Kurt das war's von Lotos ================================================================================ Kapitel 3: HIV-positiv ---------------------- III - HIV-positiv Seine Mutter setzte Kurt nur schnell zu Hause ab, da sie heute noch arbeiten gehen musste. Er nahm das Telefon mit in sein Zimmer und war froh, seine Mutter weit weg zu wissen. Er musste unbedingt noch Johannes anrufen, um mit ihm wegen Samstag zu sprechen. Er freute sich ziemlich auf den gemeinsamen Kinobesuch, da er sich einfach gut mit Johannes verstanden hatte. Kurt fischte den Notizzettel aus der Tasche seiner Jeans und wählte schließlich die Handynummer, die ihm Johannes am Dienstag gegeben hatte. Er ließ es so lange klingeln, bis jemand abhob. „Ja?“ „Hanne? Ich bin’s, der Kurt.“ „Ja? Du, ich hab gerade noch eine Kundin. Soll ich dich nochmal anrufen? In zehn Minuten?", bot Hanne an. Kurt stimmte zu und gab Hanne die Telefonnummer. Kurt legte das schnurlose Telefon neben sich auf die Bettdecke und ließ sich nach hinten fallen. In seinem Bauch kribbelte es leicht. Er sah zur Decke und musste zugeben, sich wirklich auf Hanne zu freuen. Vielleicht würde sich sogar eine Freundschaft daraus entwickeln? Wie versprochen meldete sich Hanne wieder. „Hi Kurt.“, sagte er. „Was gibt’s?“ Kurt lächelte. „Ich wollte nur fragen, ob wir uns morgen einen Film anschauen wollen.“ Hanne erinnerte sich wieder vollständig an Kurt. Eigentlich hatte er nicht gedacht, dass dieser ihn tatsächlich anrufen würde. Für einen Moment überlegte er, ob er nicht einfach vorgab, sich nicht mehr an ihn zu erinnern, aber das wäre nun wirklich komplett unglaubwürdig. „Äh, ja klar. Wieso nicht?“, sagte er schließlich und kratzte sich am Hinterkopf. „Ja, genau. Morgen Abend dann?“ Kurt war erleichtert und dankbar, dass Hanne sich auch noch an ihr Gespräch erinnerte. „Oh, diese Woche geht bei mir nicht. Wie wär’s mit nächster Woche?“, schlug Hanne vor. „Okay. Vielleicht treffen wir uns so gegen sieben. Bei dir oder bei mir?“ „Komm besser zu mir. Ich sag dir schnell, wo ich wohne.“ Kurt ließ sich Straßenname und Hausnummer nennen. Als Hanne ihm dann noch beschreiben wollte, wie er die Straße finden konnte, musste Kurt lachen und wehrte ab. Hanne wohnte ganz in seiner Nähe, eigentlich nur ein paar Kreuzungen weiter innerhalb der Siedlung. Als nächstes fielen Kurt auch wieder die Anzeigen ein, die ihm sein Vater wegen der Wohnungssuche aus der Zeitung ausgeschnitten hatte. Da die Anzeigen noch von Dienstag waren, würden die meisten wohl schon nicht mehr aktuell sein. Kurt verließ noch einmal sein Zimmer, um sich die Zeitung vom Wohnzimmer zu holen. Er setzte sich wieder aufs Bett und las sich die Anzeigen durch. Inzwischen war er sich ziemlich sicher, dass er wohl nicht mit Frieda zusammenziehen würde. Er vertraute ihr einfach nicht. Daher schaute er sich nach einer Bleibe mit zwei Zimmer um und stieß unter der passenden Rubrik schon bald auf etwas passendes, was auch von der angegebenen Miete her okay war. Kurt tippte die Telefonnummer ein, die in der Anzeige angegeben war und erkundigte sich danach, ob die Wohnung noch zu haben sei. Leider bekam er eine Absage. Nach drei weiteren solchen Fehlschlägen wollte Kurt eigentlich aufgeben, doch dann entdeckte er noch eine Wohnung, die wohl drei Zimmer hatte, allerdings auch nicht so schrecklich teuer war. Hier hatte er wesentlich mehr Glück. „Möchten Sie sich die Wohnung mal anschauen?“, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung. Kurt bejahte. „Wann hätten Sie Zeit?“, fragte er zurück. „Ich selbst kann erst ab vier Uhr nachmittags.“ „Das ist in Ordnung. Morgen kommt auch noch ein anderer Interessent. Was halten Sie von morgen Nachmittag um vier?“ Kurt stimmte wieder zu. Er fragte außerdem nach der Adresse und stellte fest, dass es sich um denselben Wohnblock handelte wie bei Johannes. Ein unheimlicher Zufall und dazu noch praktisch, weil es zu Fuß nur zehn Minuten von seiner jetzigen Adresse entfernt war. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Der Samstag, für den sich Kurt mit Hanne „verabredet“ hatte, war relativ schnell gekommen. Kurt hatte sich die Haare gewaschen, trocken geföhnt und sie dann hinter die Ohren gestrichen. Er war sehr zufrieden mit der neuen Frisur, da sie wirklich praktisch war. Mittlerweile hatte er sich sogar an die kurzen Haare gewöhnt. Gerade schloss er den Knopf seiner Lieblingshose und zog sich ein T-Shirt mit einer dünnen Baumwolljacke über. Er betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden mit sich selbst. Johannes wohnte in genau dem selben Mehrfamilienhaus, wie auch die Wohnung sein würde, die Kurt mit seiner Freundin beziehen wollte. Kurt suchte den Klingelknopf und drückte ihn. Kurze Zeit später summte es und die Türe ließ sich öffnen. Kurt ging die drei Treppenstufen hinauf und erreichte so das Treppenhaus zum ersten Stock. Hanne stand schon in der Türe. „Komm doch erst mal rein.“, sagte er. „Bin ich zu früh?“, fragte Kurt, als er das Handtuch um Hannes Kopf bemerkte. „Nein, nein. Schon in Ordnung. Setz dich doch aufs Sofa.“, wehrte dieser ab, zeigte ihm den Weg und verschwand wieder ins Badezimmer. Kurt kam Hannes Angebot nach. Auf dem Couchtisch vor ihm lag eine Schachtel Tabletten. Gelangweilt und ein bisschen lustlos nahm er sie in die Hand, konnte aber nicht erkennen, zu was das Zeug gut sein sollte. Den Namen des Präparates konnte er auch nirgends einordnen. Schon wesentlich neugieriger öffnete er die Schachtel und zog die Packungsbeilage heraus. Verschreibungspflichtig. Und eine ganze Reihe starker Nebenwirkungen hatte das Zeug auch. Er faltete den Zettel auf. „Zur Bekämpfung einer HIV-Infektion im Rahmen einer antiretroviralen Kombinationstherapie (HAART)“. Die nachfolgenden Begriffe und Buchstabenkürzel verstand er nicht, doch die eben erhaltenen Informationen genügten ihm schon, um blass zu werden. Plötzlich überfielen ihn Schuldgefühle. Er hätte das eben nicht lesen dürfen. Kurt steckte sowohl die Pillen als auch die Packungsbeilage wieder in die Schachtel zurück. Er versuchte außerdem, die Schachtel wieder so auf den Tisch zu legen, wie es zuvor gewesen war, damit Hanne es nicht bemerken würde. Gleichzeitig kam er sich allerdings auch reichlich dumm vor, es vor Johannes vertuschen zu wollen, da dieser ja wohl selbst die Schachtel hatte liegen lassen. Kurt erhob sich wieder von der Couch, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sich ein wenig in Hannes Wohnzimmer um. Es war sehr ordentlich, vermutlich hatte er extra aufgeräumt. Die Einrichtung passte gut zusammen und sah modern aus, jedoch ohne diesen kalten Eindruck eines Möbelhauses zu hinterlassen. Das Holz der Schränke war angenehm hell und auch ansonsten wirkte der Raum sehr wohnlich und ansprechend. Kurt entdeckte als nächstes eine riesige Yucca-Palme, ähnlich wie die, die ihm schon vorletzte Woche im Friseursalon aufgefallen war. Vorsichtig berührte Kurt die langen dunkelgrünen Blätter der Pflanze. Kurt wandte sich erst um, als er Johannes Stimme hörte. „Ah, du schaust dich ein bisschen um. Gefällt es dir?“, wollte er wissen. Er war gerade erst ins Zimmer gekommen und hatte inzwischen seine Haare getrocknet und war außerdem fertig angezogen. „Ich frage deswegen, weil ich erst seit zwei Monaten hier wohne. Erst letztes Wochenende ist der Schrank hier gekommen.“ Er klopfte auf die Oberfläche des Möbelstücks, das Kurt vorhin wegen des hellen Holzes aufgefallen war. „Ja, es ist schön. Du hast ein Gefühl für so was, oder?“ „Kann sein. Danke.“ Hanne fasste sich vorsichtig an die Stirn. „Magst du dich noch ein bisschen hinsetzen?“ Hanne stützte sich an der Lehne des orangefarbenen Sofas ab. „Ich dachte, wir gehen gleich. Ist das sonst nicht zu knapp?“ „Ein paar Minuten haben wir noch, bevor wir zur Bushaltestelle gehen müssen.“, erwiderte Hanne und ließ sich auf die Couch fallen. Er stütze seine Stirn in die Hände. „Ist dir nicht gut?“ Kurt ließ sich neben ihn sinken und legte behutsam eine Hand auf seinen Rücken. „Nein, nein. Das geht schon.“ „Sicher? Du siehst blass aus.“ „Ganz sicher.“, bestätigte er bestimmt. Damit erhob er sich wieder. „Komm. Wir müssen jetzt gehen.“ Kurt folgte ihm in den kleinen Flur der Wohnung und sah dabei zu, wie Hanne zunächst in seine Schuhe schlüpfte, sich dann ein Tuch um den Hals wickelte und anschließend seine Jacke anzog. Auch Kurt zog sich an. Gerade als Hanne zur Tür ging, passierte es wieder. Hanne stützte sich an der Wand ab und hätte Kurt ihn nicht gestützt, wäre er wohl vollends zusammengebrochen. „Was hast du denn?“, fragte Kurt erschrocken. Johannes hielt sich jetzt seinerseits an Kurts Jacke fest. „Keine Sorge.“, erwiderte er. „Am besten, ich lege mich ein paar Sekunden aufs Sofa, dann ist alles wieder gut.“ Kurt begleitete ihn und ließ Hanne sich setzen und half ihm dabei seine Beine hochzulegen und seine Schuhe auszuziehen. „Brauchst du etwas? Ein Glas Wasser vielleicht?“ Hanne nickte. „Das ist nett, Kurt. Danke. Die Küche ist gleich die nächste Tür auf der linken Seite. Gläser sind im zweiten Hängeschrank. Nimm dir ruhig auch etwas, wenn du willst.“ Kurt ließ Hanne allein und holte für ihn ein Glas Mineralwasser. Dieser setzte sich dankbar auf und trank vorsichtig ein paar Schlucke. Als Hanne wieder zurücksank, fand Kurt endlich den Mut, ihn auf die Medikamente anzusprechen. „Was sind das eigentlich für Tabletten? Nimmst du die?“ „Ja. Ich hab einen empfindlichen Magen, also nicht weiter tragisch.“, log er. Kurt nickte nur. Hatte er etwa wirklich erwartet, dass Johannes ihm eine HIV-Infektion bestätigte? „Wir sollten jetzt wirklich gehen.“, meinte Hanne wieder und setzte sich auf. „Tut mir echt leid wegen der Verspätung.“ Er erhob sich vollends und griff nach seinen Schuhen, die Kurt auf den Fußboden gestellt hatte. Gerade als Johannes den ersten Schritt gehen wollte, stützte er sich wieder ab. Kurt packte ihn jetzt unter den Armen. „Das wird wohl heute nichts mehr mit dem Kino, oder?“ Bislang hatte sich Hanne selbst aufrecht gehalten, doch jetzt verlor er vollends das Bewusstsein. Kurt konnte ihn gerade so auf die Couch zurück bugsieren und seine Beine wieder hochlegen. Behutsam legte er eine Hand auf die Stirn seines Gegenübers, die abnormal heiß war. Kurt zog seine Hand zurück. Was sollte er jetzt mit Johannes anfangen? Einfach weggehen und so tun, als habe er Hanne nicht gekannt? Dazu fehlte ihm zum einen der Mut, zum anderen fühlte er sich schon zu weit in die Sache hinein verflochten, um noch die Augen verschließen zu können. Er musste Johannes irgendwie helfen. Er schaute auf Johannes hinab, der noch immer keinen Mucks von sich gab und unverändert auf der orangefarbenen Couch lag. Er würde so schnell nicht wieder zu sich kommen, da war Kurt sich sicher, und schon gar nicht einfach so wieder aufstehen als sei nichts gewesen. Er hatte Fieber, war krank. Wieder kamen ihm die Tabletten auf dem Tisch in den Sinn und die Information, die er aus der Packungsbeilage erhalten hatte. HIV-Infektion, Johannes hatte allem Anschein nach eine Immunschwächekrankheit. Kurt ging zurück in den Flur und wählte die Nummer es Rettungsdienstes. Er wusste sich einfach nicht mehr anders zu helfen, da er einfach noch nie mit so etwas konfrontiert worden war. Er hatte noch nie zuvor erlebt, dass jemand derart hohes Fieber hatte, dass er einfach so zusammengebrochen war. Er war erleichtert als sich endlich jemand meldete und erzählte der Frau, dass Johannes bewusstlos sei und glühend hohes Fieber hatte. Er nannte ihr außerdem die Adresse. Anschließend eilte Kurt zurück zu Johannes, der nach wie vor die Augen zu hatte und gleichmäßig atmete. Kurt ging wieder zur Küche und befeuchtete ein Küchentuch mit etwas kaltem Wasser, um Hannes Stirn ein bisschen zu kühlen. Hanne öffnete die Augen einen Spalt breit. „Was ist passiert?“, fragte er verwirrt. „Du hast ziemlich Fieber und dein Kreislauf hat schlapp gemacht. Ich hab eben einen Krankenwagen für dich gerufen.“ „Einen Krankenwagen?“ Hanne riss entsetzt die Augen auf. „Hast du noch alle Tassen im Schrank!?“ Kurt drückte Hannes Hände nach unten, als dieser ihn wegstoßen wollte. „Du hast irrsinnig hohes Fieber, Hanne. Das kann bei dir alles mögliche sein.“, widersprach Kurt besorgt. Hanne schnaubte. „Du kannst dort gleich wieder anrufen und den Krankenwagen absagen.“ „Nein, Hanne.“, widersprach Kurt wieder. „Und weswegen nicht?“ Hanne wurde immer aufgebrachter und lauter und versuchte schon wieder, sich mit aller Kraft gegen Kurt zu stemmen, scheiterte aber wieder. „Du hast doch HI...“ Kurt verstummte, da er Hanne eigentlich nicht hatte wissen lassen wollen, dass er die Medikamente in der Hand gehabt hatte. Jetzt wurde Hanne noch wütender und wollte aufspringen. „Du hast in meinen Sachen gewühlt?“, schrie er und Kurt wurde klar, dass mit Hanne spätestens jetzt nicht mehr zu spaßen war. Er war fuchsteufelswild. „Hanne, sei doch vernünftig. Du solltest wirklich zum Arzt gehen, wenn du so...“ „Lass mich los, Kurt!“, zischte er wieder. „Du bist krank, Hanne, bitte.“ „Sag mal, hörst du schlecht? Ich sagte du sollst mich loslassen! Verschwinde!“ Kurt wusste nicht mehr, was er mit Johannes machen sollte. Er hatte inzwischen jede normale Lautstärke überschritten und Kurts Ohren klingelten bereits. Irgendwie schaffte es Hanne, sich aufzusetzen und schob Kurt jetzt mit einer Kraft, die Kurt ihm kaum zugetraut hätte, zur Tür. Als sie gerade die Wohnzimmertüre erreichten, wandte Kurt sich um und drückte Hanne zur Wand hin. Dieser keuchte nach wie vor wütend vor sich hin. Auch Kurt keuchte, da Johannes sich noch immer wie ein Besessener wehrte und es ihn so eine Menge Kraft kostete, ihn festzuhalten. „Warum regst du dich eigentlich dermaßen auf, Hanne? Du kannst dich mit dem Fieber doch kaum selber auf den Beinen halten. Und dann willst du mich auch noch bekämpfen, obwohl ich dir nur helfen will.“ „Und was, wenn ich deine verdammte Hilfe gar nicht will? Wenn ich es mir nicht aufnöten lassen will, was deiner Meinung nach richtig ist?“ Seine Augen funkelten noch immer, obwohl er jetzt still hielt. „Hanne, bitte.“, meinte Kurt wieder. „Du solltest dich vielleicht wirklich untersuchen lassen.“ „Nein!“ Hanne leistete wieder verzweifelte Gegenwehr und drückte mit aller Kraft seine Unterarme gegen Kurts Hände, die ihn gegen die Wand pressten. Doch dann erschlaffte Hanne wieder und Kurt musste ihn stützen. Obwohl Hanne wirklich schlank war, wog er doch einiges und Kurt musste aufgeben, ihn zur Couch zurücktragen zu wollen. Daher ließ er den bewusstlosen Mann jetzt so auf den Boden gleiten, dass er an die Wand gelehnt saß und nicht umkippen konnte. Kurt erinnerte sich wieder daran, dass er den Krankenwagen gerufen hatte. Er ging zum Fenster und sah, wie gerade ein solches Fahrzeug vor dem Haus anhielt. Er warf noch einmal einen Blick auf Hanne, der unverändert friedlich auf dem Boden saß, als habe man ihm so eben den Dämon ausgetrieben. Kurt stellte ein Schuhpaar aus dem Schuhregal neben der Wohnungstüre in diese, damit sie nicht zufallen konnte. Dann ging er ins Erdgeschoss hinunter und öffnete den beiden Rettungssanitätern die Tür, die gerade klingeln wollten. „Ich hab Sie gerade kommen sehen.“, meinte Kurt und ließ die beiden Männer mit der Trage und einem Notfallkoffer eintreten. Sie folgten ihm zu Hannes Wohnung und versuchten zunächst, Hanne anzusprechen und ihn zum Aufwachen zu bewegen, doch er reagierte nicht, was nach Kurts bisherigen Erlebnissen mit ihm sogar eher ein Glücksfall war. Die beiden legten Johannes Körper auf die mitgebrachte Krankentrage und maßen zunächst seinen Blutdruck, der trotz der Aktion von eben im Normalbereich lag. Danach maßen sie noch Fieber – Hannes Körpertemperatur lag bei knapp vierzig Grad Celsius. Kurt ging während die Männer Hanne noch eine Kanüle legten in der Wohnung herum, um Johannes Papiere zu finden. Zunächst hatten er und die beiden Sanitäter in Hannes Hosentasche nach einer Brieftasche gesucht, waren aber nicht fündig geworden. Kurt trat jetzt ins Schlafzimmer, wo ein angenehm breites Bett, ein Kleiderschrank und eine Kommode mit Photos oben drauf standen. Auf der Kommode wurde Kurt schließlich fündig. Schnell öffnete er die Brieftasche, fand zunächst eine Notfallkarte mit Blutgruppe, Allergien (Hanne vertrug keine Haselnüsse) und zwei Handynummern drauf, danach seinen Personalausweis und schließlich auch eine Krankenversicherungs­karte. Kurt kehrte zu den dreien zurück, als die Sanitäter gerade mit der Notversorgung fertig waren und Hanne einen Tropf anhängten. „Da sind die Papiere drin, die ich finden konnte.“, meinte Kurt und reichte die Brieftasche einem der beiden Sanitäter. „Kann ich ihn vielleicht in die Klinik begleiten?“ Der Sanitäter, der bereits die Brieftasche entgegengenommen hatte, stimmte zu. Nachdem Hanne auf der Trage im Krankenwagen verstaut war, setzten sich auch Kurt und der jüngere der beiden Sanitäter auf die gepolsterten Kisten um die Trage. Der ältere Sanitäter fuhr los und Kurt sah ziemlich besorgt auf Johannes hinab. Der Sanitäter, der ihm gegenüber bei Johannes saß, hatte dessen Brieftasche inzwischen in einen Plastikbeutel gesteckt und Johannes Namen darauf geschrieben. Hannes Lider zuckten, als sie gerade in die Einfahrt zum Krankenhaus einbogen. Er griff unbewusst nach Kurts Hand. „Tut dir was weh?“, wollte Kurt besorgt wissen und berührte Hannes blassen Handrücken. Er strich über seine gepflegten schlanken Finger. „Nein. Aber wo bin ich hier überhaupt?“ Verlegen entzog er Kurt seine Hand wieder. „Im Krankenhaus. Oder viel mehr auf dem Weg dorthin.“ Nach einer kurzen Pause murmelte Hanne: „Sorry. Ich wollte dir keinen Ärger machen.“ „Das ist nicht schlimm.“, erwiderte Kurt. Das wichtigste war für ihn jetzt, dass Hanne wieder aufgewacht war. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Kurt hatte sich inzwischen im Wartebereich der Station, zu der Hanne von der Aufnahme aus zugeordnet worden war, gesetzt. Ohne Konzentration blätterte er in den ausliegenden Zeitschriften herum. Zuvor war Johannes untersucht worden und Hanne hatte dem Arzt in der Notaufnahme mit einer Ruhe und Gelassenheit, die Kurt nach der Szene von vorhin völlig irreal erschien, von seiner HIV-Infektion erzählt. Gerade wurde Hanne ein weiteres Mal von dem leitenden Arzt der HIV-Ambulanz, eigentlich dem Zentrum für Infektiologie, untersucht. Bestimmt erzählte Johannes auch ihm noch einmal, dass er HIV-infiziert war, was er vielleicht bereits alles durchgemacht hatte und welche Dinge bereits bei ihm festgestellt worden waren, kurzum seine Krankengeschichte eben. Kurt wusste inzwischen nur, dass Hanne seit einundzwanzig Jahren HI-Viren im Blut hatte und er durch eine „verseuchte Blutkonserve“ - diesen Ausdruck hatte Hanne selbst verwendet – angesteckt worden war. Alles in allem war Hanne nun wieder ein ganz anderer Mensch als der, der ihm vor zwei Stunden noch die Ohren voll gebrüllt hatte. Kurt legte gerade die Zeitschrift weg, als der Stationsarzt in den Wartebereich trat. „Sind Sie ein Angehöriger?“ Kurt verneinte, erklärte jedoch, dass er mit Johannes zusammen hergekommen war. Daraufhin bat ihn der Arzt, ihn zu begleiten und führte Kurt zu seinem Sprechzimmer, in dem er zuvor mit Johannes verschwunden war. Hanne selbst war nicht mehr hier und lag vermutlich bereits auf seinem Zimmer. „Was ist jetzt mit ihm?“, fragte Kurt und erwartete bereits, keine Antwort oder eine, die er nicht verstand, zu bekommen. „Ihr Freund wollte, dass ich auch mit ihnen spreche. Er hat eine HIV-Infektion. Er nimmt bereits Medikamente, hat allerdings jetzt eine Resistenz gegen eine gewisse Gruppe von Wirkstoffen entwickelt.“ Kurt nickte. An sich klang diese Nachricht eigentlich kaum bedrohlich, allerdings hatte der Begriff „Resistenz“ einen komischen Nachgeschmack. Außerdem machte ihn die Tatsache, dass Hanne ihn ebenfalls über seinen Zustand informieren wollte, misstrauisch. Der Arzt sprach weiter und erklärte, dass so eine Resistenz davon käme, dass sich das Virus im Blut über die Jahre hinweg durch winzige Veränderungen an die Wirkstoffe aus den Medikamenten gewöhnen würde, dass es allerdings verschiedene Wirkungsweisen und Inhaltsstoffe der Medikamente für eine spezifische Therapie gäbe. Gerade als Kurt nach dem Haken an der Therapie fragen wollte, erwähnte der Arzt noch, dass nur sehr wenige Kombinationspräparate gäbe, mit denen Hanne jetzt therapiert werden könne, da er schon in der Vergangenheit eine solche Resistenz entwickelt habe. Kurt starrte nun ungläubig auf den Arzt, der ihm so eben Dinge erzählt hatte, von denen er wohl noch nie etwas gehört hatte, die er allerdings als definitiv negativ einordnete. HIV-positiv, Wirkstoffresistenz, begrenzte Therapiemöglichkeiten. Noch nie war ein Mensch, der ihm wichtig war, so mir nichts dir nichts in Krankenhaus gekommen oder hatte gar solche Diagnosen gestellt bekommen. Kurt wusste für den Moment nicht, wo er mit seinen wirren Gedanken und Gefühlen hin sollte. Er hatte schließlich noch nicht einmal wirklich die Bedeutung dessen verstanden, was er über Johannes erfahren hatte. Auch alles, was nach seiner Entdeckung geschehen war, konnte er kaum schlucken. Und jetzt lag Johannes einfach so in der Klinik, war krank, brauchte ärztliche Hilfe. Ob er wohl Schmerzen hatte? War ihm noch immer so schwindelig, dass er das Bewusstsein verlieren konnte? „Kann ich zu ihm?“, fragte Kurt leise. Er verspürte irgendwie den Wunsch, nach Johannes zu sehen und zu erfahren, wie es ihm jetzt ging, was weiter mit ihm passieren würde. Mit einem Mal hatte er auch das Gefühl, losheulen zu müssen, schaffte es allerdings, die Tränen zurückzuhalten. Er schluckte, während er auf die Antwort des Arztes wartete. „Nein, besser nicht. Er braucht jetzt Ruhe. Und vielleicht sollten Sie selbst auch besser nach Hause gehen.“ Der Arzt klang beruhigend und berührte Kurts Arm. Kurt verstand und bejahte schließlich. Er war sogar froh, dass er das Zimmer und die Klinik verlassen konnte, da es immer schwerer für ihn wurde, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Als Kurt endlich vor dem Gebäude stand, ließ er es zu, dass die Tränen sich ihren Weg bahnten. Leicht über das Geländer gebeugt, das den Platz vor dem Krankenhaus vom Abhang in Richtung der Stadt trennte, begann er zu weinen. Die Lichter unter ihm verschwammen vor seinen Augen. Mit einem Mal machte er sich schreckliche Sorgen um Johannes, den er scheinbar heute erst so richtig kennen gelernt hatte. Was würde mit ihm in den nächsten Stunden oder Tagen passieren? Ob er jetzt wohl Schmerzen hatte? Kurt erinnerte sich an Hannes leeren Blick im Krankenwagen und seine blasse Hand mit den schönen gepflegten Nägeln, die er gehalten hatte. Die Gefühle, die er im Sprechzimmer des Arztes nur sehr vage bemerkt hatte, schienen jetzt mit aller Macht aus ihm herauszuquellen. Seine Brust verkrampfte sich beim nächsten Schluchzen, er ließ sich vollkommen gegen das Geländer sinken und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Mit der Zeit wurde Kurt wieder ruhiger. Er sah noch eine ganze Weile auf die Stadt hinunter, als er den Zigarettenstummel bereits weggeworfen hatte. Er fragte sich wieder, was mit Johannes als nächstes passieren würde, wie der Arzt ihn behandeln würde. Er hatte so viele Fragen zu dem, was er heute über seine neue Bekanntschaft erfahren hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)