Kurt das war's von Lotos ================================================================================ Kapitel 22: Lukas ----------------- XXII - Lukas Hanne lag auf dem Rücken auf der Patientenliege in Dr. Müllers Sprechzimmer. Noch gerade eben hatte er seinem Arzt von der Hautveränderung erzählt, hatte auch seinen schlimmen Verdacht erwähnt. Jetzt betrachtete Dr. Müller den Leberfleck auf seiner Hüfte. „Im Moment kann ich Ihnen nur sagen, dass ich das Muttermal entfernen und für eine Gewebeuntersuchung ins Labor geben werde. Wie Sie schon selber festgestellt haben, ist die Pigmentierung auffällig und auch die Beschaffenheit der Haut erscheint ungewöhnlich.“ Johannes nickte. Genau diese offene Art war ihm an Dr. Müller sympathisch, da er schon so oft Ärzte erlebt hatte, die bei einer unerfreulichen Diagnose um den heißen Brei herumredeten und einen als Patienten im Dunkeln sitzen ließen. „Und wie funktioniert dieses Entfernen?“ „Es geht insgesamt sehr schnell. Zuerst werde ich Ihnen mit einer kleinen Spritze eine örtliche Betäubung geben. Danach wird das Muttermal herausgeschnitten. Wahrscheinlich werde ich die Stelle nähen müssen.“ Johannes stimmte wieder zu. Er blieb ganz einfach liegen, während Dr. Müller alles vorbereitete. Er war ebenfalls überrascht, dass Dr. Müller das Mal selbst entfernen wollte, da er eigentlich eher mit einer Überweisung zum Hautarzt gerechnet hatte. Als Dr. Müller zurückkam, war Hanne bereits wieder ruhiger. Er sah zur Seite während der Arzt zuerst seine Haut desinfizierte und ihm dann die angekündigte Spritze gab. Er hatte wirklich keine Schmerzen, sondern spürte nur einen unangenehmen Druck, als der Arzt ihm das Mal herausschnitt. Anschließend nähte Dr. Müller die Stelle, an der vor kurzem noch der verdächtige Leberfleck gesessen war. „So, Sie haben es hinter sich.“, sagte Dr. Müller schließlich nachdem er die behandelte Stelle abgeklebt hatte. „Das Pflaster lassen Sie bitte noch ein oder zwei Tage auf der Haut. Ansonsten werde ich die Gewebeprobe zum Labor geben.“ Hanne setzte sich auf der Liege auf. „Wissen Sie schon, wann die Ergebnisse kommen?“ Er bemühte sich, nicht wieder direkt danach zu fragen, was sein würde, wenn tatsächlich ein Kaposi Sarkom diagnostiziert werden würde. „In ungefähr einer Woche müssten die Laborergebnisse vorliegen und wenn die Heilung gut vorangeht, kann ich auch bereits Fäden ziehen. Ich würde mich, sobald ich die Ergebnisse habe, wieder bei Ihnen melden.“ Trotz der Tatsache, dass Dr. Müller ihm bestätigt hatte, dass seine Blutwerte bei der letzten Untersuchung wieder sehr gut gewesen waren, ging Johannes mit einem unguten Gefühl nach Hause. Allein schon dass der Arzt das Mal von seiner Hüfte entfernt und zu einer weiteren Untersuchung gegeben hatte, war ihm Hinweis genug, dass etwas nicht in Ordnung war. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Schon als er das Krankenhausgebäude betreten hatte, hatte Hanne ein schreckliches Gefühl gehabt. Seine innere Unruhe hatte sich in den vergangenen Tagen nur noch weiter gesteigert, sodass er nun bereits zwei Nächte nicht mehr richtig geschlafen hatte. Nun saß Johannes im Wartezimmer und wartete auf das Ergebnis, das die Untersuchung des Hautstück­chens, das der Arzt aus der Haut an der Hüfte geschnitten hatte, zu Tage fördern würde. Er war wirklich dankbar dafür, dass er überhaupt einen so späten Termin hatte vereinbaren können, und auch dafür, dass ihn seine Chefin früher hatte gehen lassen. Normalerweise legte er seine Arzttermine ja immer auf seinen freien Tag oder zumindest vereinbarte sie auf so früh am Morgen, dass sie seine Arbeitszeiten nicht beeinträchtigten... aber dieser Arztbesuch stellte eine absolute Ausnahme dar. Vorsichtig schob Hanne den Bund seiner Hose nach unten und berührte das Pflaster mit den Fingern. Er hatte es sich selbst auf die Haut geklebt, da der Hosenbund ständig unangenehm gescheuert hatte. Hanne schluckte und erhob sich, als er schließlich als der vorletzte Patient für heute aufgerufen wurde. In seinem Magen krampfte sich alles zusammen und sein Kopf war wie leer gefegt. Die Schwester begleitete ihn zum Sprechzimmer des Arztes. Hanne ließ sich auf einen der beiden Stühle sinken, die gegenüber des Schreibtisches standen. Um sich ein bisschen abzulenken, blätterte er in der Safer-Sex-Broschüre, die am Rand der Arbeitsplatte lag, legte sie allerdings wieder nach den ersten Zeilen zurück, da er die Thematik nur allzu gut kannte. Gerade durch Sven hatte er sich ausreichend mit den Möglichkeiten auseinandergesetzt. Hanne wandte sich um, als der Arzt den Raum betrat. Dr. Müller begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck und fragte ihn wie immer zuerst, wie er sich fühle. Hanne lächelte matt. „Ganz ehrlich? Ich bin ziemlich aufgewühlt im Moment. Auch insgesamt hab ich das Gefühl, in einem Hamsterrad zu laufen, bei dem man einfach nicht weiter kommt. Ich fühle mich ziemlich kraftlos, hab auch immer noch mit dem alten Appetitmangel zu kämpfen, obwohl sich das inzwischen etwas gebessert hat. Was mir außerdem nicht besonders gut gefällt, ist, dass ich immer dünner werde.“ Johannes konnte beobachten, wie sich Dr. Müller Notizen in seine Patientenmappe machte. „Gut. Dann möchte ich jetzt zu dem Ergebnis des Labors wegen Ihrer Haut kommen.“, sagte er jetzt. „Der Test hat die Vermutung mit dem Kaposi Sarkom bestätigt, Herr Theimel. Ich sollte noch einmal in Ihren Mund schauen." Hanne öffnete den Mund und spürte, wie der Arzt mit Hilfe eines Spatels und einer kleinen Lampe in die Innenseite seiner Wangen schaute, dann das Zahnfleisch begutachtete. „Sehr gut. Ich habe nichts weiteres entdeckt.", erklärte der Arzt schließlich. „Wann haben Sie die Hautveränderung auf Ihrer Hüfte bemerkt?“ „Das war am Abend vor meinem letzten Besuch bei Ihnen. Ich habe es nur zufällig entdeckt. Was bedeutet das jetzt für mich? Für die Zukunft? Muss ich auf irgendetwas achten?“ „Das Sarkom muss in Ihrem Fall nichts Schlimmes bedeuten. Ihre Werte haben sich seit Ihrem letzten Klinikaufenthalt stark gebessert. Im Moment haben Sie eine ziemlich geringe Viruslast und einen wirklich guten Wert in der Anzahl der CD4-Helferzellen im Blut. Und die Werte werden sich in den nächsten Wo­chen noch weiter verbessern. Außerdem konnte ich keine weiteren Auffälligkeiten erkennen. Es ist ausreichend, wenn wir die Kombi­nationstherapie bei Ihnen wie gewohnt fortführen, damit sich das Kaposi Sarkom wieder vollständig zurückbildet. Die Blutkontrollen werden wir ebenfalls im gewohnten Rhythmus weiter laufen lassen. Wegen Ihrem Appetitmangel schreibe ich Ihnen ein homöopathisches Mittel auf, das Sie etwa eine Stunde vor dem Essen bei Bedarf einnehmen sollten. Vertragen Sie Ihre Medikamente ansonsten gut?“ Johannes bejahte „Aber da ist noch etwas, was ich nicht so ganz verstehe. Das Sarkom ist doch eine Art Krebs, nicht wahr? Reicht es da wirklich aus, wenn ich einfach nur meine Medikamente so weiter einnehme wie bisher? Verschwindet der Krebs dann wieder einfach so aus meinem Körper?“ „Ja, es ist wirklich so. Das Kaposi Sarkom hat als Auslöser Herpesviren, also die Viren, die diese unangeneh­men Bläschen an den Lippen hervorrufen. Ein intaktes Immunsystem, wie Sie es durch die Kombi­nations­therapie wieder bekommen haben, kommt sehr gut gegen diese Viren an. Und so verschwindet mit dem Erreger auch der Krebs wieder vollständig.“ Hanne nickte und war erleichtert, dass ihn der Arzt Ernst nahm. Außerdem beruhigten ihn seine Erklärun­gen. Er war froh darüber, dass dieser Krebs zumindest in seinem Fall keine Bedrohung darstellen musste. „Gut. Ich würde mir jetzt gerne noch einmal Ihre Hüfte anschauen.“ Hanne folgte dem Arzt zur Behandlungsliege, auf der er sich schließlich auch niederließ. Er stülpte sein Oberteil bis zum Bauchnabel nach oben und öffnete den Knopf seiner Hose, damit Dr. Müller den Bund etwas tiefer rücken konnte. Hanne schaute zu, wie der Arzt zunächst vorsichtig das Pflaster löste und die behandelte Stelle begutachtete. „Die Wunde ist schon gut verheilt.“, meinte er dann. „Ich werde Ihnen dann auch gleich noch die Fäden ziehen.“ Der Arzt kühlte zunächst die genähte Stelle und bat Hanne wegzuschauen. Wieder spürte Hanne nur ein erträgliches Ziepen und war überrascht, als der Arzt ihm wieder ein frisches Pflaster auf die Hüfte klebte, da er frühere solche Behandlungen als sehr schmerzhaft in Erinnerung hatte. „Gut. Dann sind Sie für heute von meiner Seite her fertig. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“ Hanne verneinte, zupfte seine Kleidung zurecht und schloss den Knopf seiner Hose. Dann setzte er sich auf. „In Ordnung.“, sagte Dr. Müller. „Dann sehen wir uns wieder nächsten Monat zur Blutabnahme.“ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Hanne öffnete die Türe und fand wie immer eine leere Wohnung vor. Er seufzte und blickte sich etwas rat­los in dem stillen Raum um. Er hasste diese Stille und vermisste Kurts Lachen. Es tat ihm unheimlich gut, ihn bei sich zu haben und seine Stimme zu hören. Zu seiner Verwunderung hegte er keine sexuellen Absich­ten Kurt gegenüber und mittlerweile konnte er auch nicht mehr die besondere Bindung zwischen ihnen beiden leugnen; sie hatte sich seit ihrem Streit im Kino wieder gebildet. Es war schon verwunderlich, wie man sich verändern konnte. Seit der gescheiterten Beziehung zu Sven hatte er sich immer mehr zurückgezogen, weil es einfach niemanden mehr gegeben hatte, der ihn wachrüttelte. Dieser Zustand war ihm eigentlich erst so richtig klar geworden, als er Kurt kennen gelernt hatte. Er hatte ihn so oft in der Klinik besucht und ihm so kaum Zeit gelassen, sich zu sorgen. Inzwischen wünschte er sich sogar die Nähe, die ihn zu Anfang so hatte verzweifeln lassen. Hanne schreckte leicht zusammen, als es an der Türe klingelte. Obwohl ihn Dr. Müllers Erklärungen zu sei­ner neuesten Diagnose zuerst beruhigt hatten und er seinem Arzt absolutes Vertrauen schenkte, konnte er sein ungutes Gefühl nicht komplett abschütteln und war nun doch ins Grübeln verfallen. Ein Kaposi Sarkom war schließlich keine einfache Erkältung, sondern ein ernstzunehmendes und gefährliches Symptom. Er wurde auch einfach den Gedanken nicht los, dass er irgendwann den Boden unter den Füßen verlieren und komplett im sozialen Abseits landen würde. Dass er völlig in seiner Einsamkeit versinken könnte, war noch immer sein schlimmster Albtraum. Müde schlurfte Hanne zur Tür, öffnete sie und staunte nicht schlecht, als er Lukas vor sich sah. Dieser lächelte. „Hallo.“, sagte er. „Kurt hat mir erzählt, dass du...“ Lukas unterbrach sich selbst. „Wie geht’s dir denn?“, fragte er stattdessen. Hanne lächelte ebenfalls. „Gut so weit. Den Umständen entsprechend eben. Komm doch rein.“ Er trat einen Schritt zurück. Etwas später saßen sie dann zusammen und Lukas Blick hing an Hanne. „Also, was ist jetzt mit deiner Haut?“, fragte Lukas. Hanne blickte ihn verwundert an. „Seit wann interessiert dich das?“, wollte er leicht misstrauisch wissen. „Kurt hat mir von deiner Haut erzählt. Ich wollte einfach mal nachfragen, wie es dir geht, Hanne. Das ist alles.“, erwiderte Lukas. „Ich weiß, dass es eigentlich nicht okay war, dass ich dir das Leben so zur Hölle gemacht hab. Kurt hat recht. Es macht keinen Sinn, dass wir uns ständig mehr oder weniger bekriegen.“ „Sicher.“ Hanne blickte auf seine Fingernägel und strich vorsichtig darüber. Lukas bemerkte, dass Hanne sich wand, um nicht antworten zu müssen. „Du hast diesen Krebs, oder?“, erkundigte er sich schließlich. „Wenn es dir was bringt: Ja, es war verdammt noch mal Krebs!“, rief Hanne gereizt. „Zufrieden? Du scheinst nicht einmal ansatzweise zu kapieren, in was für einer beschissenen Lage ich mich momentan befinde!“ Lukas blinzelte. „Jetzt mach mal halblang, ja? Ich bin nicht zufrieden, wenn du eine miese Diagnose gestellt bekommst oder dich beschissen fühlst. Darum geht’s mir gar nicht. Mir ist klar, dass du eigentlich schon genug gestraft bist. Aber ich finde es absolut nicht okay, wenn du mich oder Kurt anblaffst und wir deine Stimmung ausbaden müssen. Hör mir mal gut zu: keiner kann was dafür, wenn bei dir im Bett nichts geht oder du mies drauf bist. Du kannst dich glücklich schätzen, dass sich sowohl ich als auch Kurt überhaupt um dich kümmern. Du kriegst wohl nicht mal mehr mit, wie eklig du sein kannst.“ Hannes Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ach ja? Jetzt fängst du schon wieder an, mir Vorwürfe zu machen. Kurt meint es wenigstens ernst mit mir.“ „Lass Kurt da raus.“, seufzte Lukas nach einer weiteren langen Pause. „Und ich versuche nur, dir den Schädel gerade zu rücken. Es ist mir klar, dass du mit Kurt umgehen kannst, wie du willst. Er hängt an dir. Aber ich hätte von dir erwartet, dass du wenigstens versuchst, ihn so zu behandeln, wie er es verdient hat. Er opfert Unmengen an Zeit für dich. Ist dir das überhaupt klar?“ Hanne schwieg, da er erkannte, dass Lukas Worte berechtigt waren. Genauso konnte er nicht mehr länger leugnen, wie sehr es ihn gefreut hatte, dass Lukas begann, seine Meinung über ihn zu überdenken. Trotz allem Unwillen wanderten seine Gedanken wieder zu seinem Vater und ihrem Gespräch. Hanne wechselte entschlossen das Thema. „Weshalb bist du eigentlich vorbeigekommen?“ Lukas warf ihm einen verständnislosen Blick zu. „Ich glaub, ich gehe wieder. Dir ist doch sowieso nicht zu helfen, Hanne. Wir hätten uns sowieso nicht unterhalten können, wenn du mit so einer Laune ankommst. Ich weiß ja nicht, wie du genau mit Kurt umgehst, aber wenn du zu ihm genauso bist wie zu mir, dann wird es ihm auch einmal zu doof mit dir werden. Er ist nicht dein Spielzeug und irgendwann verliert auch er seine Geduld mit dir und das Maß ist voll. Klar, du brauchst ihn zum Reden und er tut dir ziemlich gut. Das ist ja auch in Ordnung so, aber du wirst Kurt über kurz oder lang auch mal irgendetwas erwidern müssen. Du kannst nicht immer nur nehmen, du musst auch geben. Und dazu solltest du ihm zumindest zeigen, dass du ihm für das, was er tut, dankbar bist.“ Hanne antwortete nicht sondern sah nur weiterhin auf seine Hände hinab, obwohl Lukas mit seinen Vorwürfen völlig falsch lag. Es war garantiert nicht so, dass er Kurt ausnutzen oder ihn als Spielball seiner Launenhaftigkeit missbrauchen würde. „Sollte ich noch einmal bemerken, dass du dich Kurt gegenüber danebenbenimmst, werde ich nicht mehr so viel Geduld haben.“, fuhr Lukas fort. „Ich hab dir schon mal gesagt, dass du ihn in Ruhe lassen sollst. Erinnerst du dich? Wenn ich merke, dass du ihn wieder rumschubst oder wie Dreck behandelst, kriegst du Ärger von mir.“ Hanne schluckte und ballte seine Hand leicht zusammen. „Ich glaube, du weißt gar nicht, worüber du redest, Lukas. Ich lasse hier an niemandem meine Launen aus, zumindest nicht absichtlich oder gezielt. Ich glaube, du siehst die Belastung für mich hinter der ganzen Geschichte nicht. Weißt du, die Krebsdiagnose kam völlig unverhofft für mich und ich kann eigentlich froh sein, dass mein Arzt keine weiteren verdächtigen Veränderungen entdeckt hat und auch meine Blutwerte im Moment prima sind. Dr. Müller sagt wohl, dass das mit dem Krebs wieder in Ordnung kommt, aber ich kann nicht so einfach ignorieren, dass ich mich auch sonst seit längerem nicht gesund fühle. Und genau das beunruhigt mich. Bevor ich im Sommer diese gesundheitlichen Probleme hatte, lief mein Leben sowohl beruflich als auch privat vollkommen rund. Mir ging es ehrlich gut bevor alles über den Haufen geschmissen wurde.Aber seitdem ist der Wurm drin.“ Hanne hielt inne und fragte sich mit einem Mal, weswegen er Lukas so etwas überhaupt erzählte. Hoffte er auf Verständnis? „Entschuldige. Wahrscheinlich interessiert dich das gar nicht, oder?“, meinte Hanne dann und fuhr sich verlegen durchs Haar. Es entstand eine weitere Pause bevor er fortfuhr. „Was Kurt betrifft, versuche ich schon die ganze Zeit, ihn loszuwerden. Mir liegt viel an ihm und eigentlich wollte ich schon viel früher die Notbremse ziehen, aber anstatt dass er so einem launischen Kerl wie mir den Mittelfinger zeigt, kommt er immer wieder auf mich zu und sucht den Grund für unseren Streit bei sich. Seit ich Kurt das erste Mal begegnet bin, hab ich gelernt, mit ihm, seiner Nähe und seiner gesamten Art klarzu­kommen. Am Anfang fand ich das alles einfach nur nervtötend, aber inzwischen will ich gar nicht mehr, dass er verschwindet und ich mag ihn viel zu sehr, als dass ich ihn noch von mir stoßen könnte. Es tut mir unheimlich gut, wenn ich mit jemandem über meine Probleme reden kann. Ich hab einfach das Gefühl, mich in Kurt hinein fallen lassen zu können, ver­stehst du? Das ist auch genau das, was ich im Moment brauche, um mit der Krankheit fertig zu werden.“ Hanne wischte sich über die Augen bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zu wandte. Lukas starrte auf den Boden unter seinen Füßen. In welcher Lage sich Johannes befand, hatte er tatsäch­lich nicht bedacht. Auch jetzt konnte er sich nicht vorstellen, was seine HIV-Infektion wirklich für ihn bedeutete. Im Grunde genommen wirkte Hanne nicht über alle Maße krank, obwohl er vielleicht ein bisschen zu dünn war. Und scheinbar waren ja auch seine Blutwerte gut im Moment. Allerdings hatte Hanne trotzdem gesundheitliche Probleme und schien deshalb sehr beunruhigt zu sein, was Lukas sich zum einen durch seine beschissene Gesamtsituation erklären konnte und zum anderen dadurch, dass Hanne sich momentan alles viel zu sehr zu Herzen nahm und sich manches vielleicht nur einredete. Anderer­seits mochte er aber auch das nicht glauben, da sich Kurt nun schon seit einem halben Jahr mit Hanne beschäftigte und für ihn Hannes Probleme äußerst real waren. „Ich will mit ihm zusammen sein, verstehst du?“, sagte Hanne und lenkte so auch wieder Lukas' Aufmerksamkeit auf sich. „Ich hab keinerlei sexuelles Interesse an Kurt, aber ich fühle mich sicher, wenn er bei mir ist, und ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Die ganzen letzten Jahre kam ich gut ohne jemanden aus, aber jetzt geht das nicht mehr. Es ist schrecklich für mich, in der Luft zu hängen und niemanden zum Reden zu haben.“ Wieder musste Lukas schlucken. Das, was Hanne hier von sich gab, prasselte völlig unerwartet auf ihn ein. Lukas war wohl klar gewesen, dass Kurt Johannes in gewisser Weise unterstützte und ihm Mut machte, aber eine so entscheidende Rolle hätte er Kurt niemals zugetraut. Und selbst wenn Hannes gesundheitliche Lage nicht auf den ersten Blick vollkommen aussichtslos war, so schien ihn doch seine emotionale Situation zu erdrücken. Lukas sah nun doch zu Hanne, der ein bisschen zusammengesunken dasaß. Am liebsten hätte er Hannes Arm gedrückt, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. „Gut, Hanne. Ich verstehe, was du meinst.“, sagte Lukas schließlich sanft. „Du hängst ziemlich an Kurt, oder?“ Hanne lächelte dankbar und bejahte. „Ich hätte auch gerne so eine Beziehung zu dir gehabt.“, sagte Lukas nach einer Weile leise, so, als redete er mit sich selbst. „Bitte?“, fragte Hanne nach. „Nichts. Ich habe nur laut gedacht. Vielleicht können wir uns noch mal irgendwann darüber unterhalten.“ „Wegen damals, oder? Es tut mir so leid, was ich getan habe. Ich war so du...“ „Sei still. Ich sagte doch, dass mir die Lust darauf vergangen ist.“ Hanne ließ den Kopf hängen. „Tut mir leid. Ich wollte nicht damit anfangen.“ „Ich glaube, ich gehe jetzt wirklich besser.“, meinte Lukas und erhob sich von der Couch. „Danke, Hanne.“ Er drückte Hannes Schulter. Johannes rappelte sich etwas überrumpelt über die plötzliche Eile ebenfalls auf. „Ich muss mich auch bedanken, Lukas. Bis dann.“, erwiderte er, verzichtete allerdings darauf, Lukas zu berühren. Ohne weitere Worte begleitete er seinen Besucher zur Tür und ließ ihn hinausgehen. Hanne war wieder alleine und lehnte sich von innen gegen die Wohnungstür. „Was habe ich damals nur angerichtet?“, fragte er sich wieder und vergrub sein Gesicht ver­zweifelt in seinen Händen. Er wollte dafür bezahlen müssen. Mit einer fürchterlichen Strafe, die er sich nicht einmal selbst ausmalen mochte. Aber Lukas unterschwellige Ablehnung und seine eigenen Schuld­gefühle waren wohl das Schlimmste, was man ihm antun konnte. Resigniert und völlig fertig mit den Nerven nestelte er sich seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche. Eigentlich hatte er sich schon nach seinem Arztbesuch eine Zigarette anzünden wollen, hatte sich dann aber doch wieder zurückgehalten. Auch wenn es für sein Körpergewicht nicht gerade förderlich war, würde er sein Abendessen ausfallen lassen. Der Appetit war ihm deutlich vergangen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)