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Kurt das war's

von

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Familienverhältnisse können kompliziert sein

XVI – Familienverhältnisse können kompliziert sein
 

Hanne schloss die Wohnungstür hinter sich und hörte zu, wie sich Sandras Schritte entfernten. Er war erleichtert darüber, dass sie ging. Dass er ein wenig angeschlagen war, war allein seine Sache. Er machte sich Wasser heiß für Tee und betrachtete den Brief und die Werbeblätter, die er gerade eben aus dem Briefkasten geholt hatte. Als der Wasserkocher sich abstellte, goss er drei Beutel Arzneitee in einer Warmhaltekanne auf. Der Tee war vor allem für Erkältungskrankheiten gedacht und schmeckte absolut scheußlich, hatte ihm allerdings schon einmal geholfen.
 

Vorsichtig zupfte Johannes den von Hand beschrifteten Briefumschlag auf, faltete das Blatt auseinander und las. Es kam von seinem Vater, der ihn offenbar besuchen wollte, um zu sehen wie es ihm ging und was er machte, wie er sich entwickelt hatte.

Hanne ließ das Blatt sinken. Was sollte er tun? Er hatte seinen Vater seit sieben Jahren nicht gesehen. Sie hatten in dieser Zeit wohl ab und zu telefoniert, das letzte Mal vor ungefähr einem halben Jahr zu seinem Geburtstag. Doch auch diese Gespräche waren immer eher kurz und wenig persönlich gewesen. Nur eine kurze Frage nach seiner Gesundheit und wie es beruflich lief. Fragen, die Hanne nicht unehrlich, aber genauso unpersönlich beantwortet hatte. Ohne auf Details einzugehen. Sein Vater hatte sich nicht einmal darum bemüht mehr zu erfahren oder näher nachzufragen. Hanne war es eher so vorgekommen, als würde sein Vater einen Pflichtkatalog abarbeiten.

Und jetzt dieses Treffen. Was wollte er plötzlich von ihm? Wieso war da plötzlich wieder der Wunsch, den Kontakt zu suchen? Hanne fühlte sich unwohl, wenn er nur daran dachte, ihm plötzlich wieder gegenüberzustehen. Er fand es ja grundsätzlich nett, dass sein Vater sich wieder um mehr Kontakt bemühte, aber ein Treffen mit ihm wollte er nicht. Was würde sein Vater sagen? Würde er ausrasten, wenn er Hanne sah? Oder sich riesig freuen seinen Sohn wieder zu sehen? Hanne kannte die Antworten nicht. Bei seinem letzten Besuch in Hamburg zu Weihnachten vor sieben Jahren hatten sie sich furchtbar gestritten und er selbst war schließlich gegangen.

Wie es zu der Auseinandersetzung gekommen war, wusste Johannes noch sehr genau: Sven hatte ihn am Morgen nach Hause begleitet nachdem er mit ihm den Abend verbracht hatte. Es war ein wunderbarer Abend bei Sven gewesen, ja. Sie hatten miteinander geschlafen, sehr liebevoll und ein bisschen romantisch, und auch das gemeinsame Aufwachen war sehr schön gewesen. Sven hatte ihn später zum Bahnhof begleiten wollen und sie hatten es sich in Hannes ehemaligen Zimmer gemütlich gemacht, hatten sich geküsst. In diesem Moment war sein Vater dazugekommen und hatte die Szene in den völlig falschen Hals bekommen. Es hatte eigentlich nie Probleme wegen der Beziehung selbst gegeben – sein Vater hatte sogar oberflächlich davon gewusst. Johannes hatte ihm schon zuvor einmal von der Trennung und Svens Fremdküssen erzählt, schließlich auch von der Aussprache am Abend vor seinem Umzug, die der Grund dafür gewesen war, dass Sven und er damals eng umschlungen im Flur der Wohnung gestanden hatten. Sein Vater hatte kaum etwas zu diesen Offenbarungen gesagt, hatte keine Fragen gestellt sondern nur zugehört. Doch das Thema Sexualleben war immer ein Streitthema gewesen, allein schon wegen der HIV-Infektion und dem Ansteckungsrisiko. Hanne und sein Vater hatten sich gegenseitig hochgeschaukelt mit Vorhaltungen und Gegenargumenten, die einfach ignoriert oder zerredet wurden. Zu Neujahr hatte sich sein Vater wieder bei ihm gemeldet, sie hatten sich ausgesprochen und versöhnt und hatten danach sogar ein- bis zweimal im Monat telefoniert. Doch mit der Zeit waren ihre Telefonate seltener geworden und hatten sich schließlich auf das heutige Maß reduziert.
 

Hanne ging ins Schlafzimmer und zog sich die verschwitzten Sachen von der Nacht aus. Anschließend schlüpfte er in eine weite bequeme Hose und ein dünnes T-Shirt.

Gedankenverloren schaute er auf die Photos auf seiner Kommode. Vorsichtig nahm er sein Photo mit Sven, auf das Kurt ihn einmal angesprochen hatte, in die Hand. Er dachte noch immer gerne an seine Zeit mit Sven zurück und ganz speziell an diesen einen Sommer, in dem er so unsagbar glücklich gewesen war. Bereits ein Jahr danach war die Beziehung allerdings zerbrochen.

Hanne stellte das Bild zurück auf seinen Platz und nahm als nächstes das Urlaubsphoto von ihm und Sandra, das aus Griechenland stammte. Sie standen in einer sonnenverbrannten Landschaft vor weißen antik wirkenden Windmühlen. Im Hintergrund waren außerdem Ziegen, die in der kargen Natur Nahrung suchten. Die Ferien waren schön gewesen. Die letzten, bevor Sven in seine Klasse gekommen war und sich so vieles für ihn verändert hatte.

In einem anderen Rahmen war die einzige Erinnerung an seine Mutter, die er von Hamburg hier hatte. Eigentlich mit voller Absicht hatte er alle anderen Dinge, die er mit ihr verband, dort gelassen. Der Umzug hatte einen Schlussstrich ziehen sollen – unter das schlechte Verhältnis zu seinem Vater, von dem er sich nicht verstanden fühlte, und unter den Tod seiner Mutter, der ihn allerdings bis heute ab und zu beschäftigte, wobei er schon lange nicht mehr offensichtlich trauerte. Vielleicht sollte es auch noch ein Schlussstrich unter seine Beziehung zu Sven sein, der ihn so verletzt hatte. Johannes wusste es nicht; ihm war nur klar, dass er hier hatte zur Ruhe kommen wollen und er genau das auch in gewisser Weise geschafft hatte.
 

Johannes tapste wieder langsam zu seiner Warmhaltekanne zurück, legte sein Familienphoto ab und nahm die Beutel aus der Kanne. Der Tee war viel zu stark geworden und schmeckte noch ekelhafter als sonst. Er goss sich trotzdem eine Tasse davon ein und trank. Die Wärme des Getränks tat seinem Hals gut.

Das Photo von seiner Familie sah sehr schön aus. Wie sie alle in die Kamera lächelten und er Sandra im Arm hielt. Er konnte auch nicht leugnen, dass sein Vater darauf unheimlich sympathisch wirkte. Bevor seine Mutter gestorben war, war er auch ein wunderbarer Vater gewesen. Johannes erinnerte sich noch gut daran, dass er ihm und seiner Schwester zumindest am Wochenende vor dem Schlafengehen immer eine Geschichte vorgelesen hatte. Ein schönes Ritual, das er nach dem Unfall einfach fallen gelassen hatte.
 

Dann sah er sich den Brief noch mal an. Es stand nur darin, dass sein Vater ihn besuchen wollte und dass er geschäftlich hier unten zu tun hätte. Wann er kam, hatte er nicht geschrieben. Hanne wollte schnell bei ihm anrufen, schreckte dann aber davor zurück. Was sollte er seinem Vater erzählen? Andererseits hielt er es für wichtig zu wissen, wann er kam. Es könnte ja sein, dass er selber gar nicht daheim war. Er atmete tief durch und fragte sich, was sich sein Vater überhaupt dabei gedacht hatte. Wahrscheinlich gar nichts. Er hatte eigentlich niemals bei irgendetwas, das seine Kinder betraf, nachgedacht.

Johannes hatte sein Verhalten niemals verstanden und hatte sich schrecklich ungeliebt, missverstanden, gefühlt und sich immer weiter vor ihm zurückgezogen. Es hatte insgesamt so vieles gegeben, was seine Beziehung zu seinem Vater erschwert hatte, tausende kleiner Risse und Knicke hatten das Bild immer mehr zerstört. Und irgendwann einmal hatten sie sich einfach viel zu weit voneinander entfernt, um einander noch verstehen zu können.

Dann stand Hanne doch auf, nahm den Telefonhörer in die Hand und tippte langsam die Nummer ein, die er noch immer im Kopf hatte.
 

Nach dem fünften Tuten in der Leitung wurde endlich der Hörer abgenommen. „Rosemarie Seeberg, guten Morgen?“, fragte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

Hanne atmete erleichtert aus. „Hier Johannes Theimel. Hallo Oma.“, meinte er lächelnd.

„Hanne!?“, rief sie. „Bist du das?“

„Ja. Oma, seit wann wohnst du denn bei Papa?“

Sie seufzte. „Man merkt, dass du lange nicht da warst. Ich lebe mittlerweile seit April bei deinem Vater. Ich kann und will nicht mehr alleine wohnen.“

„Geht's dir nicht gut?“

„Nein, Hanne. Mach dir keine Sorgen.“, sie lächelte. „Mir war die Wohnung einfach zu groß und ich hatte sowieso vor in die Nähe von Hamburg zu ziehen. Dein Vater hat mir sogar den Vorschlag gemacht. Er ist froh, dass ich jetzt bei ihm lebe. Seit deine Schwester ebenfalls ausgezogen ist, ist es verdammt leer in eurer riesigen Wohnung.“

Hanne atmete erleichtert aus. „Ach so. Ist Papa gerade auch da?“

„Nein. Er ist Arbeiten. Soll ich dir seine Nummer geben? Die vom Büro?“ Die alte Dame hörte sich enttäuscht an. Sie war die Mutter seiner Mutter und hatte sich in seiner Kindheit oft um ihn gekümmert.

Hanne lächelte. „Nein, nein. So wichtig ist es auch wieder nicht. Aber am Sonntag arbeitet er auch noch?“

„Ja, ausnahmsweise. Er hat am Montag einige wichtige Termine. Aber jetzt erzähl: Wie geht es dir? Was machst du?“

„Mir geht’s gut. Ich habe mittlerweile meine Friseur-Ausbildung abgeschlossen und arbeite in einem kleinen Laden. Es ist wunderschön, ich bin wirklich zufrieden. Und du?“

„Wie schön. Das hast du dir doch immer gewünscht, Schatz. Mir geht es auch gut. Nur ein bisschen Rückenprobleme. Aber du hörst dich etwas erkältet an. Fühlst du dich nicht wohl?“

„Kann sein, dass ich etwas ausbrüte. Ich hab mir eben schon einen Tee aufgebrüht. Morgens ist es immer ziemlich kühl und ich nehme mir oft keine Jacke mit, weil es tagsüber richtig heiß wird. Die meisten Kunden schleppen dann auch noch eine leichte Erkältung mit sich herum.“

„Und ansonsten? Was sagt der Arzt insgesamt?“

Hanne schluckte. „Alles in allem geht es mir gut, Oma, wirklich.“, beteuerte er dann und befürchtete, zu künstlich zu klingen, da eben das Gegenteil der Fall war. Seine Werte waren nicht in Ordnung und auch seine Nieren gaben seinem neuen Hausarzt zu denken. Auch der mögliche Krankenhausaufenthalt machte Johannes nach wie vor Sorgen, obwohl es ihm bestimmt viele Probleme mit der neuen Therapie ersparen würde, wenn die Medikamente sofort richtig auf seinen Körper abgestimmt werden könnten.

„Das beruhigt mich aber, Johannes.“, meinte sie und Hanne war unheimlich erleichtert, dass sie die Lüge geschluckt hatte. „Was ist eigentlich der Grund für deinen Anruf?“

Hanne erinnerte sich wieder, dass er eigentlich nicht nur zum Spaß das Telefon in die Hand genommen hatte. „Papa hat mir einen Brief geschickt. Er schreibt, dass er mich gerne besuchen möchte um zu sehen, was ich mache und wie es mir geht. Er schreibt nur nicht, wann er kommt. Weißt du das vielleicht? Nicht, dass ich dann nicht zu Hause wäre oder so.“

Lange herrschte Stille. „Besuchen?“, fragte sie dann.

„Ja. Er hat hier in der Stadt geschäftlich zu tun und will bei der Gelegenheit bei mir vorbeikommen.“

„Ach ja, irgendwann nächste Woche ist er einmal für ein paar Tage weg. Das hat er letztens erwähnt. Möchtest du, dass ich ihm irgendetwas ausrichte?“

Hanne seufzte. „Ja. Sag ihm doch bitte, dass er mich anrufen soll.“ Er gab ihr seine Nummer durch, obwohl sein Vater sie ganz sicher schon hatte.

„Sicher.“, sagte sie. „Du hörst dich so erwachsen an. Ich kann aber wohl unmöglich verlangen, dass du mich mal besuchen kommst, oder?“

Hanne lachte. „Vielleicht komme ich mal wieder her. Aber gerade ist es ein bisschen schlecht.“

„Das dachte ich mir schon. Machs gut, Hanne. Ich habe mich gefreut, dass du angerufen hast.“

„Tschüss, Oma“, erwiderte er.
 

Mittlerweile war der Tee komplett ausgekühlt, da er vergessen hatte, die Kanne zuzuschrauben. Er erhitzte noch mal Wasser, schüttete etwas Tee ab und füllte die Kanne erneut auf. Diesmal schloss er gleich den Deckel und nahm sich erst dann eine Tasse voll heraus. Danach legte er sich ein wenig hin, weil er plötzlich das Fieber wieder spürte. Das Telefon legte er neben das Bett auf den Boden.

Nach kurzer Zeit stand er noch einmal auf und machte sich kalte Umschläge für die Waden, um das Fieber zu senken. Danach legte er sich endgültig hin und versuchte, ein wenig zu schlafen. Er wollte für Montag wieder fit sein.
 

Kaum war Hanne eingeschlafen, läutete das Telefon. Er nahm ab und meldete sich. Wie vermutet war es sein Vater. „Was ist?“, wollte er ungeduldig von Hanne wissen.

Hanne versuchte es zunächst mit Freundlichkeit und zwang sich, während dem Sprechen zu einem Lächeln. Es war ihm schließlich nicht fremd, dass sein Vater ungeduldig war und ihm kaum zuhören wollte. „Ich rufe an wegen dem Brief, den du mir geschrieben hast. Ich wollte fragen, wann du kommst.“

Hanne spürte, dass sein Vater zögerte. „Das wird wohl doch nichts, Hanne. Entschuldige. Wenn ich in Stuttgart bin, ist die Zeit zu knapp. Ich hab noch einen weiteren Termin dazu bekommen.“

Hanne gab sich Mühe, nicht verächtlich zu klingen. Er war ziemlich frustriert über diese klare Absage. „Ach so. Du hast zu tun. Na ja, das war schon immer so. Da kann man nichts machen.“

„Schön, dass es dir nichts ausmacht. Ich muss jetzt nur Schluss machen...“

„Doch, es macht mir was aus!“, unterbrach ihn Hanne aufgebracht. „Ich bin es nur gewohnt, dass du keine Zeit für mich hast! Du hattest nie Zeit für mich! Wie konnte ich nur annehmen, dass sich das geändert hätte? Und weswegen schreibst du mir so einen Blödsinn überhaupt, wenn du es doch eh nicht einhalten kannst?“

„Was hast du denn?“, fragte sein Vater irritiert.

„So etwas nennt man Enttäuschung!“, schrie Hanne ins Telefon. „Ich habe mich schon fast auf dich gefreut, aber du sagst einfach ab! Ich hasse dich!!“ Damit legte er auf und ließ das Telefon auf die Bettdecke fallen. Dann umschlang er seine Knie, legte das glühende Gesicht darauf und fing an zu weinen. In ihm bebte alles vor Wut und Verletztheit. Das durfte doch einfach nicht wahr sein!
 

Nach einer langen Zeit, die Hanne nicht abschätzen konnte, ließ er sich wieder ins Kissen zurücksinken. Sein Gesicht war noch ganz klebrig von den Tränen und er wischte es mit der Decke ab. Dann zwang er sich, wieder ruhig zu atmen und fiel schon bald in einen unruhigen Traumschlaf.
 

Mitten in der Nacht wachte er schweißgebadet auf. Er hatte böse geträumt von diesem Unfall und außerdem war das Fieber stark gestiegen. Vorsichtig setzte er sich auf, um die Wadenwickel zu lösen und neue zu machen. Als er das nasse Tuch um seine Unterschenkel wickelte, zuckte er von der unerwarteten Kälte zusammen und stöhnte leise auf. Wenn das Fieber morgen Mittag nicht wieder gesunken war, musste er vielleicht doch einen Arzt aufsuchen.
 

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Tatsächlich war das Fieber auch am Folgetag noch nicht gesunken und er fühlte sich insgesamt einfach scheußlich. Er griff zum Telefon, um sich bei seiner Chefin krank zu melden. Anschließend rief er bei Dr. Müller in der Klinik an, um sich einen Termin geben zu lassen. Er erzählte der Arzthelferin vom Fieber, den schlechten Werten und auch davon, wie er mit Dr. Müller nach der letzten Untersuchung verblieben war. Schließlich vereinbarte er einen Termin mit ihr für den späten Nachmittag.
 

Jetzt, wo Hanne sich bereits dazu gezwungen hatte, das Bett zu verlassen, ging er auch noch duschen. Durch das Fieber hatte er viel geschwitzt und seine Haut war insgesamt ganz klebrig.

Schließlich schlüpfte er in seinen Bademantel und machte sich etwas zu essen. Danach nahm er seine gewohnte Dosis Medikamente und fragte sich einmal mehr, wie lange das noch so weitergehen würde. Ihm wurde bewusst, dass seine Schwester recht hatte und er sich wirklich auf diese Untersuchung und den Krankenhausaufenthalt einlassen sollte, wenn er wieder fit werden wollte. Dieses ewige Auf und Ab seiner Werte, das seit Frühjahr zu beobachten war, konnte nicht ewig gut gehen.
 

Johannes versuchte, noch ein bisschen wach zu bleiben, um zumindest noch den Abwasch zu erledigen, aber seine Kopfschmerzen waren schon bald wieder so unerträglich, dass er sich Schlafen legte. Um seinen Arzttermin nicht zu verschlafen, stellte er sich den Wecker.
 

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Dr. Müller begrüßte ihn herzlich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

Hanne schluckte, da er mit einem Mal wieder Angst vor alle dem bekam, was ihn in nächster Zeit im Zusammenhang mit der HIV-Infektion erwarten würde. „Übers Wochenende habe ich wieder ziemlich Fieber bekommen und ich fühle mich auch insgesamt nicht wohl. Ich hab auch ein kleines bisschen Halsweh. Außerdem mache ich mir Sorgen um meine Nieren. Haben Sie sich schon meine Medikamente angesehen?“

„Wie schon gesagt, hatten Sie bei der letzten Blutuntersuchung nur eine leichte Verschlechterung Ihrer Werte. Schwankungen sind völlig normal und Sie müssen sich wirklich keinen Kopf machen.

Der Befund wegen der Niere ist ebenfalls nicht so schlimm. Natürlich klingt das zuerst beunruhigend, aber sobald Ihre Medikamente stimmen, wird sich auch das wieder einpendeln.“

Hanne schaute skeptisch auf, erwiderte allerdings nichts.

„Dann würde ich Sie jetzt gerne untersuchen.“, meinte der Arzt.

Johannes folgte ihm und ließ sich schließlich auf die Patientenliege sinken. Der Arzt maß Blutdruck, Fieber, tastete Hannes Körper ab und horchte an seiner Brust. Schließlich schaute er noch in Hannes Hals. Blutdruck, Herz und Lunge waren unauffällig, allerdings hatte Johannes erhöhte Temperatur und die Lymphknoten am Hals waren angeschwollen. Sein Rachen war entzündet und zeigte eine leichte Rötung.

„Was Sie haben, ist ein normaler grippaler Infekt. Nichts Schlimmes also. In zwei, drei Tagen sind sie wieder fit. Ich schreibe Sie bis Mitte der Woche krank.“, sagte er dann. „Allerdings würde ich mich noch einmal gerne mit Ihnen zusammen setzen wegen der Medikamente. Im Laufe der Woche würde ich mich noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen.“

Johannes stimmte zu und zog sich wieder seinen Pulli über, den er für die Untersuchung ausgezogen hatte. Er beobachtete, wie der Arzt ihm noch seine Krankmeldung ausstellte und schließlich seine Unterschrift darunter setzte. Dr. Müller fragte außerdem, ob er Johannes noch Lutschtabletten für den Hals oder ein Fiebermittel aufschreiben müsse, was Hanne beides bejahte. Dankbar nahm Hanne die Formulare entgegen und wollte sich eigentlich wieder von seinem Arzt verabschieden, um dem nächsten Patienten Platz zu machen, wurde jedoch zurückgehalten.

„Wie geht es Ihnen insgesamt im Moment?“, wollte der Arzt wissen.

„Abgesehen von der Erkältung fühle ich mich gut. Ich kann mich wirklich nicht beschweren.“

Dr. Müller legte den Kopf zur Seite. „Und in beruflicher und privater Hinsicht? Sind Sie zufrieden?“

„Ja, ich habe eine Menge Spaß an meinem Beruf. Ich arbeite gerne mit Leuten zusammen.“

„Und ansonsten?“

Hanne wurde immer misstrauischer. „Warum fragen Sie das?“

„Es ist insgesamt wichtig für einen Menschen, mit sich und seinem Umfeld im Reinen zu sein. Es kommt oft vor, dass HIV-infizierte Leute stigmatisiert sind und aus der Gesellschaft herausfallen. Dabei ist nicht einmal Verwahrlosung oder Armut oder ähnliches vordergründig gemeint, sondern vielmehr die soziale Ausgrenzung, die mit der Krankheit oft in Verbindung steht. Es geht bei der Behandlung einer HIV-Infek­tion nicht mehr allein darum, das Virus im Körper zu bekämpfen, Herr Theimel. Wir versuchen auch, mit den Patienten ins Gespräch zu kommen.“

Hanne nickte, blieb allerdings weiterhin stumm. Gingen seine ganz persönlichen Probleme diesen Arzt überhaupt etwas an? Er kannte ihn doch kaum. Doch ihm wurde auch bewusst, wie recht er damit hatte. Vielleicht sollte er tatsächlich danach schauen,wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. „Sie haben recht.“, meinte Johannes dann. „Aber ich glaube, um mich müssen Sie sich nicht sorgen.“ Er lächelte, obwohl er genau wusste, wie gelogen das im Moment war.

Dr. Müller lächelte ebenfalls, begleitete ihn dann noch zur Türe und verabschiedete sich von ihm.
 

Hanne dachte noch einmal über die Worte des Arztes nach, nachdem er schon wieder zu Hause war. Er musste wirklich versuchen, sein Leben in Ordnung bringen, mit seinem „Umfeld“ ins Reine zu kommen. Doch wo sollte er bei diesem Trümmerhaufen anfangen?

Bei seinem Vater, dem er egal war?

Oder bei der toten Mutter, die nichts mehr zurückholen konnte?

Vielleicht bei Kurt, den er einmal seinen Freund genannt hatte? Er vermisste ihn mittlerweile schon ziemlich. Natürlich war Kurt bei ihrem Streit zu weit gegangen, aber hatte er sich nicht einfach nur Sorgen gemacht?

Zu guter letzt gab es da auch noch Lukas. Es war wirklich schwer, überhaupt mit ihm zu sprechen.

Kurt konnte er vielleicht eher wieder hinbiegen. Hanne wünschte sich wirklich wieder den Kontakt zu ihm, da ihm die Zeit, die sie schon zusammen verbracht hatten, einfach unheimlich gut getan hatte.
 

Plötzlich kamen ihm die Tränen. Er hatte Angst. Jenes Gefühl, das er die ganzen letzten Jahre über verdrängt hatte. Es war nicht die Angst vor dem Sterben. Nein, er fürchtete sich davor alleine zu sein. Alleine mit der Angst vor der Einsamkeit allgemein und ganz speziell davor, im Krankenhaus zu liegen und niemanden mehr zu haben, der vorbeikam und ihm Mut machte.

Wieder trat ihm das Bild jenes Mannes vor Augen, der ihm vor so vielen Jahren durch sein Blut das Leben gerettet und gleichzeitig zerstört hatte. Er war schrecklich einsam gewesen, als Hanne ihn damals in der Klinik besucht hatte. Einsam mit seinen Schmerzen, den vielen Nebenwirkungen der Medikamente, der Angst vor dem Tod und all seinen anderen Problemen.

Hanne kniff die Augen zusammen und schüttelte sich, um die Szenen aus seinem Kopf zu verscheuchen.

So wollte er nicht enden. Niemals.
 

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Auch Kurt litt zunehmend unter seinem Streit mit Hanne, obwohl Lukas sich die größte Mühe gab, ihn aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen. Ständig machte er sich Vorwürfe und schreckliche Sorgen um Hanne. Ging es ihm gut? War er in Ordnung? Fragen, auf die es keine rechte Antwort gab.

Kurt war oft kurz davor, bei Hanne zu klingeln, doch dann erinnerte er sich an dessen kalte Augen und den Hass, den er ihm entgegen geschleudert hatte. Das andere war dann noch Hannes unklare Reaktion. Kurt vermutete, dass er ihm die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Es konnte aber auch gut sein, dass er ihm eine Szene machte oder sich auf ihn einließ, um sich seinen Teil der Geschichte anzuhören. Kurt wusste es nicht. Er hatte jegliche Fähigkeit verloren, Hanne einzuschätzen.

Dann versuchte Kurt sich in Hannes Situation einzufühlen. Sein gesamtes Vertrauen in ihn musste zerschla­gen worden sein. Hanne hatte sich wirklich komplett auf ihn verlassen und hätte ihm mit Sicherheit später in aller Ruhe von seiner Niere und den schlechten Blutwerten erzählt. Kurt kam sich noch ungeschickter und dümmer vor als zuvor. Wieso hatte er es nicht auf Johannes' Bitte gehört? Wieso hatte er nicht mehr auf ihn geachtet? Es war zum Verzweifeln. Die Vorwürfe brachten ihm aber jetzt im Nachhinein auch nichts mehr.

Kurt begann, sich eine gute Entschuldigung auszudenken. Einen Weg, wie er Hanne sein grobes Verhalten erklären konnte. Das einzige, worauf er aber kam, war, dass er Angst um ihn hatte und nicht wollte, dass er seine Sorgen alleine zu tragen hatte. Das war die einzig richtige Erklärung dafür. Aber die würde Hanne ihm wohl kaum glauben.



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