Zwei Möglichkeiten von Akai-chan ================================================================================ Von der Straße her war eine Autohupe zu hören und Theodor sprang sofort von seinem Stuhl auf. So schnell wie möglich lief er die Treppe hinunter. "Papa, Mama, sie sind da!", rief er seinen Eltern im Wohnzimmer noch zu und war im nächsten Moment schon zur Haustür raus. Er lief freudig auf das Auto zu, das auf dem freien Platz geparkt hatte. Wie sehr hatte er diesen Augenblick ersehnt? Wie hatte er sich auf diese letzten Tage des Jahres gefreut, seitdem er gewusst hatte, dass sein bester Freund ihn besuchen würde. Kaum war dieser ausgestiegen, drückte er ihn herzlich und konnte nicht mehr aufhören zu grinsen. Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen. Viel zu lange. Tim erwiderte die Umarmung und lachte dabei. Er hatte ihn genauso vermisst, auch wenn er wusste, dass es eine andere Möglichkeit gegeben hatte. Er war froh und dankbar, dass es nun anders aussah und er hier sein konnte. "Willkommen zuhause. Gott, es tut so gut, dich zu sehen. Geht's dir gut? Was macht der Arm?", quasselte Theo ihn wie gewohnt zu, als er die Umarmung gelöst hatte und ihn wieder ansah. "Mir geht es wunderbar, nur keine Sorge. Es ist alles bestens. Und dem Arm geht es wieder gut, die Schusswunde ist besser verheilt, als ich gedacht hätte.", antwortete er und drückte ihn nochmal kurz an sich. Worte konnten einfach nicht beschreiben, wie viel die beiden Männer einander bedeuteten. Doch Worte waren da auch gar nicht nötig. "Gut, ich kümmer mich dann mal ums Gepäck. Geh du mal rein und begrüß alle. Sie haben dich auch sehr vermisst, weißt du?", riet Theo seinem Gast. Er konnte sehen, dass dieser kurz mit sich haderte, ob das auch wirklich in Ordnung war. Dann aber nickte er mit einem Lächeln und verschwand im Haus. Er sah ihm noch nach, doch es dauerte nicht lange, bis das Geräusch einer zweiten Autotür, die zugeschlagen wurde, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Tim hatte Hendrik mitgebracht, seinen derzeitigen Lebenspartner. Er wusste nicht recht, wie er ihn finden sollte. Dafür gab es mehrere Gründe, doch er würde sich hüten, Tim da hineinzureden. Dazu hatte er kein Recht und wenn Tim mit ihm zusammen sein wollte, dann sollte es so sein. Die beiden Männer, die sich eigentlich vollkommen fremd waren, sahen sich einen Augenblick stumm an, doch dann ging er um das Auto herum, um auch ihn willkommen zu heißen. Leider war Hendrik nicht unbedingt sehr gesprächig und bedankte sich nur einsilbig, bevor er schon wieder gehen wollte. Aber Theo hielt ihn am Arm fest. "Warte bitte, ich wollte noch kurz mit dir reden.", bat er mit ernstem Blick. Hendrik drehte sich daraufhin wieder zu ihm um und sah ihn fragend, zugleich aber auch abwartend an. Natürlich hatte er keine Ahnung, was er mit ihm zu bereden haben könnte. Theo hatte lange darüber nachgedacht, wie er sein Anliegen so herüber bringen konnte, dass er nicht komplett falsch verstanden wurde. Ob er zu einer geeigneten Lösung gekommen war oder nicht, würde sich nun zeigen. "Hör zu, egal, wie das nun vielleicht klingen wird, ich habe nichts gegen dich oder eure Beziehung. Wirklich nicht,okay? Aber Tim ist mein bester Freund und wie du sicher weißt, waren wir früher einmal zusammen. Und auch, wenn wir uns einvernehmlich getrennt haben, liebe ich ihn irgendwie immer noch. Ich will dir jetzt keine Angst machen, ich will einfach nur zum Ausdruck bringen, dass er mir sehr wichtig ist. Und wenn du mich fragst, hat er mit seinen vierunddreißig Jahren schon ziemlich viel Scheiße durchmachen müssen. Du weißt schon, erst die Sache mit seiner Familie und dann diese gottverdammte Geschichte mit Yannik... Das hat sich ja auch über einige Jahre hinweg gezogen. Ich möchte nur nicht, dass ihm noch einmal etwas schlimmes passiert. Deshalb möchte ich dich bitten, nur bei ihm zu bleiben, wenn es dir auch wirklich ernst ist. Wenn du ihm irgendwie weh tust oder irgend einen Mist mit ihm abziehst, bekommst du es mit mir zu tun." Wieder sahen sie sich nur schweigend an, diesmal konnte er in Hendriks Augen jedoch eine Art Abneigung erkennen. "Theodor... Ich weiß nicht, was er dir schon alles über mich erzählt hat. Aber das ist im Grunde auch nicht wichtig. Lass dir nur eines gesagt sein: Vor mehr als zwei Jahren wollte ich von Liebe und Beziehungen nichts mehr wissen. Ich weiß, wie es ist, wenn nur mit einem gespielt wird. Und ich hatte die Schnauze einfach voll. Ich dachte mir, ich kann auch bis ans Ende meines Lebens allein bleiben. Ich dachte, ich brauche niemanden und einen Partner fürs Leben gibt es sowieso nicht. Und dann kam Tim. Ihm ist es egal, dass ich eine eigene Firma habe und reich bin. Er weiß mehr über mich als sonst jemand. Und da sind unschöne Dinge dabei. Er weiß genau, dass ich sehr schwierig sein kann und dass ich mit bestimmten Dingen ziemliche Probleme habe. Und trotzdem ist er immer noch da. Er hat mich auch nicht wieder fortgeschickt, als ich ihn wieder gefunden hatte. Er nimmt mich so, wie ich bin und er hilft mir mit den Sachen, die ich selbst an mir ändern will. Ich werde garantiert nichts tun, was ihn dazu bringen könnte, mich zu verlassen." Als Theo dies hörte, lächelte er und nickte. "Gut. Gut, es freut mich wirklich, dass du so denkst. Er ist jede Mühe wert. Aber das weißt du sicher schon selbst.", grinste er leicht. So kehrte Hendrik ihm wieder den Rücken zu und nahm sich seine Reisetasche aus dem Kofferraum, um kurz darauf das Haus zu betreten. Theo sah auch ihm einen Augenblick nach und schmunzelte dabei, bevor er nach Tims Tasche griff und den Kofferraum kurz darauf wieder schloss. Tim hatte schon recht, Hendrik war nicht allzu gesellig. Doch das störte ihn nicht weiter. Er hatte gesehen, dass er sich zumindest in dieser Hinsicht keine Sorgen machen musste. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er wieder ins Haus und brachte die beiden in Tims altes Zimmer. Am Abend, als sie nach dem Essen allein in eben jenem Zimmer waren, ging Hendrik noch so einiges durch den Kopf. Er mochte Theodor nicht besonders, was zum Großteil wahrscheinlich an seiner Eifersucht lag. Er wusste bereits seit einiger Zeit, dass die beiden einmal ein Paar gewesen waren und bisher hatte ihn das nicht sonderlich gestört. Vorbei war vorbei und auch er selbst hatte vor Tim schon andere Beziehungen gehabt. Was er jedoch nicht gewusst hatte, war zum einen, dass Theo noch immer Gefühle für seinen besten Freund hegte, und zum anderen, dass die beiden so ekelhaft vertraut miteinander umgingen. Allein die Szene beim Abendessen, als Theo etwas von Tims Teller geklaut und sie sich freundschaftlich darum gestritten hatten, ließ ihm die Galle hochkommen. Dem Kommentar der Mutter hatte er zudem entnehmen können, dass sie dies früher auch recht oft getan hatten. Dieser Moment war es gewesen, der ihm erst richtig bewusst gemacht hatte, wie tief die Bindung zwischen den beiden eigentlich war. Doch es gab etwas, das gefiel ihm noch viel weniger. Hendrik wusste schon einiges über Tims Vergangenheit. Seinen durchgeknallten Ex-Freund Yannik hatte er teilweise auch selbst miterleben dürfen. Er wusste auch, dass Tims Eltern ihn verstoßen hatten, als er ihnen gesagt hatte, dass er schwul war. Näheres wusste er darüber jedoch nicht. Er hatte nie so genau nachgefragt. So recht hatte ihn das nicht interessiert, auch wenn er nicht sagen konnte, warum. Das wollte er ändern. Er wollte Interesse zeigen. So schmuste er sich im Bett an ihn, legte einen Arm um ihn und fragte, wie es damals gewesen war, als er erkannt hatte, dass er ausschließlich Jungen mochte, und vor allem dann, als er seine Eltern davon unterrichtet hatte. So begann Tim zu erzählen... "Ich lernte Theo, wie du ja weißt, schon in der Schule kennen. Wir kamen in denselben Jahrgang, nachdem ich mit meiner Familie umgezogen war. Das war in der 7. Klasse. Wir haben uns ziemlich schnell angefreundet. Ich schätze, wir waren einfach auf einer Wellenlänge. Wir haben alles miteinander gemacht. Wir saßen im Unterricht nebeneinander, haben Hausaufgaben zusammen gemacht, zusammen gelernt... Unzählige Male hat er bei mir übernachtet oder ich bei ihm. Naja, ich war häufiger bei ihm, weil meine Eltern nicht so gern Besuch hatten. Und mit seinen habe ich mich auch sehr gut verstanden. Wir beide sind im Sommer zusammen ins Schwimmbad, mal in einen Freizeitpark und was weiß ich noch alles. Nach einem Jahr sind wir ins Volleyballteam eingetreten. Es hat so viel Spaß gemacht. Eigentlich brauchten wir niemand anderen. Es war perfekt. Aber mit der Liebe hat es länger gedauert. Ich schätze mal, noch zwei weitere Jahre. Ungefähr. Ja, doch. Es war dann in der 10. Klasse. Und es ging ganz plötzlich. Nach dem Training im Umkleideraum sah ich ihn an und auf einmal schoß mir durch den Kopf, wie wunderschön mein bester Freund doch eigentlich war. Mir war in diesem Moment ziemlich warm, nicht nur wegen dem Training, und mein Herz schlug schneller. So, wie man sich das eben bei der ersten Liebe im Allgemeinen so vorstellt. Ich weiß, das Ganze kommt dir sicher sehr klischeéhaft vor, aber so war es. Nun ja, ab diesem Tag ging das große Grübeln los. Ich fragte mich, warum ich fühlte, wie ich fühlte. Warum ich dachte, wie ich dachte. Und warum fühlte und dachte ich nur bei ihm auf diese Weise? Ich denke, jeder Mann, der sich auch für andere Männer interessiert, stellt sich diese Fragen am Anfang. Mir fiel natürlich auch auf, dass mich der Anblick einer hübschen Frau im Grunde kalt ließ. Ich kann beurteilen, ob sie schön aussieht oder nicht, vielleicht sogar sagen, welcher Typ Frau mir im Allgemeinen gefallen würde. Aber wirklich sexuell anziehend finde ich sie dann doch nicht. Ich denke, das kennst du auch gut genug. Damals fand ich das nach genauerem Nachdenken doch etwas seltsam. Einige der anderen Jungen hatten einmal Pornohefte mitgebracht und sich einen Spaß daraus gemacht. Fand ich sehr unangebracht und geschmacklos. Aber das allein, so dachte ich, wäre noch kein Anzeichen dafür, dass ich vielleicht doch irgendwie anders bin. In der nächsten Zeit habe ich also ganz bewusst darauf geachtet, wie ich Frauen und wie ich Männer so finde. Ich habe mir Werbeplakate angesehen, Magazine, Filme, alles mögliche, was ich finden konnte. Und ich habe verglichen. Es hat auch nicht lange gedauert, bis ich meine eigene Sexualität erkannt habe. Das hat natürlich wieder für viel Grübelei gesorgt. Allerdings war es auch nicht so, dass ich dadurch Selbsthass oder etwas in dieser Art entwickelt habe. Ich war schwul und das hat mich anfangs auch verwirrt und verunsichert, aber es war in Ordnung so. Ich habe es aber auch sehr lange für mich behalten. Das hatte den einfachen Grund, dass ich nicht wusste, wie mein Umfeld darauf reagieren würde. Freunde, Familie, Mitschüler, Lehrer, Nachbarn... und vor allem Theo. Was würde er sagen, wenn er wüsste, dass ich nicht nur schwul bin, sondern auch noch in ihn verliebt? Mit niemanden hatte ich bisher auch nur ansatzweise über dieses Thema geredet. Ich wusste nicht, wie die Einstellung der Leute gegenüber Homosexuellen nun war. Begrüßten sie das? Hassten sie solche Menschen? Oder war es ihnen im Grunde einfach egal? Es war schwer zu sagen, sehr schwer. Und ich wollte lieber nichts riskieren. Und ich wollte mir auch keine unnötigen Hoffnungen machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Theo meine Gefühle erwiderte, war verschwindend gering. Wenn ich so daran denke, hab ich das alles doch ziemlich nüchtern gesehen. Zumindest anfangs. Aber in dem Alter lässt sich das Thema Liebe und Beziehungen auch nicht so ganz vermeiden. Andere Freunde hatten schon ein paar Beziehungen hinter sich und erzählten davon, wie schön es war oder auch wie schief es gelaufen ist. Jedesmal, wenn Familie zu Besuch war, fragten sie mich, ob ich schon eine Freundin habe oder gaben ähnliche Kommentare zum Besten. Ich habe erklärt, dass ich noch niemanden gefunden hatte. Oder ich habe die Schule als Grund vorgeschoben, dass ich keine hatte. Ich wollte mich mehr um meine Noten kümmern, habe ich immer gesagt. Und etwas Freizeit musste schließlich auch sein. Die anderen Jungen fanden mich langweilig, aber meine Eltern hat es gefreut. Ich hatte ja auch nicht gerade schlechte Ergebnisse. Sie waren mit meiner Einstellung voll und ganz zufrieden. Um eine Freundin konnte ich mich ja immer noch kümmern. Und die Meinung der anderen hat mich auch nie großartig interessieren. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Es gab nur einen, der mir wirklich wichtig war. Lange Rede, kurzer Sinn: Als ich das alles bemerkt habe, und mir auch selbst eingestehen konnte, hatte ich im Grunde kein Problem damit. Jedenfalls kein Problem mit mir selbst. Allenfalls mit der Umwelt, einerseits eben weil ich nicht weiß, wie die Leute darauf reagieren würden, andererseits eben auch wegen all der großen Gefühle, die unerwidert blieben. Gerade bei der ersten Liebe wünscht man sich ja schon, dass es gut geht und dass man auch geliebt wird. Trotzdem habe ich mir eigentlich nie wirkliche Hoffnungen gemacht. Natürlich habe ich insgeheim geschwärmt und mir ausgedacht, wie es wohl mit ihm so wäre. Das ist ganz normal. Aber ich habe nie etwas in sein Handeln oder in seine Worte hinein interpretiert. Ich wollte diese großartige Freundschaft, die wir haben, nicht durch solche Dummheiten gefährden. Ich glaube, ich wäre am Boden zerstört gewesen, wäre das alles zu Bruch gegangen. Dann, in den Ferien zwischen 10. und 11. Klasse war ich wieder sehr oft bei ihm. Ich hatte mir zwar Arbeit gesucht, aber ich glaube, wenn ich dann frei hatte, war ich mehr bei ihm als zuhause. Und dort fiel mir ein Brief in der Hand, der an mich adressiert war. Denk nicht, dass ich in seinen Sachen herumgewühlt habe. Ich sollte etwas für ihn suchen und das habe ich getan. Ich weiß aber nicht mehr, was das genau war. Ist wohl schon zu lange her. Jedenfalls war es auch irgend ein Zettel. Und wie das nun mal so ist, wenn man etwas mit dem eigenen Namen findet, man wird neugierig und schaut hinein. Und ehrlich, ich dachte, ich träume und wache jeden Moment auf. Du kannst dir sicher schon denken, dass es ein Liebesbrief war. Und was da alles drin stand. Ich glaube, ich hatte sogar Tränen in den Augen. Es war so niedlich. Aber er war noch viel niedlicher, als er ins Zimmer kam und mich beim Lesen erwischt hat. Er hat natürlich sofort versucht, mir den Brief wegzunehmen, aber ich hab ihn nicht gelassen. Statt dessen hab ich ihn zur Rede gestellt. Sein Gesicht war schon richtig rot und es war ihm sichtlich unangenehm. Oder einfach nur peinlich. Er hat versucht, es herunter zu spielen, aber da dieser Brief meine eigenen Hoffnungen geweckt hatte, habe ich auch nicht locker gelassen. Ich habe dann angefangen, bestimmte Stellen aus dem Brief vorzulesen. Das fand er ziemlich gemein und hat mir den Brief doch aus der Hand gerissen, als ich einen Moment unachtsam war. Und dann wurde es mir klar: Er dachte wie ich. Ganz genauso. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass ich ebenso empfinden könnte und hatte nun Angst, mich zu verlieren. Angst, von mir als ekelhaft angesehen zu werden. Angst, ich könnte ihn verachten. Einfach Angst vor allem, was dadurch passieren könnte. Ich frage mich schon, warum ich so lange gebraucht habe, um darauf zu kommen. Immerhin habe ich mir auch nichts anmerken lassen. Ich habe nie etwas verfängliches gesagt, ihm nie diese bestimmte Art von Komplimenten gemacht. Nie versucht, ihn irgendwie anzufassen oder was weiß ich, was ich noch alles hätte tun können. Aber ich schätze, ich halte mich schon wieder zu viel an allem auf. Tut mir leid. Also, letztlich läuft es darauf hinaus, dass ich ihm schnell erklärt habe, dass alles in bester Ordnung sei. Damit er sich erstmal wieder etwas beruhigen kann. Wir haben dann ganz ernst miteinander geredet. Er hat erzählt, dass er schon über ein Jahr in mich verliebt war und diesen Brief geschrieben hatte, um seine Gedanken zu ordnen und auch um zumindest ein bisschen damit abzuschließen. Er hat mich dann so fest umarmt, dass ich dachte, er lässt mich nie wieder los. Wir waren beide überglücklich. Ein überglückliches Paar. Und der erste Kuss hat auch nicht lange auf sich warten lassen. Nein, ganz und gar nicht lange... Die Zeit, in der wir zusammen waren, war wirklich fantastisch. Ich weiß, mit der Zeit haben wir uns auseinander gelebt und das finde ich sehr traurig. Und daraus resultierte dann auch mein Rauswurf. Aber ich möchte es dennoch nicht missen. Wir waren ein Jahr zusammen, als wir anfingen, darüber zu reden, es vielleicht auch anderen Leuten zu sagen. Das Versteckspiel machte uns langsam aber sicher doch ziemlich fertig. Wir wollten nicht wie normale Pärchen Hand in Hand irgendwo spazieren gehen oder hemmungslos herum flirten. Nein, so waren wir dann doch nicht. Aber wir wollten auch nicht mehr penibel auf jeden kleinen Schritt achten müssen. Jeden kleinen Blick, jedes kleine Wort, das wir miteinander wechselten. Theo wollte seinen Eltern davon erzählen. Aber ich war unsicher. Ich habe mir Sorgen gemacht. Denn die Reaktionen und Folgen waren einfach nicht absehbar. Was, wenn sie uns voneinander fernhalten wollten? Er hat das aber sehr locker gesehen. So nach dem Motto ‚Wird schon gut gehen‘. Und schließlich konnte ich es ihm nicht ausreden. Es waren ja auch seine Eltern, dachte ich mir. Welches Recht hatte ich schon, ihm das zu verbieten? So kam also erst einmal sein Coming-Out. Und was soll ich da groß sagen? Es ging alles gut. Sie wollten anschließend noch mit mir allein reden. Du kannst dir sicher vorstellen, wie nervös ich in diesem Augenblick war. Aber letztlich hätte ich das auch gar nicht sein müssen. Wir verstanden uns ja bisher auch sehr gut. Ich war fast wie ein Teil der Familie. Und dadurch, dass ich mit Theo zusammen war, nannten sie mich nun schon ihren Schwiegersohn. Ich war überwältigt. Zwar hatte ich gehofft, wirklich so sehr gehofft, dass sie nichts dagegen haben, doch diese Reaktion hat mich quasi umgehauen. Das hätte ich mir nicht einmal in meinen Träumen ausgemalt, wie man so schön sagt. Sie haben mich so herzlich in ihrem Leben aufgenommen. Aber dennoch blieb immer noch eine Entscheidung offen. Die, ob meine eigenen Eltern auch davon erfahren sollten oder nicht. Ich war noch mehr hin und hergerissen als vorher schon. Denn wie gesagt, einerseits wollte ich zumindest vor meinen Eltern mit dem Versteckspiel aufhören können. Ich sein. Mich so geben, wie ich nun einmal bin. Auf der anderen Seite war auch immer noch der Gedanke, dass ich es, einmal ausgesprochen, nicht wieder zurücknehmen konnte. Das könnte auch der Fehler meines Lebens werden. Und was dann? Ich konnte noch nicht auf eigenen Beinen stehen. Wir haben wieder sehr oft lange und ausführlich darüber geredet. Theo hat sogar angeboten, dass wir mit seinen Eltern auch darüber reden könnten. Doch ich wollte sie da nicht mit hinein ziehen. Warum ich mich am Ende doch für das Coming-Out entschieden habe, kann ich dir nicht genau sagen. Ich denke, ich hatte einfach Hoffnung. Wie gesagt, ich hatte sie nie gegen Menschen, die anders waren – in welcher Form auch immer – schimpfen hören. Nie war ein böses Wort gegen irgend jemanden gefallen. Oder zumindest habe ich das nie mitbekommen. Es kann auch sein, dass ich nur nie dabei war. Zum anderen denke ich aber auch, dass ich unbewusst wohl dachte, wenn es bei Theo so gut ging, muss es das bei mir auch. Und obwohl ich doch wusste, dass es nicht gut sein konnte, mit gewissen Erwartungen an die Sache heran zu gehen, habe ich genau das getan. Durch das Beispiel das ich bereits erlebt hatte. Ich habe mir dafür ein Wochenende heraus gesucht. Einen Tag, an dem sie nicht schon von der Arbeit genervt sein konnten. Oder zu geschafft. Einen ruhigen, entspannten Tag eben. Ich sagte, ich müsse einmal mit ihnen reden und wir setzten uns zusammen ins Wohnzimmer. Ich war so aufgeregt. Ich konnte es kaum erwarten zu hören, dass ihnen das egal ist. Dass ich ihr Sohn bin und das nichts daran ändert. Ja, irgendwie hatte ich mir das alles schon ausgemalt. Doch dazu sollte es nicht kommen. Als ich alles erklärt hatte, sahen sie mich nur schweigend an. Mit einem ungläubigen, fassungslosen Blick. Dass das nicht die Erfüllung all ihrer Träume war, war mir klar. Aber diese Blicke verunsicherten mich doch sehr. Vor allem, weil sie so ewig lange brauchten, um überhaupt etwas zu sagen. Gut, eigentlich war es nur mein Vater, der alles weitere sagte. Ich kann es noch heute hören. Als wäre es gerade erst passiert. Aus Unglauben wurde Zorn. Und ein einziges, kleines Wort reichte, um meine Welt zum Einstürzen zu bringen. 'Raus.', sagte er. Meine Erwartungen, meine Vorstellungen, all das Hoffen war mit einem Mal zunichte. Es ist schwer, dieses Gefühl zu beschreiben. Es war, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Alles brach irgendwie zusammen. Gleichzeitig habe ich mich selbst verflucht. Dafür, dass ich das getan hatte. Dafür, dass ich wirklich so fest davon überzeugt gewesen war, dass es genauso wie bei Theo sei musste. Für meine bodenlose Dummheit und Naivität. Natürlich habe ich versucht, noch irgendwie mit ihm zu reden. Zu erklären. Verständnis zu finden. Ich sagte, ich sei immer noch derselbe Mensch. Dass sich nichts geändert habe. Was ja auch stimmt. Aber ich stieß auf taube Ohren. Er wollte davon nichts wissen. Geschweige denn davon, dass ich immer noch sein Sohn sei. Oh, ja. Da wurde er richtig böse. 'Nein!', schrie er sofort. Er habe keinen Sohn. Das hat mir den Rest gegeben. Er verleugnet mich. Er verstößt mich, wurde mir klar. Und bevor ich mich wieder fassen und noch etwas sagen konnte, hat er mich am Arm gepackt und vor die Tür gezerrt. Einfach rausgeschubst hat er mich. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und ohne ein weiteres Wort hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ich wusste, was das hieß: 'Lass dich hier nie wieder blicken.' Und so musste ich erfahren, dass es eben doch zwei ganz unterschiedliche Reaktionen auf dieses Geständnis gibt. Das war ein Schock. Der saß mir noch sehr lange richtig tief in den Knochen. Ich hab meine Eltern geliebt. Und von den Menschen, die man liebt, weggestoßen zu werden, tut richtig weh. Ich weiß, du hattest nie so eine innige Bindung zu deinen eigenen. Keine Ahnung, ob du das so überhaupt nachvollziehen kannst. Es ist, als wärst du plötzlich ganz allein auf der Welt. Ganz allein im Dunkeln. Ganz allein ohne einen einzigen Lichtblick. Man sieht nichts mehr. Keine Zukunft, kein Glück. Man fällt in dieses tiefe Loch. Dieses scheinbar bodenlose Loch. Ich dachte, ich breche augenblicklich zusammen, so schwach kam ich mir vor. So hilflos. So allein und verlassen. Aber da gab es einen Menschen, der hat mich aufgefangen. Theo war an diesem Abend vor unserem Haus. Ich hatte ihm gesagt, wann ich die Bombe platzen lassen wollte. Und er hat selbst entschieden, dass er vor dem Haus warten wollte, was passiert. Und als er sah, wie dort vor der Tür stand, wie ich diese anstarrte... Fassungslos anstarrte. Ich weiß nicht, was er da gedacht hat. Ich habe ihn nie gefragt. Aber er war da. Er kam zu mir, nahm mich in den Arm und brachte mich ... ja, er brachte mich wieder hierher. Dann habe ich erfahren, dass er im Vorfeld selbst mit seinen Eltern geredet hatte. Und sie hatten zugestimmt, mich bei sich aufzunehmen, sollte mein Coming-Out schief gehen. Ich schätze, er wollte einfach eine Art Notfallplan haben. Ich muss aber auch sagen, dass ich damit nur einverstanden war, weil ich keine andere Möglichkeit hatte. Es gab ja keine Alternative. Zuerst wollte ich die Schule schmeißen und mir Arbeit suchen. Aber das haben die beiden nicht zugelassen. Sie meinten, ich könne ihnen ja später etwas wieder geben. Einen Nebenjob habe ich mir trotzdem gesucht. Und das hier, wo wir gerade sind, das war mein Zimmer. Vor meinem Einzug war es eine Art Arbeitszimmer. Sie haben nicht viel verändert, Schränke und Regale waren schon dort. Es gab natürlich noch ziemliches Chaos mit allem, dem Papierkram und allem anderen. Aber mit der Zeit haben wir alles irgendwie klären können. Ich habe mich an die neuen Lebensumstände gewöhnt und das Beste war, dass ich nun jede freie Minute mit Theo verbringen konnte. Das war wundervoll. Naja, was noch? Wie es dann weiter ging, weißt du ja auch irgendwie. Nach dem Abschluss sind Theo und ich zum Studium in eine eigene kleine Wohnung gezogen. Aber dadurch, dass wir beide dann ziemlich im Stress waren mit der Uni und den Jobs, die wir beide angenommen hatten, haben wir uns schließlich doch auseinander gelebt. Wir waren mehr Freunde als wirklich zusammen. Irgendwann kam dann die Aussprache, die kommen musste und blabla. Später kam Yannik und... von ihm hab ich dir ja schonmal erzählt. Wobei an der Geschichte auch etwas gut war. Denn ohne wäre ich dir wahrscheinlich nie begegnet." Hendrik nickte nur leicht. Ja, an Yannik, diesen Psychopaten, erinnerte er sich nur allzu gut. Ihm hatte er die Schussverletzung am Bein zu verdanken. Er rieb sich kurz über die Stirn, versuchte nicht zu sehr an diesen Tag zu denken. Tim drückte ihn etwas an sich, strich ihm kurz durchs Haar. "Ist deine Frage damit beantwortet?", wollte er wissen. "Ja, ich denke schon.", antwortete Hendrik, "Es ist nur... Ich wünschte manchmal, ihr hättet euch vielleicht verkracht. Ich weiß, das ist schrecklich, aber wenn ich sehe, wie gut ihr euch versteht..." "Oh nein, nein. Wir sind Freunde, mehr ist da nicht. Da brauchst du absolut keine Angst zu haben. Ich lass dich nicht mehr allein. Nie wieder.", versuchte Tim ihm endlich klar zu machen. "Hm.", kam es nur von ihm. Er wollte nicht weiter darüber reden. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Er wollte eigentlich nur noch schlafen. So löschten sie das Licht und waren bald darauf auch eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)