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Kurt das war's

von

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Ich bin schwul

X – Ich bin schwul
 

In Kurts Brust und seinem Hals war es viel zu eng, als er auf seine Mutter zuging. Wie zugeschnürt war alles. Er hatte das Gefühl, entweder flüchten oder schreien zu müssen. Irgendwie spürte er, dass in den nächsten Minuten etwas passieren würde, das er so nicht wollte. Dass die ganze Lügengeschichte mit Lukas auffliegen würde.

„Was ist?“, fragte er noch einmal und nahm wahr, dass seine Stimme viel zu leise klang, klingen musste.

„Ach, gut dass du da bist, Kurt.“, erwiderte seine Mutter und lächelte. Sie klang freundlich, doch Kurt bemerkte es nicht, da er etwas komplett anderes erwartet hatte. „Ich komme eben von Maike und sie hat mir schon erzählt, dass du...“

„Ja, sie hat die Wahrheit gesagt.“, unterbrach Kurt sie und hatte noch mehr als vorher das Gefühl, ersticken zu müssen. Dass seine Mutter nicht auf die Geschichte Lukas oder Johannes angespielt hatte, hatte er gar nicht mitbekommen.

Sie starrte ihn ungläubig und überrascht an, doch er bemerkte es nicht, weil er wegsah.

„Ich bin schwul.“ Kurt merkte, wie er immer noch so unwirklich leise klang.

„Wie jetzt?“, fragte sie irritiert und zog die Augenbrauen zusammen.

Kurt hatte das Gefühl, im völlig falschen Film zu sein. „Hast du nicht noch eben von Maike gesprochen? Hat sie es dir nicht erzählt?“

Die Augen seiner Mutter hatten sich inzwischen zu Schlitzen verengt. „Also jetzt schuldest du mir wirklich eine Erklärung, mein Lieber.“, meinte sie streng und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer zur Couch.

Kurt setzte sich zögernd. Ihm war absolut nicht wohl bei der Sache.

„Wie meinst du das – du bist schwul?“, fragte seine Mutter nun schon etwas ungehaltener, jedoch noch immer um Ruhe bemüht.

Kurt schaute auf seine Knie hinab, hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Ihm war äußerst unwohl und fühlte sich wie in einer Falle, in die er sich selbst hinein manövriert hatte. „Ich - ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“, meinte er. Kurt schluckte, als seine Mutter noch immer nichts sagte, sondern nur zu ihm schaute. „Erinnerst du dich noch an Lukas? Wir sind... zusammen, so mehr oder weniger.“

„Aber...“

Er ließ seine Mutter gar nicht ausreden. „Frieda gibt es nicht. Ich wusste selbst nicht, dass Lukas hinter ihr steckte und mich sozusagen verarscht hat. Und jetzt... sind wir so mehr oder weniger zusammen.“ Kurt biss sich auf die Lippen, bevor er weitersprach. „Und dann ist da auch noch Johannes. Er...“

„Was fällt dir eigentlich ein!?“, schrie seine Mutter jetzt. Sie war wütend, stinkwütend, und das Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben.

„Mama, bitte.“, versuchte Kurt noch, seine Mutter zu beruhigen, ihr irgendwie den Wind aus den Segeln zu nehmen, obwohl ihm bewusst war, dass es keinen Sinn machte. Verdammt, er hatte doch gewusst, wie sie reagieren würde. Warum hatte er nicht so getan, als sei nichts? Warum hatte er ihr nicht besser zugehört? Kurt schüttelte noch einmal den Kopf. „Tut mir leid, ehrlich.“
 

Kurt erhob sich von der Couch. Er musste weg von hier, wenn er nicht noch viel mehr sein blaues Wunder erleben wollte wie es schon bei Maike der Fall gewesen war.

Kurt verließ das Wohnzimmer und hörte gerade noch, wie sie ihm ein paar weitere unfreundliche beleidigende Sätze hinterher schrie. So als habe er sie nicht gehört, ging er ins obere Stockwerk, öffnete die Tür zu seinem Zimmer. „Kommst du?“, sagte er zu Lukas, der fassungslos auf dem Bett saß. Er hatte wohl mehr oder minder die ganze Unterhaltung mitbekommen.

„Was...?“ Lukas brach ab, als Kurt seine Hand nahm. „Was hast du nur getan?“, fragte er leise und hätte am liebsten nur den Kopf geschüttelt. Er ließ es zu, dass Kurt ihn mit sich zog und hörte sich mit ihm zusammen das Gezetere seiner Mutter an, als sie ihn endgültig rausschmiss und schließlich die Türe hinter ihnen ins Schloss knallte.
 

Kurts Augen brannten, als er mit Lukas auf dem Gehweg vor dem Haus seiner Mutter stand. Er bückte sich noch einmal nach dem Umschlag, den ihm seine Mutter gerade eben nach geworfen hatte und den sie ihm eigentlich von seiner Schwester hatte geben wollen. Eine Einladung zur Taufe seines Neffen, bei der er Patenonkel sein sollte.
 

„Was hast du dir dabei gedacht?“, fragte Lukas jetzt leicht ungehalten. „Du kennst sie doch und weißt eigentlich, wie sie auf so etwas reagiert. Ich hab gedacht, du hättest in den letzten paar Jahren etwas dazugelernt. Aber offensichtlich war das nicht der Fall!“

„Ich weiß. Bitte, Lukas, warte auf mich.“, murmelte Kurt kleinlaut und klammerte sich an Lukas, der sich einen Schritt von ihm entfernt hatte. Er hatte keine Ahnung mehr, was er tun sollte. Wie sollte er das wieder hinbiegen? Wie konnte er es erreichen, dass seine Mutter ihm verzieh? Hatte er sich nicht vorgenommen, sich Zeit mit seinen Erklärungen zu lassen? Hatte er denn wirklich einen Streit vom Zaun brechen wollen?

Lukas riss ihn aus seinen Gedanken. „Na, komm erst mal mit. Gehen wir heim.“ Er seufzte und klopfte Kurt aufmunternd auf die Schulter. „Weißt du, Kurt, du bist so blöde, dass es schon wieder liebenswert ist. Ich kann dir nicht böse sein.“ Lukas drückte ihn ein wenig fester an sich.
 

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Am Nachmittag des nächsten Tages lief Kurt Hanne im Treppenhaus über den Weg. Gerade nach diesem unvorteilhaften Streit mit seiner Mutter fühlte Kurt sich mieser denn je. Ständig dachte er über diese dumme Auseinandersetzung nach.
 

„Was ist denn mit dir los?“, wollte Hanne wissen. Ihm war ebenfalls Kurts Bedrücktheit aufgefallen.

„Nichts, nichts.“, log Kurt und versuchte ein Lächeln, das aber eher wie eine Grimasse wirkte.

„Jetzt sag schon.“, drängte Hanne. „Was machst du denn jetzt schon hier? Ihr wolltet doch erst nächstes Wochenende hier einziehen.“

„Meine Mutter hat mich gestern Abend rausgeschmissen.“, erzählte Kurt schließlich. „Wir hatten einen ziemlich doofen Streit.“

„Aber warum denn das?“, fragte Hanne bestürzt.

„Es war ein totales Missverständnis. Sie hat meine Schwester besucht und wollte mir eigentlich bloß eine Einladung zur Taufe meines Neffen geben. Aber ich dachte eben, dass meine Schwester ihr auch von unserem Streit erzählt hat, als ich ihr letztens gesagt hab, dass ich schwul bin. Und dann ist meine Mutter ausgerastet.“, erzählte Kurt niedergeschlagen.

Hanne berührte seinen Arm, eine kleine Geste der Verbundenheit. Er erinnerte sich noch gut daran, wie stark Kurt der Streit mit seiner Schwester mitgenommen hatte. Ihm kam auch wieder das indirekte Geständnis in den Sinn, das er so deutete, dass Kurt sich möglicherweise in ihn verliebt hatte. Hanne seufzte, drückte noch einmal kurz den Arm seines Freundes. „Soll ich mit ihr reden?“, bot er an.

„Ja nicht!“, wehrte Kurt ab. Die Angst vor seiner eigenen Mutter spürte jetzt sogar Hanne und er fragte sich nach dem Grund. Er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, Angst vor seiner Mutter zu haben. Lag es vielleicht daran, dass die beiden ohnehin ein schlechtes Verhältnis zueinander hatten? Oder hatte er Angst davor, etwas Falsches zu ihr zu sagen? Oder fürchtete er ihre Reaktionen auf sein Handeln wirklich so sehr? Was war so fürchterlich daran, mit der eigenen Mutter zu reden?

Hanne schwor sich, trotz allem mit Kurts Mutter zu sprechen. Kurt war kein schlechter Kerl und es musste ja schließlich einen Weg geben, die beiden wieder zusammen zu bringen und die Wogen zumindest ein bisschen zu glätten. Natürlich gab es immer wieder Eltern, die mit der Sexualität ihrer Kinder nicht klar kamen, aber diese Ablehnung konnte doch wohl kaum für die Ewigkeit bestehen bleiben.

Wenn Hanne recht überlegte, hatte er seinem Vater eigentlich niemals direkt von seiner Homosexualität erzählt, vielleicht auch deswegen, weil er sich damals nie und nimmer selbst als schwul bezeichnet hätte. Weil ihm die Beziehung so natürlich erschienen war, es ihn selbst einfach nicht gestört hatte, dass der Mensch, mit dem er Zärtlichkeiten austauschte, ebenfalls männlich war. Trotzdem hatte sein Vater davon gewusst, er hatte sogar oberflächlich von der intimen Beziehung gewusst, die Hanne damals hatte. Doch es war niemals zu einer Aussprache oder gar einem Streit gekommen. Vieles war früher ungesagt geblieben, auch das. Das einzige, worüber er sich mit seinem Vater gestritten hatte, war Sex im Allgemeinen gewesen und auch das nur wegen seiner HIV-Infektion. Ihm war es niemals darum gegangen, welches Geschlecht sein Sohn bevorzugte, vielleicht, weil es ihm ganz einfach als unwichtig erschien. Vielleicht sah er es auch nur als einen weiteren Schlag in die Magengrube an.

Johannes wurde klar, wie glücklich er sich hatte schätzen können.
 

Auch Lukas sorgte sich um Kurt. Ihm war klar, dass Kurt unter dem Streit vom Vortag mehr litt, als er es nach außen hin zeigte.

Es war genauso wie damals, als sein Vater ausgezogen war. Kurt hatte zuerst überhaupt nicht damit umgehen können, dass sein Vater nicht mehr bei ihm lebte. Außerdem hatte Kurts Mutter schon damals ihre übertriebene Fürsorge für Kurt entwickelt.

Noch eine Situation fiel ihm auf Anhieb ein: Kurts Mutter hatte ihn früher schon oft gezwungen, sich die Haare kurz schneiden zu lassen, obwohl Kurt sehr viel an seinen Haaren lag. Natürlich hatten die langen fettigen Dinger früher oft scheußlich ausgesehen, doch seit Kurt mehr auf sie achtete, konnte man nicht mehr behaupten, sie seien ungepflegt. Manchmal hatte Lukas das Gefühl gehabt, Gertrud wolle ihren Sohn in einen Rahmen stecken, den sie für ihn geplant hatte. Einen Rahmen, in den Kurt niemals passen wollte.

Obwohl die Situation eigentlich zum Heulen war, musste Lukas plötzlich lächeln. Gerade diese eigensinnige störrische Seite, mit der sich Kurt schon immer gegen seine Mutter gestemmt hatte, war es doch gewesen, die ihm von Anfang an so an seinem besten Freund gefallen hatte. Und letzten Endes hatte genau das und Kurts ehrliches Lachen dazu beigetragen, dass er sich in ihn verliebt hatte.
 

Lukas schüttelte den Kopf.

Die Szenen von gestern waren wieder mal ganz typisch gewesen. Kurts Versuch auszubrechen und seine Mutter, die ihn mit aller Kraft bei sich behalten wollte. Es war aussichtslos. Zum einen wegen Kurt, der inzwischen eine stille unterschwellige Angst vor der eigenen Mutter entwickelt hatte und sich außerdem durch seine Schuldgefühle selbst zusetzte. Zum anderen wegen der Mutter, die sich weigerte ihren Sohn gehen zu lassen. Kurt würde ohne Hilfe niemals loskommen und für immer unter ihr und seinen beißenden Schuldgefühlen leiden. Aber wie sollte Lukas helfen? War das eigentlich möglich?
 

Lukas wandte sich um, als er Kurts Schritte hörte. Er lächelte seinen neuen Mitbewohner sogar an, doch dieses Lächeln erstarb wieder, als Kurt nicht darauf reagierte.

„Jetzt sag mir doch endlich, was los ist.“, sagte Lukas wieder, suchte Kurts Augen, die er allerdings bewusst abwandte. Er ging sogar wieder in die Hocke, um eine weitere Umzugskiste zu öffnen.

„Nichts, wirklich. Nur ein bisschen müde.“, log Kurt. Genauso, wie schon die Male davor.

„Verdammt, Kurt. So geht das nicht weiter!“, rief Lukas ungehalten.

Kurt schrak zusammen, hielt inne und drehte sich nun sogar zu Lukas um.

„Vergiss die Alte doch endlich!“, sagte Lukas ärgerlich. Es tat ihm leid, eben so laut geworden zu sein. „Das war doch die ganze Zeit über dein Ziel, oder? Von zu Hause auszuziehen und mit jemandem zusammen wohnen, den du magst. Und jetzt, wo du es hast, bläst du Trübsal. Das ist doch traurig, hm?“, fuhr er fort und ging jetzt auch neben Kurt in die Hocke, drückte seine Hand.

„Es ist nicht so einfach.“, erwiderte Kurt und zog seine Hand aus der von Lukas. „Natürlich wollte ich von zu Hause ausziehen. Aber jetzt hab ich einfach das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Verstehst du? Ich kann einfach nicht so ausziehen, wenn ich merke, wie ich meine Mutter und andere verletze.“

Lukas schüttelte den Kopf. „Überleg doch mal, was sie mit dir gemacht hat. Sie hat dich wie ein Kleinkind behandelt und dir ständig ihren Willen aufdrücken wollen. Denk doch einmal an dich!“

„Aber es stimmt doch, was sie sagt: ich bin ein Egoist. Ich habe bisher immer eher an mich selber gedacht.“

„Wach auf, Kurt!“, rief Lukas. „Du wolltest es doch immer so, wie es jetzt ist! Klar, du magst deine Mutter. Aber was bringt es dir, wenn du selber viel mehr leidest? Du wirst noch verrückt, wenn du weiterhin im Kreis läufst und dir selber Schuldgefühle einflößt. Es ist doch nur normal, dass du dich abnabeln willst, Kurt, nicht wahr?“ Wieder legte er seine Hand auf Kurts Arm.

Kurt legte schutzsuchend sein Gesicht in seine Hände. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Der Zwiespalt, in dem er gerade steckte, war ihm noch niemals so bewusst gewesen. Natürlich hatte Lukas recht und es würde ihm gut tun, einfach von zu Hause auszuziehen. Kurt seufzte leise und spürte wieder, wie Lukas seine Haare streichelte. „Was soll ich denn machen?“

„Ganz einfach. Geh zu deiner Mutter zurück, wenn du das willst und entschuldige dich bei ihr, dass du auf Kerle stehst bist. Und wenn nicht, bleibst du einfach hier.“ Lukas ließ jetzt seine Hand völlig still auf Kurts Kopf liegen. „Also?“

„Ich bleib hier.“

Lukas lächelte, da er sich genau diese Antwort so sehr gewünscht hatte.
 

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Hanne setzte seine Pläne in die Tat um und klingelte noch am selben Tag bei Kurts Mutter. Während er wartete, kamen ihm dann doch Zweifel. War es in Ordnung, wenn er sich in Kurts Familienangelegenheiten einmischte?

Eine Frau mit weiblicher Figur und dunklen Locken, sie mochte ungefähr fünfzig sein, öffnete schließlich die Tür. „Hallo.“, sagte sie. Als Hanne nichts erwiderte, meinte sie: „Sie wollen sicher zu meinem Sohn. Der ist aber leider gestern umgezogen nach drei Querstraßen weiter.“ Sie wollte schon die Türe zumachen, aber Hanne schob rechtzeitig seinen Fuß dazwischen.

„Halt!“, meinte er und lächelte. „Sie haben schon recht. Ich gehöre tatsächlich zu Kurt, aber heute wollte ich eigentlich zu Ihnen. Ich bin Johannes Theimel.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

Langsam erinnerte sich Gertrud dunkel. Hatte Kurt nicht auch von einem Johannes gesprochen? Sie musterte den jungen Mann noch einmal eingehend und kam zu dem Schluss ihn tatsächlich noch nie gesehen zu haben. „Ich bin Gertrud, die Mutter von Kurt.“, stellte sie sich schließlich vor und drückte kurz die angebotene Hand. „Kommen Sie doch rein.“
 

„Also, was führt Sie zu mir?“, fragte Gertrud freundlich.

„Ich wollte mit Ihnen über Ihren Sohn reden. Kurt, er ist so... ja, zerbrechlich könnte man sagen. Ich mag ihn sehr, wissen Sie?“, fing Hanne zögerlich an.

Gertruds Augen verengten sich, als Hanne Kurts Namen in den Mund nahm. Sie sagte aber nichts, sondern ließ ihn weiterreden.

„Er hat mir viel geholfen und ist bestimmt kein schlechter Kerl. Ich weiß nicht, wie viel er über mich erzählt hat, aber ich denke, Sie wissen, dass ich ziemlich krank bin, oder?“

„Was wollen Sie eigentlich von mir?“, fragte sie schon weniger freundlich. Sie hatte keine Ahnung, was dieser fremde junge Mann erreichen wollte, konnte auch nichts damit anfangen, dass er scheinbar krank war.

Hanne seufzte kaum hörbar. „Schauen Sie, ich habe meine Mutter bei einem Unfall verloren. Ich will nicht, dass Kurt das gleiche passiert wie mir. Natürlich, Sie wären nicht ganz weg. Aber ich will nicht, dass er so etwas einfach wegwirft.“

„Das tut mir wirklich sehr leid mit Ihrer Mutter, aber ich verstehe noch immer nicht ganz, was Sie damit ausdrücken möchten.“

Hanne schwieg für eine Weile. „Kurt mag Sie sehr.“, begann er dann und wog jedes Wort sorgsam ab. „Aber ich glaube, Sie engen ihn zu sehr ein. Das macht die Geborgenheit zu einer Art Käfig für ihn. Und er hat Angst vor Ihnen. Wieso, weiß ich nicht, aber vielleicht, weil er Sie nicht verletzen will. Er will sich ein eigenes Leben aufbauen, so wie ich. Ich lebe seit fast acht Jahren alleine. Meine Familie ist kaputt. Seit ich hierher umgezogen bin, habe ich nur noch sehr unregelmäßig Kontakt zu meinem Vater. Aber trotz allem mag ich mein Leben so, wie es jetzt ist. Kurt ist einfach erwachsen geworden. Sie können ihn nicht für immer an sich ketten, sonst würgt er sich selbst ab. Wir kennen uns jetzt seit zwei Monaten und ich merke jetzt schon, wie er sich selber quält.“

Gertrud nickte. Einige Sätze des jungen Mannes hatten Ähnlichkeit mit denen, die sie von ihrer Freundin Gerda einmal gesagt bekam. 'So werdet ihr euch nie vertragen', hatte sie damals gesagt. „Ja, ich denke, Sie haben recht.“, meinte sie. „Dasselbe sagte mir auch meine Freundin. Ich weiß, dass Sie beide im Recht sind, aber es fällt mir schwer. Ich will das alles nicht. Ich will, dass er bei mir bleibt. Verstehen Sie?“

In Hanne fing es an zu brodeln. Natürlich, jede Mutter liebt ihr Kind. Aber das ging zu weit und war schlichtweg egoistisch. Sie schien nur an sich selbst zu denken. „Bitte, hören Sie auf, ihm so Druck zu machen. Er ist nicht mehr der kleine Junge, dem Sie alles hatten sagen können. Er ist jetzt selber alt genug.“, wiederholte Hanne mit ruhiger Stimme.

Dann, nach längerem Schweigen, fügte er hinzu: „Ich weiß, dass das, was er mit Ihnen gemacht hat, alles andere als okay war. Er hat sich oft mit Ihnen gestritten und das wahrscheinlich auch nicht immer auf die fairste Art und Weise. Aber das war sein Weg, von Ihnen fort zu kommen. Sie sollten aber vielleicht auch einmal seine Seite sehen: Sie behandeln ihn wie einen Dreijährigen!“

„Jetzt ist aber gut!“, unterbrach Gertrud ihn. „Sie brauchen sich nicht zu verantworten. Das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Und Sie brauchen ihn auch nicht in Schutz zu nehmen.“

„Sie wollen das doch gar nicht hören, was!?“, schrie Hanne sie wutentbrannt an. Bei ihm war endgültig das Maß voll, obwohl er eigentlich immer recht viel Geduld aufbrachte. „Er stirbt schon seit was weiß ich wie vielen Jahren Tausende von Toden, aber Ihnen ist das scheißegal! Er frisst alles in sich rein. Ich kenne ihn garantiert nicht lange genug, um Ihnen Vorträge zu halten und ich bin auch sicher kein Psychologe, aber ich habe jeden Tag so viel mit Leuten zu tun, dass ich gewisse Verhaltensweisen zuordnen kann! Und ich versichere Ihnen: so wie Kurt sich verhält, ist sicher nicht gesund!!“

Hanne war ohne es zu wollen ziemlich laut geworden. Jetzt sah er sie zufrieden an und wartete auf eine Antwort. Er bereute nichts von dem, was er gesagt hatte. „Er ist noch immer mein Sohn.“, sagte Gertrud grollend.

„Ja“, erwiderte Hanne aufgebracht, „Ihr Sohn, aber nicht Ihr Eigentum! Er ist volljährig und hat auch die nötige geistige Reife, so zu leben, wie er es möchte. Sie können ihm nicht ewig Ihren Willen aufzwingen. Und was glauben Sie, wieso ich mir das hier eigentlich antue? Weil mir etwas an ihm liegt!“

Als er wieder keine Antwort bekam, sagte er: „So, ich denke, das reicht jetzt. Denken Sie mal über das nach, was ich da gesagt habe.“ Er klang schon wieder versöhnlicher, lächelte ihr sogar entgegen. Es war nichts von der Härte von vor einer Minute geblieben. Seine Gesichtszüge lagen wieder weich und friedlich.

„Warten Sie!“ Gertrud folgte ihm. „Sagen Sie Kurt bitte, dass es mir leid tut.“

„Das wird er mir nicht glauben. Sagen Sie es ihm doch selbst.“ Wieder lächelte er. „Tschüss.“
 

Hanne war zufrieden als sich die Haustüre hinter ihm schloss. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass sie wirklich über alles nachdachte. Er würde Kurt nichts von seinem kleinen Besuch erzählen; das fand dieser besser selbst heraus.



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