auf Kalender.’ Ja, jetzt wusste Aie, was ihm diese Mitteilung sagen wollte. Er sollte einfach ruhig liegen bleiben und das Schauspiel verfolgen. Daisuke war wohl wirklich wütend gewesen, und Aie wusste nicht, was schlimmer war: Dass er überhaupt in Betracht zog, Hiko etwas anzutun, oder dass die Hand, mit der er den Zettel geschrieben hatte, vollkommen ruhig gewesen war. Es war sogar Daisukes Schönschrift. Das ist Wahnsinn, dachte er, Das ist der pure Wahnsinn. Das hier kann nicht funktionieren. „Ich warne dich nur vor – ich bin ein schlechter Gastgeber“, bemerkte Daisuke gerade. Hiko hatte, was Aie nicht wissen konnte, auf dem Küchenstuhl Platz genommen, der am nächsten zum Badezimmer lag, und schaute ihren Gastgeber mit einem Lächeln an. „Kann ich dir irgendetwas zu trinken anbieten, bevor ich es später vergesse? Orangensaft, Wasser? Oder Orangensaft mit Wasser?“ „Du weißt sogar noch, was ich am liebsten trinke“, meinte Hiko beeindruckt. „Ja, ich hätte gern Orangensaft mit ein bisschen Leitungswasser.“ Daisuke nickte knapp, nahm ein Glas, füllte Orangensaft hinein und drehte den Wasserhahn auf. Nichts passierte. „Ach, verdammt“, murmelte er halblaut vor sich hin und drehte sich zu seinem Gast um. „Das hatte ich vergessen – bis heute Nachmittag ist das Wasser abgestellt wegen irgendwelcher Reparaturen. Tut mir leid, dass ich nicht vorher daran gedacht habe.“ Doch Hiko schüttelte lediglich den Kopf. „Keine Sorge, das macht nichts. Ich wollte ohnehin nicht so lange bleiben.“ Der Schwarzhaarige reichte ihr das Glas und setzte sich schräg neben sie, an die Längsseite des Tisches. „Kann ich verstehen. Das muss dich ziemlich mitnehmen.“ Spätestens an dem Punkt spürte Aie, wie er selbst wütend wurde. Und zwar, weil alles genau so lief, wie Daisuke es geplant hatte – nach dieser Lüge mit dem Wasser würde Hiko nicht auf den Gedanken kommen, das Badezimmer zu betreten, und abgesehen davon vertraute sie Daisuke blind; sie fraß ihm aus der Hand, weil er sich so verstellte, wie sie ihn immer hatte haben wollen und er nie gewesen war. Er unterdrückte nur mühevoll den Drang, irgendein Geräusch von sich zu geben. „Es nimmt mich im Moment mehr mit, dass du mir immer noch nicht gesagt hast, was du sagen wolltest“, widersprach die Studentin und musterte den anderen vor sich aufmerksam. „Es muss wichtig sein. Oder?“ „Ich... ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“ Daisukes Stimme stockte, er wich ihrem Blick aus und zupfte sich nervös am Hosenbein herum. Das hatte er schon früher immer getan, wenn er sich unwohl gefühlt hatte – mittlerweile hatte er diese Angewohnheit aufgegeben, nun jedoch setzte er sie bewusst ein. „Weißt du... als ich unter Aies Freunden herumgefragt habe, ob vielleicht jemand etwas weiß, ist mir etwas aufgefallen, das...“ Er brach wieder ab. „Sag es einfach“, forderte Hiko mit einer gefassten Miene. „Ganz geradeheraus.“ Ich will das nicht hören, dachte Aie, Ich will es nicht hören. Er schloss die Augen und wünschte sich weit, weit weg. „Ich glaube, er hat dich betrogen.“ Und zum wiederholten Mal fragte Aie sich: Woher weiß er das? Hikos Gesichtszüge entgleisten. „Was? ... Was, ist das dein Ernst, Daisuke? Wie...“ „Mir ist schon aufgefallen, dass die Freundin eines der Typen irgendwie unruhig wurde, als ich nach Aie fragte. Sie beeilte sich zu sagen, dass sie keine Ahnung habe, aber für meinen Geschmack kam es etwas zu schnell. Erst kam es mir nur ein bisschen komisch vor, aber dann hat sie etwas gesagt, das mich im Nachhinein wirklich wunderte. Sie meinte, dass sie mit Aie sowieso nicht so viel zu tun habe – aber was glaubst du, wer der erste gewesen war, der sein Handy rausgeholt und Aie angerufen hat? Ganz bestimmt keiner der anderen. Warum macht man sich solche Sorgen um jemanden, mit dem man kaum zu tun hat?“ Hiko klebte an seinen Lippen. So weit, so gut. Er durfte jetzt nicht lächeln, er musste sich konzentrieren. „Deshalb habe ich sie hinterher noch einmal beiseite genommen und sie direkt auf Aie angesprochen. Sie hat selbstverständlich alles abgestritten, aber du weißt bestimmt, dass man nur die richtigen Fragen zu stellen braucht, um es den Gesichtern ablesen zu können. Ich glaube, dass sie irgendetwas mit Aie hatte.“ Er lügt doch wie gedruckt, fuhr es Aie durch den Kopf. Daisuke hatte sicherlich nicht mit ihr gesprochen und ihm müsste doch klar sein, dass es früher oder später herauskam. Wahrscheinlich eher früher, weil Hiko so etwas nicht auf sich sitzen ließ. Seine Lügen würden auffliegen und überhaupt würde alles auffliegen. Er schaufelte sich gerade sein eigenes Grab. War ihm das überhaupt bewusst? Hiko konnte nicht mehr sitzen, sie stand auf und begann, unruhig hin und her zu laufen. „Das kann ich nicht glauben“, murmelte sie mehr an sich selbst gerichtet vor sich hin. „Das glaub ich nicht! Warum sollte er... und mit wem...“ Plötzlich blieb sie stehen. „Hatte die Schlampe blonde Locken und so ein Babyface? Weißt du, ob sie Arika hieß?“ „Ja, das ist sie“, bestätigte Daisuke beinahe kleinlaut, als wäre es ihm unangenehm, so etwas aufgedeckt zu haben. „Die Beschreibung stimmt und ich meine, dass sie auch so genannt wurde. Warum fragst du? Kennst du sie?“ „Sie ist schon länger um ihn herumgeschlichen“, knurrte die Rothaarige. „Hat ihn mehrere Male angerufen, als ich dabei war... und überhaupt hatte ich ein seltsames Gefühl bei ihr. Und du meinst, dass Aie mit ihr...“ Nun schüttelte sie wieder den Kopf. „Ich weiß es natürlich nicht hundertprozentig“, entgegnete Daisuke vorsichtig. „Du solltest vielleicht mit ihr sprechen, bevor du zu voreiligen Schlüssen kommst-“ „Was hattest du gesagt am Anfang? Dass sie nervös wurde, als du nach Aie gefragt hast?“ In Hikos Augen lag nun eine Gefährlichkeit, die zuvor nicht dort gewesen war; sie blitzten und verliehen ihr ein beunruhigendes Aussehen. Mit einem Mal gefiel sie Daisuke viel besser als zuvor. „Glaubst du, dass er bei ihr ist?“ Er hob die Schultern für einen Moment. „Eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen. Aber ich habe gehört, dass Aie seine Wohnung aufgeben wollte...?“ Ich glaub’s nicht, dachte Aie, der regungslos dalag und am liebsten geschrien hätte. Wäre da nicht das Klebeband gewesen, wäre seine Kinnlade längst heruntergeklappt bei dermaßen viel Dreistigkeit, die Daisuke gerade an den Tag legte. „Ja, wir wollten zusammen ziehen“, erklärte Hiko. Daisuke schwieg und senkte seinen Blick wieder. „Du meinst... er wollte zu IHR ziehen?!“, rief die Rothaarige entgeistert. „Das wird ja immer besser!!“ „Ich habe nichts gesagt“, beschwichtigte ihr Gastgeber sie. „Ich finde nur, wir sollten nichts ausschließen.“ „Das kann nicht dein Ernst sein.“ Sie ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, nun dem anderen deutlicher zugewandt. „Also... wurde er eventuell gar nicht überfallen, entführt oder sonst was, sondern er ist einfach bei dieser Schlampe untergetaucht. Sie hatten vorher schon eine Affäre und jetzt... Nein, Daisuke. Das würde er nicht machen. Er ist nicht jemand, der so etwas tun würde.“ Nach Bestätigung suchend wandte sie ihren Kopf dem Schwarzhaarigen neben sich zu, der jedoch nur wieder schwieg und sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Er musste überhaupt nichts mehr sagen. Der Gedanke war gepflanzt und keimte bereits, er musste ihm nur Zeit geben zu wachsen. Er war auf dem besten Weg dahin. Hiko schlug sich die Hände vors Gesicht und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. „Du weißt es besser, oder, Daisuke? Du weißt, dass er so jemand ist. Er würde so etwas tun – dass er bis jetzt noch nie so etwas getan hat, heißt nichts. Scheiße. Daisuke, was soll ich machen? Sag es mir.“ Aies Finger begannen zu zucken. Er verrenkte sich etwas, um seine Stirn auf die kalten Fliesen unter sich legen zu können, und schloss die Augen. Das konnte nicht wahr sein, das konnte einfach nicht wahr sein. Jetzt war Hiko schon so weit, dass sie an seiner Anständigkeit zweifelte. Urplötzlich fragte er sich, weshalb Daisuke solch einen großen Einfluss auf sie hatte – früher wäre Hiko eher aus einem Hochhaus gesprungen, als einen seiner Ratschläge anzunehmen. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Hatte er etwas verpasst? Und warum tat Daisuke ihm das alles an? Warum? „Rede mit ihr“, schlug Daisuke gerade vor und brachte Aies Herz beinahe zum Stillstand. „Wenn er wirklich bei ihr ist, wirst du es merken. Wenn er nicht da ist, haben wir eine weitere Möglichkeit ausgeschlossen und du erfährst die Wahrheit, ob er dich wirklich betrogen hat. Ich hätte selbst mit ihr geredet, aber ich wollte... dich erst informieren.“ „Ja, das ... ist wahrscheinlich das Beste. Ich bringe irgendwie in Erfahrung, wo sie wohnt, und dann quetsch ich sie aus. Aber wahrscheinlich erst morgen, heute habe ich keine Kraft mehr dazu.“ Sämtlicher Zorn war aus Hikos Zügen verschwunden, er war einer Resignation gewichen, die ihr hervorragend stand, wie Daisuke fand. „Ich würde ja mitkommen, aber ich denke, dass du das besser alleine klärst“, erwiderte er und strich behutsam über ihren Arm. „Und wenn du dich hinterher mies fühlst, kannst du mich immer anrufen. Okay?“ Hiko drehte ihm ihren Kopf zu und ergriff nach kurzem Zögern seine Hand, hielt sie in ihrer fest. „Ja. Danke. Du hältst mich wahrscheinlich für überemotional und für genauso naiv wie früher, aber ich bin wirklich froh, dass ich mit dir reden kann.“ „Naiv vielleicht, aber nicht überemotional“, protestierte Daisuke mit einem leichten Lächeln, ehe er ihren Blick fest hielt. Sie schaute ihn ruhig an. „Du flunkerst“, sagte sie leise. „Ich flunkere nicht“, widersprach er ihr, ohne dass sein Lächeln verschwand. „Nicht dir gegenüber.“ Hiko würde sich später vor sich selbst rechtfertigen, dass sie nicht wisse, wer sich zuerst bewegt hatte – Daisuke jedoch war sich vollkommen sicher, dass er die ersten paar Millimeter zurückgelegt hatte. Nicht so, dass es Hiko bewusst auffiel, aber doch genug, damit sie entsprechend reagierte. Sie trafen sich in der Mitte und pressten ihre Lippen aufeinander, beide mit geschlossenen Augen. Hiko war die erste, die sich wieder losriss, auf die Beine sprang und den Schwarzhaarigen vor sich erschrocken ansah. „Das... entschuldige“, stammelte sie, völlig durcheinander, und wandte sich bereits der Tür zu. Daisuke stand nun ebenfalls auf und griff nach ihrem Handgelenk, um sie festzuhalten, aber sie riss sich ruckartig los und funkelte ihn an. „Selbst wenn Aie mich betrogen haben sollte, ändert das nichts an meinem Wunsch, ihn wiederzuhaben!“, fauchte sie. „Du wirst daran nichts ändern!“ „Hiko“, sprach er sie ruhig an. „Es tut mir leid. Aber ich denke, wir können uns darauf einigen, dass wir beide keine Schuld tragen. Ich möchte nur, dass wir als Freunde auseinander gehen. Ich verlange und wünsche mir nicht mehr von dir, aber wenigstens das. Ich möchte nicht deinem Blick ausweichen müssen, wenn wir uns das nächste Mal sehen, ich möchte weiterhin normal mit dir umgehen können.“ Die Rothaarige schluckte einmal und nickte dann. „Ja, ich... ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich kann einfach nicht mehr, Daisuke. Entschuldige. Ich will doch auch, dass wir Freunde sind.“ Als Daisuke zögernd die Arme um sie legte, erwiderte sie die Umarmung und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Es wird alles gut“, versprach er ihr leise und streichelte über ihren Kopf. Er wollte seine Tränen zurückhalten, aber er wusste gleich vom ersten Moment an, dass es sinnlos war. Alle Verzweiflung, die sich innerhalb des letzten Tages in ihm aufgebaut hatte, brach wie eine tosende Welle über ihm zusammen und stürzte ihn in ein Meer aus Macht- und Mutlosigkeit. Hiko war nur durch eine einzige Tür von ihm getrennt gewesen und hatte nichts davon gewusst, nichts von ihm geahnt, sich nicht in ihren wildesten Träumen ausmalen können, dass ihr Freund gefesselt auf den Badezimmerboden geklebt worden war. Und sie hatte Daisuke geglaubt, sie hatte ihm jedes einzelne Wort abgekauft – jedes einzelne. Sie wusste nun von Arika und sie würde von ihr noch mehr erfahren, was sollte sie dann von Aie denken? Was dachte sie bereits über ihn, wenn sie die Möglichkeit einräumte, er könne bei Arika untergetaucht sein? Und Daisukes Kaltblütigkeit erschreckte ihn, erschütterte die Grundfeste seines Denkens. Er konnte Hiko ins Gesicht lügen, konnte ihr vorspielen, sich Sorgen um sie und um Aie zu machen, konnte behaupten, mit ihr befreundet sein zu wollen. Und sie hatte alles geglaubt. Was war das kurz vor Ende ihres Besuchs gewesen? Was war geschehen, was hatten sie getan, wofür sie sich beide entschuldigten? Hatten sie sich geküsst, wenn ja, war es von Daisuke aus gegangen? War Hiko nur verwirrt gewesen oder hatte sie tatsächlich Interesse an Daisuke? Als die Badezimmertür geöffnet wurde, blendete helles Licht den Gefangenen. Im Bad war nur ein kleines Fenster, daher erschien ihm das Tageslicht aus dem Hauptraum unangenehm strahlend. Er wandte den Kopf ab, legte ihn auf die Seite und schloss die Augen. Er wollte nicht sehen, was er zu sehen befürchtete. Daisuke betrachtete ihn mit einer ausdruckslosen Miene. „Du solltest nicht weinen“, bemerkte er kalt. „Das nimmt mir die Lust, dir Schmerzen zuzufügen.“ Er trat leicht gegen Aies Hinterkopf, ehe er über den Körper stieg und sich im Spiegel betrachtete. „Wenigstens hat ihr Lippenstift nicht abgefärbt.“ Er setzte sich auf Aies unteren Rücken und riss ihm mit einem Ruck das Klebeband ab, das über seinem Mund befestigt gewesen war. Der neuerdings Schwarzhaarige gab ein gequältes Wimmern von sich und sah ihn nicht an. „Was habt ihr gemacht?“, fragte er leise. „Wir haben uns geküsst. Nicht lange, aber lange genug“, antwortete Daisuke kurz angebunden. „Und zum Schluss haben wir uns umarmt, ganz romantisch. Neidisch, Aie? Oder nur stinksauer? Oder etwa verzweifelt?“ Er griff in Aies Haare und riss seinen Kopf nach hinten, wodurch der andere nun fast gar keine Luft mehr bekam. „Jetzt fällt dir nichts mehr ein, was?“ Genauso abrupt, wie er Aies Kopf gepackt hatte, ließ er ihn wieder los und begann, die Klebestreifen einen nach dem anderen abzureißen. Dort, wo sie von Aies nackter Haut entfernt wurden, hinterließen sie einen brennenden Schmerz. Aie stellte abwesend fest, dass er wieder bekleidet war – dieses Mal mit Daisukes Kleidung, wie es aussah –, wie zuvor mit einem Shirt und einer langen Hose. Doch was ihn mehr beschäftigte, war der Ausdruck auf Daisukes Gesicht. Er schaute ihn nicht an und hatte die Lippen leicht zusammengekniffen. Er war gefährlich. Er war immer gefährlich, wenn er wütend war. Da Aie noch immer an den Händen mit Handschellen und an den Füßen mit dem Hanfseil gefesselt war, konnte er nicht aus eigener Kraft aufstehen. Stattdessen packte Daisuke ihn und stellte ihn mit einer fast unmenschlichen Kraft auf die Füße – eine Geste, die wohl zeigen sollte, dass Aie sich theoretisch hätte wehren können. Vielleicht nur, um Daisukes Gewissen zu beruhigen. Der erste Schlag war kraftvoll und landete genau in Aies Magengrube, woraufhin er wieder zusammensackte und husten und keuchen musste. „Weißt du, was es für ein Gefühl ist, jemanden zu küssen, den du seit Jahren so sehr gehasst hast, dass du beinahe wahnsinnig wurdest?“, wollte Daisuke wissen. Er war aufgebracht und aggressiv und was noch alles, aber er war trotzdem immer noch auf eine gewisse Art ruhig. Das war es, das Aie jegliche Hoffnung nahm. Es war kein unkontrollierter Ausbruch, es waren alles rational getroffene Entscheidungen. „Ach, ich vergaß – du hast ja bereits Erfahrung darin!“ Der nächste Schlag traf Aies Gesicht und warf ihn endgültig wieder der Länge nach auf den Boden. Er hob die Arme, um sein Gesicht zu schützen (mit der beinahe hysterischen Überlegung, ob es nicht besser wäre, wenn er entstellt würde, da Daisuke dann eventuell das Interesse an ihm verlor), und zuckte zusammen, als er in die Rippen getreten wurde. „Ich hasse dich nicht“, protestierte er schwach. „Ich hasse dich nicht, Daisuke.“ „Glaubst du, das macht es besser?“, zischte ihn der Schwarzhaarige über ihm an. „Hast du ernsthaft geglaubt, du könntest mich mit so etwas einlullen, sodass ich dich völlig naiv losmache, auf dass du für immer verschwindest und ich im Gefängnis lande?! So leicht bin ich nicht zu haben, das solltest du wissen. Du kannst mich nicht verarschen. Nein, mich kannst du nicht verarschen, Aie, mich nicht. Du konntest mich noch nie leiden, und da soll ich mich nicht wundern, wenn du dich plötzlich auf mich einlässt? Das war hinterhältig, das war so hinterhältig, dass ich wirklich sauer geworden bin. Ich bin es immer noch. Das verzeihe ich dir nicht, Aie – ich verzeihe dir vieles, habe dir schon unzählige Male verziehen, aber das hier nicht.“ „Das stimmt nicht.“ Aies Stimme war kaum hörbar. „Es stimmt nicht, dass ich dich noch nie leiden konnte. Das weißt du selbst. Ich mag dich, Daisuke. Ich mochte dich schon immer und ich mag dich immer noch.“ „Du verdammter – Scheiß – Lügner!!“, fauchte Daisuke und trat bei jedem Wort erneut zu. Beim letzten splitterte eine von Aies Rippen. Sein Schmerzensschrei brachte Daisuke endlich wieder zur Besinnung. Er trat einige Schritte zurück und besah sich den bebenden, misshandelten, gefesselten Körper vor sich. Die Tränen waren wieder da, dieses Mal vom physischen Schmerz hervorgerufen. Daisuke war einige Herzschläge unschlüssig, was er tun sollte, ehe er langsam über Aie stieg, um das Badezimmer verlassen zu können. Er holte ein Glas aus einem Schrank und kehrte zurück, füllte das Glas zur Hälfte mit Leitungswasser, suchte in der Kommode unter dem Waschbecken kurz nach den Schmerztabletten, fand sie und hockte sich neben Aie. Er hob dessen Kopf so weit an, dass der andere trinken konnte, legte ihm eine Tablette in den Mund und flößte ihm etwas Wasser ein. Dann wischte er Aies Tränen weg und wünschte sich, er könnte einfach mitheulen. Aber das konnte und durfte er sich nicht erlauben. Nicht jetzt. Aie legte seinen Kopf wieder auf dem Parkett ab – sein Oberkörper lag bis zu den Schulterblättern im Wohnraum – und holte stockend Luft. Er wagte nicht, sich zu bewegen, da jede kleinste Bewegung schwarze Punkte vor seinen Augen erschienen ließ, stattdessen blieb er einfach ruhig liegen und versuchte, an nichts zu denken. Auch Gedanken taten weh. Atmen tat weh, sein Herzschlag tat weh, sein Blut pochte unangenehm, sein Gesicht und sein Magen taten weh und der Schmerz in seiner Brust drohte kurz, ihm sein Bewusstsein zu rauben. „ Und ich mag dich immer noch“, flüsterte er angestrengt und schloss die Augen. Der Drang zu schlafen war überwältigend. „Du lügst immer noch“, beharrte Daisuke, allerdings weit nicht mehr so vehement wie zuvor. „Halt die Luft an, ich trage dich zum Bett. Hilf mit, sonst schaffe ich es nicht.“ So vorsichtig wie nur irgend möglich zog Daisuke den anderen nach oben und gemeinsam legten sie irgendwie den Weg zum Bett zurück, wo Aie auf dem Rücken abgelegt wurde und versuchte, die Schmerzen zu verdrängen. „Warum hast du sie geküsst?“, wollte Aie mit geschlossenen Augen wissen. „Es gibt genügend Gründe, jemanden zu küssen. Oder sich küssen zu lassen“, entgegnete Daisuke kühl und nahm neben dem Bett Platz. Der andere öffnete die Augen und schaute ihn an. „Ich wollte mich nicht ‚freikaufen’, Daisuke. Das musst du mir glauben.“ „Ich glaube dir nichts mehr, wenn ich es besser weiß.“ „Du willst mir nicht mehr glauben“, stellte Aie fest. „Meinetwegen auch das. Aber überleg mal – hast du mir noch Spielraum gelassen, dir zu glauben? Denk nach, Aie, habe ich noch Grund dazu?“ Er lächelte traurig und wandte seinen Blick ab. „Nein, wahrscheinlich nicht. Aber sag es mir bitte, Daisuke. Warum bin ich hier? Was hat dich dazu veranlasst?“ Daisuke schüttelte den Kopf. „Find es selbst heraus. Das ist auch eine Frage, die du dir selbst beantworten musst.“ Dann stand er auf und machte sich daran, die Klebestreifen zu entsorgen und überhaupt aufzuräumen. Nicht nur in seinem Zimmer, sondern auch in seinem Kopf. Mittlerweile war es Nachmittag geworden. Daisuke war, nachdem er Aie auf dem Badezimmerboden fixiert hatte, in das Café gegangen, in dem er sich am Tag zuvor mit Hiko verabredet hatte. Sie hatten sich etwa eineinhalb Stunden beraten, wie ihr weiteres Vorgehen aussah, was sie oder was sie eben nicht herausgefunden hatten und welche mögliche Erklärungen es für Aies Verschwinden gab. Anschließend waren sie in Daisukes Wohnung zurückgekehrt – er hatte damit gerechnet, Hiko zu sich nach Hause zu bringen, daher hatte er auch am vorigen Abend noch alle Spuren verwischt und Aie außer Reichweite gebracht; nun hatte er nur noch, bevor er ging, das Wasser der Spüle abdrehen müssen, damit es so aussah, als gäbe es im ganzen Haus kein Leitungswasser. Es hatte alles hervorragend geklappt, Hiko fraß ihm aus der Hand und er hatte erreichen können, dass sie sich etwas näher als nötig gekommen waren, mehr hatte er nicht gewollt. Und dann war alles aus dem Ruder gelaufen, begonnen hatte es mit dem nicht explizit geplanten Kuss mit Hiko, bei dem es ihn noch immer schauderte, und seinem Wutausbruch. Er war zu weit gegangen, das war ihm bewusst, er hatte Aie nicht so stark verletzen wollen. „Daisuke, glaubst du nicht auch, dass es auffliegen wird?“, meldete Aie sich mit schwacher Stimme vom Bett. Er hatte die Augen geschlossen, konnte jedoch ruhig atmen. Wahrscheinlich wirkte die Schmerztablette bereits. „Warum meinst du das?“, stellte Daisuke die erwartete Gegenfrage, während er gerade das Wasser wieder aufdrehte. „Es gibt Lücken. Es gibt Lücken in deinem Plan, die dir nicht bewusst sind. Du kommst nicht damit durch, es wird auffliegen. Was, wenn Hiko doch etwas bemerkt hat? Was willst du dann machen? Es ist purer Wahnsinn, mich weiter hier festzuhalten.“ Er wandte sich zu Aie um und betrachtete ihn mit gelassener Miene. „Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, wies mein ‚Plan’ keine Lücken auf, Aie. Und außerdem bezweifle ich, dass Hiko auch nur irgendetwas bemerkt haben sollte – wenn sie nicht gerade deine Präsenz spüren konnte, und danach sah es für mich nicht aus, dann denkt sie weiterhin, du seist abgehauen, entführt oder längst irgendwo tot auf dem Grund eines Sees. War es nicht frustrierend, nur durch eine Tür von ihr getrennt zu sein und zu wissen, dass sie nicht erfahren durfte, dass du da bist? Sie ist genauso dumm wie früher schon, Aie, sie verdächtigt mich nicht im Geringsten.“ Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Und selbst wenn und ich es wirklich nicht bemerkt habe oder ich von anderen Lücken nichts weiß – ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dass ich wahnsinnig BIN?“ Aie schwieg nur. Er wollte darauf nicht antworten. „Versuch es gar nicht“, riet Daisuke ihm, während er sich eine Zigarette anzündete. „Versuch nicht, stärker zu wirken als du bist. Ich war schon immer der Stärkere von uns beiden – wenn nicht physisch, dann psychisch auf jeden Fall. Wir haben den gleichen weichen Kern, aber ich habe im Laufe der letzten Jahre gelernt, einen Panzer darum zu errichten. Du befindest dich in meiner Gewalt, Aie, theoretisch könnte ich alles mit dir anstellen, wozu ich Lust habe, und du solltest verdammt froh sein, dass ich es nicht tue. Ich bin im Moment in einer Machtposition, von der du mich nicht herunterstürzen kannst. Also versuch es erst gar nicht. Ich habe vorhin geschwankt, aber dafür war ich alleine verantwortlich. Es war meine Schuld und wird nicht wieder passieren. Das Beste ist, wenn du dich mir einfach fügst.“ „Was willst du damit erreichen?“, fragte Aie und drehte ihm den Kopf zu, sah ihn an. „Willst du mit Gewalt erzwingen, dass ich plötzlich anfange, bestimmte Gefühle für dich-“ „Darum geht es mir nicht“, unterbrach Daisuke ihn lächelnd. „Das solltest du bereits gemerkt haben. Hätte ich erreichen wollen, dass du dich in mich verliebst, hätte ich dir wohl kaum Schmerzen zugefügt. Das sollte selbst dir klar sein. Nein, ich will dich leiden lassen, ich will dich leiden lassen für alles, was du mir je angetan hast, Aie. Du bist die Person in meinem Leben, die mir am meisten wehgetan hat. Gleichzeitig bist du die Person, der ich am wenigsten wehtun will.“ „Also kämpfst du mehr gegen dich selbst“, schlussfolgerte der andere stirnrunzelnd. Daisuke dachte eine Weile nach. „Ja und nein. Ich will nicht darüber reden. Eines kann ich dir aber sagen: Ich will dir gezielt bestimmte Schmerzen zufügen, nicht wahllos irgendwelche. Deshalb tut es mir leid, dir eine Rippe gebrochen oder angeknackst zu haben. Das war sinnlose Gewalt, das sehe ich ein. Aber alles andere ergibt zumindest für mich Sinn. Dazu gehören nicht nur physische Schmerzen, das solltest du inzwischen begriffen haben.“ „Interessiert es dich überhaupt, was ich darüber denke, wie ich mich fühle, wie es mir geht?“, fragte Aie leise. Es schien mehr tatsächliche Frage als Vorwurf zu sein. Daisuke schaute ihn abschätzend an. „Hauptsächlich nicht, nein. Darum geht es mir nicht.“ „Wie kannst du behaupten, ich wäre jemand Besonderes für dich, und dich gleichzeitig so wenig um mich kümmern? Wie kann es dir egal sein, wenn du mich verletzt? Das passt nicht zusammen.“ Er hockte sich neben das Bett und erwiderte Aies Blick eine lange Zeit. Als er seinen abwandte, dann nur, um in den Aschenbecher auf dem Nachttisch zu aschen. „Sprichst du mit dir selbst?“, wollte er dann wissen und lächelte wieder, bevor er aufstand. „Erzähl mir von der Highschool, Aie. Ich will es hören, erzähl mir davon.“ Die Schmerztablette wirkte glücklicherweise außerordentlich gut, was Aie zu der Frage brachte, wofür Daisuke solche Tabletten benötigte; er hatte keine Narben oder ähnliches gesehen. Seltsamerweise waren nicht nur seine Schmerzen, sondern auch sein Hunger unterdrückt worden, weshalb er zwar nicht klarer im Kopf war, sich aber doch insgesamt etwas besser fühlte. Trotz der gesplitterten Rippe – er konnte nur hoffen, dass es einigermaßen gut verheilte. Das Sprechen bereitete ihm dennoch einige Schwierigkeiten, wodurch er sich aber nicht davon abhalten ließ, Daisukes Forderung nachzukommen. „Früher habe ich mir immer vorgestellt, dass auf der Highschool alles anders würde. Letztendlich wurde auch alles anders, aber während der ersten paar Monate merkte ich nicht viel davon. Bis auf dass du dich verändert hast.“ „Was hast du gedacht, als du am ersten Schultag in die Klasse gekommen bist und mich da sitzen gesehen hast?“, wollte Daisuke wissen, während er sich eine nächste Zigarette anzündete. Er hatte eigentlich vorgehabt zu kochen, doch nun saß er wieder auf dem Küchenstuhl vor seinem Bett und betrachtete den anderen vor sich aufmerksam. „Ich... hatte ein schlechtes Gewissen, natürlich. Ich habe dich im letzten Jahr der Mittelschule ignoriert, deshalb war ich mir nicht sicher, wie du reagieren würdest, wenn ich dich anspräche. Daher hab ich mich erst mal komplett von dir ferngehalten und dich aus der Ferne beobachtet, wie ich es am Anfang in der Mittelschule auch gemacht habe. Ich wollte nur sehen, ob du-“ „-ob ich wieder keinen Anschluss fand, dann hättest du mich nämlich gleich links liegen gelassen“, beendete er den Satz für Aie. Der sah ihn verärgert an. „Das wollte ich nicht sagen. Ich wollte nur sehen, ob du mir vielleicht indirekt zu verstehen gibst, dass ich mich besser weiterhin von dir fernhalte, oder ob du Interesse daran hast, dich wieder mit mir anzufreunden.“ „Direkt gefragt hast du mich nie“, fügte Daisuke hinzu und erntete ein leichtes Kopfschütteln. „Und, was hast du gesehen?“ „Etwas, das mich überrascht hat. Du warst irgendwie... cool geworden. In den Sommerferien hattest du dir die Ohren piercen lassen, soweit ich mich erinnern kann, war es da nur jeweils ein Loch auf jeder Seite. Deine Haare waren lang geworden und überhaupt war deine Ausstrahlung viel... cooler. Mir fällt kein besseres Wort dafür ein.“ „Hättest du mir wahrscheinlich gar nicht zugetraut.“ Er zog eine Augenbraue nach oben. „In der Mittelschule nicht, nein. Und dann, als du deine Haare so aufgehellt hast, dass sie mittelbraun waren, wusste ich, warum ich dich immer noch beobachtete: Ich habe dich bewundert. Ich habe dich bewundert dafür, dass du nach deiner Haarfärbung fast die gesamte Klasse um dich scharen konntest, dass die Mädchen dich für dein Lächeln unwiderstehlich fanden und die Jungen sich mit dir darüber berieten, was für Ohrringe du tragen solltest. Aber am meisten habe ich dich dafür bewundert, dass du deine Persönlichkeit behalten hast, wegen der ich mich in der Mittelschule mit dir anfreunden wollte. Du bist einfach du selbst geblieben, hast dafür gesorgt, dass die anderen unvoreingenommen auf dich aufmerksam wurden, und plötzlich warst du ein Mädchenschwarm und jeder wollte mit dir befreundet sein.“ Daisuke runzelte nun selbst die Stirn. „Du übertreibst. Ganz so war es ja nun nicht.“ „Du hast ja nicht mitbekommen, wie sie hinter deinem Rücken über dich geredet haben. Du willst nicht wissen, was sie in der Mittelschule erzählt haben, aber auf der Highschool war es das genaue Gegenteil. Die Jungen hätten eigentlich neidisch sein müssen, aber weil du kategorisch alle Mädchen abgelehnt und sie auf andere Jungen verwiesen hast, mochten sie dich trotzdem oder haben dich zumindest akzeptiert. Abgesehen davon hast du zwar relativ gute Noten gehabt, dir aber darauf nichts eingebildet und anderen geholfen, wenn sie dich darum baten. Du warst verdammt cool, Daisuke.“ Sie waren beide eine Weile still, während Daisuke versuchte sich zu erinnern. „Ich kann irgendwie nur schwer glauben, dass ich so auf dich gewirkt habe. Aber wenn ich es so sehe, kann ich verstehen, weshalb du wieder was mit mir zu tun haben wolltest – jetzt, wo ich beliebt war, hättest du ja auch Vorteile davon.“ „Ich frage mich, was DU ein Bild von MIR hast, wenn du ständig so was behauptest. Ich bin nicht auf dich zugegangen und habe gesagt ‚hey, jetzt, wo du cool bist, mag ich dich wieder’“, korrigierte Aie ihn schnippisch. „Weißt du nicht mehr, was uns wieder zusammen gebracht hat? Erinnerst du dich an das Fußballspiel im Herbst? Das waren die letzten warmen Tage im Jahr, deshalb haben wir noch mal draußen gespielt. Und du hattest wegen irgendetwas furchtbar schlechte Laune, du hast gekickt wie der Teufel höchstpersönlich. Dabei hast du erst den Größten aus unserer Klasse getroffen, wie hieß er-“ „Voll in die Eier“, bestätigte Daisuke breit grinsend. „Doch, das weiß ich noch, natürlich. An dem Morgen habe ich mich mit meiner Mutter gestritten, deshalb war ich so mies drauf. Ich wollte nur meinen Frust loswerden, es tat mir ja auch leid.“ „Den nächsten Ball hab ich dann voll in die Fresse gekriegt“, fuhr Aie fort, nun selbst grinsend. „Ich hab nur das runde Ding auf mich zufliegen sehen, dann wurden meine Lichter ausgeknipst. Als ich wieder aufgewacht bin, hast du mich gerade angebrüllt, ich solle mich nicht so anstellen.“ „Du hast mir eine Scheißangst eingejagt“, erklärte Daisuke. „Du bist umgekippt wie ein Sack Reis und warst erst mal bewusstlos. Und während die anderen überlegt haben, ob sie dich in die stabile Seitenlage bringen sollen, habe ich das getan, was mir in dem Moment am naheliegendsten erschien.“ „In Panik geraten und mich anschreien“, nickte Aie, woraufhin der andere tatsächlich lachen musste. „Weißt du, was mein erster Gedanke war? ‚Was will dieser Idiot von mir?!’“ „Verständlich. Danach habe ich dich erst mal zur Krankenschwester geschleift, oder?“ „Das hatte ich auch nötig, ich hatte noch zwei Tage danach Kopfschmerzen.“ Daisuke musterte den anderen vor sich lächelnd und zog nachdenklich an seiner Zigarette. „Und nachdem ich dir einen Ball vor den Kopf geschossen habe, waren wir wieder befreundet.“ „Ich war so froh, dass du mich nicht links liegen gelassen hast! Ich hätte es ja verdient, nach dem, wie ich mich in der Mittelschule verhalten habe, aber dass wir uns trotzdem direkt wieder unterhalten konnten, als wäre nichts gewesen...“ „Ich habe gegeneinander abgewogen, was mir wichtiger war: Mein nachträglicher Ärger oder die Freundschaft mit dir. Ist doch klar, dass ich mich so entscheide.“ „Hast du es bereut?“ Aie sah ihn neugierig, fast unsicher an. „Das war das schönste Jahr meines Lebens“, wich Daisuke der Frage geschickt aus. „Sag du mir, warum.“ „Wir... konnten ‚offen’ befreundet sein. Wir mussten uns nicht heimlich treffen oder Angst haben, dass jemand aus unserer Klasse herausfindet, dass wir was miteinander zu tun haben. Es war... ein richtig gutes Gefühl. Wir haben fast jeden Nachmittag und jedes Wochenende miteinander verbracht, manchmal waren auch noch andere dabei. In der Mittelschule habe ich im zweiten Jahr auch so gedacht, aber im ersten Jahr der Highschool war ich mir sicher, dass du mein bester Freund bist. Ich habe es genossen, mit dir-“ „Halt dich nicht zu sehr mit den Einzelheiten auf“, unterbrach Daisuke den anderen plötzlich und drückte ungeduldig seine Zigarette aus. „Erzähl weiter, sonst wirst du nie fertig.“ Aie schaute ihn fragend an. „Aber... das ist mir wichtig. In der Zeit war ich wirklich glücklich. Weißt du noch, als wir unsere Tattoos haben stechen lassen und meine Mutter dich am liebsten verklagt-“ „Jaja, weiß ich noch.“ Er wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege verscheuchen. „Weiter.“ „Warum willst du nicht darüber reden?“ Die Frage ließ Daisuke stocken. Er betrachtete seinen Gefangenen vor sich einige Herzschläge lang wortlos, steckte sich anschließend eine neue Zigarette an und legte den Kopf in den Nacken, sah sich die Decke seiner Wohnung an. Er war noch nicht bereit dazu, Aie die Antworten zu geben, nach denen er verlangte. Er hatte nicht einmal offen über seine Gefühle gesprochen, stattdessen hatte er Aie eine Rippe gebrochen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass man nichts hundertprozentig planen konnte, wenn man bei der Ausführung mit anderen Menschen zu tun hatte. Sie verhielten sich immer so, wie man es nicht erwartete – deshalb war es so schwierig, mit ihnen umzugehen. Er hatte Aie viel zu früh zu viel von seinem Innersten preisgegeben, das war nicht gut gewesen. „Du kriegst eine Zigarette, wenn du einfach weitererzählst.“ „Hast du Angst, dass du mich nicht mehr verletzen kannst, wenn du dich an diese Zeit zurückerinnerst?“ Aie wusste nicht, was nun passieren würde, aber er hatte die Frage stellen müssen. In den letzten paar Stunden war er Daisuke deutlich näher gekommen und er würde es nicht darauf beruhen lassen. Er musste versuchen, noch näher zu ihm zu gelangen, damit er ihn irgendwann erreichte. Wie er das bewerkstelligen sollte und was ihn dann erwartete, wusste er noch nicht. Er hoffte nur, wirklich etwas anderes als Wahnsinn vorzufinden. Daisuke funkelte ihn an, es war der Ärger eines Kindes, dessen Geheimnis preisgegeben worden war. „Selbst wenn ich dir darauf antworte, was würdest du damit erreichen? Du wirst es nicht schaffen, mich so fertig zu machen, dass ich dich gehen lasse, ich dachte, das hätte ich bereits klar gemacht. Ich bin stärker als du, bin es schon immer gewesen.“ „Nicht, als Shiira kam.“ „Weißt du, Aie, ich habe dich wirklich nie verabscheut. Aber manchmal bin ich kurz davor. Jetzt, zum Beispiel.“ Daisuke bleckte in einer wölfischen Geste seine Zähne. „Das wolltest du doch hören, oder?“, entgegnete Aie aufgebracht. „Dass alles mit Shiira vorbei war! Dass ich angefangen habe, dich zu ignorieren, als sie in mein Leben trat!“ „Shiira...“, murmelte der andere Schwarzhaarige fast nostalgisch. „Weißt du, wie lange ich diesen Namen nicht mehr laut ausgesprochen habe? Fast hätte ich vergessen, wie sie aussah.“ „Sie war so schön“, fügte Aie langsam hinzu. „Sie war überirdisch schön. Habe ich dir erzählt, dass ich sie für ihre Schönheit gehasst habe?“ „Du hast sie dafür gehasst, dass ich mich in sie verknallt habe!“, widersprach Aie heftig. „Das war ihr einziges Vergehen – es war nicht einmal so, als wäre sie gekommen und hätte mich umgarnt und dir weggenommen! Nein, stattdessen war sie einfach da und schön. Ich habe mich in sie verguckt, wir haben uns näher kennen gelernt und sind zusammen gekommen. Meine erste Freundin, das war meine erste Freundin, Daisuke, und ich habe es sogar geschafft, eines der schönsten Mädchen der gesamten Schule zu ergattern. Hast du auch nur eine Ahnung, was das für mich bedeutet hat? Ich habe den Boden angebetet, auf dem sie gegangen ist, habe ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen und ihr alles geschenkt, was sie haben wollte. Ich war Hals über Kopf-“ „Ist dir schon einmal aufgefallen, dass ‚ergattern’ klingt, als hättest du einen Platz eingenommen, bevor es jemand anderes tun konnte? Eigentlich ist es frauenverachtend, was du sagst“, fiel Daisuke ihm ruhig ins Wort. „Und außerdem warst du dumm. Du warst einfach dumm, Aie, du hast dich von ihr herumschubsen lassen, hast dein Geld mit beiden Händen zum Fenster herausgeworfen, wann immer sie unten stand, um es aufzufangen. Du hattest eine rosarote Brille auf und hast nicht gemerkt, dass sie dich nur ausgenutzt-“ „Sie hat mich nicht nur ausgenutzt! Sie hat mich wirklich geliebt!“, rief Aie wütend. „Sie hat dich zu keinem Zeitpunkt geliebt! Du sahst passabel aus, warst nett und bereit, alles für sie aufzugeben, deshalb hat sie sich erst überhaupt mit dir eingelassen. Begreifst du das immer noch nicht?“ „Du hast überhaupt keine Ahnung, du weißt gar nicht, wie sie war! Sie hätte auch alles für mich aufgegeben, wenn ich es verlangt hätte! Sie hat mir völlig neue Denkrichtungen ermöglicht, hat mein Weltbild erweitert, hat dafür gesorgt, dass ich-“ „Ja, plötzlich hattest du jemanden, mit dem du über die wichtigen Themen des Lebens sprechen konntest, auf einmal war jemand da, der dir mehr bedeutet hat als alle anderen zusammen, von heute auf morgen war da jemand, mit dem du deine Zeit und den Rest deines Lebens verbringen wolltest, jemand, der dich versteht, dir zuhört und mit dem du alles machen kannst, was du willst!“ Daisuke war aufgestanden und fixierte den anderen vor sich mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen. „Ich weiß, wie das ist. Mir musst du das nicht erzählen, Aie. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Wenn dieser jemand verlangen würde, dass du alles aufgibst, würdest du es mit Freuden tun. Nur hattest du das Problem, dass sie es verlangt HAT.“ „Sie hat-“, begann Aie laut und zwang sich, sich wieder zu beruhigen. Die Schmerzen in seinem Oberkörper waren zwar die ganze Zeit geblieben, aber bis gerade eben waren sie zumutbar gewesen. Wenn er sich allerdings weiterhin so aufregte, würde es noch schlimmer werden. Er tröstete sich damit, dass es das einzige war, das ihn davon abhielt, Daisuke anzuschreien. Wahrscheinlich war es allerdings auch besser so. „Sie hat nie verlangt, dass ich die Freundschaft mit dir aufgebe.“ Langsam ließ Daisuke sich wieder auf den Stuhl sinken und rauchte übelgelaunt weiter. „Sie hat nur deine ganze Zeit in Anspruch genommen, das kommt auf das Gleiche hinaus. Außerdem – glaubst du nicht, dass es nicht dadurch besser wird, dass du zugibst, die Entscheidung selbst getroffen zu haben?“ „Wir haben ja nicht aufgehört, uns zu treffen. Es wurde nur mit einem Mal drastisch weniger. Ich kann verstehen, dass du da verletzt warst. Aber ich habe dich nicht ignoriert und ganz bestimmt nicht im Stich gelassen. Außerdem hast du dich auch daneben benommen. Du bist etliche Male bei mir vorbei gekommen, obwohl du wusstest, dass Shiira da war, und nicht wieder gegangen, bis ich dich fast rausschmeißen musste. Dann war da noch die Sache mit dem Schlamm in Shiiras Schuhen, die-“ „Das war ich nicht“, protestierte Daisuke sofort. „Ich kann nur wiederholen, was ich dir damals auch schon gesagt habe – ich war es nicht.“ „Und ich nehme dir immer noch nicht ab, dass du nichts damit zu tun hattest.“ „Ich kann dich nicht zwingen, mir zu glauben.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du warst so verdammt eifersüchtig! Shiira und du, ihr hättet euch bestimmt gut verstanden, wenn du dich nicht so quer gestellt hättest. Du hast nie verstanden, was es für mich bedeutete, nach sechzehn oder siebzehn Jahren hauptsächlich männlichem Kontakt plötzlich eine Frau zu haben, die ich-“ Aie brach ab, als ihm bewusst wurde, was er gerade sagte. Daisuke lächelte dünn. „Nein, das habe ich wirklich nie verstanden. Ich denke, jetzt kannst du nachvollziehen, weshalb. Außerdem solltest du jetzt auch begreifen, warum ich so eifersüchtig war. Versetz dich noch einmal in die Zeit zurück, wo du alles, wirklich alles für Shiira getan hättest. Und jetzt stell dir vor, sie hätte sich in jemand völlig anderes verknallt und würde dir – wenn überhaupt – nur noch die kalte Schulter zeigen. Würdest du da nicht auch klammern? Würdest du dich da nicht auch lächerlich verhalten?“ „Wir waren nie zusammen“, warf Aie sehr leise ein. Er hatte den Blick abgewandt. „Das ändert nichts, Aie, das ändert verdammt noch mal überhaupt NICHTS. Ich denke, alle Streits, die wir wegen Shiira hatten, alle Wortgefechte, die ich mit ihr hatte, und alle Tage, an denen wir nach Hause gegangen sind und uns wie Scheiße gefühlt haben, können wir überspringen. Wir haben unsere Standpunkte von damals gerade eben sehr plastisch dargestellt. Ich finde, das reicht.“ Daisuke beobachtete, wie der letzte Rest seiner Zigarette abbrannte, und drückte sie anschließend im Aschenbecher auf dem Nachttisch aus. Der Wecker zeigte an, dass es viertel nach Vier war. „Natürlich kam der Tag, an dem Shiira und ich uns getrennt haben. Wir hatten uns friedlich auseinander gelebt, das Interesse am Leben des jeweils anderen verloren. Eigentlich traurig, wenn ich so darüber nachdenke. Ich wüsste gern, was aus ihr geworden ist, nach der Highschool haben wir uns nie wieder gesehen. Und was habe ich selbstverständlich gemacht?“ „Du bist kleinlaut zu mir zurückgekommen“, antwortete Daisuke auf die rhetorische Frage, während er sein Feuerzeug begutachtete, mit dem er sich die dritte Zigarette ansteckte. Es lag eine grimmige Selbstzufriedenheit in seiner Miene. „Es blieb mir nichts anderes übrig. Du hast mich mit offenen Armen empfangen. Du hast mich zwar nicht direkt wegen Shiira getröstet, dir aber doch Mühe gegeben, mich wieder aufzuheitern. Das-“ „Manchmal denke ich, dass ich dich wahrscheinlich zu sehr aufgeheitert habe“, überlegte er laut. „Am Besten wäre gewesen, ich hätte dich ewig in dieser Niedergeschlagenheit gelassen und dich von Zeit zu Zeit so aufgemuntert, dass du mir dankbar warst und außer mir niemanden in deinem Leben geduldet hast. Ich hätte mich wenigstens gut um dich gekümmert.“ „Deine Denkweise macht mir Angst“, stellte Aie fest und erntete ein weiteres Schulterzucken. „Mir auch. Am meisten nachts. Erzähl weiter.“ „Na ja, es ist, wie du gesagt hast. Ich war wieder ganz der Alte, und dieses Mal war es ein Mädchen, das sich in mich verknallt hat. Sie kam-“ „Hast du nicht da fast ein Jahr übersprungen?“ Daisuke runzelte die Stirn. „Erst mal waren es für ein halbes Jahr wieder nur wir beide. Pass auf – die ersten Monate im ersten Jahr sind wir umeinander herumgeschlichen. Dann haben wir uns wieder angefreundet und waren für etwas weniger als ein Jahr ungestört. Kurz vor der zweiten Hälfte des zweiten Jahres kam dann für ungefähr sechs Monate Shiira, ihr habt euch vor den Sommerferien wieder getrennt. Und dann dauerte es doch noch fast ein Jahr, bis Hiko aufgetaucht ist.“ „Ich dachte, ich sollte nicht über die ‚glücklichen Zeiten’ reden“, entgegnete Aie schneidend und musterte den anderen trotzig. „Du könntest zumindest erwähnen, dass es welche waren“, bemerkte Daisuke pikiert. „Meinetwegen. Also, ich trennte mich von Shiira, dann waren wir wieder fast ein Jahr eng befreundet und anschließend kam Hiko, machte alles kaputt, riss mich an sich, behandelte dich wie Backfisch und ruinierte dein Leben.“ „Aie, das ist lächerlich.“ „So sieht es aber sicherlich für dich aus, oder liege ich da falsch?“ In Aies Stimme hatte sich eine Bitterkeit eingeschlichen, die er von sich selbst nicht kannte. „Gut, dann fasse ich es noch einmal zusammen. Hiko ist auf dich zugegangen, du mochtest sie und ihr seid zusammen gekommen. Sie konnte mich von Anfang an nicht leiden, weil du so viel Zeit mit mir verbracht hast, und ich konnte sie von Anfang an nicht leiden, weil du so viel Zeit mit ihr verbracht hast. Wir versuchten eine Zeitlang, miteinander auszukommen, der Versuch scheiterte und wir wurden eingeschworene Feinde.“ „Das stimmt nicht“, widersprach Aie müde. „Hiko fand es immer schade, dass ihr euch nicht verstanden habt. Sie mochte dich eigentlich, sie hat nur nie verstanden, weshalb du ihr gegenüber so biestig warst.“ „Meinetwegen fällt es alles auf mich zurück“, erwiderte Daisuke ohne mit der Wimper zu zucken. „Sie wollte sich mit mir anfreunden und ich habe mich ihr gegenüber asozial verhalten und alles ist daran gescheitert. Wenn du es so sehen willst...“ „Jetzt wirst du lächerlich, Daisuke.“ Wieder entstand eine kurze Pause. Es war absolut still im Raum, kein Geräusch hätte das Knistern der Gedanken stören können. Das allerdings war zweifellos zu hören und so betrachteten die beiden ehemals besten Freunde sich lauernd, darauf wartend, dass der jeweils andere etwas sagte. Sie wollten beide wissen, was der jeweils andere dachte. „Du hast mich an meinem Geburtstag versetzt“, begann Daisuke schnell, als wolle er Aie überrumpeln. „Hikos Hund ist an dem Tag gestorben, sie brauchte mich“, gab Aie erschöpft zurück. „Du bist nicht zu Ayumis Taufe gekommen.“ „Ich habe sowieso nie verstanden, weshalb ich überhaupt kommen sollte!“ „Sie ist meine Nichte.“ „Ja und?“ „Du hast dich mit meiner Schwester immer gut verstanden, du kennst sie fast so lange wie mich. Das war respektlos von dir, Aie. Vor allem, da ich dir Monate vorher Bescheid gegeben habe.“ Aie seufzte tief. „Gut, das war mein Fehler, das sehe ich ein. Ich habe mich einfach verplant, in der Zeit war Hiko sowieso wegen dir gereizt und ich wollte nicht-“ „Du wolltest sie nicht weiter verärgern? Weil sie dir dann eventuell den Laufpass gegeben hätte? Fällt dir was auf, Aie? Stattdessen hast du mir immer abgesagt und darauf vertraut, dass ich es mit einem Schulterzucken abtue und dir weiterhin hinterher laufe und dich ständig frage, ob du unter Umständen irgendwann mal Zeit für mich erübrigen könntest.“ „Du musstest mir nicht hinterher laufen!“ „Doch, das musste ich.“ Daisuke hatte wieder die Lippen zusammengekniffen und zog kurz an seiner Zigarette, ehe er weitersprach. „Du bist nicht mehr auf mich zu gegangen, wenn du Zeit hattest; ich musste sie mir beinahe erbetteln. Aber weißt du, was mir wirklich weh getan hat? Als ich herausgefunden habe, dass du dich auch noch mit den anderen aus unserer Klasse triffst.“ Aie sah ihn beinahe erschrocken an. „Ja, ich weiß, dass du dachtest, ich wüsste nichts davon. Was hast du ihnen erzählt? Dass wir uns gestritten haben und du dich deshalb lieber mit anderen triffst?“ „Ich... brauchte eine Auszeit“, verteidigte Aie sich schwach. „Von wem? Von mir? Warum hast du mir dann nicht ins Gesicht gesagt, dass ich dir auf die Nerven gehe? Das wäre für uns beide besser gewesen – ich hätte endlich aufgehört, mir Hoffnungen zu machen, dass es irgendwann besser wird, und du hättest deine Ruhe gehabt! Siehst du wenigstens im Nachhinein ein, dass es eine absolute Scheißsituation war? Ich hing völlig in der Luft und hatte keine Ahnung, was los war oder was du als nächstes tun würdest, du konntest dich zu keiner Entscheidung durchringen und musstest dich zweiteilen, während du die ganze Zeit versucht hast, es beiden recht zu machen, und Hiko wollte nichts anderes als Frieden, den du ihr leider nicht gewähren konntest.“ „Ich verstehe auch immer noch nicht, weshalb ich mich zwischen euch beiden entscheiden musste“, sagte Aie aufgebracht. „Warum konnte ich nicht mit dir befreundet und mit Hiko zusammen bleiben? Warum hast du mich zu einer Entscheidung drängen müssen? Du hast es mir auch nicht gerade leicht gemacht!“ „Wir haben dich beide geliebt und wussten es“, entgegnete Daisuke mit einer Gelassenheit, die Aie sämtlichen Wind aus den Segeln nahm. „Du kannst nicht alles haben, Aie. Auch, wenn du es immer wieder versucht hast, geht es nicht. Du konntest nicht uns beide zur gleichen Zeit haben. Dein Problem war, dass du mich nur als Freund gesehen hast, als guten Freund. Und genau das war ich eben nicht.“ „Willst du mir erzählen, dass Hiko... davon wusste?“, fragte Aie fassungslos. „Sie hat zumindest gemerkt, dass ich dich für mich allein wollte. Deshalb waren wir Konkurrenten.“ „Das ist doch... das kann man nicht vergleichen! Ihr habt mir unterschiedliche Dinge gegeben, Hiko hat mir Liebe und Fürsorge und Zärtlichkeit-“ Daisukes Lächeln war vollkommen humorlos. „Das hätte ich dir auch geben können, Aie. Das hätte ich dir alles geben können.“ „Aber...“ Aie schüttelte leicht den Kopf. Jetzt, wo er aus Daisukes Mund gehört hatte, das er ihn liebte – oder zumindest geliebt hatte –, konnte er nicht mehr klar denken. Zuvor hatte er eine Ahnung von Daisukes Gefühlen gehabt, jetzt allerdings waren sie konkret geworden, so deutlich, dass er sie nicht länger vor sich selbst verleugnen konnte. „Du hast nie etwas gesagt!“, brachte er schließlich heraus. Das Lächeln wurde breiter und begleitet davon, dass Daisuke seine Zigarette ausdrückte und aufstand. „Ich habe nur darauf gewartet, dass du das sagst. Ich habe nur darauf gewartet, Aie.“ Aie war kurz davor, die Luft anzuhalten, und konnte sich nur mit Mühe dazu bringen, Daisuke mit den Augen zu verfolgen, damit er wusste, was ihn erwartete. Aber anstatt seinen Gast in irgendeiner Weise zu misshandeln, zog der Hausherr sich Schuhe an und öffnete die Haustür. „Was machst du?“, wollte Aie irritiert wissen. „Spazieren gehen“, antwortete Daisuke, ohne ihn anzusehen. „Ich kann sonst für nichts garantieren.“ ~*~ tbc~ A/N: Eigentlich hätte Daisuke Aie keine Rippe brechen sollen ._. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)