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Kurt das war's

von

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Ein Brief und verbrannte Erinnerungen

XXIII – Ein Brief und verbrannte Erinnerungen
 

Es war am Donnerstag der ersten Dezemberwoche, als Hanne nachmittags an Kurts Türe klingelte. Er betete darum, dass Kurt zu Hause war. Schon seit dem Wochenende fühlte er sich wieder schlechter, sodass er froh war, heute seinen freien Tag zu haben. Endlich öffnete jemand die Türe. Es war ein kleines Mädchen, das ihn erschrocken ansah und dann weglief und nach ihrem Onkel rief. Hanne glaubte schon, an der falschen Türe zu stehen und überlegte sich eine gute Entschuldigung. Doch dann kam Kurt. Das Mädchen war ganz aufgeregt als sie ihn hinter sich her zog. Kurt lachte und wandte sich schließlich Hanne zu. „Was ist denn mit dir passiert? Willst du verreisen?“ Er sah auf die Reisetasche hinab, die Hanne neben sich auf dem Boden abgestellt hatte.

Hanne schüttelte den Kopf. „Mir ist nicht gut. Ich möchte ins Krankenhaus.“

Kurt sah ihn verwirrt an. „Wie meinst du das – Krankenhaus?“

„Ich fühle mich schon seit ein paar Tagen nicht wohl, irgendwie immer abgespannt und müde. Ich möchte deshalb gerne noch einmal mit Dr. Müller reden. Wir haben uns darüber schon unterhalten, als ich letzte Woche ein neues Rezept für meine Medikamente bei ihm abgeholt hab.“

Kurt verstand, was Johannes sagen wollte, aber nicht aussprach. Der Arzt musste bei Hannes letztem Besuch einige ziemlich deutliche Worte mit ihm gewechselt haben. Andernfalls würde Hanne wegen ein bisschen Müdigkeit oder Unwohlsein nie und nimmer freiwillig zum Arzt gehen. Nein, er kannte inzwischen Hannes Einstellung zu Klinikaufenthalten, auf die er sich nur dann einließ, wenn es sich absolut nicht mehr umgehen ließ und er gesundheitlich vor einem Abgrund stand. „Sicher.“, antwortete er darum. „Ich kann dich zu Dr. Müller begleiten. Bei mir ist jetzt bloß gerade schlecht. Ich habe noch die Kinder meiner Schwester da. Hast die Kleine ja gesehen. Maike müsste aber eigentlich bald kommen. Möchtest du reinkommen und dich ein wenig hinlegen? Du siehst wacklig aus.“ Er musterte Hanne besorgt.

„Das ist nett, Kurt, danke, und so eilig ist es auch wieder nicht, dass ich in der Klinik bin. Dr. Müller hat noch zwei Stunden Sprechstunde. Es ist mir nur wichtig, dass mir nichts passiert, wenn ich alleine bin. So wie damals, als ich dir in die Arme gefallen bin. Da ging’s mir auch nicht so gut.“

Kurt nickte. „Ich hab dich schon richtig verstanden. Ich gehe mal davon aus, dass meine Schwester in der nächsten halben Stunde vorbeikommen wird und die beiden Kleinen wieder abholt. Dann kann ich dich kurz in die Klinik bringen. Leg dich besser ein wenig hin, wenn dir schwindlig ist, ja?“ Kurt nahm Hanne am Arm und brachte ihn ins Schlafzimmer, wo sich dieser die Schuhe auszog und aufs Bett sank. „Danke sehr, Kurt.“, murmelte Hanne.

„Brauchst du was?“, wollte Kurt wissen und legte ihm die Hand auf die Stirn, die sich ein kleines bisschen fiebrig anfühlte.

Wieder schüttelte Hanne den Kopf.

Dann fing ein Baby an zu schreien. Das kleine Mädchen von vorhin kam herein und zupfte wieder an Kurts Ärmel. Die beiden verließen den Raum, das Mädchen kehrte aber schnell wieder zu Hanne zurück. Er hörte ein Klacken von Plastik neben sich und kurz darauf war die Kleine zu ihm aufs Bett geklettert. Es war ihm egal, wie so ziemlich alles im Moment. Er war froh, dass er liegen konnte, da er sich vollkommen ausgelaugt fühlte.

Plötzlich spürte er, wie etwas auf seine Brust gedrückt wurde. Er öffnete die Augen und sah das Gesicht des Mädchens direkt vor sich. Sie starrte ziemlich konzentriert auf seinen Brustkorb und hatte ein Plastik-Stethoskop in den Ohren stecken. „Was tust du denn da?“, fragte er erschrocken als sie seinen Pulli nach oben schieben wollte. Er hielt ihn fest, da sie seine Narbe nicht sehen sollte.

Sie sah zu ihm auf. „Bist du aufgewacht? Ich will dich untersuchen und dich dann ganz schnell wieder gesund machen wie meine Mama auch. Damit du wieder raus kannst, wenn es schneit. Das ist nämlich so schön!“, erklärte sie ernsthaft.

Er lächelte. „Ist deine Mama Ärztin?“

„Nein. Aber Krankenschwester.“, antwortete sie stolz.

„Wie heißt du denn, Kleines?“, wollte er dann wissen.

„Sara. Und du?“

„Johannes.“

„Und jetzt musst du aufhören, dich zu wehren, Johannes. Du willst doch gesund werden, oder?“

Johannes seufzte. „Lass das bitte.“, sagte er.

Sara verzog das Gesicht. „Und warum?“

„Mir ist nicht gut. Lass mich schlafen.“, gab Hanne wieder zurück.

Das kleine Mädchen schmollte und schaute ihn säuerlich an.

Hanne musste lächeln und konnte plötzlich verstehen, weswegen Kurt scheinbar so sehr an seiner kleinen Nichte hing. „Na gut. Ich halte still.“, sagte er schließlich.

Sara lächelte ebenfalls, nahm sich die Plastikstöpsel ihres Spielzeugstethoskops aus den Ohren und legte ihre kleinen dicken Kinderhände an seinen Hals, um ihn abzutasten. Hanne hatte keine Ahnung, ob sie wusste, wozu sie das tat oder ob sie ihn einfach nur willkürlich anfasste. Er schloss die Augen, während ihre Hände höher wanderten und schließlich den Übergang zwischen Hals und Kopf erreichten. Jedenfalls drückte sie insgesamt etwas zu fest zu und er zuckte zusammen, als sie seine geschwollenen Lymphknoten zusammenquetschte. „Au!“, sagte er vorwurfsvoll.
 

„Sara, spielst du etwa Krankenschwester mit Hanne?“ Hanne wandte seinen Kopf zeitgleich mit Sara zur Tür. Kurt trat gerade ein und hatte das Baby auf dem Arm.

Sara nickte stolz. „Ja! Ich hab sogar etwas gefunden! Am Hals, da ist was ganz Dickes und wenn ich draufdrücke, tut es weh.“

Kurt musste zunächst lächeln, dann allerdings schrillten seine Alarmglocken. Er sah Hanne an, dass es ihm absolut nicht passte, was Sara da mit ihm anstellte. „Ich glaube, der Johannes fühlt sich wirklich nicht wohl, Sara. Es ist echt lieb von dir, dass du dich so schön um ihn kümmerst, aber er ist wirklich krank und muss jetzt schlafen, okay?“

„Ist er dann bald wieder gesund?“ Sara schaute neugierig zu Kurt auf.

„Ich weiß es nicht.“, wich Kurt aus. Sara wusste schließlich noch nicht, dass es auch unheilbare oder tödliche Krankheiten gab und er wollte ihr die schöne Illusion nicht zerstören, dass man allen Menschen helfen konnte.

Sara ließ die Sache auf sich beruhen und fragte auch nicht weiter nach.

„Hey, hast du eigentlich schon deine Malsachen in deine Tasche gepackt? Deine Mama kommt sicherlich bald.“

Sara schüttelte den Kopf. „Ich muss noch ganz viel weiter malen!“, sagte sie und eilte wieder aus dem Zimmer.

Im selben Moment fing Markus wieder an zu weinen und diesmal schaffte Kurt es nicht, ihn zu beruhigen. Er schaute ziemlich verzweifelt drein. „Gib ihn mir.“, hörte er Hanne sagen und Kurt drehte sich wieder um. Hanne saß auf der Bettkante.

„Kannst du das denn?“

„Ja, ich habe doch auch eine kleine Schwester. Sandra.“

Vorsichtig gab Kurt ihm den schreienden Kleinen ab und Hanne wiegte ihn im Arm. Vorsichtig hob er das Baby an seine Brust, wobei er sogar daran dachte, eine Hand schützend an den Hinterkopf des Säuglings zu halten. Behutsam streichelte er über den winzigen Rücken.

Nach einer Weile beruhigte sich Markus wieder, quengelte aber noch immer ein wenig. Hanne nahm ihn wieder von seiner Brust und hielt ihn stattdessen im Arm. Dann legte er seine freie Hand auf den Bauch des Babys. „Ich glaube, du hast Hunger.“, meinte Hanne leise und lächelte.

Kurt schaute ihn jetzt verwundert von der Seite an. „Wie kommst du denn darauf?“

„Sein Magen grummelt.“, erwiderte Hanne. „Leg mal deine Hand auf seinen Bauch, dann kannst du es spüren.“

Kurt folgte Hannes Anweisung und hielt inne. „Stimmt.“, sagte er dann und zog seine Hand zurück. „Komm mit, Hanne. Maike hat mir eine Flasche vorbereitet.“
 

Hanne folgte Kurt mit dem Kind, als er das Zimmer verließ. „Macht deine Schwester so was öfter?“, fragte er. „Dir ihre Kinder aufdrücken?“

„Nein. Meistens habe ich nur Sara alleine. Normalerweise kümmert sich meine Mutter um Markus.“ Kurt kramte ein verschlossenes Babyfläschchen aus einer großen Umhängetasche, die auf dem Fußboden im Flur der Wohnung stand, heraus. In der Tasche konnte Hanne außerdem eine zusammengefaltete Babydecke und Windeln entdecken. Kurts Schwester schien wirklich an alles gedacht zu haben.

Hanne begleitete Kurt in die Küche, in der er etwas Trinkwasser in einem Topf erhitzte und schließlich das Pulver im Fläschchen mit der erwärmten Flüssigkeit auffüllte. Vorsichtig schüttelte er das Fläschchen und drückte es dann an seine Wange um die Temperatur zu überprüfen.

„Hanne? Soll ich ihn wieder nehmen?“, fragte er. Johannes war die ganze Zeit über mit dem Säugling im Arm neben ihm gestanden.

Hanne verneinte. „Das ist wirklich kein Problem.“ Dann nahm er das Fläschchen entgegen und ließ das Baby trinken.
 

„Du kannst gut mit kleinen Kindern umgehen. Geht’s eigentlich so? Ist dir schwindelig?“, fragte Kurt nachdem er Johannes eine Weile beobachtet hatte.

„Nein. Ich bin nur ein wenig müde, aber ansonsten ist alles in Ordnung.“ Hanne lächelte und legte das Baby vorsichtig über seine Schulter. Behutsam klopfte er ihm auf den Rücken und hörte schon bald ein leises Bäuerchen. „Schön.“, sagt er lächelnd und drückte den Kleinen wieder behutsam an seine Brust.

Kurt lächelte ebenfalls. „Das freut mich. Vielleicht sollten wir ein bisschen mit Markus auf und ab gehen. Dann schläft er schneller ein.“
 

Etwas später klingelte es an der Türe. Es war Maike, die ihre Kinder wieder haben wollte. Kurt öffnete und begrüßte seine Schwester mit einer kurzen Umarmung.

„Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme. Ich hoffe, du hattest nichts vor, Kurt.“, sagte sie während sie vollends die Wohnung betrat.

„Kein Problem.“, wehrte Kurt ab. „Was hast du eigentlich gemacht, dass du so lange weg warst?“

„Ich hatte heute ein Gespräch mit dem Personalchef vom Klinikum. Ich werde ab Februar wieder anfangen zu arbeiten. Zuerst nur ein paar Stunden in der Woche zur Wiedereingliederung, dann werde ich langsam auf fünfzig Prozent aufstocken, später, wenn Markus in den Kindergarten geht, vielleicht noch ein bisschen mehr. Aber das zu entscheiden, hat ja noch Zeit.“

Kurts Gesicht strahlte. „Toll! Das ist ja super. Ich freu mich für dich.“

„Danke.“ Dann beugte sie sich runter zu Sara, die inzwischen mit ihrer kleinen pinken Tasche gekommen war und umarmte sie. „Warst du auch artig?“, fragte sie.

Sara bejahte und erzählte ihr, dass sie den ganzen Nachmittag über gemalt hätte.

Auch Johannes war inzwischen zur Türe gekommen, hatte sich vollkommen still neben Kurt gestellt und hatte zugehört. Er hatte noch immer den Säugling auf dem Arm, der inzwischen an seine Brust gelehnt eingeschlafen war. Hanne hatte nur ab und zu vorsichtig seinen Daumen über den Rücken dieses winzigen Bündels streichen lassen. Jetzt gab er Maike ihren schlafenden Sohn zurück.

„Oh, er schläft. Das ist gut. Danke.“, sagte sie als sie dem ihr völlig fremden Mann ihr Baby aus den Armen nahm.

Kurt sah noch einmal zu Hanne. „Das ist übrigens Johannes.“, stellte er ihn dann seiner Schwester vor. „Und das hier, Hanne, ist meine ältere Schwester Maike.“

Hanne lächelte noch einmal. „Freut mich.“, erwiderte er.

Maike lächelte ebenfalls. „Ah, Kurt hat schon von Ihnen erzählt.“, sagte sie und erinnerte sich daran, dass Kurt einmal eine HIV-Infektion erwähnt hatte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu. „Hat er nicht geweint?“, fragte sie und streichelte vorsichtig über die runde rosige Wange ihres Sohnes.

„Ein kleines bisschen vielleicht. Ich war ziemlich froh, dass Hanne da war. Er kann recht gut mit kleinen Kindern umgehen. Wir haben ihn übrigens auch schon gefüttert.“

„Ach, dann ist ja gut. Ich hab mir schon ein bisschen Gedanken gemacht, weil das ja immer so ungefähr die Zeit für sein Fläschchen ist, aber dann kann ich ihn euch ja öfters abgeben.“

Kurt musste lachen.

Sara zupfte an Maikes Ärmel. Sie war müde und wollte nach Hause gehen. Schließlich verabschiedete sich Maike von Kurt und Johannes und bedankte sich noch einmal. Kurt holte außerdem die Umhängetasche mit den Babysachen und gab sie seiner Schwester.

Hannes Magen zog sich ein wenig zusammen, als er beobachtete, wie Maike und Kurt sich umarmten und er sich auch noch einmal gesondert von seiner Nichte und seinem schlafenden Neffen verabschiedete. Es war ein unheimlich friedlicher Moment und er vermisste seine eigene „Familie“, die er ja selber vollkommen zerstört hatte.

Kurt legte seinen Arm um Hannes Taille als Maike schließlich gegangen war. Hanne wollte sich befreien, doch Kurt zog ihn nur noch fester zu sich. „Du bist nicht alleine. Ich weiß, dass du das gerade eben gedacht hast. Soll ich dich jetzt dann zum Krankenhaus bringen?“

„Ja, ich denke, das ist vernünftig.“
 

Im Krankenhaus ging alles ganz entspannt. Sie gingen sofort in die HIV-Ambulanz in Dr. Müllers Sprech­stunde, wo sich Johannes nachdem er aufgerufen worden war eine gute Viertelstunde mit seinem Arzt unterhielt, während Kurt mit der Tasche im Wartebereich sitzen blieb. Während der Wartezeit rief Kurt außerdem Lukas an, damit auch dieser wusste, wo sein Freund steckte und was mit Hanne geschehen war.

Kurt begleitete Johannes auch noch zur Aufnahme, wo dieser ein Formular ausfüllte, den Einweisungs­schein von Dr. Müller abgab und seine Krankenversicherungskarte einlesen ließ. Er erzählte Kurt nur ganz kurz von dem Gespräch mit Dr. Müller und davon, dass dieser ihn zur Beobachtung aufnehmen wollte und es sich außerdem schon länger bemerkbar machte, dass es ihm wieder etwas schlechter ging.
 

Kurt blieb noch so lange bei Johannes, bis dieser sein Zimmer bekommen hatte und seine Tasche ausgepackt hatte. Erst dann ging auch Kurt selbst nach Hause. Lukas wartete ja schließlich auf ihn.
 

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Kurt gab sich Mühe, sein Versprechen zu halten und Hanne regelmäßig zu besuchen. Er konnte weder eine Besserung noch eine Verschlechterung bei ihm erkennen. Ihm ging es genauso, wie es ihm auch schon vor einem Monat gegangen war. Ein wenig schlapp, ein wenig müde, aber eigentlich gesund. Natürlich war er auch insgesamt fiebrig, allerdings hatte er nur eine leicht erhöhte Körpertemperatur.

„Ich komme mir hier falsch vor.“, meinte Hanne deswegen oft.
 

Ungefähr eine Woche später wurde Johannes wieder entlassen.

Kurt war Hannes Aufenthalt im Krankenhaus unnütz vorgekommen. Es ergab einfach keinen Sinn: Hanne hatte sich immer mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, ins Krankenhaus zu gehen und jetzt lag er genau dort, wobei er fast gesund war. Natürlich war Kurt ebenso klar, dass sich Johannes Zustand seit dem Sommer drastisch verändert hatte und er insgesamt in einer schlechteren Verfassung war. Es war nur logisch, dass sein Immunsystem immer mehr von den Viren in seinem Blut zerfressen wurde. Hanne hatte ihm selbst erklärt, dass die Anzahl der Viren im Blut langsam aber stetig anstieg und im Gegenzug die Anzahl der CD4-Helferzellen - also der Gruppe weißer Blutkörperchen, die den HI-Viren als Wirt diente – abnahm.

Hanne sagte jedoch selbst, dass er - genauso wie nach dem Fieber - wieder arbeiten könnte. Ihm war klar, dass er es nicht übertreiben sollte, aber er ertrug es einfach nicht, einfach nur in diesem Bett zu liegen und nichts zu tun. Im Moment bestand seine Welt aus vier weißen Wänden, einem Bett, vielen Tabletten und ab und zu mal einer Krankenschwester, die nach ihm sah. Er war froh, das alles hinter sich lassen zu können.
 

Als Hanne dann wieder daheim war, musste er erst einmal seinen Briefkasten leeren, denn er quoll über. Werbung war der überwiegende Inhalt, doch auch einen von Hand beschrifteten Umschlag fand er. Er kam wieder von seinem Vater. Hanne hatte gute Lust, den Umschlag sofort zu zerreißen, entschied sich dann aber doch aus Neugierde dagegen und öffnete ihn. Er holte einige alte Photos und einen Brief heraus. Seufzend faltete er das Blatt Papier auf und begann zu lesen:
 

„Hallo Hanne,

das sind noch ein paar alte Fotos von dir. Vielleicht möchtest du sie noch aufbewahren, ich nämlich nicht.

Ich finde, dass nur das Jetzt zählt, nicht das Vergangene. Ich möchte dir damit sagen, dass mir alles leid tut, was ich vor Jahren falsch gemacht habe und ich will, dass du mir meine Fehler nicht mehr nachträgst, falls ich das überhaupt von dir verlangen darf. Ich merke immer mehr, wie sehr ich dir unseren Kontakt aufzwingen muss damit er bestehen bleibt und wie widerwillig du das alles über dich ergehen lässt.

Ich mache mir wirklich Gedanken um dich, Johannes. ….“
 

Hanne hielt inne und ließ das Blatt Papier sinken. Leise seufzte er und legte sein Gesicht in die Hände. Sein Vater hatte also bemerkt, wie schwer ihm der Kontakt zu ihm fiel, wie viel Mühe und Überwindung es ihn kostete. Spürte er auch sein Unbehagen? Seine innere Angst vor dem Kontakt und der Gefahr, wieder enttäuscht zu werden?
 

„Vielleicht solltest du noch einmal selbst darüber nachdenken, ob du überhaupt unseren Kontakt möchtest. Mir kommt es eher so vor, als sei dir das alles unangenehm.

Vielleicht hängt es auch mit deiner Gesundheit zusammen? Auch in dem Zusammenhang würde es mich freuen, wenn wir einfach noch einmal reden könnten. Ich habe es immer sehr gerne gehabt, wenn wir telefoniert haben. Oder auch deine Besuche.

Bitte denk noch einmal über diese Dinge nach. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du dich wieder meldest.

Viele Grüße Dein Vater.“
 

Hanne saß reglos mit dem Blatt Papier in der Hand da, dann sank er in sich zusammen. Ihm war mit einem Mal wieder schrecklich schlecht. Schon wieder fühlte er sich furchtbar unter Druck gesetzt.

Jetzt lag es wohl an ihm selbst, ob er die Beziehung zu seinem Vater weiter pflegen wollte und sie somit gerettet wurde, oder ob sie vollends zerbrach. Natürlich wollte er Kontakt zu seinem Vater haben. In sei­nem jetzigen Zustand benötigte er jede greifbare Hand, an der er sich festhalten konnte. Er brauchte ganz einfach jemanden, auf den er sich stützen konnte. Kurt konnte und wollte er nicht mehr für sich beanspru­chen. Gerade durch Lukas' Besuch war Hanne klar geworden, wie sehr Lukas Kurt liebte, sodass er sich vorgenommen hatte, die beiden möglichst in Ruhe zu lassen und sein Leben wieder selbst zu regeln. Natürlich würde er nach wie vor Kurts Hilfe annehmen, allerdings würde er von sich aus nicht öfter als unbedingt notwendig auf ihn zu gehen. Hanne wollte unter allen Umständen weitere Auseinandersetzungen mit Lukas vermeiden.
 

Ein wenig entkräftet schloss Hanne die Augen. Er saß in der Klemme, das spürt er.

Aber war das wirklich so? Er sollte sich nicht selbst derartigem Stress aussetzen. Es war schwer für ihn, natürlich, aber war es nicht auch für seinen Vater eine Zerreißprobe? Bestimmt war es so.

Wieso gab er jetzt nicht einfach auf, sondern bemühte sich so intensiv um ihn? Bisher hatten sie doch auch kaum Berührungspunkte gehabt und sie hatten es beide kaum vermisst. Wusste sein Vater nicht, dass es sinnlos war? Wieso ließ er die Sache nicht einfach auf sich beruhen? Wieso kümmerte sein Sohn ihn plötzlich so? Es war vergleichbar mit Kurt, der auch nie aufgab, bis Hanne ihm sagte, dass es okay sei. Lag seinem Vater etwa plötzlich etwas an ihm?
 

Scheinbar war es jetzt wirklich an Hanne selbst, ob es je wieder eine Familie für ihn geben würde. Wieso konnte er nicht über seinen Schatten springen und sich öffnen? Gab es vielleicht noch eine andere Lösung? Er musste wieder an den Besuch seines Vaters von vor ein paar Wochen denken. Wie gut sie sich zunächst verstanden hatten und was die vielen folgenden Telefonate für ein Unbehagen in ihm ausgelöst hatten. Er wehrte sich einfach mit Händen und Füßen dagegen, auf seinen Vater einzugehen und ihn an sich heranzu­lassen.

War er damals nicht von Hamburg weggezogen, um gerade auch einen Abstand zu ihm zu gewinnen? Natürlich war er aus mehreren Gründen von Hamburg weggezogen. Es war nicht nur das eher unterkühlte Verhältnis zu seinem Vater gewesen, sondern auch die Meinungsverschiedenheiten wegen seiner Berufswahl und vor allem aber sein Wunsch, die Vergangenheit und den Tod seiner Mutter hinter sich zu lassen und einfach auch innerlich zur Ruhe zu kommen.

Er hatte die Distanz von mehreren hundert Kilometern mit voller Absicht aufgebaut, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Wieso funktionierte jetzt plötzlich diese Strategie nicht mehr, wo sie ihm die vergangenen Jahre doch so gute Dienste geleistet hatte?
 

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Allmählich beruhigte sich Johannes wieder. Die Aufregung und die Mauer in seinem Kopf von eben erschienen ihm plötzlich wieder irreal. Ein wenig orientierungslos sah er sich um.
 

Plötzlich wurde er sich bewusst, dass es im Moment einfach keinen Sinn machte, auf seinen Vater einzugehen. Zwar benötigte er den Kontakt, allerdings hatte er im Moment weder die Nerven noch die Kraft dafür. Er sollte zuerst wieder gesund werden, bevor er sich mit seinem Vater auseinandersetzte.

Im Grunde genommen hatte Hanne inzwischen auch aufgehört, seinem Vater wegen seiner Kindheit Vorwürfe zu machen, da auch dieses Stochern rein gar nichts brachte außer neuen Wunden. Nur noch die kaum nachvollziehbare Angst vor dem Kontakt selbst war geblieben.
 

Ihm fielen auch die Photos aus dem Briefumschlag wieder ein, die er ebenfalls vor sich abgelegt hatte.

Die meisten zeigten ihn als Kind mit seiner Mutter. Bilder aus einer Zeit, in der alles noch okay war und die nichts und niemand mehr zurückholen konnte.

Er fühlte, dass er einen Schlussstrich unter zumindest dieses Kapitel ziehen musste. Er konnte nicht ewig der Vergangenheit hinterherlaufen und sich dadurch irgendwann vollends in den Wahnsinn treiben.
 

Hanne suchte seine Zigaretten und fischte das Feuerzeug aus der Schachtel. Er schlurfte ins Badezimmer, ließ sich auf dem Rand der Badewanne nieder und zündete eines der Bilder an. Sofort fing der Himmel über seiner Mutter Feuer und schon bald griffen die Flammen auch auf ihr Gesicht und den kleinen rothaarigen Jungen mit der Schultüte im Arm neben ihr über. Zufrieden lächelte Hanne und ließ die Photografie in die Wanne fallen. So machte er es mit allen Bildern mit Ausnahme von jenem, das nur seine Mutter alleine zeigte. Die junge Frau saß auf einer Schaukel im Schnee und hatte einen dicken Babybauch. Wenn man nach dem Datum auf der Rückseite des Bildes – Dezember 1978 - gehen konnte, war es von kurz vor seiner Geburt. Das Kind in ihrem Bauch war also er selbst. Hanne legte das Photo behutsam zur Seite und spülte die Asche- und Papierreste der verbrannten Bilder den Abfluss hinab.

Anschließend ging er zurück ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und zündete sich eine Zigarette an, um seinen Kopf leer zu bekommen.
 

Das Kapitel Familie gehörte für Hanne nun wirklich der Vergangenheit an. Er hatte einen Schlussstrich gezogen. Auf seinen Vater würde er zugehen, sobald er wieder eher die Kraft dafür hatte und sich gut genug fühlte.

Hanne drückte den Zigarettenstummel aus und sah auf. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken vom Himmel. Es war Winter.



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