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Kurt das war's

von

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Nervlich am Ende

XXVIII – Nervlich am Ende
 

Eigentlich waren Kurt alle diese Gefühle der innerlichen Überlastung durch Hanne erst so richtig bewusst geworden, nachdem er mit Lukas darüber gesprochen hatte. Nun merkte er selbst, dass es eine verdammte Lüge gewesen war, als er Lukas erzählt hatte, dass es ihm nichts ausmachte.
 

Der Geruch von Medikamenten und Desinfektionsmittel schlug ihm entgegen als er Hannes Station betrat und schien ihm fast den Atem zu rauben. Kurt nahm eine Hand vor den Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken.

War er wirklich psychisch so fertig, wie Lukas es ihm gesagt hatte? Er hatte ihm geraten, einige Tage nicht hinzugehen. „Du machst dich doch selbst kaputt!“, hatte er gesagt als sie nach dem Bad gemeinsam gegessen hatten. Was aber hätte Hanne gesagt, wenn Kurt nicht vorbeikäme? Seine eigene psychische Belastung war nichts im Gegensatz zu der von Hanne. Er hatte Kurt jetzt nötiger als irgendwer sonst.

Kurt wollte stark sein, sich zusammenreißen. Er wollte Hanne als Stütze dienen, wenn dieser eine brauchte. Entschlossen klopfte er an Hannes Türe.
 

Wider Erwarten saß Hanne etwas zusammengesunken im Bett. Sein Kopf lag auf den Knien. Kurt lächelte und schloss die Türe hinter sich. Er war erleichtert darüber, dass es Hanne so gut zu gehen schien, dass er sich sogar wieder aufsetzen konnte.

„Grüß dich, Hanne. Ich hab dir deine Bananen mitgebracht.“ Kurt zog sich seine Jacke aus und hängte sie neben Hannes Bademantel an die Tür.

Kurt ging näher zu Hanne hin, als dieser keine Reaktion zeigte. Plötzlich hörte Kurt Hannes leises Schluchzen und genauso unvermittelt nahm er wahr, dass seine Schultern leicht zuckten.

„W- was hast du, Hanne?“, fragte Kurt mit unsicherer Stimme und überbrückte vollends die letzten Schritte zu Johannes Bett. Er legte seine Tasche mit den Bananen am Fußende des Krankenbettes ab und sank dann auf die Bettkante, berührte dann die Schulter des rotblonden Mannes. „Was hast du denn?“, wiederholte er und streichelte dann sanft Hannes Rücken. Kurt konnte dabei mühelos Hannes einzelne Wirbel und sein übriges Skelett am Rücken unter seiner Hand fühlen und erschrak einmal mehr darüber, wie abgemagert, gebrechlich und schwach er doch war.
 

Eine Weile hörte er nur weiteres leises Schluchzen. „Ich habe es wieder gesehen. Den Unfall, weißt du? Meine Eltern und ich, wir waren voller Blut. Und meine Mutter, sie... sie hat den Kopf so komisch verdreht hängen lassen. Mein Vater hat geschrien. Ich wollte... aufstehen, aber ich konnte nicht. Und dann haben die weißen Leute meine Eltern weggebracht. Ich habe auch geschrien, aber keiner hat mich gehört. Ich hatte solche Angst.“ Jetzt hustete Hanne so stark wie am Vortag und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Kurts Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. Wieder einmal wusste er nicht, was er Hanne erwidern sollte, was ihm helfen könnte, sich wieder zu beruhigen. Kurt zwang sich zur Ruhe und sagte dann: „Du hast nur geträumt, Hanne. Du bist in Sicherheit. Ich bin hier, hörst du?“ Er drückte Hanne fester an sich.

Kurt fühlte, wie Hannes Hand nach seiner tastete und nahm schon bald den leichten Druck seiner Finger wahr. Erst jetzt fiel Kurt auf, wie überhitzt die Haut seines Gegenübers wieder war. Johannes musste im Fieber geträumt haben und so, wie er sich angehört hatte, musste es schlimm gewesen sein. Der Unfall, bei dem seine Mutter umgekommen war. „Jetzt ist alles wieder gut.“, murmelte Kurt mehr für sich selbst. Er hielt Hanne allerdings weiterhin fest im Arm und streichelte wieder vorsichtig über seinen Rücken.
 

„Weißt du“, meinte Hanne nach einer Weile, „es ist wirklich merkwürdig ähnlich zwischen damals und heute. Als ich gleich nach dem Unfall im Krankenhaus aufgewacht bin, hab ich fürchterliche Angst gehabt und ziemlich laut geweint. Dann ist eine Schwester gekommen, hat mich in den Arm genommen und meine Hand gehalten. Ich hatte ja erst die Operation an meinem Bauch hinter mich gebracht und konnte absolut nicht verstehen, warum mir alles wehtat und ich im Bett liegen musste.

Ich hab meine Eltern oft gesucht. Ich konnte nicht verstehen, dass meine Mutter tot war. Ich wusste nur, auf welcher Station mein Vater lag und dass er wohl ebenfalls verletzt war. Ich bin zwei oder dreimal aus der Kinderstation ausgebüchst und hab ihn besucht. Ich weiß noch, dass ich mich ziemlich erschrocken hatte, weil er an den Armen dicke Verbände tragen musste. Er hat beim Unfall Glassplitter abbekommen und sogar noch heute sieht man die Narben davon.

Bei meinen kurzen Besuchen hat er nie ein Wort zu mir gesagt. Er hat mich einfach nur angesehen. Ich dachte damals, dass er mich einfach nicht mehr kannte und mich vergessen hat.“ Hanne machte eine Pause, in der er sich über die Augen wischte. „Na ja, jedenfalls tut es mir unheimlich gut, dass du so regelmäßig hier bist und mir zuhörst. Es ist einfach ein schönes Gefühl, wenn man ernst genommen wird.“

Kurt hatte keine Ahnung, weshalb ihm Hannes Geschichte jetzt die Tränen in die Augen trieb. Er sah auch, dass Hanne ebenfalls darunter litt. Er konnte verstehen, weshalb. Es war nicht nur das eben Beschriebene, sondern auch all seine anderen schmerzhaften Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit, die mit eben dieser gegenseitigen Ablehnung verbunden gewesen waren.

Kurt wandte sich ab, um nicht mehr in Hannes traurige Augen sehen zu müssen. „Was ist mit dir, Kurt?“, fragte Hanne leise als er es bemerkte. „Wieso schaust du weg?“

„Nichts. Gar nichts ist los.“ Kurts Stimme klang tonlos. Dann zog er seine Hand aus der von Hanne und begann selbst zu weinen. Es war zu viel geworden. Die Situation erdrückte ihn. Das trauergeschwängerte Umfeld fraß sein Inneres auf. Alles tat weh, wollte raus.

„Kurt, bitte nicht weinen.“, flüsterte Hanne, griff wieder nach seinem Arm. Er wusste nicht, was los war. Er konnte sich nicht vorstellen, was Kurt plötzlich so bedrückte. „Ach, Kurt.“, seufzte er nachdenklich.
 

Nachdem Kurt nicht mehr Hannes Arme um sich spürte, wurden seine Gedanken wieder klarer. Er wandte sich um und schaute über seine Schulter zu Hanne, der sich wieder zurückgelehnt und die Augen geschlos­sen hatte. Seine Lippen waren leicht geöffnet, er schien in einen leichten Schlummer verfallen zu sein.
 

Kurt wischte sich noch einmal über die Augen und erhob sich dann vorsichtig von Hannes Bett. Er war sehr darauf bedacht, keinen Lärm zu machen oder Erschütterungen zu verursachen, die Hanne die Augen aufschlagen lassen könnten. Er wollte unter keinen Umständen mit ihm reden müssen. Hanne würde Fragen stellen. Und er selbst würde antworten müssen, dass ihn die Besuche überlasteten. Dass er der Situation der Krankheit ab und zu nicht gewachsen war.
 

Kurt ging leise zur Tür und öffnete sie. Er schlüpfte auf den Flur hinaus, vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass Hanne noch immer schlief und zog die Tür wieder vorsichtig hinter sich zu. Auf seinem Weg zum Ausgang der Station begegnete er anderen Besuchern und auch einigen Patienten, die dasselbe Hemd trugen wie Johannes. Gut knielang, weiß mit hellgrauem Muster, am Rücken offen und nur mit einer Schleife im Nacken zusammengehalten.

Ihm fiel ganz besonders ein Mann auf, der in etwa in Johannes Alter sein musste. Er trug an ähnlichen Stellen wie Hanne Verbände, sah allerdings bei Weitem gesünder aus als er, zumindest war er nicht so mager. Kurt war sich ziemlich sicher, dass er schon bald wieder die Klinik würde verlassen können. Anders als Hanne, der wohl nie wieder eine Entlassung erleben würde.

Kurt ertappte sich dabei, wie eine weitere Träne über seine Wange rollte. Er war froh, als er die Tür zum Treppenhaus erreichte.
 

Kurt beeilte sich, das Klinikgelände vollends zu verlassen, obwohl er heute nur eine halbe Stunde bei Hanne gewesen war. Wenn er auf seine Uhr sah, war es erst halb drei.

Zuhause legte er sich schließlich ein wenig auf die Couch um wieder runterzukommen.
 

Nachdem Kurt sich wieder ein wenig beruhigen konnte, schlief er schließlich ein. Als er am späten Nachmittag wieder aufwachte, bemerkte er, dass sich Lukas an das äußerste Ende der Couch gesetzt hatte und fing seinen Blick auf.

„Wie lange sitzt du schon da?“, fragte er Lukas.

„Eine Weile. Nicht besonders lange jedenfalls.“, erwiderte er. „Alles in Ordnung bei dir?“

Kurt bejahte, obwohl er sich noch immer nicht ganz komplett fühlte.

„Wie war es heute bei Johannes?“

Kurt schlug die Augen nieder, weil ihm mit einem Mal wieder Hannes verheulte Augen in den Sinn kamen. Sein Anblick, wie er schluchzend in seinem Bett gesessen war. „Wie immer.“, log er schließlich und leckte sich über die Lippen.

„Aber?“, fragte Lukas wieder nach. „Ich sehe doch, dass du geweint hast.“

„Hanne war nicht besonders gut drauf heute.“, erzählte er schließlich. „Er hat Fieber und träumt viel vor sich hin.“

Lukas schwieg. Er spürte, dass noch irgendetwas im Busch war.

„Weißt du, ich hab ständig Gefühl, dass ich für ihn da sein müsste. Dass er mich braucht und ich ihn stützen muss. Ich hab ihm das doch sogar versprochen. Er hat fürchterliche Angst, dass ihn irgendwann einmal alle Leute vergessen, wenn er krank ist und dass insgesamt niemand mehr zu Besuch kommt.

Als ich heute gekommen bin, ist er gerade auf seinem Bett gesessen, ein bisschen zusammen gesunken. Ich hab mich eigentlich sogar darüber gefreut, weil ich dachte, es ginge ihm besser. Und dann hab ich bemerkt, dass er vor sich hin schluchzt. Er hat wohl von dem Unfall geträumt und hat mir dann erzählt, wie es damals im Krankenhaus war. Eigentlich ganz normal, oder? Aber irgendwie nimmt es mich trotzdem mit, wenn ich sehen muss, wie scheußlich es ihm geht und wie sehr er kämpfen muss.

Du hast recht, Lukas. Es gibt auch bei mir solche Tage, an denen ich gar nicht erst hingehen mag, weil ich das Gefühl hab, dass irgendwas in mir zerbricht, wenn ich sehe, dass es ihm wieder schlechter geht. Oder dass ich einfach nicht die Kraft hab, mit ihm zu reden und für ihn da zu sein.

Ich mache mir insgesamt unheimlich viele Gedanken darum, wie es Johannes geht oder wie ich ihm helfen kann. Dabei glaube ich auch ganz oft, dass ich das selbst gar nicht bewältigen kann.

Es ist einfach blöde für mich, in seinem Zimmer zu stehen und zuschauen zu müssen, wie es ihm immer schlechter geht. Dann redet er wieder davon, dass er gehen möchte und dass das Leben für ihn gar nichts mehr wert ist. Ich denke mir oft, dass er das vor einem halben oder einem Vierteljahr nie und nimmer gesagt hätte. Aber mit einem Mal tut er das eben.“ Er seufzte, ließ sich so nach vorne sinken, dass seine Arme auf den angezogenen Knien lagen.

"Du machst unheimlich viel für ihn. Du bist fast jeden Tag für mehrere Stunden im Krankenhaus. Natürlich ist das eine Belastung für dich und du bürdest dir damit unheimlich viel auf. Ich denke, dass die Überlastung, die du da beschreibst, ein deutliches Zeichen dafür ist, dass du dir eine Pause gönnen solltest.

Bleib zu Hause, lass es dir ein paar Tage gut gehen. Ich denke, dass du dann auch wieder mehr Kraft für Hanne hast. Es bringt niemandem etwas, wenn du so ausgelaugt bist, dass du selbst nicht einmal der psychischen Belastung standhalten kannst." Lukas drückte seine Hand, strich mit dem Daumen über seinen Handrücken.

Kurt schüttelte kaum merklich den Kopf. "Klar hast du Recht, das sehe ich genauso. Aber dann sehe ich wieder, wie sehr Johannes jemanden zum Reden braucht. Er hält das sonst nicht aus da drin."

Lukas lächelte. "Ich mache dir jetzt einen Vorschlag: du bleibst jetzt erst einmal zu Hause und erholst dich vier oder fünf Tage lang und denkst in dieser Zeit auch nicht ans Krankenhaus. Ich bin mir absolut sicher, dass die Schwestern sich in der Zeit gut um Hanne kümmern werden. Vielleicht redet er auch mal von sich aus von seinen Ängsten den Schwestern oder dem Arzt gegenüber. So kann bestimmt etwas gefunden werden, was ihm hilft. Okay?"

Kurt schaute auf und stimmte schließlich zu.

„Gut.“, erwiderte Lukas und lächelte. „Erinnerst du dich eigentlich noch an unseren Hund? Wir sollten so langsam gehen.“
 

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Hanne machte sich schreckliche Vorwürfe, nachdem Kurt verschwunden war. Was hatte er nur angerichtet? Warum hatte Kurt so geweint? Hatte er etwas falsch gemacht?
 

Hanne kletterte aus dem Bett, schwankte leicht und hob die Tasche auf, die Kurt ans Fußende seines Bettes gestellt hatte. Er ließ sich wieder aufs Bett sinken und holte die Plastiktüte vom Supermarkt mit den Bananen heraus, die Kurt ihm mitgebracht hatte. Sie waren genauso, wie er es sich gewünscht hatte und er war Kurt unheimlich dankbar. Überhaupt tat dieser ja unheimlich viel für ihn und opferte sich auf. Obwohl sie nur ein kurzes Gespräch geführt hatten, hatte der Albtraum von eben seinen Schrecken verloren und wirkte jetzt völlig normal.

Johannes setzte sich so aufs Bett, dass er sich mit dem Rücken an die Wand lehnen konnte und nahm eine der braun fleckigen Bananen aus der Tüte. Er zog die Schale ein Stück weit herunter und biss ein Stück ab. Eigentlich hatte er ja keinen Appetit, wusste aber, dass er etwas essen sollte. Sein Gewicht hatte die absolute Untergrenze erreicht und das sah man seinem Körper auch an. Dr. Müller hatte ihn bereits bei seinem Aufnahmegespräch auf das Thema Gewichtsverlust und Untergewicht angesprochen und hatte auch damals schon von der Nährstoffversorgung über einen Tropf gesprochen. Natürlich würde man erst zu solchen Maßnahmen greifen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, doch Johannes war schon bei der bloßen Vorstellung schlecht geworden. Nein, er wollte so selbstbestimmt leben wie nur möglich. Auf gar keinen Fall wollte er irgendetwas künstliches in sich haben.

Hanne steckte sich gerade das letzte Stück Banane in den Mund und angelte sich schon die nächste aus der Tüte, als die Tür geöffnet wurde.
 

Hanne starrte seinen Besucher nur an, so überrascht war er. „Sven?“

„Hanne, grüß dich, hey!“, sagte dieser und kam auf ihn zu. „Ich hab mir irrsinnige Sorgen gemacht, als mir deine Schwester gesagt hat, du seist im Krankenhaus. Ich wollte dich eigentlich schon zu Neujahr anrufen und meinen Besuch ankündigen, du warst aber nicht zu erreichen. Die Handynummer deiner Schwester hatte ich ja auch noch und dann hab ich bei ihr einfach mal nach dir gefragt. Aber jetzt bin ich beruhigt. Du sitzt ja sogar auf dem Bett und isst ganz normal.“

Hanne zog gerade den letzten Schalenstreifen nach unten. „Na ja, wenn ich alles so essen würde, wie ich die Bananen hier verputze, dann würde ich mir auch keine Sorgen mehr machen, Sven. Ich wusste übrigens gar nicht, dass du noch Kontakt zu Sandra hast.“

„Hab ich eigentlich auch nicht, aber ich hab mir irgendwann einmal ihre Nummer aufgeschrieben. Aber jetzt erzähl mal, wie es dir in den letzten Wochen ergangen ist. Du hast dir ja ziemliche Sorgen gemacht.“

Sven lachte ihn an und irgendwie schwante Johannes, dass dieser nicht im Geringsten begriffen hatte, was los war. „Wie es mir ergangen ist? Wenn du die Augen aufmachen würdest, hättest du das Endprodukt schon gesehen, als du reingekommen bist!“, erwiderte Hanne unfreundlich. Er war tierisch genervt von seinem Ex-Freund. „Ich fühl mich alles in allem einfach nur beschissen im Moment. Ich hab Fieber, ich hab eine beginnende Lungenentzündung und mein Immunsystem steuert auch auf den Totalschaden zu. Außerdem bin ich mehr als viel zu dürr. Ich hab Kurt... ich hab keine Ahnung, was passiert ist, aber er ist auf einmal weinend zusammengebrochen.“ Jetzt kullerten auch wieder bei Johannes die Tränen. Er legte die noch nicht einmal angebissene Banane auf die Tüte in seinem Schoß und schluchzte auf. „Himmel, ich will Kurt einfach nicht verlieren.“

Sven zog seine warme Jacke aus, legte sie einfach über den Stuhl an der Wand und kletterte zu Hanne aufs Bett. Dort legte er die Tüte samt der Banane zur Seite und umarmte seinen ehemaligen Freund. Er drückte ihn an seine Brust, ließ die Finger über seinen Rücken wandern. „Hey, beruhige dich doch bitte.“, sagte er leise. „Du bist ja echt total am Ende mit den Nerven, hm?“

Hanne beruhigte sich allmählich wieder. „Entschuldige, Sven. Heute ist einfach schon viel zu viel passiert. Ich weiß echt kaum mehr, wo mir der Kopf steht. Aber ich hab einfach nur panische Angst, dass ich Kurt verliere. Er ist wirklich irre wichtig für mich im Moment. Er kommt annähernd jeden Tag für ein paar Stunden zu mir. Manchmal hab ich mich auch schon richtig ekelhaft verhalten, aber er verzeiht mir jedes Mal aufs Neue, wenn ich ihn anrufe.“

„Dann hat er dir die Bananen mitgebracht?“

Hanne bejahte. „Ich hab ihn gestern darum gebeten.“

„Der Kerl muss dich echt gern haben.“, meinte Sven nachdenklich. „Das lässt sich nicht jeder gefallen, dass er von dir zusammengestaucht wird.“

„Heute habe ich gar nichts gesagt. Ich war völlig aufgelöst, als er kam. Er hat sich zu mir gesetzt und gefragt, was passiert sei. Ich hab ihm von meinem Traum erzählt. Ich hatte hohes Fieber und hab wieder einmal von dem Verkehrsunfall geträumt. Schließlich hab ich auch noch vom Krankenhaus damals gesprochen und bin selber wieder in Tränen ausgebrochen. Und dann hat auch Kurt auf einmal weggesehen und hat plötzlich die Hände vors Gesicht gehalten. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe, Sven. Ich hätte ihn nicht so für mich beanspruchen dürfen. Er hat ja einen Freund, weißt du? Aber er hält trotzdem die ganze Zeit über zu mir und besucht mich, hört mir zu.“

Sven strich ihm wieder über den Rücken. „Ich glaub, dass ihn die ganze Situation einfach belastet, Hanne. Dieser Kurt scheint dich wirklich irrsinnig gern zu haben und da ist es doch völlig normal, dass es ihm weh tut, wenn er sehen muss, wie krank du bist und wie mies du dich fühlst. Und wenn du dann weinst und es dir noch übler zu gehen scheint, kann das auch mal zu viel für ihn werden. Ich denke einfach, dass er die Nerven verloren hat, Hanne.“

Hanne schüttelte verzweifelt den Kopf. „Aber das wollte ich nicht!“, beteuerte er wieder. „Ich wollte ihm nicht schaden. Oh je, ich hätte mich einfach nicht so an ihn klammern dürfen.“

„Ich hab nicht gesagt, dass es deine Schuld ist, Hanne. Und wenn du ihn nicht zum Reden gehabt hättest, wäre es dir noch viel schlechter ergangen. Du brauchst einfach jemanden, der sich jetzt Zeit für dich nimmt. Du bist krank, Hanne. Da sind die Bedürfnisse eben anders.“

Johannes gab sich geschlagen. „Na gut. Aber ich hab einfach Angst, dass ich ihn vollends verliere. Sein Freund wird nicht mehr davon begeistert sein, dass er mich besucht.“

Sven lächelte nachsichtig. „Und ich bin jetzt der Meinung, dass du das ganz schnell wieder vergisst und dich wieder hinlegst.“ Sven kletterte wieder von Hannes Bett herunter.

Hanne seufzte. „Vielleicht hast du recht.“, stimmte er zu und legte die Banane auf sein Nachtschränkchen. Dann legte er sich wieder hin und zog die Decke hoch. „Bleibst du noch ein bisschen hier?“

„Wegen dir bin ich ja extra hergekommen, Hanne.“, erwiderte Sven. „Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.“

Hanne schlug die Augen nieder. „Du hast keine Ahnung, von was du redest. Vielleicht hört sich das in deinen Ohren wirklich total verrückt an, aber ich hab einfach panische Angst davor, dass ich gar keinen Besuch mehr bekomme. Das hat sich sehr schnell bei mir. Kurt ist der einzige, der mich im Grunde genommen täglich besucht. Meine Schwester hat kaum Zeit dafür und irgendwie erwarte ich es auch gar nicht von ihr. Und Lukas, Kurts Freund, kann mich auch nicht so besonders gut riechen, obwohl wir uns wieder vertragen haben. Na ja, und ansonsten habe ich niemanden.“

„Und dein ehemaliger Mitbewohner? Oder irgendwelche gemeinsame Bekannte von euch, mit denen du noch ab und an Kontakt hast?“

„Heiko hab ich schon ewig nicht mehr gesehen seit wir die WG aufgelöst haben und eine Nummer hab ich nicht von ihm. Und meine Bekanntschaften waren immer sehr oberflächlich. Weißt du, ich hab das niemals jemandem auf die Nase gebunden, dass ich HIV-positiv bin. Nicht einmal meine Chefin wusste es bis vor kurzem. Heiko weiß es auch nur deswegen, weil es auf die Dauer einfach zu umständlich geworden wäre, die Medikamente oder meine regelmäßigen Arztbesuche vor ihm zu verbergen. Wenn man zusammenwohnt, kann man viele Dinge einfach nicht vertuschen und hätte ich ihn angelogen damals, wäre auch das früher oder später ans Tageslicht gekommen. Ich hatte einfach keine Wahl, verstehst du?“

Sven schüttelte sanft den Kopf. „Oh, Hanne. Du machst dir dein Leben wirklich zur Hölle. Du brauchst Aufmerksamkeit und Kontakte, scheuchst aber alle Leute, die auf dich zugehen würden, sofort wieder weg, wenn sie in dein Schneckenhaus schauen wollen. Du benötigst jemanden, mit dem du über deine Krankheit reden kannst, erzählst aber keinem, dass du sie hast und fürchtest dich sogar davor, dass es jemand bemerken könnte. Himmel, das war vorprogrammiert, dass du irgendwann einmal ein echtes Problem kriegst mit deiner verklemmten Art! Und jetzt komm mir bitte nicht damit, dass die Leute Vorurteile haben und dir das Leben schwer machen. Du weißt ganz genau, dass das wohl passieren kann, aber reine Theorie ist. Und wenn du ganz ehrlich zu dir selber bist, hat dir bisher noch nie jemand irgendeinen Stein in den Weg gelegt, weil du HIV-positiv bist.

Ich will dich echt nicht anschreien, Johannes, aber ich weiß wirklich nicht, wieso du immer noch so dicht machst... Ich dachte immer, du hättest dich hier weiter entwickelt und wärst ein wenig offener geworden. Aber du hast immer noch dieselben Probleme mit dir selbst wie früher. Ich würde dir so gerne helfen, aber ich weiß nicht wie.“ Sven ließ sich wieder zu ihm aufs Bett sinken und nahm seine Hand. „Was machst du nur immer für einen Blödsinn?“

Hanne entzog ihm seine Hand wieder. Es war ihm unangenehm, wie tief Sven noch immer in ihn hineinschauen konnte und wie gut er ihn im Grunde genommen kannte. „Ich glaube, ich warte jetzt einfach ab, wie sich Kurt weiterhin verhält. Sorgen mache ich mir vorerst keine mehr.“

Sven lächelte. „Jetzt tust du wieder so, als sei nichts gewesen. Na ja, Hauptsache ist doch, dass du dich wieder ein klein wenig beruhigst und nicht mehr ganz so aufgelöst bist. So gefällst du mir schon viel besser, Hanne, wirklich.“

„Bleibst du trotzdem noch ein bisschen? Ich hab es gerne, wenn einfach jemand am Bett sitzt.“

„Sicher.“

Hanne schaute wieder zu ihm auf. „Wie lange bist du eigentlich hier in Stuttgart? Hast du frei?“

„Ja, ich hab momentan Urlaub. Ich bin auf jeden Fall noch die nächsten fünf Tage hier in der Stadt. Ich wollte eigentlich schon zu Neujahr herkommen, aber als deine Schwester erzählt hat, dass du in der Klinik seist, dachte ich mir, ich lasse dich erst wieder gesund werden.“, erklärte Sven und berührte Hannes warme Stirn. „Ich hab übrigens seit letzten September einen neuen Freund. Ich wollte, dass du es auch weißt, Hanne.“

„Ist er auch hier in Stuttgart? Seid ihr zusammen gefahren?“, fragte Hanne und wandte seinen Kopf wieder zu Sven.

Wieder bejahte sein Exfreund und erzählte, dass sein Freund hier in der Gegend Verwandte habe, die sie gemeinsam besuchen würden.

Hanne biss sich auf die Lippen. „Weiß dein Freund davon?“

„Dass ich dich besuche? Das weiß er. Und er weiß auch, dass du krank bist und dass wir mal zusammen waren. Er hat keinerlei Probleme damit, dass ich bei dir bin und eigentlich kommt die Idee sogar von ihm. Außerdem sagt er, dass wir auch so genügend Zeit miteinander verbringen können."

„Das ist schön.“, erwiderte Johannes und lächelte erleichtert. „Ich hätte nicht haben wollen, dass du eure Beziehung gefährdest.“

Sven wollte erwidern, dass er niemals auf die Idee kommen würde, irgendetwas zu tun, mit dem sein Freund nicht einverstanden war oder ihn irgendwie zu hintergehen, ließ es dann aber bleiben. Er hatte schließlich keine Ahnung, wie schwierig Hannes Freundschaft zu Kurt oder sein Verhältnis zu Lukas in Wahrheit waren und vermutete auch hier wieder, dass vieles im Busch war, von dem er gar nichts wissen wollte. Er kannte Hanne gut genug, um solche versteckten Hinweise aus dem, was er sagte, herauszuhören.
 

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Kurt verbrachte die Tage, an denen er Hanne nicht in der Klinik besuchte, sehr harmonisch. Wenn er von der Arbeit kam, legte er sich meistens zuerst einmal eine halbe Stunde ins Bett. Außerdem erledigte er die Dinge im Haushalt, zu denen er wegen Johannes einfach keine Zeit gehabt hatte und die auch Lukas nicht hatte erledigen können. Er räumte auf, wischte Staub, wechselte die Bettwäsche. Er kochte, wenn Lukas abends lange arbeiten musste.

Obwohl es jetzt doch nicht funktionieren würde, den Mischlingshund zu sich zu nehmen, wollten sie mit der Tiervermittlung in Kontakt bleiben und vielleicht einen kleineren Hund zu sich holen.
 

Auch insgesamt verstand er sich wunderbar mit Lukas. Er küsste ihn oft, wenn er nach Hause kam. „Es ist einfach toll, dass wir wieder mehr Zeit für einander haben.“, hatte er einmal gesagt.



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