Noch eine Chance von Niekas ================================================================================ Kapitel 6: Die Geschichte schreibt uns -------------------------------------- „Aber warum?“ „Wir haben eindeutige Beweise für klassenfeindliche Aktivitäten.“ „Das muss ein Irrtum sein. Es...“ „Ich sagte eindeutige Beweise, Ivan. Es ist wahr. Es ist eine schmerzhafte Erkenntnis für uns alle, aber wir müssen Maßnahmen ergreifen.“ „Aber wieso gleich solche Maßnahmen? Ich verstehe nicht...“ „Es ist eine Abschreckung für alle anderen. Es wird ähnliche Aktivitäten in Zukunft verhindern, Ivan. Es geschieht alles, um deine große Familie zusammen zu halten.“ „Ich soll einen von ihnen wegschicken, um die Familie zusammen zu halten? Das ist doch paradox!“ „Du wirst es tun, Ivan. Es ist zu deinem eigenen Besten. Wenn du es nicht freiwillig tust...“ Ivan atmete schwer und entschied, dass er nicht wissen wollte, was in diesem Fall passieren würde. „Wer von ihnen?“, fragte er stattdessen und schluckte. „Wer?“ Er wartete noch auf eine Antwort seines Bosses, ohne zu bemerken, dass er schon wach war. Halb wollte er, dass der Traum weiterging, doch die letzte Schläfrigkeit rieselte wie Sand durch seine Finger und er lag da, reglos im Dunkeln, aber wach. Er fühlte sich seltsam nackt dabei, als sei der Traum ein schützender Panzer gewesen, der nun von ihm abgelöst worden war. Selbst ein Traum, in dem sich eine reale Begebenheit wiederholte, war noch besser als die Realität. Jetzt, da er wach war, kannte er die Antwort auf seine Frage, ohne sie erhalten zu haben. Ivan blinzelte und hatte das Gefühl, als seien Yekaterinas Beine, auf denen sein Kopf lag, plötzlich wesentlich knochiger geworden. Seine Augen brannten leicht trotz der Dunkelheit, als er sie vollständig öffnete und versuchte, etwas zu erkennen. Draußen schien der Mond auf den Schnee und ließ ein schwaches, gespenstisch wirkendes Licht durch die Fenster dringen. Auf der gegenüberliegenden Bank hockten Yekaterina, Natalia, Toris und Raivis so eng zusammen gedrängt, dass Ivan sich fragte, wie sie schlafen konnten – doch sie taten es. Zwar wurde Yekaterina so sehr an die Wand gedrückt, dass sie aussah, als würde sie kaum Luft bekommen, und Raivis konnte jeden Moment von Toris' Schoß rutschen, aber noch schliefen sie. „Ivan?“ Eduards Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Langsam drehte Ivan den Kopf und erkannte sein Gesicht über sich. „Du hast...“, begann er, doch er war so heiser, dass seine Stimme versagte. Du hast Yekaterina abgelöst, hatte er sagen und Eduard dafür danken wollen, dass er seine Schwester entlastet hatte. Sie war ohnehin immer so gestresst. Sie konnte jede Erleichterung gebrauchen, die sie bekommen konnte. Eduard sah stumm zu ihm hinunter. „Es ist alles in Ordnung“, flüsterte er. „Sie werden bald wieder gesund.“ Dazu fiel Ivan nichts zu sagen ein, erst recht nicht, weil er nicht wusste, wie sehr und ob Eduard selbst glaubte, was er sagte. Sie schwiegen eine Weile lang. „Was glaubst du, woran es liegt?“, fragte Ivan leise. „Woran was liegt? Ihre Krankheit?“ Er nickte wortlos. Eduard schloss kurz die Augen und zog die Decke weiter über ihn. „Sie sind durch Ihre Schussverletzung sowieso entkräftet. Und dazu die Kälte und die Anspannung in dieser... ungewöhnlichen Situation.“ Er lächelte dünn. „Vielleicht war das einfach zu viel für Sie. Aber sicher kommen Sie bald wieder darüber hinweg.“ Einen Moment lang starrte Ivan ihn nur an. Er wollte lachen, aber es endete in einem heiseren Husten, von dem er sich erst nach einer ganzen Weile wieder beruhigen konnte. Eduard hielt mit einer Hand unsicher seine Schulter fest und beobachtete ihn mit großen Augen. „Noch liege ich nicht im Delirium, Eduard“, sagte Ivan leise, nachdem er sich endlich beruhigt hatte. „Ich weiß ganz genau, dass du Yekaterina heute Mittag noch etwas anderes gesagt hast, was die Gründe meiner Krankheit angeht.“ Eduard wandte nervös den Blick ab. „Es war nur eine Theorie. Sie kann falsch sein.“ „Ich dachte, du würdest dich mit Naturwissenschaften auskennen. Eine Theorie ist nicht falsch, solange sie niemand widerlegen kann.“ Da Eduard schwieg, fuhr Ivan fort. „Du hast gesagt, es liege daran, dass ich mich gegen meine Regierung gestellt habe. Glaubst du das etwa nicht mehr?“ „Ich habe nachgedacht“, sagte Eduard und runzelte die Stirn. „Vielleicht liegt es nicht direkt an Ihrer Regierung, nicht direkt daran, was ein paar Menschen von Ihnen wollen. Auch nicht an dem, was ein einzelner Mensch, nämlich Ihr Boss, von Ihnen will.“ „Aber?“, fragte Ivan leise. „Aber was Sie getan haben, geht über eine einfache Befehlsverweigerung hinaus“, fuhr Eduard fort, und plötzlich leuchteten seine Augen eifrig, wie immer, wenn er irgendeine Theorie darlegte. „Sie haben etwas getan, was Sie einfach nicht hätten tun dürfen, weil es keinen Grund dafür gab. Keinen anderen Grund als Emotionen, meine ich. Es war eine emotionale, vielleicht auch moralisch motivierte Entscheidung. Aber Sie sind eine Nation, Sie haben weder Emotionen noch Moral zu haben. Sie haben das zu tun, was Ihre Kinder von Ihnen erwarten, was Ihre Regierung will. Sie haben sich gegen die Geschichte gestellt, und das hätten Sie nie tun dürfen. Dafür wurden Sie nicht geschaffen. Wir sind alle nur dazu da, uns den Launen der Geschichte zu beugen. Wir schreiben keine Geschichte. Die Geschichte schreibt uns.“ Er holte tief Luft und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Zumindest“, fügte er hinzu, „könnte es so sein.“ Ivan sah ihn mit großen Augen an. „Das klingt, als seien wir alle nur Marionetten in einem Spiel“, murmelte er. „Und ich dachte immer, die Marionettenspieler wären Politiker – Menschen. Aber jetzt ist es irgendeine nicht greifbare Macht... das, was du Geschichte nennst.“ „Die Menschen machen die Geschichte“, sagte Eduard. „Ja. Aber die Geschichte wird von allen Menschen gemacht, während die Politik ein paar Männern in Anzügen vorbehalten ist. Vor ein paar Männern hätte ich noch weglaufen können. Aber wie kann ich vor Menschen weglaufen?“, fragte Ivan leise. „Wie kann ich vor dem einzigen fliehen, was mir die Erlaubnis gibt, überhaupt zu existieren?“ Eduard schüttelte leicht den Kopf und wandte den Blick ab. „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ Ivan seufzte leise und schloss die Augen. Er hatte verstanden, was Eduard gesagt hatte, als könne es gar nicht anders sein, als habe er es selbst schon die ganze Zeit über gewusst. Dennoch hatte er das Gefühl, die Vorstellung würde ihn erschlagen. „Was ist mit euch?“, fragte er plötzlich und öffnete die Augen wieder. „Stellt ihr euch etwa nicht gegen die Geschichte?“ Eduard sah ihn an und verzog die Lippen zu etwas, das an ein Lächeln erinnerte. „Bei uns habe ich ohnehin manchmal das Gefühl, die Geschichte habe uns vergessen. Wir sind doch nur ein paar Einzelne, die auf das hören, was Sie sagen. Und das tun wir noch immer, nicht wahr? Sie haben uns befohlen, zu gehen. Es war Ihre Idee. Sie haben gleich zu Anfang gesagt, Sie würden die volle Verantwortung übernehmen. Wir haben nur das getan, was wir seit Jahrzehnten tun: Wir haben Ihnen gehorcht. Und hier sind wir nun.“ „Das ist ganz schön viel Verantwortung, die ich da übernommen habe“, murmelte Ivan. „Ja. War Ihnen das nicht von Anfang an bewusst?“ „Nicht so richtig“, gab Ivan zu und lächelte Eduard an. „Aber ich denke, es ist gut so. Ich bin das Familienoberhaupt. Ich sorge dafür, dass es uns gut geht und dass die Familie zusammen bleibt.“ Eduard legte den Kopf schief. „Was wollen Sie tun“, fragte er langsam, „wenn Sie morgen nicht wieder auf den Beinen sein sollten?“ „Ich werde morgen wieder gesund sein und mit euch gehen“, sagte Ivan entschieden. „Du hast völlig Recht, wenn du sagst, dass wir nicht länger bleiben können. Wir müssen in die Stadt, so schnell es geht. Morgen früh werden wir aufbrechen.“ „Und wenn Sie es nicht schaffen sollten?“ „Ich sagte, ich werde morgen früh wieder gesund sein.“ „Aber...“ „Kein aber“, sagte Ivan und sah Eduard scharf an. „Ich werde morgen früh gehen. Hör auf, mir zu widersprechen, Eduard.“ Sein Herz schlug schnell, aber er hoffte, seine Angst verbergen zu können. Seine Unsicherheit darüber, was ihm von seiner alten Stellung geblieben war. Den Rückhalt seines Bosses hatte er verloren, seitdem er vor ihm weggelaufen war. Eigentlich hatte er keine Macht mehr, schon gar nicht, weil er aufgrund seiner Krankheit nicht mehr seine frühere Kraft hatte. Aber wenigstens seine Autorität musste ihm geblieben sein, dachte Ivan verbissen. Irgendetwas musste da doch noch sein. Wenigstens genug Respekt, genug Furcht... zur Not auch genug Macht der Gewohnheit, damit ihm niemand widersprach. „Verzeihen Sie bitte“, sagte Eduard leise und wandte den Blick ab. „Selbstverständlich werden wir alle zusammen gehen.“ Ivan holte tief Luft und schloss die Augen. Er hatte gewonnen, dachte er. Obwohl er mit dem Kopf in Eduards Schoß lag und dieser ihn in seinem Zustand wahrscheinlich überwältigen könnte, wenn er es darauf anlegte... trotz allem hatte er gewonnen. Er hatte noch immer Macht, und er würde sie verwenden, um seine Familie bei sich und zusammen zu halten. Egal, dachte er verbissen, ob Eduard wollte oder nicht. Egal, ob die Familie wollte oder nicht. Wieder war es Abend. Wieder saßen sie im Wohnzimmer, mit einem gemütlichen Feuer im Kamin. Und schon wieder hatte Ivan einen Befehl von Onkelchen bekommen, den er ausführen musste, ob er wollte oder nicht. Aber er konnte es nicht, dachte Ivan. Er konnte es nicht tun, bevor er mit der letzten Sache abgeschlossen hatte, die er auf Onkelchens Befehl hin getan hatte. Vier Jahre war es mittlerweile her. „Eduard, Raivis?“ Eduard zuckte zusammen und sah von seinem Buch auf. Neben ihm auf dem Sofa legte Raivis den Kopf schief. „Was ist denn?“ Ivan lächelte leicht und nickte zur Tür. „Geht ins Bett.“ Er sah, wie Toris in seinem Sessel zusammen zuckte und sein Blick plötzlich leer wurde. Eduard schlug sein Buch zu und stand langsam auf, genau wie Raivis. Sie wollten nicht gehen, dachte Ivan, aber bleiben wollten sie auch nicht. Sie glaubten, zu wissen, was geschehen würde. Ivan stand auf und schloss die Tür hinter ihnen. „Toris?“ Er erhielt keine Antwort und drehte sich um. Toris saß noch immer in seinem Sessel. Er hatte leicht zu zittern begonnen. Langsam ging Ivan hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Toris. Es ist alles in Ordnung.“ Toris presste die Lippen zusammen und zitterte heftiger. „Bitte“, flüsterte er. „Was?“, fragte Ivan überrascht. „Diesmal trinke ich es“, sagte Toris und schloss die Augen. Es dauerte einen Moment, bis Ivan begriffen hatte, was er meinte. „Oh nein, nein“, sagte er dann und versuchte, nicht zu lachen. „Diesmal gibt es nichts zu trinken, Toris. Ich bin nicht hier, um...“ Er fand nicht die richtigen Worte. Unsicher nahm er die Hand von Toris' Schulter und zog sich in seinen eigenen Sessel zurück. Eine Weile lang saßen sie nur stumm da und blickten in die Flammen, wobei Ivan sich nicht sicher war, ob Toris sie auch sah. „Ich muss dir etwas erklären, Toris“, sagte er leise. Toris reagierte nicht. „Es war ein Befehl von meinem Boss“, fuhr Ivan fort, brachte es aber nicht über sich, Toris dabei in die Augen zu sehen. „Nun ja... indirekt zumindest. Er meinte, du hättest etwas Aufständisches in deinem Inneren, das ich dir nicht austreiben könnte, weil ich es nicht versuchen würde. Und vielleicht hatte er ein Stück weit Recht damit, Toris. Ich wollte nicht dein Innerstes verletzen.“ Noch immer sagte Toris nichts dazu, aber seine Augen weiteten sich leicht. „Aber etwas musste ich tun, Toris“, sagte Ivan und sah ihn jetzt doch an. „Onkelchen hat gesagt, wenn ich es nicht schaffe, dich zu erziehen, dann nehmen sie dich mir weg. Und das konnte ich nicht zulassen. Ich konnte nicht zulassen, dass andere Menschen dir wehtun, Toris, also... musste ich es selbst tun. Dir wehtun, meine ich. Weißt du was? Ich glaube, das war alles, was Onkelchen sehen wollte. Dass ich im Ernstfall doch dazu im Stande bin, dir wehzutun.“ Toris holte tief Luft und hob den Kopf. Der Ausdruck in seinen Augen war nicht zu deuten. „Sie wollen mir also erklären“, flüsterte er, „dass Sie es mir zuliebe getan haben?“ Ivan senkte den Blick. „Ich weiß, dass es dich... verletzt hat, Toris. Aber genau das war der Punkt, verstehst du? Ich musste dich verletzen, weil sonst andere gekommen wären, die dich noch mehr verletzt hätten. Verstehst du?“ „Sie haben mich also beschützt“, sagte Toris. „Ja.“ „Und? Was erwarten Sie jetzt von mir?“ Ivan lächelte ihn zaghaft an. „Ich dachte, wenn du es weißt... wenn du es verstehst... vielleicht kannst du mir -“ „Vergeben?“, unterbrach Toris ihn. „Wollten Sie gerade vergeben sagen?“ „Ja“, antwortete Ivan unsicher. Toris' Lippen zitterten, aber diesmal war es nicht die Angst, die sie zum Zittern brachte. Es sah eher aus wie Wut. „Wie können Sie es wagen.“ „Was?“, fragte Ivan verblüfft. „Wie können Sie es wagen, mich um Verzeihung zu bitten!“, kreischte Toris plötzlich und Ivan zuckte zusammen. „Wie können Sie von mir verlangen, Ihnen zu vergeben, ohne auch nur ein es tut mir Leid in den Mund zu nehmen? Soll das alles sein? Sie hatten keine andere Wahl, und deswegen kann ich Ihnen nicht böse sein?“ „Aber ich hatte keine Wahl“, murmelte Ivan. „Und selbst wenn! Sie können nichts wieder gut machen, egal, was Sie sagen! Selbst wenn Sie es bereuen würden, könnten Sie nichts durch Worte ungeschehen machen! Das Beste, was Sie tun können, ist, die Sache nie wieder zu erwähnen und mir vor allem nicht so eine verdammte Angst einzujagen!“, schrie Toris und rappelte sich auf. „Haben Sie keine Ahnung, wie es wirkt, dass Sie mich schon wieder hier behalten haben? Hier?“ „Bleib hier, Toris!“, sagte Ivan und hob die Hand. „Ich... es tut mir doch Leid! Ich bitte dich um Verzeihung!“ „Und ich lehne die Bitte ab, wie es mein gutes Recht ist“, brachte Toris zwischen den Zähnen hervor und starrte ihn so wütend an, dass Ivan zusammen zuckte. „Und zwar endgültig, Ivan. Sprechen Sie nie wieder davon.“ Er öffnete die Tür und ging hinaus. „Bleib hier! Das... das ist ein Befehl!“, sagte Ivan halbherzig. Natürlich hörte Toris ihn nicht mehr oder ignorierte ihn zumindest. Langsam ließ Ivan die Hand wieder sinken und bemerkte, dass er zitterte. Schlechter hätte es nicht laufen können, dachte er und schluckte. Und jetzt auch noch Onkelchens neuster Auftrag, für den Ivan genauso viele Gewissensbisse auf sich zukommen sah wie für den letzten. Wenn nicht sogar noch mehr. Warum lag eigentlich immer noch dieser verflucht hässliche Teppich vor dem Kamin? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)