Der fremde Freund von Nugua ================================================================================ Shirley Fenette --------------- Das Schwert verfehlt das Herz des Tyrannen. Ein stummer Schrei zeichnet sein Gesicht. Der Schmerz nistet sich in seinem Körper ein. Schmerz, so qualvoll und lieblich, so betäubend und erlösend, so willkommen. Der Tyrann umarmt den Schmerz. Er hat lang genug auf ihn gewartet. Der Befreier vergießt seine Tränen, der Tyrann vergießt sein Blut, die Zuschauer vergießen ihren Hass. Der Tyrann atmet ein, ein, ein. Sein Atem geht schwer, doch er atmet weiter, atmet all den Schmerz und den Hass in sich hinein, weiter, weiter ins Verderben. Der Tyrann stürzt in die zitternden Arme des Befreiers, federleicht und schwer zugleich. Er hebt seine Hand, als wollte er die Tränen fortwischen, die er nicht sehen kann, die niemand sehen kann, die niemand sehen darf. Er murmelt die Worte des Abschieds, die niemand hören darf. Das Schwert, Todbringer und Stütze zugleich, gleitet aus dem Körper des Tyrannen. Es singt die letzten vom Blute verunreinigten Töne seines Lieds. Der Tyrann, eine Marionette mit gekappten Fäden, taumelt in den Abgrund. --- Lelouch Lamperouge, der Junge, den sie liebte, aber nicht kannte, starrte in den Nachthimmel. Gedankenversunken wie sie war, bemerkte sie den dunklen Umriss erst, als zwischen ihnen nur noch ein Abstand von drei Metern herrschte. Shirley erstarrte auf der Stelle, damit sie nicht in ihn hineinrennen musste. Am liebsten wäre sie sofort umgekehrt, doch dafür war es zu spät, denn er hatte die Schritte hinter sich längst bemerkt und sich bereits zu ihr umgedreht; das Gesicht ein blasser Schemen in der Dunkelheit. Shirley blinzelte überrascht, dann erkannte sie ihn endlich – und ihr Herz vollführte einen aufgeregten Hüpfer. Oh nein. Ohneinohneinohnein. Nicht er! Der Drang, umzudrehen und wegzulaufen, war mächtig. Der Drang, auf ihn zuzugehen, mit ihm zu reden, ihn zu umarmen, zu küssen, zu atmen, zu schmecken, zu fühlen, war übermächtig. Ja, die Anziehung, die er auf sie ausübte, war mächtig, gefährlich und verwirrend. So verwirrend. Dabei kannte sie ihn doch gar nicht. Himmel, sie konnte sich an keines ihrer angeblich gemeinsamen Erlebnisse erinnern! Und doch schlug ihr Herz jedes Mal wenn sie ihn sah so wild, dass es schmerzte. Seine Lippen bewegten sich. Er musste irgendetwas zu ihr gesagt haben. „... Wie bitte?“ „Shirley, was tust du hier um diese Zeit? Es ist fast 22 Uhr!“ „Ich habe nur einen Spaziergang gemacht.“ „Ah ...“ Sie ging einen kleinen Schritt auf ihn zu, dann noch einen, vorsichtig wie eine Tänzerin auf einem Drahtseil. Nun konnte sie sein Gesicht besser erkennen, das schwache Mondlicht reichte gerade aus, um den besorgten und fragenden Ausdruck darauf auszumachen. „Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich ... zum Nachdenken“, fügte sie hinzu. Die Besorgnis wurde zu Mitleid, und es war seltsam schmerzhaft, das zu sehen, denn sie kannte diesen Blick nur zu gut. Seit dem Tod ihres Vaters vor wenigen Tagen wurde sie von den anderen ständig so angesehen und es war furchtbar. So furchtbar, dass sie glaubte, irgendwann daran ersticken zu müssen. Sie wollte auf keinen Fall, dass Lelouch sie so ansah, sie musste ihn ablenken. „Ich könnte dich eigentlich das gleiche fragen. Was tust du hier um diese Uhrzeit, ganz allein?“ Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich ... zum Nachdenken.“ Shirley errötete, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass er diese Worte nicht gewählt hatte, um sie aufzuziehen, und dass er es wirklich ernst meinte. „Worüber hast du denn nachgedacht?“ Die Frage stolperte aus ihrem Mund, bevor sie richtig darüber nachdenken konnte, und sie bereute es augenblicklich. Es war zu aufdringlich, zu neugierig, zu privat- „Wenn du die Macht hättest, die Welt zu verändern, würdest du sie nutzen? Auch auf die Gefahr hin, dass die Veränderungen, die du auslöst, alles nur noch schlimmer machen?“ „... Huh?“ Shirley war so perplex darüber, dass er ihr tatsächlich geantwortet hatte, dass die eigentliche Antwort sie heillos überforderte. „Äh ... wie kommst du denn auf so etwas?“ Das schiefe Lächeln wurde noch schiefer. „Eine Hausaufgabe für meinen Philosophie-Kurs.“ Sie glaubte ihm nicht. Lelouch schien zu wissen, dass sie ihm nicht glaubte. Keiner von ihnen sprach es an. „... Ich muss erst darüber nachdenken.“ Er starrte sie nur an. „Also, ich, ähm ...“ Shirley gab das einfältige Stottern auf und zwang sich, ruhig durchzuatmen. Lelouch hatte ihr eine ernste Frage gestellt. Also gut, dann würde sie eben darüber nachdenken und ihm eine ernste Antwort geben. So einfach war das. Also: Wenn sie die Macht hätte, die Welt zu verändern, würde sie es dann tun? Im Prinzip ähnelte es der Frage, die sie schon seit Tagen beschäftigte, allerdings in viel bescheideneren Maßstäben. Shirley wollte nicht unbedingt die Welt verändern. Sie wollte nur ihren Vater zurück. Und sich über ihre Gefühle für Lelouch endlich Klarheit verschaffen. Eigentlich wollte sie nur das. Eigentlich. Aber jetzt, da sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte ... fiel ihr auf, dass es noch viele andere Dinge gab, die sie gern ändern würde, wenn sie könnte. Der Gedanke „Rache an Zero“ spukte ihr kurz doch den Kopf, aber ... nein. Shirley verstand nicht genau, warum, doch obwohl sie wusste, dass Zero für den Tod ihres Vaters verantwortlich war, sträubte sich irgendetwas in ihr gegen diese Vorstellung. Sie wollte sich nicht an Zero rächen. Sie konnte ihn nicht einmal hassen. Aber stoppen wollte sie ihn trotzdem, oder genauer gesagt: Sie wollte, dass Zero keinen Grund mehr dazu hatte, zu kämpfen und unschuldige Dritte wie ihren Vater in den Tod zu reißen. Sie wollte, dass die Elevens ein freies und zufriedenes Leben führen konnten, und sie wünschte sich das nicht nur für die Elevens, sondern auch für die Britannier und alle anderen Menschen. Ja, so naiv und verklärt es auch war, Shirley wünschte sich eine friedliche Welt, und wenn sie die Macht hätte, solch eine Welt zu erschaffen, dann würde sie diese Macht auch nutzen, das wusste sie instinktiv. Sie hatte bisher nur nie darüber nachgedacht, weil es ihr völlig abstrakt und schlichtweg unmöglich erschien. „Ich glaube nicht, dass man diese Frage mit Logik und rationalen Argumenten beantworten kann“, sagte sie leise. Sie wusste nicht, wie lange sie nachgedacht hatte; vielleicht eine Minute, vielleicht zehn, vielleicht auch zwanzig, aber Lelouch hatte die ganze Zeit über still und geduldig abgewartet und hörte ihr nun aufmerksam zu. „Man muss dabei auf sein Herz hören, und auf sein Gewissen“, fuhr sie fort. „Und ...“ Es machte sie ein wenig nervös, seine Aufmerksamkeit so stark auf sich gerichtet zu wissen, aber sie atmete noch einmal tief durch und schob das Gefühl beiseite. „Wenn ich so eine Macht hätte, würde ich sie auch nutzen.“ „Und wenn du damit alles nur verschlimmerst?“ „Das wäre schrecklich“, räumte sie ein. „Und ich müsste mein ganzes Leben lang diese Schuld mit mir herumtragen. Aber ich glaube, dass ich dieses Risiko trotzdem eingehen würde. Weil jeder, der etwas verbessern will, zuerst Veränderungen wagen muss. Von allein verbessert sich nichts. Und ich würde lieber mit guten Absichten ein Risiko eingehen und dabei scheitern, als ein Leben lang zu bedauern, dass ich eine Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ.“ „Ich verstehe“, sagte er nur. Dann: „Ich glaube, du hast recht. Danke.“ Und dann lächelte er auf einmal, und das Lächeln verschlug Shirley die Sprache. Sein Lächeln war wie ein Sonnenstrahl, der unverhofft durch eine dunkle Wolkendecke brach, so einzigartig, so erwärmend ... und Shirley begriff mit plötzlicher Klarheit, dass sie ihn liebte. Sie verstand nicht, warum sie ihn liebte, aber es spielte keine Rolle. Entscheidend war, dass sie ihn liebte, entscheidend war sein Lächeln, das allein ihr galt. Sie hatte ihn noch nie zuvor auf diese Weise lächeln sehen, und das Wissen, dass sie es geschafft hatte, Lelouch zum Lächeln zu bringen - Lelouch, der sonst immer so verschlossen und ernst war, Lelouch, der genau wie sie eine erdrückende Last mit sich herumschleppte - erfüllte sie mit einem inneren Frieden, der sogar den Schmerz über den Tod ihres Vaters linderte. Ja, sie hatte es geschafft, ihn zum Lächeln zu bringen und ihrer beider Kummer für einen kurzem Moment zu mildern, und sie schwor sich, dass sie Lelouch in Zukunft noch oft so ein Lächeln schenken würde, dass sie alles tun würde, um ihm beizustehen und ihm ein wenig dieser geheimnisvolle Bürde, die er trug, abzunehmen. Sie öffnete den Mund und- „Es ist kalt hier draußen und schon sehr spät. Du solltest dich jetzt besser auf den Weg machen, wenn du die Schlafsäle vor der Nachtruhe erreichen willst. Ich bringe dich hin.“ -und all der Mut, den sie zusammengekratzt hatte, stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Er berührte sie leicht am Ellenbogen als er sich in Bewegung setzte, und sie taumelte wie in Trance hinterher. Der Weg zu den Schlafsälen war nicht weit, sie legten ihn schweigend zurück. Lelouch verabschiedete sich vor dem Haupteingang von ihr, dankte ihr noch einmal und wünschte ihr eine gute Nacht. Sie blieb noch vor der Tür stehen und sah ihm hinterher, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand und von der Dunkelheit verschluckt wurde. ... ... ... Morgen werde ich es ihm sagen. Morgen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)