Kurt das war's von Lotos ================================================================================ Kapitel 24: Weihnachten im Krankenhaus -------------------------------------- XXIV – Weihnachten im Krankenhaus Hanne hatte jetzt fast zwei Wochen ganz normal gearbeitet und allen Leute, die fragten, was denn los gewesen wäre, das Blaue vom Himmel gelogen. Meistens hatte er behauptet, sich eine ziemlich unglückliche Grippe eingefangen zu haben. Er fühlte sich tatsächlich so, als sei alles okay. Die Ablenkung tat ihm gut, denn wenn er zu viel grübelte, kam er nur auf falsche Gedanken. Er brauchte jetzt diese Illusion von der perfekten Welt um sich. Ab und zu fühlte er sich etwas müde, aber das störte ihn nicht besonders. Was ihm schon eher Sorgen bereitete, waren die winzigen anderen Anzeichen für seine Immunschwäche: die Entzündung im Rachen, der ekzem­artige juckende Ausschlag in seiner Armbeuge, wegen dem er einen Verband trug und seine Ärmel nicht mehr aufkrempeln konnte, oder auch die leicht erhöhte Körpertemperatur, die er mit Fiebermittel behan­delte. Er schob diese ganzen Begleiterscheinungen mit voller Absicht nicht auf die Krankheit, die kaum mehr zu leugnen war, sondern auf das Wetter, die Kälte, die seine Haut austrocknen ließ, und die ewig lange Dunkelheit. Die einzige Person, die er nicht hatte anlügen können, war seine Chefin. Sie hatte ihn an einem Samstag nach Feierabend einfach darauf angesprochen, dass er abgenommen hatte, dass er so oft und so lange krank gewesen war. Natürlich hatte er auch ihr gegenüber zuerst abgewehrt, hatte gelächelt und behauptet, dass sie sich das alles nur eingebildet habe. „Hanne, du kannst mir nicht erzählen, dass alles in Ordnung ist. Seit du hier einmal zusammengebrochen bist und dieses irrsinnige Fieber hattest, ist der Wurm drin. Du fehlst oft und du kannst mir inzwischen nicht mehr weismachen, dass du Kreislaufprobleme hast. Irgendetwas stimmt nicht mit dir, nicht wahr?“, wiederholte sie nachdrücklich. Sie klang nicht verärgert sondern eher wie jemand, der sich ganz einfach Gedanken um ihn machte. Zuerst wollte er wieder abwinken, allerdings war ihm ebenso klar, dass sie ihm nicht glauben würde. „Ich bin wirklich nicht gesund im Moment.“, gab er schließlich zu. „Du hast ja schon bemerkt, dass ich in letzter Zeit auffallend oft krank war und dass ich ziemlich abgenommen hab.“ Er schluckte. „Ich hab eine Immunschwä­chekrankheit. Ich gehe regelmäßig zum Arzt und lasse mich untersuchen und meine Blutwerte kontrollieren. Ich muss auch Medikamente schlucken, die zum Teil Nebenwirkungen wie zum Beispiel Appetitverlust haben. Vor allem deswegen bin ich auch so dürr, denke ich. Du erinnerst dich doch noch an den Verkehrsunfall aus meiner Kindheit, oder? Bei der Bluttransfusion damals hab ich mich mit HIV angesteckt.“ „HIV?“, wiederholte sie nur. Hanne nickte. „Ja. Im Frühjahr werden es jetzt dann zweiundzwanzig Jahre seit der Ansteckung.“ Dann seufzte er leise und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass ich es dir schon viel früher hätte erzählen müssen. Und es tut mir auch leid, dass ich dich so lange angelogen habe. Ich hab dir und allen anderen ins Gesicht gelogen ohne rot zu werden! Aber, weißt du, ich hatte immer Angst, dass du mich rauswirfst, wenn du wüsstest, was tatsächlich mit mir los ist. Ich konnte einfach nicht darüber reden.“ „Dir geht es nicht gut, oder?“ „Nein. Ich spüre immer stärker, wie ich kraftloser werde. Ich hab immer wieder kleinere Infektionen wie zum Beispiel einen entzündeten Rachen wie ihn jeder bei einer Erkältung hat. Normalerweise verflüchtigt sich das nach vielleicht einer Woche wieder. Bei mir aber bleiben die Beschwerden längere Zeit bestehen.“ Hanne schluckte und sah zu Boden. „Manchmal ist der Verlauf sogar schlimmer als bei gesunden Leuten.“ Sie legte Johannes eine Hand auf die Schultern, doch er sah nicht auf. „Hanne, ich muss dir auch etwas ge­stehen. Ich weiß von deiner HIV-Infektion. Ich hab es herausgefunden als du im Sommer das Bewusst­sein verloren hast. Ich hab eigentlich nur dein Handy aus deiner Tasche nehmen wollen um deine Schwester an­zurufen, weil ich ihre Nummer nicht hatte, und dann kamen mir die Medikamente entgegen, die du vorher in der Apotheke besorgt hast. Ich hab alles schnell wieder reingesteckt, deine Schwester angerufen als der Krankenwagen schon da war und hab dann, bevor sie kam, noch einmal eine der Schachteln herausgenommen.“ Jetzt hob er doch den Kopf, blickte sie traurig an. „Warum hast du nie etwas gesagt?“ „Weil ich immer dachte, dass du mit mir irgendwann einmal von selbst darüber sprechen würdest. Ich hatte geglaubt, dass deine Infektion noch recht frisch gewesen war und du die Sache zuerst selbst verdauen musstest. Ich wollte dir Zeit geben, Hanne. Deine HIV-Infektion war nie ein Thema für mich, auch wenn es mich natürlich zuerst erschreckt hat. Aber ich hätte dir deswegen nicht gekündigt, das darfst du mir gerne glauben.“ Wieder nickte er, brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. „Danke.“ „Aber eines möchte ich dich jetzt doch noch fragen. Meinst du, du kommst wieder in Ordnung, Hanne? Wie ist es jetzt im Moment mit der Arbeit? Fühlst du dich überhaupt gesund genug?“ „Ich weiß es nicht.“, erwiderte er kraftlos und wischte sich über die Augen. „Ich hab selber keine Ahnung, wie sich das ganze in den nächsten Wochen entwickelt. Im Moment aber möchte ich auf jeden Fall arbeiten und ich werde es auch tun, so lange es möglich ist. Die Arbeit hier tut mir gut, sie lenkt mich ab und ich hab eigentlich gar keine Zeit mehr zum Grübeln. Es macht mir einfach unheimlich viel Spaß. Ich habe gerne Leute um mich. Wenn ich zu Hause wäre und mich schonen würde... ich glaub, ich würde über kurz oder lang durchdrehen.“ „Hm, das kann ich gut nachvollziehen. Aber wie schon gesagt: du musst dich wirklich nicht sorgen, dass ich dir kündige oder dass ich mit irgendwelchen anderen Leuten darüber rede. Ich gebe nichts auf die Viren. Nur eine Sache musst du mir versprechen, Hanne. Wenn du dich nicht gut fühlst, bleibst du zu Hause und gehst zum Arzt, ja? Du solltest wirklich mehr auf dich und deine Gesundheit achten.“ Johannes hatte sich außerdem dazu gezwungen, seinen Vater anzurufen. Nach langem Hin und Her hatte er ihn schließlich in seinen Entschuldigungen und anderen Belanglosigkeiten unterbrochen und hatte ihm von seinem Zustand erzählt, von den Ängsten, die ihn momentan beschäftigten. Während des Gesprächs waren ihm mehrmals die Tränen gekommen und sein Vater hatte manchmal minutenlang warten müssen, bis Hanne sich beruhigt hatte. Es war schwer für Johannes gewesen, diese katastrophalen Ängste jemandem gegen­über aufzurollen, mit dem er seit Jahren kaum noch gesprochen hatte, doch jetzt war einfach das Gefühl da, dass sein Vater ihn verstand. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass man eine weitere Person um sich hatte. Auch für seinen Vater war es nicht leicht gewesen, sich die Krankheit bewusst zu machen und zu verstehen, was in Johannes Körper vor sich ging. Wie das Immunsystem seines Sohnes über die Jahre hinweg immer maroder geworden war und wie sehr ihm jetzt scheinbar harmlose Pilze und Bakterien zu schaffen machten. Schmerzhafte Ausschläge auf der Haut, Entzündungen an der Mundschleimhaut. Offene durch Hautpilz entstandene kleine Wunden, die sich entzünden konnten, wenn man sie nicht reinigte, eincremte und die Verbände regelmäßig wechselte. Sein Vater hatte ihm geduldig zugehört, hatte sich in Kommentaren zurückgehalten, um Hannes Redefluss nicht zu stören. Zum Schluss hatte er seinem Sohn außerdem ver­sprochen, ihn zu seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag zu besuchen, den er bereits in ungefähr fünf Wochen würde feiern dürfen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Am einem Nachmittag kurz vor Heiligabend kehrte schließlich das Fieber und das Schwindelgefühl zurück. Gerade eben hatte er sich von seiner Kundin, eine Frau mittleren Alters mit einem netten Ehemann und zwei kleinen Mädchen, verabschiedet und ihr als gefühlt tausendste Person ein schönes Weihnachtsfest gewünscht, das wie jedes Jahr im Stress untergehen würde. Hanne war froh, dass er jetzt, wenn man sich auf den Terminplan verlassen konnte, eine knappe Viertelstunde Pause hatte. Er geriet leicht ins Schwanken, als er in den Nebenraum ging, um sich ein Glas Mineralwasser einzugießen und wieder einmal eine Schmerztablette einzunehmen. Seine Chefin war ebenfalls im Raum und setzte gerade Kaffee auf. Als sie ihn bemerkte, fragte sie sofort, ob alles in Ordnung sei. Er bejahte, behauptete, dass es ihm gut ginge. „Bist du dir sicher?“, fragte sie wieder. „Du bist ganz blass und du zitterst ein bisschen.“ „Es ist nichts.“, log er wieder. „Ich wollte mir nur schnell ein Wasser eingießen.“ Sie setzte sich zu ihm. „Hanne, wenn du dich dem Weihnachtstrubel hier nicht gewachsen fühlst, darfst du gerne öfters mal Pause machen. Bisher hast du immer noch kleinere Pausen bei deinen Terminen. Wenn du möchtest, werden wir dir keine weiteren Kunden eintragen.“ „Ja, das ist keine schlechte Idee. Aber ich will nicht, dass wir meinetwegen irgendwelchen Leuten absagen müssen. Und ich will auch nicht, dass du oder Lisa mehr arbeiten müsst.“ „Also darüber musst du dich wirklich nicht sorgen, Hanne. Das wird wie bisher jedes Jahr gut über die Bühne gehen. Letztes Jahr war ich doch sogar selber krank und ihr beiden habt das prima hingekriegt.“ Sie drückte seine Hand, auf der sich ihre seltsam kühl anfühlte, obwohl sie eigentlich immer warme Hände hatte. „Du bist wieder fiebrig, Hanne.“, bemerkte sie. „Ich nehme gleich eine Tablette. Dann geht es mir wieder besser. Und morgen ist doch sowieso Sonntag, da kann ich mich noch genug ausruhen.“, wehrte er ab. „Nein.“, widersprach sie. „Weißt du denn nicht mehr, was du mir letztens versprochen hast? Tu mir den Gefallen, Hanne, und halte dich auch daran. Geh zum Arzt, hörst du? Und geh bitte nach Hause.“ Er spürte, dass jeder Widerspruch zwecklos wäre. Und genauso wusste er auch, dass sie Recht hatte. Er würde sich nur selbst schaden, wenn er jetzt stur bliebe und die nächsten Tage bis Weihnachten weiter arbeiten würde. „Du hast recht. Vielen Dank.“ „Schön.“, sagte sie nur. „Bleib ruhig noch ein bisschen hier sitzen. Ich kann deinen Kunden jetzt über­nehmen.“ Johannes ging tatsächlich nach Hause. Er schaffte es gerade noch, sich aus seiner Jacke zu schälen und die Schuhe auszuziehen, als ihm wieder beinahe schwarz vor Augen wurde und er sich an der Wand abstützen musste. Er hielt sich weiterhin an der Wand fest, während er ins Schlafzimmer ging, um seine Kleidung in eine bequeme Hose, ein weiches T-Shirt und seine Lieblingsstrickjacke zu wechseln. Dann tapste er noch einmal ins Badezimmer, wo er das Fieberthermometer holte, sich ein großes Duschtuch für Wadenwickel anfeuchtete und es zusammen mit einem trockenen Tuch mit ins Schlafzimmer nahm. Hanne schlug die Decke zurück, setzte sich auf die Matratze und wickelte sich zunächst das feuchte, dann das trockene Tuch um die Unterschenkel. Obwohl er zunächst zusammenzuckte, spürte er schon bald eine Erleichterung, wie die Hitze durch die kalten Umschläge aus seinem Körper gezogen wurde. Er tastete nach dem Fieberthermometer, das er neben sich auf der Matratze abgelegt hatte und legte es auf den Nachttisch am Bett. Sehr schnell schlief er ein. Am nächsten Morgen wachte Johannes klatschnass auf. Er erinnerte sich wieder an das Fieberthermometer auf seinem Nachttisch und rollte sich auf den Bauch. Vorsichtig rückte er seine Hose etwas tiefer, griff nach dem Fieberthermometer, schaltete es an und führte es schließlich behutsam ein. Ein leises Piepsen signalisierte, dass die Messung abgeschlossen war. Hanne entfernte das Thermometer wieder, schaute auf die Anzeige und sah in den Digitalziffern das bestätigt, was er sowieso schon wusste. Fieber. Seine Körpertemperatur lag knapp über neununddreißig. Er wollte gar nicht wissen, wie sehr er wohl gestern Nachmittag geglüht haben musste. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Ein wenig wackelig stützte Hanne sich an der Wand ab, nachdem er sich schließlich aus dem Bett geschält hatte. Er gehörte ins Krankenhaus, soviel war sicher, denn das war der Ort, an dem man ihm am besten helfen konnte. Dr. Müller würde bestimmt wissen, wie. Hanne schleppte sich in die Küche, wo er zuerst seine Medikamente schluckte. Er versuchte außerdem zu frühstücken, wobei ihm selbst der Joghurtbecher, den er sich aus dem Kühlschrank genommen hatte, fast zu viel war. Schließlich ging er zum Badezimmer, wo er sich wusch, sich rasierte und seine Zähne putzte. Er zog sich außerdem ordentliche Kleidung an. Im Schlafzimmer zog Hanne seine Reisetasche neben dem Schrank hervor. Er hatte sie schon nach dem Gespräch mit seinem Vater gepackt, hatte Schlafhosen, T-Shirts, andere bequeme Kleidung, Unterwäsche, Handtücher und ein paar Pantoffeln hineingelegt. Er hatte außerdem daran gedacht, eine Auflistung seiner Medikamente hineinzulegen und andere persönliche Unterlagen, die nötig sein würden, sodass er jetzt nur noch ganz wenig dazu packen musste. Vielleicht einen eigenen Bademantel, ein Buch, Schreibzeug, seine Brieftasche und vor allem Dinge aus dem Badezimmer. Zahnputzzeug, Rasierer, die Creme für sein Gesicht, eine Haarbürste und die Körperlotion. Als Johannes auf den Bürgersteig hinaus trat, lief er Kurt mehr oder weniger direkt in die Arme. Er hatte eine Schneeschaufel in der Hand und hatte bereits den in der Nacht gefallenen Schnee weggeräumt. Er und Lukas hatten die vergangene Woche über Kehrwoche gehabt, hatten also das Treppenhaus gereinigt, und dazu gehörte eben auch der Winterdienst. „Grüß dich.“, sagte Kurt jetzt und umarmte ihn. Hanne wich ihm aus. Ihm war ohnehin schon unwohl genug, da konnte er es nicht auch noch ertragen, von jemandem berührt zu werden. Kurt schaute ihn überrascht an. „Hast du was?“ Johannes schüttelte den Kopf. „Ich muss los, ja? Tut mir leid, Kurt, aber ich hab gerade echt keine Zeit. Okay?“ „Wo willst du denn hin, Hanne? Es ist Sonntagmorgen.“, fragte er wieder. Irgendwie ahnte Kurt, dass mit Hanne etwas absolut nicht okay war. Er war viel zu unruhig. „Lass mich gehen, ja? Ich hab keine Lust auf Streitereien.“ Hanne wollte sich endgültig an Kurt vorbei schieben, spürte jedoch sofort seine Hände an den Schultern, die ihn aufhielten. „Ich sehe dir doch an, dass es dir nicht gut geht. Du solltest ins Krankenhaus gehen, Hanne, bitte. Dr. Müller...“ „Ich bin doch schon auf dem Weg.“, unterbrach Johannes ihn. „Du musst dich echt nicht so aufregen.“ Kurt schüttelte sanft den Kopf. „Dann lass dich wenigstens hinbringen, Hanne.“, erwiderte er. „Du fällst mir sonst noch und liegst dann bewusstlos irgendwo auf dem Bordstein oder in irgendeinem Bus. Und mit der dünnen Jacke gehst du mir sowieso nirgendwo hin. Du holst dir noch ne Grippe oder so.“ Er zog sich seine eigene Jacke aus und legte sie um Hannes Schultern. „Warte kurz. Ich bring dich schnell zum Krankenhaus. Der Lukas pennt ohnehin noch, also ist es egal. So wecke ich ihn wenigstens nicht.“ Kurt verschwand und Hanne wartete. Seufzend steckte er seine Arme in die Ärmel der angewärmten Jacke. Obwohl er es sich selbst kaum zugestehen wollte, tat es ihm gut, dass Kurt ihm helfen wollte. Natürlich wäre es Hanne lieber gewesen, wenn Kurt bei Lukas bleiben würde und nichts von seinem Besuch in der Klinik erfahren hätte. „Du musst das nicht tun, Kurt.“, versicherte er, als Kurt wieder auftauchte. Er hatte seine Haare zurück gekämmt und sie straff im Nacken zusammengebunden und hatte außerdem eine dicke Fleecejacke angezogen. „Ich bin bisher immer alleine zurechtgekommen. Bleib hier. Ich will nicht, dass du dir wegen mir Umstände machst.“ „Bisher hast du dich auch noch nie so beschissen gefühlt, oder? So, und jetzt will ich nichts mehr hören.“ Kurts Unterton ließ keinen Widerspruch zu. „Vielen, vielen Dank, Kurt.“, meinte Hanne dann. „Du bist wirklich immer da, wenn ich dich gerade brauche.“ Hanne spürte Kurts Blick im Rücken. „Du hörst wohl schlecht, oder? Du musst dich nicht für alles bedanken. Ich mache das gerne und wenn ich keine Zeit habe, sag ich das auch.“ Als Kurt Hanne dann nun schon zum zweiten Mal in diesem Monat über das Gelände der Klinik führte, wurde dieser plötzlich ohnmächtig. Als sie gerade die Notaufnahme erreichten, wurde Hanne einfach schwerer in seinem Arm und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Verzweifelt versuchte Kurt, ihn wieder zum Aufwachen zu bewegen, aber ohne Erfolg. Er nahm Hanne auf den Arm und schleppte ihn das letzte Stück. Er war fast knochiger als damals, als er diesen Krebs auf seinem Bauch entdeckt hatte. Kurt strich ihm besorgt über den Rücken, als er ihn absetzte und Hannes lebloser Körper auf einen Stuhl in der Wartezone der Notaufnahme sank. Was war nur mit Hanne? Er war doch vor einem halben Jahr noch so lebenslustig und gesund gewesen. Vorsichtig setzte er sich zu Johannes, legte den Arm um seine Schulter und stützte ihn, bis ein Pfleger auf sie zu kam. Gemeinsam verfrachteten sie Hanne auf so etwas wie einen Rollstuhl. Wäre er bei Bewusstsein gewesen, hätte Hanne sich dagegen wohl mit aller Kraft gewehrt. Aber so war Hanne nur noch ein Schatten seiner selbst und hatte nichts mehr von seiner Dickköpfigkeit. „Sie sind ein Angehöriger?“, fragte der Pfleger Kurt als nächstes. Er wirkte sehr sympathisch. Kurt schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind bloß befreundet.“, erwiderte er. „Ich hab ihn hergefahren. Ihm geht es schon seit ein paar Wochen nicht besonders gut und er war auch schon Anfang des Monats ein paar Tage hier im Krankenhaus. Er ist HIV-positiv und ist hier in der HIV-Ambulanz bei Dr. Müller in Behandlung. Er hat ziemlich Fieber, glaube ich.“ Der Pfleger nickte und fragte dann nach weiteren Unterlagen. Kurt zeigte auf die Tasche, die Hanne bei sich getragen hatte und jetzt auf dem Fußboden neben ihm stand. „Da müsste alles nötige drin sein.“, antwortete er und öffnete den Reißverschluss des Hauptfachs. „Sicher auch etwas zu seinen Medikamenten.“ Gerade als der Pfleger die Unterlagen aus Hannes Tasche durchgesehen hatte, die er mit Kurt in einer gelben Mappe gefunden hatte, kam der zuständige Arzt der Aufnahmestation. Er versuchte zunächst, den noch immer bewusstlosen Hanne anzusprechen. Wieder reagierte Hanne nicht und so übernahm der Pfleger es, dem Arzt das zu erzählen, was Kurt ihm bereits über den Zustand des neuen Patienten anvertraut hatte. Kurt verließ das Krankenhaus wieder, nachdem der Pfleger ihn weggeschickt hatte. Sein Kopf war voller Sorgen um Hanne, der jetzt so hilflos war. Er wäre gerne bei Johannes geblieben, bis er auf seiner Station war und ein Zimmer hatte. Er hätte gerne gehört, was Dr. Müller zu ihm sagte. Allerdings sah auch er ein, dass eine Einmischung seinerseits Hannes Behandlung nicht beschleunigen würde. Zwar würde es Hanne vielleicht beruhigen ,wenn er da wäre, doch letztendlich brachte es ihm keinen besonderen Nutzen, Außerdem war Lukas mit Sicherheit inzwischen aufgewacht und wartete, machte sich vielleicht schon Gedanken um ihn, obwohl Kurt seinem Freund eine kurze Notiz hinterlassen hatte. Noch vor einem halben Jahr wäre eine solche Situation mit Johannes undenkbar gewesen, doch jetzt war es Realität. Diese Tatsache konnte Kurt nur schwer begreifen. Er fragte sich ernsthaft, was jetzt mit Hanne geschehen würde. Würde er, wenn er wieder zu sich gekommen war, nach Kurt fragen? Draußen vor der Klinik blieb Kurt stehen, um zu beobachten, wie dicke Schneeflocken auf den Ärmel seiner roten Fleecejacke fielen und dann schmolzen. Vielleicht würde es weiße Weihnachten geben. Es war immerhin schon der zweiundzwanzigste Dezember. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kurt verbrachte den heutigen Heiligen Abend mit Lukas alleine. Morgen würden sie zu Hanne ins Krankenhaus gehen und dann, am Zweiten Weihnachtstag, würden sie bei Lukas Eltern sein. Hanne freute sich riesig, als Kurt ihn mit Lukas zusammen besuchte. Man merkte wohl, dass er noch immer schlapp war, aber er war total glücklich. Fast ohne Aufforderung erzählte er Kurt, dass er wieder zu sich gekommen sei, als er mit dem Arzt im Untersuchungszimmer der Aufnahme alleine gewesen war. Er hatte dem Arzt sofort von der HIV-Infektion erzählt und seinem miesen Gesamtzustand. Er hatte den übrigen Sonntag noch auf der Aufnahme­station verbracht, wo man ihm auch seine Begleitinfektionen behandelte. Auf eine Nachfrage hin zeigte Hanne Kurt den Verband um den Ausschlag in der Armbeuge und die weitere Binde um sein Schienbein, die eine offene Stelle mit einem Hautpilz verbarg. Um die Stimmung wieder etwas zu lockern erzählte Hanne schließlich, dass er am Montag Nachmittag sein Zimmer bekommen hatte. Er erwähnte außerdem, dass es selbst im Krankenhaus an Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen gegeben hatte und es an den übrigen Tagen auch ziemlich leckeres Essen geben würde. Kurt freute sich darüber, dass Johannes so eine gute Stimmung hatte. Hanne war auch begeistert über den kleinen Schutzengel, den Kurt ihm zu Weihnachten schenkte. Scheinbar hatte Kurt wirklich ins Schwarze getroffen, obwohl er nicht geahnt hatte, dass Johannes tatsächlich an solche Dinge glaubte. Doch Hanne stellte sich die kleine Holzfigur direkt auf den Nachttisch zwischen seinen Becher, die Mineralwasserflasche und die leere Plastikschale, in der seine Medikamente gewesen waren. Das einzige, was Kurts Erleichterung über Hannes emotionalen Zustand trübte, war Lukas. Ihm schien alles, was Johannes betraf, egal zu sein. Kurt hatte geglaubt, dass es zwischen Hanne und ihm wenigstens eine Annäherung gegeben hätte, aber dem schien ja nicht so zu sein. Sollte er den beiden noch mal Zeit geben, sich zu unterhalten? Aber der Impuls musste wenn schon von Lukas selbst kommen. Diese verzwickte, merkwürdige Lage machte Kurt traurig. Er hatte geglaubt, dass vielleicht alle gemeinsam Weihnachten feiern könnten, aber es ging nicht. Manchmal wünschte er sich sogar, dass es diese gemeinsame Nacht zwischen Lukas und Hanne niemals gegeben hätte. Dann wäre alles unkomplizierter und die beiden wären heute vielleicht sogar Freunde. Der ganze Nachmittag war durch Lukas Laune verklemmt gewesen und nur Hanne und Kurt hatten sich wirklich gut unterhalten. Es war beinahe eine Distanz zwischen Hanne und Lukas zu bemerken. Ein Abstand, den sich Kurt nicht erklären konnte. Hanne schien sich nicht zu trauen, Lukas anzusprechen und in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl er es gerne getan hätte. Und Lukas signalisierte ganz klar, dass er keine Lust hatte; er stand mit verschränkten Armen am Fenster und sah auf das zweite, noch leere Bett im Zimmer herab. Kurt war erleichtert, als er mit Lukas zusammen das Krankenhaus verließ und wollte dann vor dem Gebäude von Lukas wissen, was los sei. Dieser sah Kurt unbeeindruckt an. „Du weißt genau, was ich von ihm halte. Wozu also deine Frage? Hanne ist mir egal. Ich bin eigentlich nur deinetwegen hier. Weil du so begeistert von der Idee warst, dass wir Hanne gemeinsam besuchen sollten.“ „Ich hab geglaubt, dass du schon auf ihn zugegangen wärst und ihr wieder besser miteinander klarkommt. Bloß deshalb hab ich dir ja überhaupt diesen Vorschlag gemacht, Hätte ich gewusst, wie verklemmt der ganze Nachmittag wird, hätte ich das mit dem Besuch bleiben lassen.“ „Natürlich haben wir uns unterhalten, Kurt, aber wirklich weiter gekommen sind wir nicht.“, gab Lukas zu. „Ich hab kapiert, dass es nicht okay war, dass ich ihm das Leben schwer gemacht hab. Und ich sehe auch, dass er sowieso schon gestraft genug ist durch seine Krankheit. Als ich ihn neulich besucht hab, habe ich auch nach seinem Krebs gefragt von dem du mir erzählt hast. Er ist ziemlich aus der Haut gefahren und hat mir sofort vorgehalten, dass ich doch sowieso erst dann zufrieden sei, wenn es ihm schlecht geht. Na ja, und da frag ich mich dann schon auch, ob er sich nicht dir gegenüber genauso verhält. Er behandelt dich doch ab und zu wie Dreck, oder?“ Als er die letzte Frage aussprach, schien die ganze Gleichgültigkeit wie weggeblasen. „Manchmal schon. Aber dann stelle ich mich auch immer ziemlich ungeschickt an, weil ich ihn nicht verstehe.“, verriet Kurt wahrheitsgemäß. Lukas nickte verständnisvoll. „Na ja, und dann hab ich gesagt, dass ich nicht möchte, dass er zu dir genauso ungerecht ist wie zu mir. Ich hab mich ziemlich fies verhalten. Als er mir dann erklärte, wie er für dich empfindet, hab ich kapiert, dass ich das, was damals passiert ist, nicht mit dem Hier und Jetzt vergleichen darf. Ich glaube, dass er dich wirklich sehr dringend braucht, Kurt. Er hat unheimlich viel Vertrauen in dich. Aber, weißt du, genau das macht mir Angst. Du läufst eigentlich schon die ganze Zeit über Gefahr, dich viel zu sehr für ihn aufzuopfern. Keine Frage, ich gönne ihm das und ich weiß auch, dass er genau das braucht, aber ich hab Angst, dass du am Ende gar keine Zeit mehr für mich hast, für uns. Dass du sozusagen selbst wenn du zu Hause bist deinen Kopf bei Hanne im Krankenhaus lässt und deine Gefühle genauso. Ich fürchte mich einfach davor, dass du mich hinter ihm irgendwo vergisst. Und dass nichts mehr von dir für mich übrig bleibt. Das klingt jetzt vielleicht kind...“ „Nein, Lukas, das klingt gar nicht kindisch.“, widersprach Kurt. „Genau diese Befürchtung hatte ich auch schon gehabt. Ich merke ja selbst, dass ich schon bisher relativ viel Zeit bei Hanne in der Klinik verbringe und dass du ganz schön zurückstecken musstest. Aber du musst mir versprechen, dass du mir sagst, wenn ich es übertreibe mit meinen Krankenbesuchen und du dir irgendwie abgestellt vorkommst. Okay?“ Kurt lächelte. Lukas bejahte. Er war erleichtert, dass Kurt seine Bedenken nicht in den falschen Hals bekommen hatte und sogar Verständnis aufbringen konnte. „Ich habe Johannes mal versprochen, dass ich ihn nicht alleine lasse, wenn er krank ist. Das war da, als er diesen Krebs auf der Hüfte entdeckt hatte. Er war total aufgewühlt und hat eigentlich nur noch geweint. Er hat panische Angst davor, irgendwann einmal komplett alleine dazustehen und von allen verstoßen und verlassen zu werden. Er fürchtet sich richtiggehend davor, niemanden mehr um sich zu haben, mit dem er reden kann oder der ihn in der Klinik regelmäßig besucht. Deswegen hab ich vor, dass ich ihn möglichst jeden Tag für vielleicht eine Stunde besuche. Ich denke sowieso, dass das schon völlig ausreichend sein wird und wenn es ihm noch schlechter geht, wird er wohl sowieso kaum noch wach sein. Ich mag ihn sehr, weißt du? Und deswegen habe ich ihm auch dieses Versprechen gegeben. Ich mache das wirklich nicht, um dich zu ärgern oder so.“ Lukas lächelte. Natürlich wusste er das. Es wollte nur nicht in seinen Kopf gehen, dass sich Hanne verändert hatte und dass er nichts von Kurt im sexuellen Sinne wollte. Lukas seufzte und nickte dann zur Bestätigung. „Schön.“, meinte Kurt zufrieden. „Weißt du, ich weiß echt nicht mehr, was mit Hanne los ist. Er wirkt so kaputt und willenlos. Als ob ihm alles egal sei, aber dann doch wieder nicht. Ich kapiere es einfach nicht. Wie kann sich ein Mensch in so kurzer Zeit so verändern?“ Kurt klang nun sehr traurig. Wieder seufzte Lukas leise. „Er ist schwer krank, Kurt. Nicht er hat sich verändert, sondern er wird dazu gezwungen. Ihm geht’s wirklich nicht gut.“ Kurt nickte. „Das weiß ich doch. Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Er war doch bis vor kurzem noch so fit und alles. Und jetzt...“ „Ich denke, dass es Hanne bald wieder besser geht.“, erwiderte Lukas nur. „Er war heute nur ziemlich müde. Nächste Woche kann es schon wieder ganz anders aussehen bei ihm.“ Lukas wusste selbst, dass das alles gelogen war, aber ihm war jedes Mittel recht, damit Kurt sich nicht zu sehr sorgte und aufregte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)