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Kurt das war's

von

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Kaposi Sarkom

XXI – Kaposi Sarkom
 

Johannes staunte nicht schlecht, als er an einem Abend Ende Oktober von der Arbeit kam. Inzwischen war es draußen trüb geworden und das bunte Herbstlaub war komplett von den Bäumen gefallen.

„Papa? Was machst du denn hier?“, fragte Hanne überrascht, als sein Vater ihm vor der Haustür entgegen kam.

„Ich wollte mit dir reden. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt besser verstehe, was du mir letztens hattest sagen wollen.“, begann sein Vater.

Hanne hatte sich inzwischen an ihm vorbei zur Tür des Mehrfamilienhauses gedrängt. „Willst du nicht erst mal reinkommen?“, fragte er und steckte seinen Schlüssel ins Schloss. Er hielt seinem Vater die Türe auf. „So ist es sicher bequemer als hier draußen.“

„Richtig.“ Sein Vater lächelte, kam dem Angebot nach und folgte seinem Sohn schließlich ins Innere des Gebäudes. Er sah Johannes dabei zu, wie er auch die Wohnungstüre aufschloss und ihm schließlich die Türe aufhielt.

„Komm rein.“, forderte Hanne ihn auf und schlüpfte aus seiner Jacke und den Schuhen. „Ich war eben noch Einkaufen. Ich räume noch schnell meine Sachen weg, okay?“, sagte er weiter, nahm seine Tasche mit und verstaute die eingekauften Lebensmittel in der Küche.
 

„Hast du eigentlich schon gegessen?“, wollte er wissen, als er wieder zu seinem Vater zurückkehrte.

Sein Vater verneinte.

„In Ordnung.“, meinte Hanne. „Ich kann uns schnell ein paar Nudeln abkochen. Ich hab gestern Tomatensoße gemacht. Okay?“

„Sicher. Ich wollte aber nicht, dass du dir Umstände machst, Johannes.“

„Nicht so schlimm.“, wehrte Hanne ab und verschwand wieder in der Küche. Sein Vater folgte ihm diesmal. Johannes nahm einen Topf aus einem Unterschrank der kleinen Einbauküche, füllte ihn mit Wasser, tat etwas Salz hinein und stellte ihn auf den Herd.
 

Etwa zwanzig Minuten später saßen Hanne und sein Vater am Tisch. Johannes hatte kaum über den eigentlichen Grund der Anwesenheit seines Vaters gesprochen, sondern war immer neutral geblieben.

„Du bist geschäftlich hier?“, wollte Hanne schließlich wissen, als er seine Portion bewältigt hatte.

„Ja. Ich werde erst morgen Nachmittag zurück fahren. Musst du immer so lange arbeiten?“

„Normalerweise bin ich eine gute halbe Stunde früher daheim, wenn ich nicht noch einkaufen muss. Aber ansonsten arbeite ich immer gleich lang außer an Samstagen. Und donnerstags habe ich frei, aber das weißt du ja.“

Auch sein Vater hatte inzwischen aufgegessen und schob den Teller von sich. „Das freut mich, Hanne. Soll ich dir noch kurz beim Abwasch helfen?“

„Ja, das ist nett von dir.“, antwortete Hanne und erhob sich.
 

Als er schließlich seine Medikamente einnehmen wollte, sah ihm sein Vater interessiert über die Schultern. „Hast du andere Präparate?“, fragte er.

Hanne hielt inne. Eigentlich hatte er die Resistenz vom Frühjahr und auch seine aktuellen gesundheitlichen Probleme seinem Vater gegenüber geheim halten wollen. Er hatte nichts über die schwankenden Werte, seine Niere oder den beunruhigenden Gewichtsverlust erzählen wollen. „Ja.“, gab er schließlich nur zurück und betrachtete ein letztes Mal den Pillencocktail in seiner Hand, bevor er ihn in den Mund nahm und hinunterspülte.

„Hat dir dein Arzt dann andere Medikamente aufgeschrieben?“

„Hm, ja.“, meinte Hanne knapp. „Es kommen ständig neue Pillen auf den Markt, die besser verträglich sind. Außerdem hat er meine Behandlung erst im Frühjahr auf eine andere Wirkstoffkombination umgestellt.“

Sein Vater schwieg. Scheinbar arbeitete es in seinem Kopf und er reimte sich selbst zusammen, was in der Zwischenzeit geschehen war. Ganz kurz wirkte es so, als wollte er weitere Fragen stellen, hielt dann aber weiterhin den Mund.
 

„Weswegen bist du jetzt eigentlich gekommen? Die Siedlung hier liegt bestimmt nicht auf deinem Weg, nehme ich an.“ Sie hatten sich inzwischen im Wohnzimmer auf die Couch gesetzt.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen, Johannes. Und ich wollte wissen, ob wir nicht wieder regelmäßig telefonieren wollen. Mir ist einfach bewusst geworden, wie ich immer mehr den Bezug zu dir verliere.“

Hannes Magen zog sich zusammen und ganz kurz hatte er das Gefühl, sein Abendessen wieder ausspucken zu müssen. Stattdessen aber blieb er ruhig sitzen und schlug die Beine übereinander.

Auf sein Schweigen hin wurde sein Vater leicht nervös. „Ich mache mir Sorgen um dich, Hanne. Du bist viel zu dünn, besonders an deinen Händen fällt mir das auf.

Vielleicht hab ich unser Gespräch neulich auch von der falschen Seite angepackt. Du hast einiges in den falschen Hals gekriegt, was ich gesagt habe. Du musst mir glauben, dass es wirklich nur ein dummes Verse­hen war, dass ich diesen Besuch hab absagen müssen. Wegen deiner Vorwürfe hab ich mir auch Gedanken gemacht.

Dass ich mich stark auf meine Arbeit konzentriert habe, als du klein warst, muss ich tatsächlich zugeben. Ich stand die ersten Wochen nach dem Unfall unter Schock, als dann bei diesem Bluttest eine HIV-Infek­tion bei dir festgestellt wurde, war das nur ein weiterer Schlag für mich. Ich wusste eigentlich gar nichts über diese Krankheit und hab mich blind auf die Ärzte verlassen. Als du schließlich deine Tabletten hattest, rückte die Diagnose für mich wieder in den Hintergrund. Ich war froh, dass man dir mit Medikamenten helfen konnte und irgendwie verlor deine HIV-Infektion an Bedeutung für mich. Sie war da, aber sie störte nicht, und die Blutuntersuchungen beim Arzt liefen auch nebenbei.

Eigentlich bin ich in Bezug auf deine HIV-Infektion erst aufgewacht, als du nicht mehr auf deine Kombinationstherapie angesprochen hast und sich diese Resistenz gezeigt hat. Erst damals wurde mir richtig klar, dass du im Grunde genommen krank bist.“

Hanne biss sich auf die Lippen. Da war es wieder, dieses beengende schmerzhafte Gefühl in seiner Brust. Ab und zu war sein Vater wirklich ein vollendeter Trampel, der in seinem Unverständnis unglaublich verletzend sein konnte. So verletzend, dass einem die Tränen in die Augen schießen wollten. Am liebsten hätte Hanne ihn angeschrien und die Tränen zugelassen, entschied sich dann allerdings für eine sachliche ruhige Erwiderung. „Ich hab eigentlich schon viel früher verstanden, was mit mir los ist. Ich war mit vierzehn oder fünfzehn das erste Mal bei der HIV-Beratungsstelle, weil ich einfach mehr über die Krankheit wissen wollte und mir Dr. Baumann nie richtig geantwortet hatte. Er hat immer nur abgewehrt oder hat viel zu kurz und unverständlich geantwortet. Bei meinem ersten Besuch in der Beratungsstelle hab ich mir aber nur Info-Flyer mitgenommen und behauptet, etwas für die Schule vorbereiten zu müssen. Aus dem Material hab ich allerdings mehr erfahren, als mir zuerst lieb war. Eine Infobroschüre über die Kombinationstherapie, Infos über einen Hautkrebs, der für HIV-Infizierte typisch ist und auch ein Flyer über den allgemeinen Krankheitsverlauf mit möglichen Folgeinfektionen, dann noch Infos über Safer Sex und die Benutzung von Kondomen. Mir ist von diesen vielen Informationen erstmal richtig schlecht geworden, das kannst du mir gerne glauben.

Ein paar Wochen später war ich dann ein zweites Mal bei der Beratungsstelle und hab mich mit einem Sozialarbeiter unterhalten, was mir wirklich gut getan hat. Er hat mit mir über die Krankheit gesprochen, meine Fragen beantwortet und hat mir dadurch die Ängste genommen, die mir die Flyer eingeflößt hatten. So hab ich mit der Zeit ein Verständnis für die HIV-Infektion entwickelt.“

Hanne machte eine Pause, räusperte sich und fuhr dann fort. Diesmal schaute er allerdings nicht mehr direkt zu seinem Vater, sondern an ihm vorbei auf das knallig bunte Sofakissen, das neben ihm auf der orangefarbenen Couch lag. „Was unser Verhältnis angeht, hab ich dein Verhalten nie verstanden als ich klein war. Es tat immer weh, wenn sich deine Arbeit vor mich und Sandra gedrängt hat und du keine Zeit hattest. Ich hab eine ganze Menge geschluckt. Am liebsten hätte ich geheult, als ich noch jünger war, später war ich wütend auf dich, und irgendwann hab ich dann gelernt, selbstständig zu sein. Gesagt hätte ich nie etwas, wenn ich von dir enttäuscht war, auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich hab es oft einfach akzeptiert, dass du fort warst oder viele Termine hattest, und hab mich im Stillen darüber aufgeregt und irgendwann war es mir gleichgültig. Im Grunde genommen warst du ja auch immer da, wenn es am nötigsten war.

Trotzdem hatte ich die ganzen Jahre über ständig den Teufel auf der Schulter sitzen, dass du mich nicht leiden kannst oder mich als Belastung siehst.“

Sein Vater schüttelte den Kopf. „Das ist ein Missverständnis, Hanne. Im ersten Jahr nach dem Unfall war ich ständig damit beschäftigt, mein Leben im Griff zu halten. Ich hab kaum auf dich geachtet und ging einfach davon aus, dass du keine Probleme hast. Und so ging es dann immer weiter, Hanne. Ich hatte meine Arbeit, du und Sandra gingen zur Schule und abends sind wir zusammen gekommen, aber eben auch nie nah genug, um uns richtig zu sehen. Ich war immer froh, dass du so wenig Ansprüche gestellt hast. Du bist sehr schnell selbstständig geworden.“, erwiderte er. „Aber zumindest kann ich jetzt verstehen, warum du so wütend warst.“

Johannes nickte. Es betrübte ihn, dass er nicht einfach auf seinen Vater eingehen konnte und sich ihm öffnete. Da war einfach noch immer diese Barriere, die er nicht überwinden konnte. Er wäre gerne über seinen Schatten gesprungen, weil er spürte, wie sehr er den Kontakt zu seinem Vater jetzt brauchte. Abgesehen von Kurt und seiner Schwester Sandra und vielleicht noch Sven hatte er niemanden. Seine Chefin und Lisa zählten nicht. Auch zu seinem ehemaligen Mitbewohner hatte er keinen Kontakt mehr, genauso wenig zu dem Freundeskreis, den er sich mit ihm zusammen aufgebaut hatte. Sein Umfeld konnte man keineswegs als stabil bezeichnen, da er sich auch ständig mit Kurt zu zerstreiten drohte.

„Es tut mir irrsinnig leid, dass wir nicht mehr aufeinander geachtet haben. Du hast dich nie irgendwie be­schwert oder hast Aufmerksamkeit eingefordert. Du hast niemals wegen deiner Mutter geweint. Deswegen dachte ich auch, dass dir das alles nicht besonders viel ausmacht oder dass du eigentlich kaum darüber nachgedacht hast. Aber das war eine absolute Fehleinschätzung. Das sehe ich jetzt.“

Hanne schlug die Augen nieder und kämpfte einmal mehr mit sich selbst und dem Drücken in seiner Brust. Am liebsten wäre er endgültig aufgestanden und weggelaufen. „Wieso kommst du ausgerechnet jetzt auf mich zu?“, wollte Hanne stattdessen wissen. Er sprach sehr leise und griff haltsuchend nach einem weiteren Sofakissen, das er aber sofort wieder losließ.

„Wie meinst du das?“, fragte sein Vater dagegen.

Es entstand eine Pause, in der Hanne nachdachte. Er umschlang seine Knie. Aus dieser Position sah er zu seinem Vater auf bevor er sich schließlich wieder aufsetzte. „Papa, ich weiß wirklich nicht, wohin ich unseren Kontakt jetzt stecken soll. Wir haben schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr richtig miteinander gesprochen. Und jetzt mit einem Mal schreibst du mir einen Brief, ich besuche euch, weil mir mein Arzt geraten hat, mit meinem Umfeld ins Reine zu kommen, stattdessen streiten wir uns und reden aneinander vorbei, wie es schon früher immer der Fall war. Und jetzt stehst du bei mir vor der Tür. Das ist das erste Mal seit Langem, dass wir ein normales Gespräch führen.“ Hanne machte eine erneute Pause und leckte sich über die Lippen. „Ich hab wirklich keine Ahnung, wie ich das alles einordnen soll. Ich bin gerade sowieso total aufgewühlt.“

Sein Vater nickte. Er wusste, wie sehr Hanne sich aufregte, kannte die Körpersprache seines Sohnes einfach. Ihm war klar, wie sehr Johannes sich abmühte, sich nicht einfach zusammenzukauern. Fast schon zögerlich streckte er seine Hand nach Johannes aus, ließ seine Finger beruhigend über den Rücken seines Sohnes streichen. „Ich hab seit Sandras Auszug viel über unsere Beziehung nachgedacht, Hanne. Ich hatte schon länger vor, mich wieder öfter bei dir zu melden. Leider habe ich mich nie dazu durchringen können, dich wirklich anzurufen oder ein längeres Gespräch mit dir zu führen. Ich habe die ganze Zeit über gespürt, wie sehr du den Kontakt zu mir ablehnst, auch jetzt noch. Dabei gefiel es mir immer, deine Stimme zu hören.

Was mir letztendlich den Anstoß gegeben hat, dir überhaupt zu schreiben, war deine Gesundheit. Sandra hat mir von deiner Resistenz vom Frühjahr erzählt, Hanne. Zuerst wollte ich dich anrufen, hab dann aber doch einen Brief vorgezogen, weil ich ja wusste, wie mies unser Verhältnis ist.“

Johannes nickte nur. Sandra hatte bereits erzählt, dass sich sein Vater ab und zu bei ihr nach ihm erkundigt hatte. Noch immer wäre er am liebsten aus dem Wohnzimmer geflohen, weil er kaum mit seinen eigenen Emotionen fertig wurde. Alles, was sein Vater von sich gab, wühlte ihn nur noch mehr auf, ließ ihn verzweifeln. „Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst, Papa. Ich muss morgen wieder früh aufstehen.“, meinte er nach einer weiteren langen Pause. Er hatte einfach nicht mehr die Kraft, weiter mit seinem Vater zu sprechen. Obwohl er den Kontakt ebenfalls wollte, drückte ihm allein die Vorstellung nach wie vor die Luft ab.

„Sicher, Hanne.“, stimmte sein Vater zu und erhob sich. Er spürte, wie schwer es seinem Sohn fiel, sich plötzlich wieder mit Vergangenem zu beschäftigen und sich auf ihn einzulassen. Er würde Zeit benötigen, viel Zeit. Vielleicht auch zu viel Zeit? Ihm wurde erst ganz langsam bewusst, was Johannes durch seine Krankheit mitmachen musste und wie viel Kraft ihn der Kampf gegen die Viren tatsächlich kostete.

Als Hanne auf die Wohnungstür zusteuerte, folgte sein Vater ihm. Dann zog er sich Schuhe und Jacke an.

„Hast du alles?“, wollte Hanne dann wissen.

Sein Vater bejahte, drückte ihn dann zum Abschied an sich. „Mach's gut, Johannes. Und pass auf dich auf.“

Hanne musste lächeln, rieb ebenfalls über den Rücken seines Vaters. „Tschüss, Papa.“

„Ich ruf dich an, wenn ich wieder zu Hause bin, ja?“, sagte er noch, bevor er endgültig ging.
 

Johannes schaute seinem Vater lange nach. Er seufzte leise und rieb sich die Stirn. Was war nur los? Warum kam sein Vater ausgerechnet jetzt auf ihn zu, wo es ihm schlechter ging? Und weswegen war er selbst so unfähig, sich auf sein Angebot einzulassen? Wieso konnte er sich nicht freuen, wieder regelmäßig Kontakt zu ihm zu haben? Er brauchte doch gerade jetzt jede Stütze, die er bekommen konnte.
 

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In den Tagen nach dem Gespräch mit seinem Vater zog sich Hanne ein wenig zurück. Er hatte einfach ein unheimlich schlechtes Gefühl dabei, sich auszumalen, wieder mehr Berührungspunkte mit ihm zu bekommen. Aber genau so hatte er sich doch gewünscht, als er letztens mit Kurt gesprochen hatte, oder? Natürlich hatte er auch schon zu diesem Zeitpunkt Angst gehabt, wieder enttäuscht zu werden und hatte einfach Bedenken gehabt, ob sie sich nicht wieder zerstreiten würden.

Sein Vater hatte ihn tatsächlich angerufen, als er wieder in Hamburg angekommen war und hatte sich nach ihm erkundigt. Sein Vater hatte nett geklungen, freundlich. Dennoch war kein Gespräch möglich gewesen. Er selbst war einfach nicht fähig, sich auf ihn einzulassen.
 

Hanne legte sich eine Hand auf seinen Bauch, der schon seit Tagen schmerzte, drückte und zog. Es war die Aufregung und seine innere Aufgewühltheit, die ihm diese Magenprobleme bereiteten. Auch insgesamt hatte er kaum Appetit und musste sich richtiggehend zum Essen zwingen. Er seufzte und beschloss, sich heute Abend früh schlafen zu legen. Ansonsten fühlte er sich ebenfalls nicht besonders gut, fast ein wenig krank und kraftlos.
 

Hanne ging ins Badezimmer, streifte sich seine Kleidung vom Leib und ließ sie schließlich nachdem er Gürtel und Handy aus seiner Hose gezogen hatte in den Wäschekorb wandern. Bevor er unter die Dusche steigen konnte, streifte sein Blick noch kurz den Wandspiegel, in dem er seinen Körper bis zu den Knien betrachten konnte. Fast könnte man meinen, dass er leicht abgenommen hatte, denn die Rippenbögen traten wieder stärker unter der blassen Haut hervor. Er ließ den Blick nach unten wandern und kam zu der Narbe von dem schrecklichen Unfall, die sich von seiner linken untersten Rippe bis zum rechten Beckenknochen knapp am Bauchnabel vorbei zog. Wenn er sie berührte, hob sie sich nicht von restlichen Haut ab; sie war nur eine lange rötliche Linie. Eine bleibende Erinnerung an das Ereignis, das seiner Mutter das Leben gekostet hatte.
 

Nach der Dusche rubbelte sich Johannes sorgfältig trocken und cremte sich schließlich noch ein, wobei er vor allem auf seine Fußknöchel einging, an denen er momentan eine besonders raue Haut hatte. Schließlich zog er sich frische Boxershorts an, warf sich seinen Bademantel über und ging zum Schlafzimmer.

Gerade als er sein T-Shirt zum Schlafen anziehen wollte, fiel sein Blick auf eine Stelle, die fast von dem Bund seiner Hose verdeckt war. An ihr befand sich ein etwa einen halben Fingernagel großes Muttermal, das er noch nie gesehen hatte. Misstrauisch rückte er den Bund noch etwas tiefer, um besser sehen zu können. Er kratzte mit dem Fingernagel darüber und betrachtete es genauer. Die Enden des Mals waren ausgefranst und der Fleck an sich wies eine leicht rötliche bis violette Färbung auf. War es möglich? Ihm kam ein schrecklicher Verdacht und er ließ seine Finger sinken. Sollte er danach schauen lassen? Zum Arzt gehen? Vielleicht irrte er sich ja auch und es war nur ein normaler Leberfleck. Oder war es tatsächlich ein Kaposi Sarkom? Eine für seine Krankheit typische und ziemlich aggressiv verlaufende Art von Hautkrebs, die unbedingt behandelt werden sollte. Blieb sie unbehandelt, konnten sich Metastasen an den inneren Organen und an den Lymphknoten bilden, die über kurz oder lang zum Tod führten. Neben der Oberhaut befiel der Krebs auch oft noch die Schleimhäute im Mund und das Zahnfleisch. So hatte er es zumindest einmal gelesen.

Hanne wandte sich zur Spiegeltür seines Kleiderschranks um. Ängstlich öffnete er den Mund und sofort beschlug der Spiegel von seinem warmen Hauch. Hanne wischte mit der Hand über die Fläche und zog dann zunächst seine Lippen zur Seite, um das Zahnfleisch zu sehen, danach begutachtete er die Schleimhäute an den Innenseiten seiner Wangen und schließlich noch den Rachenraum. Nach einer Weile wich er beruhigt zurück. Er hatte nichts entdecken können.
 

Plötzlich stieg Angst in ihm auf. Was würde Kurt sagen, wenn er plötzlich wieder ins Krankenhaus musste? Würde er ihn komplett verstoßen und sich noch näher an Lukas hinkuscheln? Hanne erinnerte sich an seine Gefühle, als Kurt mit Lukas geschlafen hatte. Würde es genauso laufen? Würde er Kurt komplett verlieren? Kurt selbst würde ein glückliches Leben mit Lukas führen. Das stand außer Frage.

Aber wo würde er selbst bleiben? Gab es für ihn überhaupt noch einen Platz in Kurts Herzen? Hanne wusste es nicht. Aber er konnte nicht ausschließen, dass er wieder in derselben Einsamkeit versinken würde wie kurz nach dem Unfall. Der Unterschied war, dass er sie diesmal komplett selbst gewählt und erschaffen hatte. Wieder wanderten seine Gedanken zu seinem Vater, mit dem er erst vor kurzem nicht hatte sprechen wollen.
 

Hanne ließ sich auf das Bett sinken und begann zu weinen. Er drückte das T-Shirt gegen sein Gesicht. Allein schon die Vorstellung, einsam zu sein, war ein einziger wahr gewordener Alptraum für ihn. Was sollte er nur tun? Was würde in der nächsten Zukunft noch geschehen? Hannes Lider wurden schwer und ihm fielen die Augen zu.
 

Später glaubte Hanne zu hören, wie jemand seinen Namen rief. Er war sich fast sicher, dass er es sich nur einbildete und reagierte nicht. Wenig später warf jemand eine Decke über ihn und Hanne schlug verwirrt die Augen auf. Es war Kurt, der sich ihm gegenüber auf dem Boden niedergelassen hatte und lächelte.

„Du hattest deinen Schlüssel noch außen in der Wohnungstür stecken und da bin ich einfach reingekommen. Ich hab ihn dir von innen wieder ins Schloss gesteckt.“, erklärte Kurt und wandte seinen Blick von Hanne ab. „Ich wollte schon länger mal bei dir vorbeischauen, weil ich mir ehrlich gesagt ein bisschen Sorgen gemacht habe. Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

Hanne guckte noch immer entgeistert in Kurts Richtung, erwiderte allerdings noch immer nichts. Die Decke gab ihm angenehm warm und er wickelte sie etwas fester um sich. Es war seine Fleecedecke, die Kurt vom Fußende des Bettes genommen hatte. Erst jetzt realisierte Johannes, dass er noch immer mit nacktem Oberkörper dasaß. Er schob die Decke etwas beiseite, schlüpfte in sein T-Shirt und wickelte sich schließlich wieder die Decke um die Schultern.

Kurt fuhr fort. „Nun ja, ich wollte dich eigentlich nur fragen, wie es dir im Moment geht. Ich hab die ganze Zeit gehofft, dass wir uns mal wieder irgendwie begegnen, aber das war ja nicht der Fall.“

„Entschuldige.“, antwortete Johannes nach einer kurzen Pause und ging so auch endlich auf Kurts Worte ein. Er rückte außerdem ein bisschen zur Seite, um Kurt, der sich neben ihn auf die Matratze gesetzt hatte, mehr Platz zu machen. „Ich hab im Moment recht viel um die Ohren, da komme ich eigentlich nicht mehr zu besonders viel. Aber nett, dass du extra vorbeikommst.“ Er erzwang ein Lächeln, um Kurt das Gefühl zu geben, dass er sich wirklich über seinen Besuch freute. In Wahrheit jedoch war es ihm seltsam gleichgültig, Kurt zu sehen.

„Du bist irgendwie komisch.“, bemerkte Kurt jetzt und musterte ihn von der Seite. „Hast du was?“

Hanne erinnerte sich kurz an die Auseinandersetzung als er Kurt das letzte Mal etwas verschwiegen hatte. Dann drehte auch er sich stärker zu Kurt, schob sein T-Shirt etwas nach oben und rückte vorsichtig den Bund seiner Hose tiefer. „Da. Schau.“, sagte er und zeigte auf den Fleck, den er erst vor Kurzem entdeckt hatte. „Der gefällt mir nicht besonders.“

„Solche habe ich auch.“, meinte Kurt und lachte. „Das ist ein Leberfleck.“

„Aber das hier nicht. Schau dir mal die ausgefransten Ränder und die komische Färbung an. Ich glaube, das ist Krebs.“, erklärte Hanne erstaunlich ruhig.

„Krebs?“ Kurt imitierte Hannes scheinbare Ruhe.

„Ja. Das ist ein Kaposi Sarkom, denke ich. Diese Art von Hautkrebs taucht fast nur bei HIV-Positiven auf.“, erwiderte Hanne und ließ es zu, dass seine Kleidung wieder seine .Hüfte bedeckte.

Kurt war jetzt sichtlich alarmiert. „Soll ich dich zum Arzt bringen?“, bot er sofort an. Irgendwie hegte er kaum einen Zweifel daran, dass Johannes richtig lag mit seiner Vermutung. Hanne hatte wirklich unheimlich viel Ahnung von seiner Krankheit und war auch ansonsten ziemlich gut darin, Situationen richtig einzuschätzen.

Hanne schüttelte stumm den Kopf. „Es ist wirklich total nett von dir, dass du mich zum Krankenhaus bringen würdest, aber ich hab morgen sowieso einen Termin bei Dr. Müller.“

Kurt nickte, kannte selbst kaum den Grund. Er war noch immer in Sorge um Hanne. „In Ordnung.“

„Aber da ist noch etwas.“ Hanne sprach wieder leiser und starrte jetzt auf einen Punkt im Zimmer. „Ich hab panische Angst. Ich fürchte mich einfach vor dem Alleinsein, Kurt, verstehst du? Ich muss gerade ständig an die Worte von Dr. Müller denken...“ Hanne schluchzte auf und seine Schultern bebten, als ihn die ersten Weinkrämpfe schüttelten.

Kurt erinnerte sich noch gut an das, was Johannes ihm über dieses Gespräch mit seinem Arzt anvertraut hatte. „Psst, Hanne. Beruhige dich doch bitte.“ Er berührte vorsichtig Johannes' Arm und beugte sich nach kurzem Zögern vollends zu ihm, drückte ihn an sich. Vorsichtig streichelte er über Hannes Rücken. Er tat ihm unheimlich leid. „Alles wird gut, glaub mir. Ich bin doch da und der Lukas auch. Ich hab dir doch schon einmal versprochen, dass ich dich jeden Tag besuche, wenn du ins Krankenhaus eingewiesen wirst. Und auch sonst kannst du jederzeit vorbeikommen oder mich anrufen, wenn du irgendetwas auf dem Herzen hast. Aber ich bin mir sicher, dass alles wieder in Ordnung kommt. Dein Arzt weiß ganz bestimmt, wie er dir helfen kann. Hörst du?“

Hanne zitterte. Er steigerte sich furchtbar in die Sache hinein. „Wie kannst du mir so einen Mist erzählen? Nichts kommt in Ordnung. Ich stehe kurz davor, ins Endstadium zu kommen und du faselst etwas von heiler Welt!? Willst du mir als nächstes erzählen, dass AIDS heilbar ist oder dass ich eine gute Prognose für den Krebs gestellt bekomme?“

Kurt drückte ihn fester an seine Brust. „Nein, das nicht. Aber ich versuche, deine Launen zu verstehen. Ich bin mir sicher, dass es nur halb so schlimm ist, wenn alle zu einander halten. Weißt du, ich hab in letzter Zeit viel über deine Krankheit nachgedacht, gerade auch über die Dinge, die du mir im Krankenhaus erzählt hast, als wir uns kennen gelernt haben.

Ich hab das Gefühl, dass das wichtigste für dich dein Umfeld ist, auf das du dich verlassen kannst. Ich kann dir wirklich versprechen, dass sowohl ich als auch Lukas für dich da sind. Und außerdem hast du doch einen starken Willen. Ich bewundere dich, Hanne, wirklich. Ich hätte schon lange aufgegeben, wenn ich an deiner Stelle stünde. Ich finde es wirklich super, dass du bis hierhin eigentlich nie den Kopf in den Sand gesteckt hast. Und du hast ja selbst einmal gesagt, dass es der größte Fehler sei, wenn man sein Leben einfach wegwirft. Deswegen solltest gerade du weiterkämpfen, Hanne. Okay?“ Er lächelte als Johannes seinen Kopf hob und wischte ihm vorsichtig eine Träne weg, die gerade über seine Wange rollen wollte.

Johannes wollte widersprechen, doch Kurt legte ihm nur einen Finger auf die Lippen. „Jetzt beruhigst du dich zuerst.“, sagte er und ließ es zu, dass Johannes seinen Kopf wieder auf seine Brust bettete. Ob er sich das resignierte Seufzen nur einbildete, konnte er nicht beurteilen.

Kurt legte jetzt eine Hand von Hannes Rücken beruhigend an dessen Hinterkopf.
 

Hanne löste sich nach einiger Zeit aus Kurts Armen und rappelte sich vorsichtig auf. Er zog sich seinen Bademantel an, den er vorhin nur achtlos auf den Boden geworfen hatte, und zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Umhängetasche, die er auf einen Stuhl an der Wand gelegt hatte. Er öffnete das Fenster im Zimmer und steckte sich schließlich eine Zigarette an. Das Ende glühte rot auf und Hanne drehte sich zu Kurt um, der ebenfalls aufgestanden war. Hanne schnippte die Asche zum Fenster hinaus und atmete den Rauch aus. „Ich hab keine Ahnung, was ich jetzt ohne dich gemacht hätte.“

Kurt ging ein Stück auf Hanne zu. „Ich verstehe dich nicht.“, sagte er mit einem leichten Kopfschütteln. „Eben warst du noch so besorgt und ängstlich und jetzt stehst du am Fenster und rauchst wieder. Ich weiß manchmal echt nicht, wie ich aus dir schlau werden soll.“

Hanne musste lächeln und drückte die Zigarette vorsichtig aus. Sie schmeckte ihm nicht mehr. „Was soll das heißen?“, fragte er dann und seine Augen verengten sich. „Wundert dich die Tatsache, dass ich rauche oder der Zeitpunkt an dem ich es tue? Ich hab dir doch mal erzählt, dass ich Gelegenheitsraucher bin. Ich rauche nur, wenn es mir beschissen geht oder ich verwirrt bin oder eben beides der Fall ist.

Jedenfalls hab ich mich wieder eingekriegt. Das ist alles. Vorhin habe ich überreagiert, dann kamst du, wir haben uns unterhalten und ich hab mich wieder beruhigt. Die Sache hat sich zumindest im Moment für mich erledigt.“

Kurt war nur noch entsetzter. „Ja, aber du musst doch danach schauen lassen! Du kannst deinen Hautkrebs doch nicht einfach ignorieren. Ist dir das denn jetzt völlig egal? Hast du alles, was du mir vor ein paar Minuten erzählt hast, etwa vergessen? Das ist doch purer Leichtsinn!“ Er war ganz außer sich wegen Hannes Sinneswandel.

„Was hast du denn plötzlich? Du sagtest selbst, dass ich mir keinen Kopf machen soll.“

„So war das nicht gemeint, Hanne. Klar will ich nicht, dass du dir solche Sorgen machst und dann hier sitzt und weinst. Aber dass du jetzt so tust, als ob dir dieser Leberfleck nichts ausmacht, ist auch nicht der richtige Weg. Tu mir den Gefallen, Hanne, und geh zum Arzt und lass dich von ihm anschauen. Ich mache mir Sorgen um dich.“

„Ich gehe doch morgen sowieso zu Dr. Müller in die Sprechstunde und dort werde ich ihn dann auch auf meine Haut ansprechen.“, erwiderte Johannes und klang etwas ungeduldig. „Das hab ich doch schon verspro­chen. Ich weiß, was ich tue. Du musst dir wirklich keine Gedanken machen.“
 

Hanne wandte sich ab, nahm die zur Hälfte gerauchte Zigarette vom Fensterbrett und steckte sie zum zweiten Mal an. Er ließ es zu, dass sich Kurt neben ihn stellte und seinen Arm um ihn schlang.

„Es ist ziemlich kalt geworden, was?“, meinte Hanne nach einer Weile. „Wartet der Lukas eigentlich nicht auf dich?“

„Nein. Der ist heute gar nicht da. Er hat wieder Nachtschicht.“

„Oh. Du wirst aber trotzdem gehen wollen, ja?“ Hanne drückte den Zigarettenstummel vollends aus und ließ ihn schließlich auf den dunklen Gehsteig unter ihnen fallen. Er blies die letzte Rauchwolke aus und schloss das Fenster wieder.

Kurt blieb unschlüssig neben Johannes stehen nachdem er ihn bereits losgelassen hatte. Natürlich hatte er den Rausschmiss sehr deutlich aus Hannes Worten heraus gehört, aber sein Kopf war noch immer voll mit den Sorgen, die er sich um ihn machte, seitdem er von dem Krebs erfahren hatte. Allerdings wagte er es auch nicht, Johannes zu widersprechen. „Ich wollte sowieso früher schlafen gehen.“, erwiderte Kurt schließlich.
 

Als Kurt vollends gehen wollte, hielt Hanne ihn am Arm fest und zog ihn ein bisschen weiter zu sich. „Gute Nacht.“, brummelte er und küsste Kurts Wange. Noch einmal schmiegte er sich an Kurts kräftigen Körper und genoss so diese wundervolle Geborgenheit, die er bei Kurt empfand.

Kurt lächelte sanft, erwiderte den Kuss vorsichtig und streichelte über Hannes Rücken. „Schlaf du auch schön.“

Hanne begleitete Kurt noch zur Wohnungstüre. Plötzlich wurde ihm klar, wie gut ihm das Gespräch getan hatte, obwohl sie nicht ein einziges Mal auf seine momentan größten Sorgen und Probleme wegen seines Vaters eingegangen waren. Das, was ihm heute so gut getan hatte, war einfach nur Kurts Nähe und das schöne Gefühl, von jemandem beschützt und verstanden zu werden.

Selbst als Kurts Schritte schon längst verhallt waren, lehnte Hanne noch immer im Türrahmen. Er fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  kmolcki
2012-07-08T18:21:37+00:00 08.07.2012 20:21
ui das war wirklich ein wunder schönes Kapitel und das Ende davon...ich freu mich richtig über Kurt


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