Kurt das war's von Lotos ================================================================================ Kapitel 6: Wie die Indianer --------------------------- VI – Wie die Indianer Nach der Arbeit machte sich Kurt am Montag auf den Weg zu Hanne, der ja schließlich selbst gesagt hatte, dass er wiederkommen sollte. Mittlerweile konnte Kurt sich sogar darüber freuen, dass die Wogen zwischen ihnen offenbar ein wenig geglätteter waren. „Hi.“, sagte Kurt leise, als er den Raum betrat. Hanne antwortete nicht. Er schlief tief und fest. Scheinbar ging es ihm wieder besser, da seine Wangen eine schöne rosige Farbe angenommen hatten. Kurt legte seine Jacke ab und trat näher an Johannes Bett heran. Eingehend betrachtete er ihn und versuchte sich auszumalen, was ihn gestern und vorgestern dazu gebracht haben könnte, so zu schreien. Im Grunde genommen wirkte Hanne friedlich. Er hatte ein relativ harmonisches Gesicht, wenn auch immer ein bisschen blass. Außerdem hatte er eher einen zierlichen Körperbau, was allerdings vor allem Veranlagung war, da in Hannes Gliedern eine Menge Kraft steckte, die immer dann zum Vorschein kam, wenn er wütend war. Kurt bemerkte jetzt, wo er Hanne zum ersten Mal richtig ungestört mustern konnte, auch, dass er Sommersprossen auf den Wangen hatte. Wohl nur ganz blass, aber dennoch erkennbar. Kurt wollte gerade Hannes Stirn berühren, um zu prüfen ob er noch Fieber hatte, als Johannes schließlich die Augen aufschlug. „Oh. Hi.”, murmelte Kurt. „Ich bin eben erst gekommen.“ Hanne drehte seinen Kopf jetzt vollständig zu Kurt. „Hi.“, erwiderte er und lächelte. Kurt musste ebenfalls lächeln. „Schön, dass du dich wieder besser fühlst.“ Hannes Lächeln verschwand und sein Blick wurde kalt. Er zuckte mit den Schultern. „Hab ich was Falsches gesagt?“, erkundigte sich Kurt verwirrt, da er sich Hannes Stimmungsumbruch beim besten Willen nicht erklären konnte. Er hatte eben doch noch gelächelt. „Du kannst eigentlich gleich wieder verschwinden!“, zischte Hanne jetzt und rückte ein bisschen weiter zur Wand hin um den Abstand zu Kurt zu vergrößern. „Du scheinst genauso ein Heuchler zu sein, wie der Rest auch. Ich brauch dich nicht. Verzieh dich!“ Kurt verstand noch immer nicht, was er hatte und fragte verstört: „Wieso sagst du das? Gerade eben war doch alles noch in Ordnung, oder?“ „Weil ich dich nicht mehr sehen will! Du bist doch sowieso nur hier, um dein Gewissen zu beruhigen. Sobald ich hier aus der Klinik entlassen werde, verschwindest du wieder und willst mich nicht mal mehr gekannt haben. Mir reicht's! Geh!!“, schrie er Kurt nun schon wieder an. Hanne hatte sich außerdem in seinem Bett aufgesetzt und hatte einen ziemlich roten Kopf vom Schreien. Plötzlich kapierte Kurt. Hanne dachte wohl, er habe Vorurteile wegen dieser dummen Krankheit. „Jetzt pass mal gut auf.“, sagte er deshalb und ging entschieden zu der kleinen Nasszelle des Zimmers. Irgendwo musste schließlich ein Rasierer mit Klingen herumliegen. Kurt wurde recht schnell auf einem Regal fündig und nahm den Einwegrasierer an sich. Er kehrte zu Johannes zurück, der ihn nach wie vor anstarrte, und ritzte sich mit den Klingen vor dessen Augen in den Daumen, sodass etwas Blut heraus quoll. „Einmal.“, murmelte er ohne eine Miene zu verziehen. Tatsächlich spürte er vor lauter Ärger über Johannes den brennenden Schmerz kaum. Dann griff er nach Hannes Hand und zog auch bei ihm den Kopf des Rasierers waagrecht über den Daumen, sodass die Haut aufriss. „Au!“ Hanne verzog das Gesicht. „Bist du noch ganz sauber!?“, rief er vorwurfsvoll. Kurt antwortete nicht, sondern drückte Hannes Daumen zusammen, damit sich ein größerer Tropfen Blut ansammelte. Er drückte seinen Schnitt gegen den von Hanne. Das Blut verschmierte leicht auf seiner Haut. „Wenn das der einzige Weg ist, dir zu zeigen, dass ich dir nichts vormache, dann eben so.“, sagte Kurt ernst und blickte dabei fest in Hannes blasses Gesicht und seine entsetzten Augen. Hanne hatte sich schnell wieder gefangen und zog seine Hand zurück. Dann verpasste er Kurt eine schallende Ohrfeige. „Spinnst du!?“, brüllte er ihn an. „Weißt du, was du da gemacht hast? Du hast gerade dein Todesurteil unterschrieben!“ Er packte Kurts Arm und zog ihn zum Waschbecken und wusch den Daumen aus. Wenn etwas von seinem Blut drinnen bliebe, würde sich auch Kurt anstecken. Durch die Resistenz war seine Viruslast nach wie vor erhöht. Kurts Infektion konnte er unmöglich verantworten. Obwohl das Wasser in seinem Daumen brannte und Hanne auch nicht besonders vorsichtig war, sagte Kurt nichts deswegen. Er ließ alles über sich ergehen und hörte sich danach Hannes Schimpfen an, aus dem neben Wut und Ärger auch Sorge sprach. Immer wieder fragte Hanne ihn, weshalb er es getan hätte. „Ich sagte doch, dass ich keine Angst habe, oder? Und wenn das die einzige Möglichkeit war, es dir zu beweisen, dann sollte es mir egal sein. Wenn du mich wie Dreck behandelst, kann ich ja auch genauso gut verrecken.“, antwortete Kurt schließlich. Hanne hatte ihm zuvor keine Möglichkeit dazu gegeben, sondern hatte ununterbrochen seinem eigenen Ärger Luft gemacht. Hanne hatte Kurts Hand in seinen Schoß gelegt und machte gerade ein Pflaster um den Schnitt. „Du bist echt saudumm. Schmeißt dein Leben für mich weg. Keiner kann sagen, wie lange man mit den Viren im Blut leben kann. Aber es ist klar, dass ich nicht besonders alt werde.“ Er begann zu weinen. Jeder Wirkstoff, der nicht mehr anschlug, grenzte die Therapiemöglichkeiten und die Kombinationspräparate ein. Und damit zog sich auch die Schlinge ein paar Millimeter weiter zu. Vorsichtig schaute er zu Kurt, der ihn nachdenklich und besorgt ansah. „Na ja, ich würde sagen das klingt doch nach einer langen Zeit, oder? Aber du glaubst mir jetzt. Das ist die Hauptsache.“, versuchte Kurt ihn zu trösten. Er nahm seine Hand von Hannes Schoß und strich ihm stattdessen beruhigend über den Rücken. Hanne überging das ganze, schob Kurts Hand von sich, wischte dann die Tränen weg und wandte sich schließlich wieder zu Kurt um. „Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit deine Infektion zu verhindern.“, meinte er nüchtern. „Los, wir sollten uns kurz zu Dr. Müller setzen.“ Johannes erhob sich wieder, zog einen Klinikbademantel über. Außerdem schlüpfte er in ein Paar Klinikschlappen, die am ehesten als Kunststoff-Badelatschen zu bezeichnen waren. Kurt folgte Hanne, als dieser mit eiligen Schritten den Flur hinunter ging und schließlich vor dem Sprechzimmer des Arztes stehen blieb und anklopfte. „Herein?“, rief jemand von drinnen und Johannes stieß die Tür auf. Man konnte ihm die Anspannung deutlich ansehen. „Hallo.“, meinte er nur. „Können wir kurz mit Ihnen etwas besprechen?“ Dr. Müller klappte die Patientenakte zu, in der er gerade etwas eingetragen hatte. „Sicher. Setzen Sie sich doch.“, meinte er dann. Johannes schien es nicht im geringsten unangenehm zu sein, nur in Klinikhemd, Bademantel und seinen lächerlichen Klinikschlappen im Sprechzimmer eines Arztes zu stehen und ein Gespräch einzufordern. Er schien es viel mehr gewohnt zu sein, so etwas zu tun. Oder er war dermaßen selbstbewusst, dass er sich ganz einfach nicht an diesen Umständen störte. Kurt ließ sich erst neben ihn sinken, als Hanne seine Beine übereinander schlug und damit begann, Dr. Müller von dem Vorfall von eben zu erzählen. „Wie schon gesagt habe ich wohl versucht, das Blut auszuwaschen, aber ich habe eine hohe Viruslast im Moment. Ich möchte sicher gehen, dass auch wirklich keine Infektion stattfindet.“, schloss Hanne schließlich und ließ sich in seinem Stuhl zurück sinken. Kurt war ziemlich beeindruckt, da er vieles davon, was Johannes über Viruslast oder HAART gesagt hatte, nicht einmal annähernd verstand. „Sind Sie sich wirklich sicher, dass Blut eingedrungen ist?“, fragte Dr. Müller nun wieder. „Ich denke schon. Schauen Sie.“ Hanne löste sein Pflaster ab und zeigte Dr. Müller den Schnitt, der nach wie vor leicht blutete. „Der Schnitt sieht bei ihm genauso aus.“ Schließlich bot Dr. Müller Kurt eine medikamentöse Präventivtherapie an, die aus starken Kombinationspräparaten bestand, wie Johannes sie nahm. Er würde noch am selben Tag damit beginnen und die Medikamente aus der Klinikapotheke holen müssen. Das ganze würde etwa vier Wochen dauern, bei Erbrechen musste er die Einnahme wiederholen und sich eventuell sogar untersuchen lassen, wenn sich die Übelkeit nicht legen würde. Kurt schluckte, als Dr. Müller die Nebenwirkungen erwähnte, mit denen sich auch Johannes arrangieren musste: Kopfschmerzen, Übelkeit, Appetitverlust, Hautausschlag, eventuell vorübergehend schlechtere Leber- und Nierenwerte im Blutbild. Kurt sah Johannes an, als dieser ihn am Arm berührte. „Ich denke, das wäre sinnvoll, Kurt, oder?“, meinte er und Kurt hörte wieder diesen bestimmenden Ton in seiner Stimme, obwohl er jetzt sehr leise sprach. „Du hast recht, Hanne.“ Kurt nickte mit einem unguten Gefühl im Magen. Dr. Müller erwähnte noch einmal, dass diese Schnittverletzung keineswegs eine Infektion bedeuten musste, da die Wunde sofort gesäubert wurde und es vorgeschrieben war, die Therapie anzubieten. „Nein. Ich möchte diese Prophylaxe machen.“, erwiderte Kurt nur. Eine andere Antwort hätte Johannes wahrscheinlich ohnehin nicht geduldet. Johannes verließ mit ihm wieder den Raum. Er war noch immer sauer, hatte es allerdings während des Gesprächs unterdrückt. „Das hab ich dir aber auch raten wollen, die Medikamente anzunehmen! Siehst du jetzt eigentlich, was du da angerichtet hast?“, fragte Hanne und fuhr zu Kurt herum, als dieser die Tür zugezogen hatte. „Es tut mir leid, Hanne, wirklich.“, entschuldigte Kurt sich kleinlaut. Er erschrak einmal mehr über die Wut, die Johannes ihm entgegen schleuderte. „Davon wird es auch nicht mehr anders. Du gehst jetzt sofort runter zur Apotheke und holst dir diese Medikamente. Dann kommst du wieder her und schluckst hier die erste Dosis. Ich will sehen, dass du das Zeug auch einnimmst!“ Hanne klang schon wieder so bestimmt, dass Kurt es nicht wagte zu widersprechen. „Du weißt wirklich nicht, was du für ein Holzkopf bist. Ich hätte gute Lust, dir den Hals umzudrehen!“ Kurt verließ das Krankenzimmer und ging zur Apotheke des Krankenhauses, wie Johannes es gesagt hatte. Er kaufte die unscheinbaren Packungen und kehrte damit wieder zu Johannes zurück. Ihm fiel außerdem auf, dass eines der Präparate sogar denselben Namen trug wie das Medikament, das er bei Johannes gesehen hatte. Hanne saß mit ziemlich störrischem Blick auf seinem Krankenbett als Kurt zurückkehrte und reichte ihm wortlos eine ungeöffnete Flasche Mineralwasser, als er die erste Dosis der Medikamente einnahm. „Ich hoffe, dass dir das hier jetzt im Gedächtnis bleibt, Kurt.“, meinte er nur und hatte noch immer diesen unterschwellig drohenden Tonfall in der Stimme. Kurt nickte nur und schluckte schließlich die Tabletten hinunter. Vor dem Abendessen würde er die nächste solche Dosis schlucken, die nächsten vier Wochen dann morgens und abends immer vor den Mahlzeiten. Kurt gruselte inzwischen vor allem, was heute auf ihn zugekommen war, als er schließlich die Flasche zuschraubte. Er zuckte zusammen, als Johannes ihn wieder ansprach, allerdings diesmal ohne diesen merkwürdigen wütenden Tonfall. „Ich bin wirklich froh, dass es heute die Möglichkeit gibt, eine HIV-Infektion schon vor ihrem eintreten zu therapieren und sie so vielleicht sogar abzuwenden. Hast du eigentlich verstanden, was ich mit Dr. Müller geredet hab? Ich weiß, dass ich manchmal ein bisschen dazu neige, ins Fachchinesisch abzurutschen. Das ergibt sich eben so, wenn man sich mit einem medizinischen Thema oft auseinandersetzt. Wenn du Fragen hast, darfst du sie gerne stellen, Kurt.“, bot Johannes an, der sich inzwischen wieder zu Kurt umgewandt hatte. Er klang wirklich wieder völlig normal und lächelte sogar. So, als habe er vor kurzem nicht noch innerlich vor Wut gekocht. Kurt traute dem Braten nicht ganz und schwieg zunächst. Er hatte tatsächlich sehr viele Fragen an Johannes, da er rein gar nichts von dem verstanden hatte, was er und der Arzt besprochen hatten. Und jetzt bot Hanne ihm sogar von sich aus an, über die Krankheit zu sprechen. Eine einmalige Chance vielleicht, wenn Johannes Stimmung vorwiegend so war, wie die vergangenen zwei Tage. Kurt raffte sich auf und schluckte ein letztes Mal. „Was sind das für Medikamente, die du da einnehmen musst? Wo setzt das Zeug an und wie wirkt es? Und was hat diese Resistenz zu bedeuten?“ Hanne lächelte nicht mehr, sondern nahm einen ernsteren Gesichtsausdruck an. „Setz dich erstmal zu mir, Kurt.“, meinte er und rückte ein bisschen zu Seite. Er fuhr erst fort, als Kurt seinem Angebot gefolgt war. „Eigentlich ist das ganze gar nicht so kompliziert, wenn man sich klar macht, wie sich das Virus in mir drin verhält. Es braucht wie alle anderen Viren auch sogenannte Wirtszellen, um sich zu vermehren. In dem Fall ist das eine bestimmte Gruppe Immunzellen. Das Virus dringt in die Zelle ein und verschmilzt sein Erbmaterial mit dem von mir. Dadurch wir die Zelle dazu gebracht, ihren Stoffwechsel so zu ändern, dass neue HI-Viren produziert werden. Irgendwann sind es dann so viele Viren, dass sie freigesetzt werden und die Zelle stirbt. Danach sind dann die vielen Viren im Blut und suchen sich eine neue Zelle, die sie als Wirt missbrauchen können. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass so das Immunsystem mit der Zeit stark geschädigt wird. Irgendwann ist das Immunsystem dann so schwach, dass es seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Man wird schneller krank und irgendwann können selbst ganz schwache Keime, die ein gesunder Mensch nicht spürt, schwere Infektionen auslösen. Mein Immunsystem kämpft wohl in gewisser Weise gegen die Viren, kommt aber kaum nach, weil die Viren sich so irrsinnig schnell vermehren und in den Immunzellen sitzen und sie lahm legen. Deswegen sind die Medikamente so wichtig. Durch sie wird diese Kette durchbrochen und das Virus verliert zum Beispiel die Möglichkeit, in eine Zelle einzudringen oder auch, sich in ihr drin zu vermehren. Bevor ich die Resistenz jetzt entwickelt habe, hatte ich eine gut funktionierende Therapie. Bei Tests konnte kaum mehr eine HIV-Infektion festgestellt werden. Bei dir liegt jetzt das Ziel der Medikamente darin, dass die Viren in dir getötet werden, bevor sie sich stark genug vermehren können, daher hast du auch eine sehr hohe Dosierung.“ Kurt nickte und ließ seinen Kopf hängen. In ihm war alles noch diffuser geworden. Hannes Erklärungen verunsicherten ihn stark, da er erst ganz langsam verstand, was dieses Virus war und was es in ihm tun würde, würde die Infektion sich durchsetzen. Plötzlich spürte er, wie Hanne seine Haare streichelte. „Es ist gut möglich, dass dir erstmal schlecht wird, wenn du die Medikamente nimmst. Du musst bedenken, dass sie ziemlich in deinen Körper eingreifen. Deswegen habe ich mich auch übergeben, als ich vorgestern dieses neue Präparat mit dem anderen Wirkstoff bekommen hatte. Ich hab über Nacht eine Infusion angehängt bekommen. Inzwischen geht es mir wieder gut, weil ich mich diesmal recht schnell an die neue Kombination gewöhnen konnte. Und es ist auch wirklich unheimlich wichtig, dass du die Medikamente so einnimmst, wie es dir Dr. Müller erklärt hat. Auch wenn sich das ziemlich drastisch anhört, ist das die einzige Chance, deine Ansteckung zu verhindern. Hörst du?“ Kurt nickte wieder und wollte fragen, was geschehen würde, wenn die Medikamente irgendwann keine Wirkung mehr hätten, sich also eine weitere Resistenz bildete, doch er wagte es nicht, weil er Johannes plötzlichen Frieden nicht kaputt machen wollte. Er genoss es sehr, dass Hanne ihn ein wenig kraulte. Die Berührung spendete eine Menge Trost und wirkte sehr beruhigend. Vorsichtig zog Kurt seine Beine an, um seinen Kopf auf die Knie zu betten. Johannes jedoch legte einen Arm um ihn und zog ihn jetzt zu sich. „Mach dir keine Sorgen, Kurt.“, meinte er. „Du solltest dich aber vielleicht trotz der Therapie testen lassen, ob du nicht doch HIV-positiv bist. Das geht etwa sechs Wochen nach dem Viruskontakt und ist eigentlich nur eine Blutabnahme, die dann zum Labor gegeben wird. Wenn du möchtest, können wir auch zusammen hingehen.“, erklärte er. „Versteh mich nicht falsch, Kurt. Ich möchte nur sicher sein, dass ich dich nicht angesteckt hab.“ „Ja, sicher.“, erwiderte Kurt nur. Johannes sanfter Sinneswandel kam ihm noch immer merkwürdig vor, da er ihn nun schon so oft als Nervenbündel erlebt hatte. „Gut. Ich möchte dich wirklich nicht rausschmeißen oder so, aber ich würde mich jetzt gern ein wenig ausruhen, Kurt.“ Er ließ Kurt los, damit dieser aufstehen konnte. Als Kurt gerade in seine Jacke schlüpfte, kam Hanne noch einmal zu ihm rüber. „Würdest du mir noch einen Gefallen tun, Kurt?“, fragte er. „Könntest du vielleicht zu mir gehen und mir ein bisschen Kleidung herbringen? Du kannst dir bestimmt denken, wie furchtbar dieses Ding hier ist.“ Er zupfte am Ärmel seines Krankenhaushemdes herum. „Sicher.“, antwortete Kurt. Es verwunderte ihn noch immer, wie umgänglich Hanne auf einmal war. „Gut. Am besten packst du mir etwas Unterwäsche und noch zwei bequeme Hosen und ein paar T-Shirts ein. Das findest du alles in der Kommode oder im Kleiderschrank. Und vom Bad kannst du noch meine Zahnputz- und Rasiersachen nehmen, vielleicht noch ein Handtuch.“ „Brauchst du auch noch Schuhe oder so?“ „Nein. Es reicht, wenn du mir dicke Socken einpackst. Die findest du auch in der Kommode. Und vielleicht könntest du mir auch noch das Getreidekissen mitbringen? Das müsste unter der Bettdecke liegen.“ „Getreidekissen?“ Kurt zog die Brauen zusammen. „Zu was brauchst du das denn?“ „Ich hab Krämpfe im Bauch. Die Wärme tut gut.“, erwiderte Hanne. Dann ging er zu dem schmalen Kleiderschrank im Zimmer, ging in die Hocke und zog seinen Schlüsselbund hervor. Er löste für Kurt zwei Schlüssel und erklärte ihm anschließend, dass einer der beiden für die Haustür, der andere für die Wohnungstüre sei. Kurt verabschiedete sich mit einem leichten Händedruck von Hanne und versprach außerdem, die Sachen noch am gleichen Tag vorbeizubringen. Ihm war durchaus bewusst, was für ein enormer Vertrauensbeweis es war, dass Johannes ihm überhaupt seine Schlüssel überlassen hatte. Und er würde Johannes mit Sicherheit keinen Anreiz bieten, ihm genau dieses Vertrauen wieder zu entziehen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kurt machte sich sofort auf den Weg zu Hanne. Er packte ihm wie versprochen Unterwäsche, Kleidung, ein Badetuch, die dicken Socken und schließlich noch das Getreidekissen vom Bett ein. Danach ging er zum Badezimmer und nahm von dort seine Zahnputzsachen und das Rasierzeug. Schließlich kehrte Kurt wieder zum Schlafzimmer zurück und legte alles in Johannes Tasche. Erst jetzt fielen ihm die Photos auf der Kommode richtig auf. Es waren insgesamt drei Aufnahmen, mit denen Hanne wahrscheinlich Erinnerungen verband. Vorsichtig nahm er ein Photo in die Hand, auf dem wahrscheinlich Johannes Familie zu sehen war. Er selbst war noch ziemlich klein und hatte fuchsrotes Haar und ein paar Sommersprossen. Heute waren seine Haare ja eher rotblond, was er wohl von seiner Mutter hatte. Kurt musste lächeln, weil das gesamte Photo sehr harmonisch wirkte. Das nächste Photo, das seine Aufmerksamkeit anzog, stammte wahrscheinlich von einem Sommerurlaub. Diesmal war Johannes älter, vielleicht sechzehn. Wie auf dem ersten Bild auch, hatte er einen Arm um seine Schwester gelegt und lachte mit ihr zusammen. Im Hintergrund waren griechische Windmühlen und einige Ziegen. Beim letzten Photo hatte Hanne mit Kugelschreiber auf den unteren Bildrand „Sven, 1997“ geschrieben. Demnach musste Johannes damals etwa achtzehn gewesen sein. Er schien wirklich gerne zu lachen und Leute zu umarmen, da er das auch auf diesem Photo tat. Hier hatte er sogar beide Arme um den anderen Jungen, Sven, gelegt, den er strahlend anlächelte. Die beiden hatten sich wohl unheimlich gern, waren vielleicht sogar verliebt ineinander. War Johannes schwul? Beschämt stellte Kurt das Photo wieder zurück. Was tat er hier eigentlich? Weswegen schnüffelte er schon wieder in Johannes persönlichen Dingen herum? Er hatte wirklich kein Recht dazu, seine Photos anzuschauen geschweige denn darüber zu urteilen, ob Hanne homosexuell war. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kurt kehrte wieder zu Johannes in die Klinik zurück. Er hatte sich wieder schlafen gelegt, öffnete allerdings sofort die Augen, als Kurt leise seinen Namen sagte. „Ich hab dir deine Sachen mitgebracht.“, erklärte Kurt ihm. Hanne lächelte so, wie er es auf den Photos getan hatte. „Das ging aber schnell. Danke, Kurt.“, meinte er und setzte sich auf. Dann schwang er seine Beine aus dem Bett und hob die Tasche auf den kleinen Tisch an der Wand. „Hast du alles gefunden?“, fragte Hanne, während er die Tasche ausräumte. Kurt bejahte. „Soll ich dir helfen?“ Hanne reichte ihm das Getreidekissen. „Leg das mal bitte auf den Heizkörper.“ Als Kurt sich wieder umwandte, schob Johannes gerade die leere Tasche in das unterste Fach des schmale Schrankes. Danach nahm er ein Bündel Kleidung und sein Waschzeug. „Ich mach mich mal eben frisch.“, meinte er und ging in die kleine Nasszelle des Zimmers. Kurt ließ sich auf Hannes Bett sinken und musste wieder an dieses Photo von ihm und diesem Sven denken. Er erschrak gleichzeitig darüber, dass es ihn selbst so zu kümmern schien, wo er Johannes doch kaum kannte und sie keinerlei Berührungspunkte hatten. Er musste wieder daran denken, dass Johannes auch ihn umarmt hatte und was das für ein wohliges Gefühl in ihm verursacht hatte. Ganz langsam verstand Kurt, dass ihm Johannes nicht völlig neutral war. Schon die Dummheit mit dem Blut hatte ihm das bewiesen, genauso wie auch die Tatsache, dass er einfach wissen wollte, wie es Johannes nach seinem Zusammenbruch erging. Er seufzte und musste auch wieder an das HI-Virus und die Medikamente denken. Es war alles so diffus in seinem Kopf. Seine scheinbaren Gefühle für Johannes, die mögliche HIV-Infektion,... das alles verwirrte ihn unheimlich. Kurt zog seine Beine an und legte seinen Kopf auf seine Knie. Noch ehe er es sich anders hätte überlegen können, schluchzte er leise auf. Johannes kam zurück und legte die benutzte Kleidung auf dem Tisch ab. „Hey, was hast du?“, fragte er und berührte Kurts Schulter. Obwohl Kurt gerne abgewehrt hätte, konnte er es nicht. Er ließ es zu, dass Hanne beruhigend auf ihn einredete, dass diese Medikamente verhindern würden, dass er sich tatsächlich infizierte. Er meinte auch, dass sich Kurt nicht so viele Sorgen machen sollte. Kurt spürte wieder, wie Hanne ihn umschlang und erschrak, wie gut ihm diese Berührung tat. Vorsichtig richtete er sich auf und Johannes löste sich von ihm. „Geht es wieder? Es ist echt kein Problem, dass du die Nerven verlierst.“, meinte er und erhob sich wieder von der Bettkante, sodass er neben Kurt stand. Er war nun eine ganz andere Erscheinung, wo er wieder eigene Kleidung trug und nicht mehr dieses Krankenhaushemd, das ihm einerseits relativ gut gepasst hatte, ihm allerdings ständig über die Schulter gerutscht war. Er hatte sich außerdem rasiert. „Ja, alles okay, Hanne. Leg dich wieder hin, ich bring dir dein Getreidekissen.“ „Danke.“ Er ließ es zu, dass Kurt ihn vorsichtig anschob und ließ sich wieder ins Kissen sinken. Dankbar nahm er das warme Kissen an und legte es sich auf den Unterbauch. Nachdenklich schaute Kurt wieder auf Hanne herab und beobachtete, wie sich dieser über den Bauch strich und die Decke höher zog. Mit einem Mal hatte er wirklich das Gefühl, in Johannes ein klein wenig verliebt zu sein. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kurt verließ das Zimmer und steuerte auf den Ausgang der Station zu. In seinem Daumen pochte es und er bereute, was er getan hatte. Er neigte eben stark zu übertriebenen und impulsiven Handlungen. Ja, er hatte auf einmal Angst davor, krank zu werden. Und auch davor, zu sterben. Hanne hatte mit ihm wirklich deutlich geredet. Was, wenn die paar Tropfen Blut aus dessen Daumen nun ausreichen würden? War so wenig Blut überhaupt ansteckend? Was sollte er tun, wenn so eine Infektion tatsächlich stattgefunden hatte? Er musste auch an die Medikamente in seinen Jackentaschen denken und an die Nebenwirkungen, die ihm Dr. Müller aufgezählt hatte. Er würde sie einnehmen müssen, wenn er einer Infektion entgegenwirken wollte. Er würde außerdem auch sehr darauf acht geben müssen, dass niemand von den Medikamenten erfuhr. Besonders im Fall seiner Mutter wäre das fatal. Sie würde ausrasten. Auch Lukas oder seine Schwester sollten lieber nichts davon wissen, dass er eine vorsorgliche HIV-Therapie machte. Erst langsam wurde Kurt bewusst, was ihm sowohl Johannes als auch der Arzt zu erklären versucht hatten. Dieser Bluttausch, den er eigentlich gar nicht so besonders ernst genommen hatte, stellte tatsächlich eine Gefahr oder ein Risiko dar. Er hatte sich einfach dazu hinreißen lassen, da er Johannes hatte beweisen wollen, dass ihm die Viren in seinem Körper egal waren. Aber jetzt hatte er sich vielleicht selbst mit diesen Krankheitserregern angesteckt, die ganz langsam das Immunsystem zerstörten und einen anfälliger für Krankheiten aller Art machten. Kurt schüttelte sich. Er wollte nicht daran denken und so schob er den Gedanken beiseite und machte die Knöpfe seiner Jacke zu, als er in den Flur des nächsten Stockwerks trat. „Onkel!“, rief eine bekannte Stimme. Kurt sah auf und wandte sich um. Kurz darauf lief Sara gegen seine Knie, er hob sie hoch und fragte: „Was machst du denn hier, meine Kleine?“ Sie war ihm eine willkommene Ablenkung von seinen scheußlichen Gedanken. Ehe Sara antworten konnte, kam Maike um die Ecke gelaufen. „Sara, warte!“, rief sie. Als sie Kurt sah, blieb sie stehen. „Ach, du bist das. Hi!“, sagte sie erleichtert. „Sara hat gerade ihre Phase. Sie rennt momentan allen möglichen Männern nach und hält mich so ganz schön auf Trab. Entschuldige, aber ich bin total fertig.“ Sie ließ sich auf einen der Stühle an der Wand des Flurs fallen. „Gerade eben hat sie fast einen Pfleger zur Weißglut getrieben, weil sie ihm einfach nicht von der Pelle rücken wollte. Ich hab sie mal einen Augenblick aus den Augen gelassen und schon war sie weg. Was machst du hier eigentlich?“ „Ich hab jemanden besucht. Und du?“ „Aha. Ich hatte gerade eine Untersuchung.“ Sie streichelte vorsichtig über ihren runden Babybauch. „Es kommt bald.“ „Was wird es denn?“, fragte Kurt interessiert. „Junge oder Mädchen?“ „Ein Junge.“, sagte Maike stolz. „So, wie ich es mir immer gewünscht habe. Du glaubst, gar nicht, wie toll das ist. Ist da eigentlich auch bei dir was geplant? Vielleicht auf längere Sicht mit Frieda?“ Kurt biss sich auf die Lippen und sagte lange nichts. „Maike, es ist noch zu früh, ja? Ich bin Anfang des Monats erst zwanzig geworden. Und außerdem hab ich noch nicht mal dran gedacht, mit überhaupt irgendwem Kinder zu kriegen, geschweige denn mit Frieda. Ich kenne sie erst seit fünf Wochen.“, erwiderte er dann. „Ich bin mir eh noch nicht sicher, ob ich das überhaupt will.“ „Aber euch entgeht was!“, protestierte sie. „Ich weiß.“, erwiderte er. „Aber ist dir noch nie aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt?“ „Wie jetzt? Ist Frieda etwa unfruchtbar oder liegt es an dir?“, fragte sie irritiert. „Maike, ich bin mehr oder weniger mit einem Mann zusammen.“ Maike kaute auf ihrer Unterlippe herum und dachte nach. „Und Frieda?“, fragte sie leise. „Was ist mit ihr?“ „Es gibt keine Frieda. Frieda war ein Mann. Kennst du Lukas noch?“ „Heißt das, dass du mit dieser Möhre...!?“. Maike wagte es nicht, den Satz zu beenden. „Sara, geh spielen. Die Mama muss mal mit dem Onkel reden.“ Sie nahm Sara an der Hand, führte sie ins Schwesternzimmer und wechselte ein paar Worte mit der Schwester, einer ehemaligen Kollegin. „Also?“, fragte Maike dann streng. „Was ist los?“ „Das ist eine längere Geschichte.“, versuchte Kurt, sich herauszuwinden. „Ich will nur wissen, was jetzt läuft. Nicht den Hintergrund.“ „Ich wusste ja selber nichts davon. Und...“ „Liebst du den Kerl oder nicht?“, unterbrach Maike ihn aufgebracht. „Ich weiß es nicht.“, gab er kleinlaut zu. „Ich weiß nicht einmal, ob ich ihm hätte vergeben dürfen.“ Ohne es bewusst gemerkt zu haben, hatte er Lukas bereits seinen Fehler verziehen. „Na, das wird ja immer toller! Du bist doch zu blöd!“ „Ich verstehe es ja selber nicht. Es ist einfach zu viel. Aber wenn du wissen willst, ob ich Frauen oder Männer lieber mag: im Moment eindeutig Männer!“, erwiderte er bissig. „Dann sag doch gleich, dass du’s mit Papa getrieben hast!“ „Was denkst du eigentlich von mir!?“, schrie er zurück. „Du hast doch ne Meise!“ Seine Schwester funkelte ihn noch immer fuchsteufelswild an, kühlte jedoch langsam wieder ab. Diese Impulsivität und Unüberlegtheit war etwas, das sie beide gemeinsam hatten. Kurt wartete ab, ob seine Schwester noch etwas erwidern würde. „Ich gehe am besten wieder. Du verstehst es ja sowieso nicht. Dumme Glucke.“, meinte er dann. „Warte!“, sagte sie und hielt ihn fest. „Du kannst es mir doch erklären.“ Kurt schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es ja selber nicht. Sag mir doch Bescheid, wenn der Kleine da ist. Dann können wir noch mal reden, okay?“ Er löste ihre Hand von seinem Arm und trat einige Schritte zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)