Storytime von Swanlady (100 Geschichten) ================================================================================ Kapitel 2: Puppe [Tom/Ginny] ---------------------------- Ein resigniertes Seufzen entfloh Ginny, als sie die Unordnung im Zimmer ihrer Tochter sah. Selbstverständlich war das Mädchen nirgends aufzufinden, denn wenn es ums Aufräumen ging, wussten schließlich die meisten Kinder, wie man sich auch ohne Tarnumhang unsichtbar machen konnte. Die Tür leise hinter sich schließend, kämpfte sich die Mutter durch einen Haufen von Kuscheltieren, um zum Fenster zu gelangen. Ein Blick hinunter in den Garten genügte, um ihre Vermutung zu bestätigen. Die Übeltäterin befand sich draußen bei ihrem Vater, der seinen neuen Besen ausprobierte. Ein leichtes Lächeln legte sich auf Ginnys Lippen, als sie daran dachte, dass manche Dinge sich niemals änderten, egal wie alt man wurde. Sie wandte sich vom Fenster ab und trat dabei versehentlich auf eins der Spielzeuge. Sofort zog sie den Fuß zurück und bückte sich, um die Puppe vom Boden aufzuheben. Kopfschüttelnd wollte Ginny sie aufs Bett legen, als ihr etwas auffiel. Die Augenbrauen irritiert zusammenziehend, versuchte die Rothaarige den Gedanken zu erfassen, der eben durch ihren Kopf gehuscht war. Irgendetwas hatte der Anblick der Puppe in ihr ausgelöst; etwas, das stark genug war, um sich ihren Magen unangenehm zusammenziehen zu lassen. Doch was war es? Sich mit der Zungenspitze langsam über die Unterlippe fahrend, betrachtete Ginny das Kinderspielzeug eine Weile eingehend, bis sie zumindest sagen konnte, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Es waren die Augen. Sie waren merkwürdig leer. Unsinn. Die Augen einer Puppe sind immer leer. Erneut den Kopf schüttelnd, setzte sich Ginny auf das weiche Bett, konnte die Puppe aber immer noch nicht aus den Händen legen. Das kleine Mädchen aus Kunststoff war in ein blaues Kleid gekleidet, hatte blonde Locken und graue, ausdruckslose Augen. Der rechte Arm war ein klein wenig verbogen, vielleicht von der unfreiwilligen Begegnung mit Ginnys Fuß. Nachdenklich huschte Ginnys Blick über das Gesicht der Puppe. Leere Augen… Alles in ihr zog sich zusammen, als sie endlich das Gefühl einordnen konnte, das sich ihres Körpers wie unbemerkbares Gift bemächtigt und ihn paralysiert hatte. Ginnys Herzschlag beschleunigte sich, ihre Atmung begann zu holpern. Die Erinnerung legte sich wie eine tonnenschwere Schlange um ihren Hals, drückte ihr die Luft aus den Lungen. „Tom…“, murmelte sie tonlos. Nach all den Jahren war es immer noch dieser Name, der ihr zuerst einfiel, wenn sie an den mächtigsten Schwarzmagier aller Zeiten dachte, nicht Lord Voldemort. Es war ein unfreiwilliger Impuls, den sie einfach nicht unterdrücken konnte. Und Ginny hasste sich dafür. Ihre zitternde Hand griff in ihre Hosentasche. Die zierlichen Finger schlossen sich um ein Stück Pergament, während ihre Augenlider flatterten und sich langsam schlossen, Ginnys Gedanken erlaubten ihre eigenen Wege zu gehen. Wege der Erinnerungen, Träume und Sehnsucht. Das raue Pergament stand für liebevolle Sätze, tückische Worte, eine geschwungene, saubere Handschrift. Langsam holte Ginny das zerknitterte Papierstück heraus. Für einen Augenblick waren die Bilder vor ihrem inneren Auge so deutlich, dass sie fest davon überzeugt war, ein Stück von Tom in den Händen zu halten. Ein Stück vom Tagebuch, also auch einen Teil von ihm. Doch als Ginny die Augen aufschlug und den Pergamentfetzen ansah, ihn umdrehte und die darauf geschriebenen Worte las, verpuffte die Illusion. Brot. Äpfel. Zucker. Es war ihre Einkaufsliste. Ginny zitterte am ganzen Leib, der Schweiß klebte ihr an der Stirn. Sie kannte diese Anfälle, kannte die Intensität der Gedanken, die sie wie hungrige Raubtiere anfielen. Sie kannte den Einfluss, den Tom Riddle noch immer auf ihr Leben hatte, Jahre nach seinem Tod. Ganz langsam atmete Ginny durch, legte die Puppe schließlich beiseite. Liebe und Hass machten krank, Abhängigkeit und Faszination legten einen für immer in Ketten. Trotz der kalten Angst, die ihr Herz immer noch fest umklammert hielt, sah Ginny mit einem bitteren Lächeln auf die Puppe hinab, ehe sie sich erhob. Sie hatte sich getäuscht. Die leeren Augen waren nicht die ihren gewesen – ihre hatten damals wie Feuer gelodert, als er noch bei ihr gewesen war. Das harmlose Spielzeug auf dem Bett starrte weiterhin mit matten Augen an die Decke, so wie Ginny es liegengelassen hatte. Als sie das Zimmer verließ, schloss sie leise die Tür hinter sich, endlich wissend, was der Unterschied zwischen ihrem elfjährigen Ich und diesem leblosen Gegenstand war. Ich war keine Puppe. Ich war eine Marionette. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)