Die Sache mit der Hochzeit von Himi_und_Nami ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Aoi wurde einfach schlecht. Alles Blut rann in einem Zug aus seinem Kopf, ihm wurde schwindelig. Eine bleierne Schwere wollte ihn unbarmherzig zu Boden ziehen. Ihm wurde kalt. Er riss sich zusammen. Dann flüchtete er aus dem Zimmer, taumelte den Flur hinab, hinein ins Bad, mit letzter Kraft schloss er die Tür der Toilettenkabine hinter sich. Dann übergab er sich beinahe geräuschlos. Auch Minuten später ging sein Atem schwer. Was sollte das? Wieso spielte sein Körper ihm so einen Streich? Was machte es denn für einen Eindruck, mitten im Gespräch aus dem Raum zu stürzen? Gerade noch hatten sie von so schönen Dingen geredet. Gerade waren sie noch so gut gelaunt gewesen, hatten zu fünft über ihre Familien gesprochen. Uruha hatte von seiner neuen Flamme erzählt. Aoi hatte sich dabei immer unbehaglich gefühlt. Natürlich. Er war ja auch allein. Wenn man sich selber so einsam fühlt, so sehnsüchtig auf Liebe und Zuneigung wartet, ist es doch normal, dass man nicht gerne über Beziehungen von anderen redet. Aber der letzte Satz hatte Aoi einfach den Boden unter den Füßen weg gezogen. Ach was. Er hatte bestimmt etwas Falsches gegessen. Okay. Es gab keine andere Erklärung dafür. Uruha hatte schließlich nichts Außergewöhnliches gesagt, außer ... außer ... dass er heiraten wollte. Uruha ist verlobt, schoss es ihm durch den Kopf. Uruha ist verlobt, Uruha ist verlobt, Uruha ist verlobt. Er spürte, wie sich sein Magen fast wieder umdrehte, wieder und wieder, je öfter er diesen Gedanken wiederholte. Er konnte doch nicht so neidisch auf den Anderen sein, dass ihm das Glück seines Gitarrenpartners so zuwider schien. Was war nur los mit ihm? Die nächste halbe Stunde bekam er sich auch nicht ein. Er konnte zusehen, wie er blasser und blasser wurde. Ihm war nicht nur schlecht; er fühlte sich seltsam leer. Als wäre ihm etwas aus dem Körper gerissen worden. Er konnte nur nachdenklich in den Spiegel schauen. Selbst sein Blick war leer, die Augen trüb. Irgendwie musste er sich zusammenreißen. Ihm würde doch nichts anderes übrig bleiben. Er musste diese Magen-Darm-Grippe einfach gründlich auskurieren. Und er riss sich in der Tat zusammen. Er entschuldigte sich bei den anderen. Uruha blinzelte immer noch verwirrt und noch verwirrter, als Aoi vor ihm stand und halbherzig betonte, dass er sich ja so für ihn und seine Freundin Tomoko freuen würde. Irgendetwas war anders geworden. Das verstand auch Uruha, ohne, dass er wusste, wie es in Aoi aussah. Das wusste dieser nicht einmal selbst. »Ich ... es tut mir wirklich leid. Ich ... mir geht es heute wirklich nicht gut ... Das war vorhin ein völlig unpassender Augenblick ... Bitte bestelle Tomoko schöne Grüße von mir, ja?« Uruha überhörte einfach, dass Aoi das alles nun schon zum dritten Mal wiederholte. Er nickte zustimmend, er konnte Aoi auch nicht böse sein. Aber den Moment, in dem er den anderen offenbaren würde, dass er heiraten wolle, hatte er sich irgendwie anders vorgestellt. Er war enttäuscht. Der Augenblick war vorbei und hatte sich gar nicht so toll angefühlt, wie er immer geglaubt hatte. Aoi ahnte schon, dass er Uruha dieses Zaubers beraubt hatte und das tat ihm auch unheimlich leid, aber er konnte es nun nicht mehr ändern. Das war fast am schlimmsten an der ganzen Situation. Total fertig mit sich und der Welt schlurfte Aoi aus dem Zimmer. Uruha konnte ihm nur hinter herschauen. »Schon gut ...«, murmelte er, aber gut war es nicht. Ganz und gar nicht. Der Leadgitarrist zuckte zusammen, als die Tür klappte und Rukis Hand an seinem Rücken spürte. »Mach dir nichts draus. Aoi freut sich für dich – er ist heute eben krank.« »Hat wohl zu viele Austern geschlürft«, warf Reita ein, der gerade vorbeiging und seine Bassgitarre an die Wand stellte. Aus seiner Tasche holte er eine Flasche Cassissaft hervor. »Wenn wir schon keinen Wein zum Anstoßen haben, dann stoßen wir wenigstens mit etwas an, das wie Wein aussieht.« Schon kam Leader-san mit Plastiktassen, die er in einem Convini-Store gekauft hatte – für eben solche Notfälle – und befüllte diese mit dem Tankstellensaft, den Reita zur Zeit so gerne trank. Mit einem >Kampai< stießen alle vier Gazettos an. Alle Vier? Nein. Das war nicht so wie in seiner Vorstellung. Einer fehlte. Jemand ganz Entscheidendes! Und schon wieder war ein wichtiger Augenblick nicht so geworden wie er es sich vorgestellt hatte. Fast schon ein wenig nachdenklich trank er in einem Zug die Tasse leer. Auch auf die Gefahr hin, gleich einzuschlafen – er stellte sich ja vor, dass dies nun Wein sein sollte. Das wäre eh höchstwahrscheinlich gewesen, hatte er doch die halbe Nacht darüber nachgedacht, wie es sein würde, den anderen zu sagen, dass er sich nun als Erster in der Runde aufs Glatteis wagen und in den Hafen der Ehe hineinschlittern wollte. Die anderen lachten und fingen sofort an, den Junggesellenabschied zu planen. Es musste etwas ganz Besonderes werden. Da waren sie sich sicher. Bei so etwas hatte meist Aoi die besten Ideen. Aoi. Ach ja. Er war bestimmt in einer Viertelstunde zu Hause. Wieder drifteten Uruhas Gedanken zum Rhythmusgitarristen ab. Was war bloß los mit ihm? ~~~ Als Aoi am nächsten Morgen erwachte und auf die Uhr spähte, wurde ihm schlagartig wieder schlecht. Nachdem er sich die halbe Nacht über am Bettrahmen festgehalten hatte, um die Erdkugel von der Drehung abzuhalten, war er natürlich übernächtigt – und deshalb war es jetzt auch genau zwanzig Minuten nach Arbeitsbeginn. Und drei Anrufe in Abwesenheit. Prompt vibrierte sein Telefon erneut und er ging ran. »Moshi moshi?« »Ah, endlich wach?« Uruha ... Seine Stimme war so weich wie immer und ein Lächeln schwang eindeutig mit. »Äh ... ja. Ich mach mich gleich auf den Weg. Die Nacht war echt grausig!« Der im Bett liegende, immer noch schläfrige Gitarrist schwang seine Beine über die Kante und setzte sich auf. »Uruha?« »Hm?« Nach einem Moment der Ruhe seufzte er. »Es tut mir leid. Das gestern war ehrlich unter aller Sau von mir ...« »Dir war schlecht, da kannst du doch nichts für. Übrigens musst du dich nicht so sehr beeilen.« »Warum nicht?« Lautsprecher angestellt und schon im nächsten Augenblick saß die dunkle Jeans und das geblümte T-Shirt am gestählten Gitarristenkörper. Schon war er auf dem Weg in die Küche, wo er den Kühlschrank durchstöberte und leise pfiff. Ein Seufzen erklang am anderen Ende der Leitung. »Kai war gestern bei seiner Mama. Er steht im Stau, also ... komm zur Arbeit, aber verknote dich nicht in der U-Bahn mit fremden Personen.« Uruha grinste breit. »Ich fahre so oft U-Bahn, da meinst du, ausgerechnet heute begegne ich der Frau meines Lebens?« »Man weiß nie, was einen erwartet, wenn man aufsteht ...« Aoi hielt über seinem Wrap mit Salatblättern und gebratener Hähnchenbrust samt delikater Soße gebeugt inne und blickte das Handy neben sich an. Eine Art Blitz schoss durch seinen Kopf, bevor er die Augen schloss, den Kloß im Hals herunterschluckte und den Wrap so faltete, dass er ihn als Snack für die Arbeit mitnehmen konnte. »Was hat dich denn erwartet, als du heute aufstandest?« »Aoi!«, rief Uruha empört aus und lachte herzlich. »War das so klar zu hören?« »Nein«, antwortete Aoi und legte die gefaltete Teigtasche in die Bentobox, die ihm seine Nichte geschenkt hatte. »Ich wusste nur, dass was ist ... sonst klingst du nämlich nicht so geschwollen.« »Geschwollen stimmt sogar«, witzelte der Jüngere und kicherte wieder. »Ich freue mich wirklich für euch.« »Das weiß ich doch. Bist du schon unterwegs?« »Noch nicht, aber gleich.« Der Ältere hob sich die Tasche über den Kopf und schnappte auch das Handy von der Anrichte. »Möchtest du mitgeschleppt werden oder noch ein bisschen Ruhe vor mir haben?« »Pack das Handy in die Tasche und ab geht’s. Wir sehen uns ja gleich. Ach ja, Aoi?« »Hm?« »Überleg dir mal, wo du uns heute Abend mit hinnimmst, damit wir richtig anstoßen können!« Ein sanftes Lächeln umspielte Aois Lippen, als er die Wohnungstür hinter sich abschloss. »Wird erledigt, Takashima-sama! Stets zu Diensten, Takashima-sama!« »Bis gleich, mein Diener!« Dann piepte es leise und die Verbindung war getrennt. Aoi hatte wirklich Glück, dass Uruha nicht nachtragend war. Mit den In-Ear-Kopfhörern stiefelte er los und lauschte den morgendlichen Aufwach-Charts des Tokyo (bekannter/beliebter Radiosender), die Straße entlang, quer über die Kreuzung, die nächste Straße überquerend und dann begab er sich schon die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn, um dort in den nächsten natürlich wie immer überfüllten Zug zu steigen und sich von den allseits beliebten und bekannten Herren mit den weißen Handschuhen gegen andere, völlig fremde Personen drücken zu lassen. Es kümmerte ihn nicht. So lange sich keine wie in Europa quietschenden Fans an ihn drängten, war alles okay. Und jetzt alleine in der Menschenmasse erschien ihm sein Ausraster von gestern wie die Reaktion auf eine Lappalie, wie ein weggeflogenes Plektrum, das man wieder aufheben könnte. Aber gestern konnte er nichts mehr tun ... ganz abgesehen von dem Schmerz, den er Uruha beigebracht haben musste, gerade den konnte er nicht auslöschen. Und erst recht nicht die Erinnerung an einen verpatzten Moment. Ob die anderen Gazettos sich schon etwas für den Junggesellenabschied ausgedacht hatten? Hoffentlich nichts zu Abgedroschenes wie der Besuch in einem Strip-Lokal ... Notfalls musste er einen Extra-Junggesellenabschied à la Aoi organisieren. Und ja, richtig ... auch die Braut gehörte ja irgendwie dazu. Was schenkte man zur Zeit Brautpaaren? Was war in Mode? Am besten wäre es, er würde nach der Arbeit bei seiner älteren Schwester oder Mama anrufen, eine von beiden wüsste bestimmt Bescheid. Ob sie traditionell oder eher westlich in den Hafen der Ehe einfahren wollten? Und was war mit Kindern? »Bitte aussteigen ...« Aoi schreckte hoch und versuchte sich aus dem Zug zu drängeln, bevor sich die Türen wieder schließen konnten, doch er stieß gegen Jemanden, stolperte zurück und wurde gegen die nächste Scheibe gedrückt, vor sich Hitze und ein männlicher Geruch, der ihm die Knie weich werden ließ. Bitte, was war das denn jetzt? »Wo sind denn deine Gedanken, Yuu?« Der Mann versuchte, einen halben Schritt zurück zu tun, um Aoi ein bisschen Intimsphäre zurückzugeben. Der teilweise pink gefärbte Gitarrist hob leicht den Kopf und blinzelte. Blinzelte noch mal. Uruha ... Wieso ... sein Geruch ... verwirrend. Absolut verwirrend. »Ich ... wir müssen doch ...« »Ihr müsst noch drei Stationen weiter, Shiroyama-san.« Frech wurden ihm die Kopfhörer aus den Ohren gezogen und die zarte Stimme drang noch genauer an sein Gehör. Er hatte verdrängt, wie sie aussah. Ihre chinesisch anmutenden Haarknoten waren ihre übliche Frisur, gekonnt und locker. Ihre getuschten Wimpern umrandeten die haselnussbraunen Augen und ihre rosafarbenen Lippen lächelten sehr freundlich und gütig. Sie war wirklich nett, eine gute Köchin, frech, aber nicht unangenehm aufdringlich. »Tomoko-san, ich ... herzlichen Glückwunsch zu Eurer Verlobung! Ich freue mich wirklich sehr für euch!« »Danke sehr.« Sie erhob ihre rechte Hand und zeigte ihm ihren Handrücken, an ihrem Ringfinger glänzte ein heller Opalring. »Er ist schön, oder? Mir ist immer noch ganz schwindelig vor Glück ...« Uruhas Hand schob sich auf ihre Schulter. »Du übertreibst, Liebes ...« Aoi spürte wieder die Übelkeit in sich aufkommen. »Nein, nein, wirklich!« Tomoko lachte hinter vorgehaltener Hand. »Oh, meine Endstation für den Moment.« Sie streckte sich kurz und küsste Uruha auf den Mundwinkel. »Ich schreibe dir später ... oder rufe dich an, je nach dem ...« »Ist gut ...« Uruhas Lippen berührten ihre Stirn. »Sei vorsichtig!« »Ihr auch! Shiroyama-san, wir sehen uns! Bis dann!« Damit schwang der Faltenrock aus der Tür und ihre Ledertasche hüpfte auf ihrer Hüfte mit. Noch ein Mal drehte sie sich um und winkte ihnen zu. Dann fuhren sie weiter. »Aoi, du siehst schon wieder so blass aus ...«, murmelte Uruha besorgt. »Schon gut«, erwiderte der Andere gedrückt und wartete darauf, dass sich die Türen wieder öffneten. »Mir bekommt das alles zur Zeit nicht. Bewegung ... also, Bewegung im Zug oder so. Busfahren ist auch eklig.« »Dann ... müssen wir wohl ne Beam-Anlage für die künftigen Konzertorte kaufen, was?« Uruha grinste und stupste ihn freundschaftlich an. »Ist dir schon was für heute Abend eingefallen?« »Zum Anstoßen? Nö, noch nicht, aber mir fällt schon was ein. Vielleicht was richtig Peinliches?« »Für wen peinlich?«, fragte der Jüngere misstrauisch. »Kommt auf den Alkoholpegel an.« Dieses Mal grinste Aoi. »Du ahnst, was ich meine, oder?« »Oh, Aoi ... keine Karaoke-Bar, bitte!« »Oh doch! Warte nur ab, was die anderen dazu sagen. Sie werden mir bestimmt zustimmen. Und dann wird heute Abend gefeiert, dass die Luftschlangen mit den Korken um die Wette fliegen!« »Hm ... wenn’s denn unbedingt sein muss ...« Uruha seufzte, betrachtete seine Armbanduhr und presste die Lippen aufeinander. »Erst zwei Minuten«, sagte Aoi laut. »Was?« Der blonde Gitarrist errötete und hob den Blick, um seinem Kollegen in die Augen zu sehen. »Was sind erst zwei Minuten?« »Du hast sie vor zwei Minuten das letzte Mal berührt, das mit der Enthaltsamkeit musst du noch lernen ...« »Ich ... sie wollte zur ... na ja ...« Verlegen kratzte er sich am Mundwinkel und suchte nach einem anderen Punkt, auf den er sich konzentrieren konnte. »Warum ist deine Süße eigentlich hier schon ausgestiegen? Die Uni ist doch erst nach uns ...« Und dann machte es klack, klack, klack in Aois Kopf – und ein großer Gong ertönte. Die vorige Station war der Ausgang zum Ärzteviertel, ihr Blick, Uruhas Blick, ihre Verabredung auf ein folgendes Gespräch, der Kuss auf ihre Stirn ... Aois Miene verfinsterte sich. »Ist das der Grund, warum du ihr einen Antrag gemacht hast?« Er wollte nicht aufbrausend klingen, aber anscheinend war er lauter geworden, denn viele Augenpaare beobachteten sie plötzlich. Uruhas kleine Augen weiteten sich überrascht und geschockt zugleich. »Was denn?«, knurrte Aoi und fühlte sich wie ein Kater, der sein Revier verteidigen müsste. Wenn der Antrag nicht aus Liebe geschehen war, sondern andere Gründe hatte, würde er diese Ehe nicht unterstützen. Party hin oder her, aber keine Zweckehe für einen guten Freund. Während seiner inneren Gedankengänge waren sie ausgestiegen, ihre Station wimmelte nur so von Leuten und Aoi blieb stehen. Er spürte Uruha recht dicht hinter sich und hatte Angst, gleich in Ohnmacht zu fallen. Für den Moment wurde es still und leer in der Halle. Der Pinkhaarige tat zwei Schritte vor, drehte sich um und sah Uruha ins Gesicht. Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, drosselte er seine Stimme. »Ihr glaubt, sie ist schwanger.« »Ja, das glauben wir ...«, sagte der Jüngere und kniff die Augen missbilligend zusammen. »Aber mir gefällt nicht, was du da von ihr hältst! Denkst du wirklich, sie gehört zu der Sorte Frau, die sich schwängern lässt, um einen Musiker an Land zu ziehen?« »Sie studiert. Ist da ein Baby nicht hinderlich?« »Yuu, das geht zu weit!« Plötzlich baute sich Uruha wie ein Bär vor ihm auf. »Ist es nicht genug, dass du bei dem Gedanken an eine Hochzeit brechen musst, nein, jetzt wirfst du mir und meiner Verlobten vor, wir wüssten nicht, wann da Liebe ist und wann das Pflichtbewusstsein anfängt?« »Also doch!«, ereiferte sich der Ältere. »Das war der Hintergedanke, oder? Dass das Kind nicht unehelich zur Welt kommt? Ich hätte nie erwartet, dass du so spießig bist, Kouyou, wirklich, nie!« Jetzt war er doch wieder laut geworden. »Spießig? Das will mir Mr Homophob erzählen? Oh ja, ich bin so spießig, dass ich mir wünsche, in ein paar Jahren nach Hause zu kommen und dort von meiner Frau und meinen Kindern empfangen zu werden. Stell dir vor, so schrecklich spießig bin ich!« »Du willst aufhören?« Aoi blieb langsam die Luft weg vor Entsetzen. »Du willst mit Gazette aufhören und -« »Hört sofort auf, alle Beide!« Ruki stand hinter Aoi und schrie durch die Halle. »Das ist peinlich ... So etwas habe ich von euch Beiden nicht erwartet«, zischte er verständnislos. »Schämt euch und haltet die Klappe, bis wir im Proberaum sind. Ich will keinen Mucks hören.« Anscheinend war es dem Sänger ernst, denn trotz Aois bebender Faust und Uruhas offen stehendem Mund, nahm er seine ‚Sprich mich nicht an-Pose’ ein, bei der er beide Hände in den Jackentaschen versteckte. In ihm brodelte es. Wie konnte Aoi nur so von ihm denken? Und von Tomoko? Wieso sollte sie riskieren, ihr Studium nicht weitermachen zu können, wenn sie ihn doch nicht liebte? Wenn sie jetzt tatsächlich schwanger war, konnte das nur ein gutes Zeichen sein. Ein gutes Omen. Dass sie die Richtige war, dass der Moment der richtige war. Sicher, er würde noch weiter mit Gazette zusammen arbeiten, aber er würde auch bald einen Abschied bekannt geben. Traurig für die Fans, für ihn, für die anderen Jungs ... aber besser für eine wachsende Familie. Während sie zu dritt im Fahrstuhl standen und die letzten Meter zu ihrem Stockwerk zurücklegten, traute sich Uruha das erste Mal seit ihres Streits, den Kopf zu heben und Aoi anzusehen, ohne das Gefühl zu haben, ihm gleich an die Gurgel springen zu müssen. Sein seit Jahren vertrauter Gitarrenpartner starrte auf den Linoleumboden des Lifts und schien ein Knurren zu unterdrücken. In seinen Gedanken war es wohl wirklich mehr ein Komplott als eine Entscheidung aus Liebe. Aber wieso wartete er nicht ab und verurteilte stattdessen sofort Tomoko? Es könnte doch auch an ihm liegen? Oder sie könnten sich einfach lieben? Und zusammen ... könnten sie vielleicht eine Familie gründen. Vielleicht waren sie bald zu dritt. Ruki ließ die Schlüssel klirren und steckte den Raumschlüssel ins Schloss und schob kurz darauf die Tür auf. »Rein mit euch.« Wütend warf er den Schlüsselbund auf den Tisch hinter dem Mischpult und streifte seine Jacke ab. Uruha wusste genau wie Aoi, dass der Sänger diese autoritäre Rolle nicht gern einnahm, aber da Reita anscheinend noch nicht da war und Kai noch eine Weile brauchen würde, musste er sich wohl oder übel fügen. Genau wie sie. Uruha setzte sich auf die Couch und Aoi ans andere Ende auf die Kante. Ruki drehte den Stuhl am Tisch um und setzte sich umgekehrt darauf, damit er sich notfalls aufstützen und ihnen eine Szene machen konnte. »Und jetzt Klartext«, begann der Jüngste leise. »Du, Uruha, bist spießig, weil du deine Freundin heiratest, oder wie ist das?« »Ich bin dagegen, dass er heiratet!«, warf Aoi erbost ein und das Knurren, das die ganze Zeit schon in seiner Kehle gewartet hatte, trat nun zu Tage. »Tomoko-chan ist schwanger und er denkt, er müsste sie deswegen heiraten!« »Sie hat erst gestern die Annahme geäußert, dass sie vielleicht -« »Und wenn sie es schon länger weiß?« »Dann liebe ich sie trotzdem!«, blaffte Uruha zurück. »Ich liebe sie, Yuu, verstehst du das nicht? Selbst wenn sie es schon länger weiß und sich nicht getraut hat, es mir zu sagen. Ich habe ihr den Antrag gemacht, weil ich sie liebe ... und nicht, weil sie schwanger ist.« Einen Moment lang war es still und Aoi rang nach Fassung. Ruki seufzte schwer. »Es ist gut, Aoi ... Auch wenn es schwer für uns wird. Wenn ... wenn Kouyou ...« Der Sänger versuchte selbst Tränen zurück zu halten, denn schließlich hatte er auch den Rest ihres Streits in der U-Bahn gehört. »Wenn Kouyou Tomoko-chan heiraten und ... mit ihr eine Familie gründen möchte, ist das seine Entscheidung. So sehr uns das auch schmerzen mag«, sagte er schnell. »Takanori, du ...« Ausgerechnet du stellst dich gegen mich, wenn es darum geht, sich gegen die Frau zu stellen, die Gazette auseinander reißen könnte? »Ich kann es nicht ändern. Vielleicht krieg ich mich auch wieder ein, aber ...« Er drehte sich zu Uruha um. »... wenn es dabei bleibt, dass du uns innerhalb der nächsten drei Jahre verlässt, bin ich nie mehr auf deiner Seite, Kouyou!« Uruhas Lippen pressten sich wieder aufeinander. Unwillig und verärgert. Gekränkt. Er nickte. Zwei Stunden später waren alle Gazettos im Raum, als Uruhas Handy klingelte. Er strahlte, während er Tomoko lauschte, obwohl Aoi ihm offenkundig mit einer Freundschaftskündigung gedroht hatte. Das war der Moment, in dem Aoi begriff, dass etwas gründlich schief lief. Nicht nur, dass Uruha vielleicht die Band verlassen würde, nein ... Dazu kam noch dieses Gefühl von Wut und Eifersucht gegenüber einer Frau, die mit Uruha ihr Leben verbringen würde. Also beschloss er, gleich morgen etwas zu ändern. Aber was sollte er tun? Die Hochzeit bis zum Schluss boykottieren? War das nicht kindisch? Er schüttelte sich. Was war nur los mit ihm? So kannte er sich gar nicht. Mit einem strengen Blick beäugte er Uruha, der strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Er flüsterte Reita etwas ins Ohr, woraufhin der Basser ihn erst ungläubig anstarrte, den Mund weit aufgesperrt. Nachdem er Uruha noch einmal unterstützend nicken sah, fing Reita an zu strahlen. Sein Blick war weich und er freute sich überschwänglich, schloss im nächsten Moment die Arme um den anderen. Aoi wusste, dass das nur eines bedeuten konnte ... Im nächsten Augenblick überkam ihn ein Gefühl, für das er keine Worte hatte. Eine dicke, schwarze Schicht aus bleierner Schwere legte sich auf seine Schultern. Er konnte spüren, wie seine Rückenmuskeln sich versteiften. Was er nun fühlte war keine Wut mehr. Wie allem Leben beraubt, legte sich erneut ein aschfahler Schleier über sein Gesicht ... sein Magen schien sich schon wieder umzudrehen. Nein. Er konnte nichts daran ändern. Nichts dagegen tun. Als er Uruha auch zu Kai und Ruki gehen sah, ihnen die freudige Mitteilung zu machen und die beiden ähnlich reagierten, wie Reita zuvor, war der Tag entgültig für ihn gelaufen. Wieso? Wieso weinte er plötzlich. Diese Träne musste sofort wieder aus seinem Auge verschwinden. Uruha drehte sich zu ihm um, aber das sah Aoi schon gar nicht mehr. Er hatte sich bereits halb umgedreht und schleppte sich wie ein krankes Tier aus dem Raum, in den Flur, in den Fahrstuhl, durch die Halle, hinaus in die Stadt. Er ließ sich krankschreiben. ~~~ Es regnete in Tokio. Schon seit dreieinhalb Tagen. Aoi wusste es nur, weil er die Tropfen an der Fensterscheibe hörte. Den Himmel hatte er durch die zugezogenen Vorhänge lang nicht mehr gesehen - seit er seine Wohnung betreten hatte. Sofort rief er bei ihrem Manager an. Er fühlte sich nicht in der Lage, irgendwas zu tun. Wahrscheinlich war er einfach überarbeitet. Kai hatte ab und an angerufen, um sich nach ihm zu erkundigen. Uruha hatte sich gar nicht gemeldet. Eine Weile, es konnten auch Stunden gewesen sein, hatte er auf seinem Bett gelegen und an die Decke gestarrt. Er hatte gegrübelt – auch wieder geweint. Was war er denn plötzlich für ein Mensch geworden? Er kam sich vor wie ein Monster! Er verteufelte etwas, das so rein und unschuldig war wie das Lachen eines Kindes, ein so grundlegendes, menschliches Bedürfnis ... Er selbst, Aoi, sehnte sich doch auch nach Glück. Wer nicht? Drehte er gerade durch? Aber dieser Schmerz war doch keine Neurose? Keine Halluzination ... Er griff in das Strebenregal, das neben dem Bett stand und die Funktion eines Nachttischchens übernahm. Sein Armband klimperte auf der Glasplatte. Dort lag eine Fototasche. Er hatte diese Bilder niemals eingeklebt. Er öffnete sie und sein Herz wurde ein bisschen leichter, als er Uruhas stahlendendes Lachen sah. So unschuldig wie das Lachen eines Kindes ... Es waren Fotos eines Ausfluges, den er mit dem anderen vor ein paar Jahren gemacht hatte. Sie hatten sich gegenseitig vor einem Wasserfall in der Nähe der Berge von Ise fotografiert. Natürlich hatten sie nur Unsinn im Kopf gehabt. Uruha hatte am nicht ganz so seichten Wasser versucht eine Ente zu fangen und war dann selber zum schwimmenden Objekt auf der Wasseroberfläche geworden. Aoi hatte gelacht und ihn »die Uruha-Ente« getauft. Daraufhin hatte der Leadgitarrist sich an ihm gerächt und ihn ebenfalls ins Wasser gezogen. Am Ende waren beide klatschnass gewesen und über ihr Picknick hatten sich derweil eine Gruppe Wildenten hergemacht ... Eigentlich war der ganze Tag dumm gelaufen ... Aber es war eine der schönsten Erinnerungen, die Aoi mit Uruha teilte. Und da war es. Das Foto, nach dem er sich gesehnt hatte, was er unbedingt sehen wollte. Er und Uruha auf-, nebeneinander, an einem Geländer aus Holz. Hinter ihnen der Wasserfall. Beide hatten sie die Arme um den anderen gelegt und strahlten um die Wette. Klatschnass. Aoi liebte dieses Bild. Er liebte es wirklich. Er hatte wahrscheinlich gewollt, dass dieser Moment nie zu Ende geht. Dass sie auf immer so gute Freunde bleiben würden. Immer nebeneinander stehen und so cool in die Kamera grinsen könnten. Er hatte gedacht, dass ginge nie vorbei ... Nun war es das. Es war vorbei. Diese Ära endete nun. Einmal noch musste Aoi leicht lachen. In dem Moment nämlich in dem er das Foto umdrehte und das große »Naaaaaack!« erblickte, das Uruha darauf gekrickelt hatte. Daneben stand ganz klein »Die Uruha-Ente und das Aoi«. Dann rumpelte der Rhythmusgitarrist mühsam vom Bett. Er ging in sein Wohnzimmer und holte seine Fotoalben und die Fotoecken. Mit dem Einkleben dieser Bilder würde er Uruha gehen lassen ... Er beschloss morgen wieder zur Arbeit zu gehen. Er wollte die letzen Monate vielleicht sogar Wochen mit Uruha genießen ... Ein schrecklicher Gedanke. Aber er schien ihm endlich wieder ein klarer zu sein, im Gegensatz zu denen, die in den letzten Tagen sein Tun bestimmten. Doch schlafen konnte er nicht. Er ging in die Küche, trank etwas. Ihn überkam die unheimliche Lust auf Karamellpudding. Karamellpudding? Okay, Neurosen hatte er nicht, aber so etwas wie einen Knall ganz sicher. Uruha hatte ihm einmal welchen gemacht, als er krank geworden war. Das war wieder eine schöne Erinnerung. Er kramte in dem Teil seines Küchenschrankes, in dem allerhand Leckereien zu finden waren. Schob Schoki und Bonbons zur Seite, sogar die Momiji Manjus ließ er links liegen. Und dann fand er die Packung ... mit drei Pack Puddingpulver. Nach einer halben Stunde bemerkte er, dass er auch alle drei Packungen brauchte. Die erste ... übergekocht ... die zweite ... angebrannt. Doch die dritte wurde endlich. Um seine eigene Lust zu befriedigen löffelte er einen ganzen Teller leer, hatte sich damit vor den Fernseher gelümmelt, um sich die TV-Serie anzusehen, über die er donnerstags immer mit Uruha geredet hatte, wenn sie sich morgens in der Arbeit trafen. Er musste doch schließlich vorbereitet sein, wenn er morgen wieder auf den Anderen treffen würde. Den anderen Teller Pudding hatte er in den Kühlschrank gestellt. Dort kühlte er ab. Kurz bevor er schlafen ging, holte Aoi ihn noch einmal vor, er schnappte sich die Schokostreusel, die er noch von der letzten Ich-bin-so-modern-und-bestreue-meinen-Kaffee-mit-Schokolade-Phase übrig hatte. ~~~ Als Uruha am nächsten Morgen in die Arbeit kam, stand ein Teller mit hellbraunem, süßen Pudding auf seinem Platz. Er hatte sofort gewusst, von wem diese kleine Geste stammte. Dank seiner Erinnerung, nicht zuletzt aber ob der Streusel in Entenform, hatte er es gewusst. Er war verwirrt, aber erleichtert. Es war ein Friedensangebot. »Uruha?« Nur ganz vorsichtig hatte er sich gemeldet. Schlich sich von hinten an, ehe Uruha sich umdrehen konnte. »Geht’s dir wieder gut?« »Hai, meine Magengrippe habe ich auskuriert...« »Und deine Wut auch? Darauf antwortete Aoi nicht. Er nickte nur leicht und lächelte dazu verkrampft. »Weißt du schon, dass...« »Ja, habe ich mitbekommen...« Einen Moment schien es wieder stiller zu werden. Uruha war gespannt, wie Aoi sich dazu äußern würde. Aoi auch ... »Herzlichen Glückwunsch ...«, hauchte der Ältere ein wenig unsicher und sein Lächeln war ernst gemeint, aber unabsichtlich ein wenig traurig. »Danke ...« Uruhas frohes Gesicht strahlte. Er zögerte ein paar Sekunden, dann entschloss er sich den Älteren einfach zu umarmen. Etwas überrascht ließ Aoi es einfach zu. Er hatte den Anderen irgendwie vermisst in den letzten Tagen. Einen Moment lang fühlte es sich wie Heimkommen an. Aoi schloss die Augen. Das hier war wesentlich besser als Streiten. Ruhig und freundlich. Er spürte Uruhas Atem auf seiner Haut und wie ein feiner Stoff legte er sich auf ihn. Dieser vertraute Geruch. Er erinnerte sich an das Foto, dass nun in seinem Fotoalbum klebte. Die schmerzlich-süße Erinnerung daran ließ ihn schaudern. Er klammerte sich am Anderen fest. Unbeabsichtigt. Etwas länger als geplant. »Ich halte zu dir, egal für was du dich entscheidest«, flüsterte er dann. »Danke ...« Wieder konnte Uruha nur erleichtert seufzen, aber er bemerkte ebenso Aois unstillbares Zittern. Das blonde Deckhaar des Rhythmusgitarristen verdeckte ein wenig die tief trübsinnigen, schwarzen Augen, als er sich wieder aus der Geborgenheit verheißenden Umarmung löste. Gerne hätte er noch einen Moment in ihr verharrt. Und noch einen ... und vielleicht noch einen ... Im nächsten Moment ging die Tür auf und ein giggelnder Kai kam herein. An der Strippe war seine Mutter, die ihm brühwarm erzählte, welche Ungeheuerlichkeiten ihr Nachbar sich wieder geleistet hatte. Aoi und Uruha wurden aus ihrer zerbrechlich zarten Welt geholt. Arbeit. Heute war Kreativität gefragt. Kai hatte Aoi schon am Telefon erzählt, dass Uruha in den letzten Tagen unheimlich kreativ geworden war. Die großen Veränderungen, die ihm bevorstanden, schienen ihn zu beflügeln. Vielleicht bestand ja die winzige Hoffnung, dass Uruha sich umentschied und doch in der Band blieb. Bei vielen Musikern klappte dies schließlich auch wunderbar. Na ja, vielleicht nicht wunderbar. Aber immerhin. Miyavi zum Beispiel war der perfekte Beweis. In diesem Moment fasste Aoi ein neues Ziel. Er musste Uruha dazu bringen in der Band zu bleiben ... ihn davon überzeugen, dass es auch so funktionieren würde ... mit Band und Frau und ... Kind. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)