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Kurt das war's

von

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Abschiednehmen

XXX – Abschiednehmen
 

„Hey, ich glaub, ich lass dich besser wieder schlafen, Hanne. Soll ich gehen?“ Kurt wollte bereits aufstehen, doch Johannes streckte seinen Arm aus und hielt ihn auf. Es war das erste Mal, dass er an diesem Abend eine eindeutige Reaktion zeigte.

„Bitte bleib hier. Ich will einfach nicht alleine sein.“, widersprach Hanne und griff nach seiner Hand. Er klang ziemlich verzweifelt.

Erschrocken sah Kurt zu ihm und entdeckte eine Träne in Hannes Augen. „Was ist denn?“, wollte er besorgt wissen.

Hanne sah zur Seite. „Ich hab Angst, Kurt. Ich kann es kaum beschreiben, aber ich hab einfach ein furchtbares Gefühl.“

„Hast du wieder geträumt?“

Hanne schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Aber ich glaube, dass etwas passieren wird. Ich fühle mich schon seit Tagen total am Ende... Es ist ein total unbestimmtes Gefühl, verstehst du? Ich fürchte mich einfach.“

An Hannes Stimme hörte Kurt, dass ihn tatsächlich etwas beschäftigte. Auch er selbst spürte etwas, hatte es schon gespürt als er vor einer halben Stunde gekommen war. Hanne war anders als sonst, vielleicht lag er ein wenig schlaffer in seinem Kissen, vielleicht war seine Atmung ein bisschen flacher als gestern. Er konnte sich diese Veränderung nicht erklären, aber sie war da.

„Lukas ist heute nicht daheim.“ Kurt machte eine Pause und bot dann an, bei Hanne zu schlafen, damit dieser ein bisschen Gesellschaft hatte und sich so vielleicht auch beruhigen konnte.

Wieder entstand eine Pause, die aber keineswegs peinlich war. Hanne drehte seinen Kopf wieder zu Kurt und lächelte ihn leicht an. Man sah, dass es ihm sehr schwer fiel und er unheimlich schwach war.

Hanne bedankte sich bei Kurt und beteuerte sogar mehrmals, wie sehr er sich freuen würde, jemanden wie ihn zu haben.
 

Als die Schwester noch einmal ins Zimmer kam um Hannes kaum berührtes Tablett vom Abendessen mitzunehmen, fragte Kurt sofort, ob er die Nacht in der Klinik verbringen könne.

Die Schwester fragte nach den näheren Umständen und Kurt erklärte es ihr, erwähnte auch sein eigenes unsicheres Gefühl. Schließlich stimmte sie zu und brachte ihm nach Beendigung ihrer Runde durch die Station Decke, Kissen, ein Laken und Bettwäsche, damit Kurt das zweite unbesetzte Bett im Zimmer benutzen konnte.
 

Hanne setzte sich auf, als Kurt gerade seine Decke sauber auf das Laken legte.

„Kurt? Kommst du bitte nochmal kurz her?“, fragte er.

„Klar.“ Kurt ließ sich zu Hanne aufs Bett sinken. „Was brauchst du?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dir das überhaupt aufbürden darf. Ich glaube, ich weiß, weswegen ich so unruhig bin. Ich hab das Gefühl, dass ich...“ Hanne hustete so stark, dass er sich zusammen krümmen musste und Kurt ihn wieder besorgt abstützte. „Vielleicht... vielleicht bin ich nicht mehr lange hier.“

Kurt schluckte. Er wusste sehr genau, was Johannes damit sagen wollte.

Johannes sprach wesentlich schneller als vorher, als er fortfuhr. „Ich hab eine ziemlich dringende und bestimmt auch unangenehme Bitte an dich. Ich hätte gerne, dass du danach schaust, dass ich hier beerdigt werde. Ich war auch schon bei einem Bestatter und hab mir ein paar Sachen angeschaut, der Mann weiß Bescheid, wie ich es mir wünsche. Würdest du das für mich tun?“

Kurt schaute irritiert zu Hanne.

„Den Umschlag da wirst du abgeben müssen, damit er alles weitere regeln kann. Ich möchte nur nicht, dass mein Vater hier irgendetwas unternimmt, verstehst du?“ Jetzt klang Hanne noch panischer als vorher. Er zog außerdem ein Schubfach seines Nachtschränkchens auf und holte dann einen zugeklebten großen Umschlag hervor. „Machst du das?“

Kurts Hals fühlte sich wieder wie zugeschnürt an, als Hanne ihn mit dem Thema Bestattung konfrontierte. Er zögerte, nahm dann jedoch den Umschlag an. „Und den Umschlag muss ich nur abgeben? Bist du dir sicher, dass das funktioniert?“, fragte Kurt unsicher.

„Ja. Ich hab mich eigentlich direkt nach meinem Krankenhausaufenthalt Anfang Dezember drum gekümmert. Da war mir schon klar, dass ich nicht mehr lange gesund sein werde.“, erklärte Hanne. „Es hat mich wirklich viel Überwindung gekostet, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, aber jetzt bin ich irgendwie erleichtert, es getan zu haben. Ich war bei insgesamt vier Unternehmen und hab mich beraten lassen. Der, bei dem ich jetzt die Vorsorge hab machen lassen, kam mir mit Abstand am menschlichsten vor und nicht so gestelzt nett. Er hat eigentlich ganz normal mit mir geredet, obwohl ich gleich zu Anfang die HIV-Infektion und den Stand der Dinge erwähnt hatte. Bei den anderen dreien hatte ich eher das Gefühl, dass sie mir etwas vorheucheln.

Du musst wirklich nur noch die Unterlagen vom Umschlag vorbeibringen, Kurt. Er wird dich sicher auch noch auf einen Termin ansprechen. Vielleicht ist es möglich, das ganze auf einen Freitag oder das Wochenende zu legen. Wegen meinem Vater, verstehst du? Ich hätte schon gerne, dass er kommt.“ Hanne fasste sich in den Augenwinkel um eine Träne abzufangen.

Kurt nickte langsam. Es fiel ihm schwer, Johannes Denken nachzuvollziehen. „Gut, Hanne. Ich mache das für dich, wenn es dir so unheimlich wichtig ist.“

„Danke. Ich hätte gerne alles selbst erledigt, aber leider ist das nicht möglich. Ich wollte weder dir noch sonst irgendjemandem zur Last fallen.“ Hanne sah auf seine Decke hinab.

Kurt schüttelte den Kopf. „Aber das tust du doch nicht, Hanne.“

Hanne lächelte schwach und ließ sich wieder ins Kissen sinken. „Du bist wirklich ein netter Kerl, Kurt.“
 

Schon bald schlief Hanne wieder.

In Kurts Kopf tobten allerdings viel zu viele wirre Sorgen und Gedanken, um auch nur annähernd zur Ruhe zu kommen. Wie würde es werden, wenn Johannes nicht mehr lebte? Wann würde sein Tod eintreten? Würde er überhaupt selbst stark genug sein, um Hannes Bitte zu erfüllen? Vielleicht würde auch der Schockzustand so lange anhalten, bis er diesen Umschlag abgegeben und noch kurz mit diesem Bestatter gesprochen hatte. Johannes hatte ja die Anschrift auf das weiße Papier geschrieben.

Wieder sah Kurt auf Johannes hinab. Ihm wurde immer bewusster, dass Johannes seinen Tod selbst spürte, ihn vielleicht auch schon seit ein paar Tagen erahnte. Auch er selbst hatte nicht das Gefühl, dass es noch lange dauern würde, bis Hanne endgültig ging. Johannes war heute wieder sehr schwach gewesen, die meiste Zeit waren seine Augen geschlossen gewesen und nur sehr kurz hatte er die Kraft für dieses Gespräch aufbringen können. Er hatte auch wieder begonnen, so beunruhigend laut zu atmen. Kurt wusste, dass dieses pfeifende Geräusch von Johannes Lunge kam.

Um sich ein wenig zu beruhigen, blieb er bei Johannes auf der Bettkante sitzen und nahm behutsam seine Hand. Nachdenklich betrachtete er Hanne und strich über seine viel zu warme Haut. Sie fühlte sich schon seit einiger Zeit ganz trocken und rau an. Hanne hatte eine ziemlich fette Salbe aus der Klinikapotheke bekommen, mit der Kurt seine Haut immer wieder eingecremt hatte: die Hände, seine Handgelenke, die rissige Haut an seinen Ellbogen und den Fußknöcheln. Hanne hatte zuerst immer abgewehrt, doch inzwischen genoss er es richtiggehend, weil er ja selbst spürte, dass sich seine Haut besser anfühlte und nicht mehr so trocken war. Vielleicht taten ihm auch einfach die kreisenden Bewegungen gut, in denen Kurt die Salbe in seine Haut einmassierte und so auch die Durchblutung anregte. Vielleicht war es aber auch so, dass Johannes es einfach aufgegeben hatte, Kurt zu widersprechen.

Kurt nahm vorsichtig die transparente Flasche von Hannes Nachttisch und drückte sich etwas Creme davon auf den Handrücken heraus. Wie immer schob er zunächst das Klinikhemd von Hannes Schultern, damit er auch dort die Haut erreichte. Dann arbeitete er sich über die Oberarme weiter vor zu den Ellbogen, dann über die Unterarme zu Hannes Handgelenken und den Händen. Hannes Gesicht und den Halsbereich ließ er aus, weil er Hanne hier schon einmal ziemlich weh getan hatte, da er einfach nicht bedacht hatte, dass seine Lymphknoten geschwollen waren und er auch sonst recht empfindlich war. Auch Brust, Bauch, Rücken und Oberschenkel überließ er der Krankenschwester oder Hanne selbst, weil er ihn dafür zum einen viel zu weit aufdecken müsste und es ihm zum anderen einfach ein bisschen zu intim war. Es ging Kurt einfach nichts an, wie Johannes unbekleidet aussah, obwohl er sich inzwischen denken konnte, wie knochig und mager er war und was für eine blasse Haut er hatte.
 

Wieder und wieder stellte sich Kurt während seiner gleichmäßigen kreisförmigen Bewegungen auf Hannes Haut die Frage, wie er wohl mit Johannes Tod umgehen würde, ob er wieder dermaßen zusammenbrechen würde wie es schon einmal der Fall gewesen war oder ob Lukas es schaffen würde, ihn ausreichend aufzufangen.

Kurt konnte sich allerdings keine absolut befriedigende Antwort geben. Schließlich, als kein Geräusch mehr vom Flur her zu hören war und er auch von den Knien über die Waden abwärts Hannes Fußknöchel eingecremt hatte, zupfte er Hannes Bettdecke zurecht, die er zuvor vom Fußende aus zurückgeschlagen hatte, und ging selbst zu Bett.

Den Briefumschlag legte er sich so auf das Nachtschränkchen, dass er ihn nicht vergessen konnte, wenn er am nächsten Morgen wieder nach Hause ging.
 

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In den frühen Morgenstunden hörte Kurt, wie jemand leise seinen Namen rief. Zunächst nahm er es kaum wahr, doch dann wandte er sich zu Hanne um. „Was ist denn?“, fragte er unwillig und verschlafen.

„Ich möchte ein wenig nach draußen, Kurt.“, erklärte Hanne bestimmt.

„Draußen regnet es, Hanne.“, antwortete Kurt nachdem er dem strömenden Regen eine Weile zugehört hatte.

„Eben deshalb.“, erwiderte Hanne nachdrücklich. „Die Luft ist so schön klar. Bitte, Kurt.“

„Meinetwegen.“ Kurt setzte sich seufzend auf und fuhr sich durchs Haar. Dann stieg er aus dem Bett und knipste die Lampe mit dem Schalter neben der Zimmertür an. „Kannst du selbst aufstehen?“

Hanne rappelte sich mühsam auf und schaffte es sogar, seine Beine aus dem Bett zu schwingen und auf der Bettkante zu sitzen. Er rieb sich über die schmerzende Stirn und versuchte schließlich, sich vollends zu erheben, musste sich jedoch sofort wieder auf der Matratze des Bettes abstützen. Kurt eilte zu ihm und griff ihm unter die Arme.

Hanne richtete sich auf. „Danke.“, sagte er.

„Vielleicht ziehst du dir noch schnell eine Hose und eine Jacke oder so an.“, schlug Kurt vor.

Hanne stimmte zu und setzte sich wieder aufs Bett. „Guck mal bitte im Schrank nach. Ich denke, ich hab mir meinen Sportanzug eingepackt. So ein hellblauer mit weißen Längsstreifen an den Ärmeln und den Hosenbeinen.“

Kurt ging zum Schrank und fand auch sofort, was Hanne meinte: der Sportanzug hing sauber auf einem Kleiderbügel in dem schmalen Kleiderschrank. Er half Hanne auch noch beim Anziehen, weil er ganz einfach zu kraftlos dazu war. Schließlich raffte Hanne sein Klinikhemd auf Hüfthöhe zusammen und verknotete es, damit es nicht so schlapp an ihm herunterhing.

Hanne schlüpfte außerdem in die warme Fleecejacke, die Kurt ihm für die Fahrt zum Krankenhaus geliehen hatte, und ließ sich den Schal umbinden. Über seine nackten Füße zog er nur warme Socken und steckte sie schließlich in die Klinikschlappen, die am Bett standen.
 

Einen Arm stützend um Hanne gelegt, stieg Kurt schließlich mit ihm die Treppen der zwei Stockwerke zum Erdgeschoss hinab. Als sie schließlich am Nebeneingang des Gebäudes ankamen, der auch in der Nacht geöffnet war, benötigte Hanne eine kleine Pause. Er war sehr kraftlos und sein Atem ging bereits jetzt schwerer als sonst.

Kurt ließ Hanne sich an der Wand des Flurs anlehnen und beobachtete ihn dabei, wie er wieder zu Atem kam. Inzwischen war auch ein Pfleger auf sie aufmerksam geworden, der hier im Erdgeschoss Nachtdienst hatte. Hanne übernahm es selbst, dem jungen Mann zu erklären, dass er den Wunsch gehabt hatte, ein bisschen frische Luft zu schnappen, was dieser ihm schließlich auch abnahm. Hanne versicherte ihm außerdem, dass er und Kurt alleine zurechtkämen und er sie nicht ins Freie begleiten müsse.
 

Das Angebot, einen der Klinikrollstühle zu benutzen, nahm Johannes allerdings an. Er merkte selbst, wie sehr es ihn anstrengte, selbst zu laufen. Kurt konnte er es schließlich auch kaum zumuten, ihn abzustützen oder auf den Arm zu nehmen.
 

„Wunderschön.“, flüsterte Hanne draußen und fing einen der Tropfen auf, als sie unter der Kante des Vordaches standen. Auf sein Drängen hin schob Kurt ihn noch weiter in den Regen hinein. Es nieselte nur noch leicht und die Luft war sehr sauber.

„Vielen, vielen Dank, Kurt.“, murmelte er leise und schloss glücklich die Augen. „Danke, dass du soviel Zeit für mich hast.“

Kurt beugte sich zu ihm runter und umarmte ihn von hinten. „Schon okay.“, sagte er nur.
 

Nachdem Hanne noch einige weitere Atemzüge der angenehm klaren Luft in sich aufgenommen hatte, bat er Kurt, wieder ins Gebäude zurückzukehren. „Mir wird langsam kalt.“

Kurt stimmte zu und brachte Hanne wieder über den Nebeneingang nach drinnen. Der Pfleger schaute noch einmal nach, als er das Geräusch der Tür hörte, verwickelte die beiden allerdings in kein weiteres Gespräch mehr. Da Kurt unmöglich von Hanne erwarten konnte, zu Fuß zu gehen, ließ er ihn im Rollstuhl sitzen und nahm den Aufzug. Erst auf der Station half Kurt Hanne wieder beim Aufstehen und trug Hanne schließlich die letzten Schritte ins Zimmer zurück.

Auch hier kam jetzt die Nachtschwester um nach dem Rechten zu sehen. Kurt erklärte ihr, wie Johannes es schon vorhin getan hatte, dass er seinen Freund nur kurz ins Freie begleitet hatte um ein bisschen Luft zu schnappen.
 

Nachdem die Schwester wieder gegangen war, half Kurt Hanne dabei, sich wieder aufs Bett zu setzen.

Kurt zog ihm die Klinikschlappen aus, die dicken Socken. Dann schälte er ihn aus der warmen Jacke und dem Schal und befreite ihn aus der hellblauen Trainingsjacke. Schließlich löste er den Knoten, den Hanne in sein Hemd gemacht hatte. Behutsam legte Kurt ihn jetzt wieder zurück ins Kissen und nahm seine Beine nach oben. Die Trainingshose ließ er Hanne an den Beinen, als dieser ihn darum bat.
 

Kurt räumte die getragenen Sachen von Hanne wieder zurück in den Kleiderschrank. Dann setzte er sich zu Johannes ans Bett und strich ihm übers Haar, das nur ein wenig feucht vom Regen war; ansonsten war sein Körper trocken. Sanft drückte Kurt seine Finger.

„Ist dir noch kalt, Hanne?“, fragte er vorsichtig.

Hanne verneinte leise und öffnete seine Augen wieder. „Ich habe eher das Gefühl, dass mir gleich der Kopf platzt. Und mir ist schlecht.“

„Du bist fiebrig, Johannes. Willst du einen kalten Umschlag für die Stirn?“

Hanne nickte schwach. Kurt ging zu der kleinen Nasszelle des Zimmers und befeuchtete Hannes Waschlappen mit kaltem Wasser. Hanne schaute zu ihm auf und schob seine Hand über das kalte feuchte Tuch, das er ihm auf die Stirn legte. „Danke.“, sagte Johannes nur und lächelte.

„Magst du etwas trinken?“, erkundigte sich Kurt weiter.

Hanne überlegte kurz, stimmte dann jedoch zu, obwohl er keinen Durst hatte. Kurt half ihm dabei sich aufzusetzen und reichte ihm den Becher vom Nachttisch. Er trank nur sehr langsam, nahm kleine Schlucke, und beugte sich schließlich nach vorne, um den Becher wieder abzustellen.
 

Danach legte sich Johannes wieder hin und schloss die Augen. Kurt beobachtete, wie Hanne ganz langsam entspannter wurde und schließlich wieder einschlief.

Ein letztes Mal ließ Kurt seinen Blick über den schlafenden jungen Mann vor ihm wandern. Eine Weile noch sah er dabei zu, wie Johannes' Atemstöße seinen Brustkorb anschwellen ließen und wieder absenkten. Er war kurzatmig, ja, aber zumindest atmete er gleichmäßig.
 

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Als Kurt das zweite Mal aufwachte, war es vollkommen still im Zimmer. Ein bisschen verwirrt setzte er sich im Bett auf, fuhr sich durchs Haar und schaute zu Hanne hinüber, der noch immer in seinem Bett lag. Im Schlaf hatte er seinen Kopf zur Seite abgewandt und auch seine Hand hatte wieder ihre gewohnte Position neben seinem Gesicht auf dem Kissen gefunden. Da er die Decke bis über sein Kinn hochgezogen hatte, waren nur seine Finger zu sehen. Der kalte Umschlag war von seiner Stirn gerutscht und zu Boden gefallen.
 

Kurt blieb die Luft im Hals stecken und er schlug sich die Hände vor den Mund.

War Hanne etwa...!? Kurt kletterte aus dem Bett und überbrückte den Abstand zu Johannes Bett. Hanne lag vollkommen still in seinem Kissen. Augen und Lippen waren geschlossen, er wirkte entspannt und auch seine Gesichtszüge lagen unverkrampft. Fast schon ängstlich streckte Kurt seinen Handrücken vor Hannes Mund und die Nase, um seinen Atem eventuell noch fühlen zu können. Kurt blieb fünf oder sechs seiner eigenen Atemzüge so stehen. Doch nichts.

Schon panischer tastete er unter der Bettdecke nach Hannes Handgelenk, obwohl er bereits wusste, was geschehen war. Unter der Bettdecke war es warm von Hannes Körperwärme und auch seine Hand fühlte sich normal an. Kurt ließ seine Finger über das dürre Handgelenk auf der Suche nach einem schwachen Pochen wandern. Nichts. Kein Puls, keine Atmung. Kein Leben.

Kurt wurde schlecht, sodass er sich an Hannes Bettgalgen festhalten musste, an dem auch das Kabel mit dem Schwesternrufknopf in erreichbarer Höhe für Hanne baumelte. Da er leicht abrutschte, bekam er auch das Gerät zu fassen und klammerte sich schließlich an dem Rahmen des Fußteils von Hannes Bett fest. Er sank auf die Bettkante am Fußende des Bettes und versuchte, seine Nerven wieder zu beruhigen.
 

Die Zimmertür wurde geöffnet und die Schwester knipste das Licht an.

„Hallo.“, sagte sie leise. „Sie haben geklingelt?“

Kurt schaute nicht einmal auf, sondern legte nur eine Hand auf Hannes Bettdecke, zog sie allerdings sofort wieder zurück, als er Hannes toten Körper unter sich spürte.

Die Schwester verstand, hielt wie Kurt es zuvor schon getan hatte ihren Handrücken an Hannes Mund und die Nase und suchte schließlich noch den Puls an Hannes Halsschlagader. Respektvoll zog sie die Hand zurück.

„Ich denke, Sie gehen besser nach Hause.“, wandte sie sich an Kurt. Sie sprach noch immer genauso ruhig und leise wie schon zuvor. „Kommen Sie, ich begleite Sie aus dem Zimmer.“

Kurt ließ sich aufhelfen und verließ mit der Schwester das Zimmer.

„Ich werde jetzt den Arzt rufen. Möchten Sie eine psychologische Beratung?“

Kurt schüttelte den Kopf. Er fühlte sich so, als hätte man alles auf ihm herausgelöscht. Das einzige, was er wahrnehmen konnte, war das Brennen in seinen Augen, die noch immer keine Träne hergeben wollten. Er folgte der Schwester ins Dienstzimmer, wo sie über Funk den diensthabenden Arzt rief. Sie nannte nur die Station und die Zimmernummer.

„Und für Sie rufe ich am besten den Seelsorger.“, meinte sie wieder.

Kurt verneinte wieder. „Ich gehe nach Hause.“

Die Schwester redete noch weiter auf ihn ein und sprach von der Lungenentzündung und den Schmerzen, die Hanne die letzten beiden Wochen über begleitet hatten, doch für Kurt war es nichts weiter als das langweilige Gerede eines Nachrichtensprechers, der emotionslos von irgendwelchen Geschehnissen in der Welt erzählte. Er war doch selbst bei Hanne gewesen, hatte ihn jeden Tag besucht und an seinem Bett gesessen. Oh, er wusste doch selbst, was Hanne durchgemacht hatte und wie viel Schmerzmittel er tagsüber und in der Nacht bekommen hatte, um das, was von seinem Leben noch übrig war, ertragen zu können. Die höllischen Nervenschmerzen, die in seinen Armen und Beinen auftraten, und das beengende schmerzende Gefühl, das ihn beim Atmen belastete. Hanne hatte gerade in seinen letzten Tagen äußerst selten mitbekommen, welche Infusionen ihm angehängt worden waren, weil er die ganze Zeit über in einer Art Dämmerschlaf gelegen war.
 

„Es tut mir sehr leid, dass Ihr Freund verstorben ist.“, meinte die Schwester jetzt und wollte Kurts Arm berühren.
 

Verstorben. Das war das Wort, das er immer zu denken vermieden hatte. Kurt wurde mit einem mal wieder kalt und er schob schnell die Hand von seinem Arm.

Er stolperte die ersten beiden Schritte rückwärts, prallte mit dem Rücken hart gegen den Türrahmen, verließ dann das Dienstzimmer und lief über den Flur zum Ausgang der Station. An der Tür zur Station kam ihm der gerufene Arzt entgegen, den er nicht kannte und der Hanne wohl auch nie behandelt hatte. Irgend­ein junger Arzt, der während der Nacht vielleicht mehrere Stationen gleichzeitig versorgen musste.

Kurt lief weiter, stolperte die Treppen hinab und kam schließlich völlig außer Atem ins Freie.
 

Auf dem Klinikgelände erinnerte er sich wieder daran, wie er vor ein oder zwei Stunden noch hier mit Johannes gestanden hatte und den Regen beobachtet hatte. Wie glücklich Johannes gewesen war, als ein einzelner Regentropfen auf seine Handfläche gefallen war. Wie er Hanne umarmt hatte und dieser seinen Kopf gegen ihn gelehnt hatte.

Jetzt zeugten nur noch die Pfützen von dem Ereignis, das das letzte gewesen sein sollte, das er mit Johannes geteilt hatte.
 

In wesentlich weniger gehetzten Schritten legte er die letzten Meter zu einer Sitzbank, auf die er sich schließlich fallen ließ, zurück.

Langsam verstand er die Ereignisse. Er kapierte, dass Hanne nun tot war. Dass nun das eingetreten war, weshalb sie sich so oft gestritten hatten. Kurt betrachtete den Briefumschlag, den er aus Johannes Krankenzimmer mitgenommen hatte und den er schon bald bei diesem Bestatter abgeben würde. Eine Handlung, die ihm jetzt völlig irreal erschien. Vorsichtig knickte er den Umschlag einmal in der Mitte und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. Dann ließ er sich mit einem leeren Gefühl gegen die Lehne sinken und legte seinen Kopf in den Nacken. Er tat sich noch immer schwer, Hannes Tod überhaupt zu begreifen und die Bedeutung dessen, dass er aufgehört hatte zu atmen, zu verstehen. Ohne es bewusst wahrzunehmen, rollten ihm Tränen über die Wangen.
 

Kurt hörte den Verkehr auf der nahen Straße. Ab und zu vernahm er auch, wie ein Krankenwagen mit Sirene vorbeiraste. Irgendwo auf der Straße grölten ein paar Betrunkene herum, beschimpften sich.

Ja, das Leben schien wirklich wie gewohnt weiter zu laufen. Niemandem schien aufgefallen zu sein, dass jemand fehlte.

Und Johannes wurde vermutlich gerade von seiner Station weg in einen Raum gebracht, wo man seine Leiche aufbewahren würde, bis man sich weiter um sie kümmern und er bestattet werden würde.

Der Arzt, der ihm im Flur begegnet war, hatte doch ohnehin nur das bestätigen können, was sowohl Kurt selbst als auch die Nachtschwester bereits festgestellt hatten: Hanne hatte weder Atmung, noch Puls. Er lebte nicht mehr.
 

Kurt schüttelte den Kopf. Ihm erschien das Geschehene nach wie vor vollkommen unwirklich. Gerade so, als sei nichts passiert.

So, als wäre alles nur ein Traum gewesen, aus dem er am Morgen vor seinem zwanzigsten Geburtstag in der Wirklichkeit aufwachen würde. In einer Wirklichkeit, in der Frieda noch immer seine Freundin, eine Frau, war und er Hanne nicht mal kannte. Er wäre nicht am Zebrastreifen angefahren worden und auch sonst wäre nichts von all den blöden Dingen geschehen. Jedoch hätte er dann auch nicht seinen Lukas wieder. Vielleicht würde er sogar beginnen, mehr von Frieda zu wollen und sie von ihm. Möglicherweise würden sie nach dem Aufwachen ein richtiges Pärchen werden.

Doch alles, was seit dem Tag geschehen war, an dem er Hanne kennen gelernt hatte, war nichts als die pure Realität.
 

Hanne war mit nur siebenundzwanzig Jahren an einer Lungenentzündung gestorben, die er sich als Folge seiner Immunschwäche zugezogen hatte.

Lukas war „Frieda“ und gleichzeitig der Mann, den er liebte.

Und er selbst stand vor der Klinik, in der Hanne so viele Wochen zugebracht und gegen seine Krankheit gekämpft hatte, und heulte sich die Augen aus dem Kopf.
 

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Vor der Dämmerung war Kurt irgendwann nach Hause gegangen Er hatte sich aus reiner Gewohnheit ins Bett gelegt, konnte allerdings immer wieder nur für ein paar Sekunden einschlafen.

Als er dann schließlich aufstand, führte ihn der erste Weg ins Badezimmer. Er wusch sich sein Gesicht, kämmte sich die Haare. Die Türe wurde geöffnet, doch das nahm er nur sehr verschleiert wahr. Schritte näherten sich. Lukas legte ihm eine Hand auf die Schultern. „Ah, hier bist du. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, als du nicht mehr im Bett lagst.“

Kurt hatte gar nicht bemerkt, dass Lukas nach Hause gekommen war und begann wieder zu weinen. Es tat ihm schrecklich leid, Lukas wieder enttäuscht zu haben. Er hatte seinem Freund nichts davon gesagt, dass er bei Johannes war und hatte jetzt das Gefühl, ihn hintergangen zu haben. Vergeblich mühte er sich damit ab, seine Tränen zu unterdrücken. Er schämte sich ein wenig für seine geröteten, verquollenen Augen.

„Was ist denn?“, fragte Lukas besorgt und zog Kurt zu sich, um sich mit ihm auf den Rand der Badewanne zu setzen.

Kurt ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Hanne ist letzte Nacht gestorben.“

Lukas legte einen Arm um Kurt. „Seit wann weißt du es? Hat das Krankenhaus angerufen?“

Kurt schniefte, schüttelte den Kopf. „Es tut mir alles so furchtbar leid. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich über Nacht bei ihm bleibe, oder?“

Lukas zog die Brauen hoch, lächelte jedoch dann, um Kurt zu beruhigen. „Nein, nein. Kein Problem. Beruhig dich erst mal. Dann sehen wir weiter, ja?“

Kurt nickte und Lukas streichelte ihm immer wieder über die Haare. „Und jetzt erzähl mal.“, forderte ihn Lukas nach einer Weile auf.

Kurt erzählte ihm nach kurzem Zögern die ganze Geschichte: wie Hanne ihn gebeten hatte, bei ihm zu bleiben, von dem Gefühl der Angst, von Hannes Wunsch, nach draußen zu gehen und schließlich davon, wie er wieder eingeschlafen war und dann plötzlich aufgehört hatte zu Atmen und sozusagen vor Kurt gestorben war. „Ich hätte nicht nachgeben dürfen, als er ins Freie wollte. Das war zu anstrengend für ihn.“, beendete er seine Erzählung dann.

„Jetzt sag bloß nicht, dass du dir die Schuld gibst. Weißt du, vielleicht solltest du es auch als eine Art Erlösung für ihn ansehen. Es ging ihm schon verdammt lange ziemlich schlecht.“

Kurt nickte, löste sich aus Lukas Armen. „Vielleicht hast du recht.“

Lukas lächelte liebevoll und streichelte Kurts Wange. „Geht es wieder?“

Kurt bejahte, rappelte sich auf. „Hanne hat mich noch gebeten, etwas für ihn zu erledigen.“, sagte Kurt dann, sah nicht direkt zu Lukas. „Begleitest du mich?“

„Sicher. Um was geht es denn?“, fragte er und erhob sich ebenfalls.

Anstatt einer Antwort verließ Kurt das Badezimmer und zog den zusammengefalteten Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke, die er an die Garderobe gehängt hatte. Er reichte ihn Lukas, der auf die Adresse schaute, die Johannes noch geschrieben hatte. „Den muss ich abgeben.“, erklärte er.
 

Kurt war erleichtert, dass Lukas ihn tatsächlich zu dem Haus dieses Bestatters begleitete. Es war nicht weit von hier und so gingen sie zu Fuß. Er war wirklich froh, dass sein dunkelhaariger Freund neben ihm saß, während er dem Bestatter Hannes Unterlagen gab.
 

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Lukas lächelte und legte seinen Arm sanft um Kurt und ging so mit ihm hinaus auf die Straße. Er war erleichtert darüber, dass Kurt sich nun von Hanne hatte lösen können und sich somit für ihn und ein gemeinsames Leben entschieden hatte. Sie hatten gemeinsam diesen letzten Schritt für Johannes getan. Bestimmt würde auch das eine oder andere Gespräch mit Johannes Vater fällig werden, der in der Entscheidung, wie Johannes bestattet werden sollte, komplett übergangen worden war und das auch noch bewusst so von seinem Sohn veranlasst worden war.
 

Lukas nahm sich vor, Kurt so gut es geht zu unterstützen.

Allerdings war ihm auch klar, dass es ein langer Weg werden würde, bis sein Freund Johannes Tod verarbeitet hatte. Auch an ihm selbst nagte die Vorstellung, ihn niemals wieder zu sehen, obwohl er noch gar nicht ganz begriffen hatte, dass Hanne gestorben war. Vermutlich würde sich dieses Bewusstsein erst in den nächsten Tagen einstellen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Evilsmile
2012-09-21T18:46:11+00:00 21.09.2012 20:46
Da hat dieser junge tapfere Mensch viel zu früh das Ziel seiner Reise erreicht...wir dürfen nicht vergessen, dass er uns allen nur vorangegangen ist.
Bin gerade ziemlich mitgenommen von der Geschichte. Ich fand die Szene im Regen so schön... Sein Tod hat sich die letzten paar Kapiteln so quälend hingezogen...eigentlich schon von Anfang an. Man stellt sich selbst die Frage: Könnte ich selbst das, wie Kurt einen Freund bis zum Schluss begleiten .____.



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