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Word Forward

Sherlock/John (Sherlock BBC)
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel: Word Forward
Serie: Sherlock (BBC)
Pairing: Sherlock/John
Genre: Slash, Krimi Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es gibt Rückblicke innerhalb des Kapitels. Diese sind über mehrere Absätze durch anhaltende Kursivschreibung markiert. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung: Gewalt und Blut. Leute mit schwachen Nerven sollten es sich vielleicht zweimal überlegen, in diesem Kapitel werden Menschen verletzt. Komplett anzeigen

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Act I

Es war eine Sache, an Nikolaus durch Londons verregnete Gassen zu rennen und sich den letzten intakten Pullover, den man besaß (und der darüber hinaus ein Geschenk von Harry gewesen war, aber das war eine andere Geschichte, verbunden mit Johns Geburtstag, Hysterie und eindeutig zu altem Gebäck) an einer Feuerleiter einzureißen.
 

Es war etwas Anderes, den vierten Advent stundenlang auf Anweisung zusammengekauert in einem Wandschrank zu verbringen, um einen Verdächtigen zu beschatten, während Sherlock am anderen Ende der Stadt im Appartement saß und sich genau diesen Moment aussuchte, um eine SMS zu schicken (Wenn du schon unterwegs bist, wir brauchen noch frische Milch. SH). Woraufhin die eigene Tarnung aufflog und die Klage wegen Hausfriedensbruch lediglich durch einen verzweifelten Anruf bei Lestrade und viel gutes Zureden verhindert werden konnte.
 

Es war etwas völlig Anderes, am Morgen des vierundzwanzigsten den Kühlschrank zu öffnen und keinen abgetrennten Kopf (wenn es doch nur so wäre, wenn es doch nur so wäre!), sondern drei Paar Augen und (John hätte sich gewünscht, er würde es nicht wissen, doch durch seine medizinische Ausbildung war sein Auge - und das war eine ganz und gar nicht angebrachte Wortwahl - unglücklicherweise geschult) zwei akkurat zerteilte Lungen direkt neben der leeren Tüte Milch zu finden.
 

„Warum hast du nicht gesagt, dass wir Milch brauchen?“, fragte er über die Schulter und erhielt keine Antwort. Stattdessen spürt er, wie das Handy in seiner Hosentasche vibriert.
 

Wir brauchen frische Milch. SH
 

„Hast den Text eigentlich in deinen Vorlagen gespeichert?“
 

Hör auf zu reden. Es stört beim Denken. SH
 

John war schlau genug, nicht die Notwenigkeit der Signatur zu hinterfragen, wo ihm doch bereits sein eigenes Telefon anzeigt, dass die Nachricht von Sherlock stammte. Ein einziges Mal hatte er den Fehler begangen und es würde ihm nicht wieder passieren.
 

„Wie viele Nikotinpflaster benutzt du gerade? Gestern Abend waren es drei. Noch einmal so viele sind nicht gesund, Sherlock.“ Mit einem Schaudern schloss er den Kühlschrank, fest entschlossen, auf das Frühstück zu verzichten. Ein Tee war wichtiger.
 

Mehr als drei. Es ist ein Vier-Pflaster-Problem. SH
 

„Verdammt, Sherlock. Zu viel Nikotin verlangsamt das Denken ab einem gewissen Punkt!“ John stellte den Teekessel nachdrücklicher als erforderlich auf den Ofen. „Außerdem ist es auf Dauer nicht gut für deinen Körper.“ Eine Pause. „Tee?“, fragte er in die Stille der Wohnung.
 

Ein Summen. Tee ist langweilig. SH
 

Er sollte am besten Milch kaufen. Jetzt sofort. Und Sherlock einfach ignorieren. Genauso wie Sherlock es umgekehrt tun würde. John wunderte sich, dass Sherlock überhaupt auf seine Fragen reagierte und ein (zugegeben skurrilen) Dialog zuließ.
 

Wenn du Milch kaufst, bring Bleichmittel mit. SH
 

Ob er fragen sollte, wofür Sherlock Bleichmittel brauchte? John schüttelte den Kopf und schaltete den Herd ab. Er durchquerte das Wohnzimmer (vorbei an Sherlock auf dem Sofa, mit dem Rücken zum Rest des Zimmers) und streifte sich die Jacke über.
 

„Ich bin kurz weg.“
 

Keine Antwort. Nicht einmal eine SMS. Schulterzuckend zog er die Tür hinter sich zu. Auf dem Flur unten begegnete er Miss Hudson, die ihm einen dampfenden Teller mit Gebäck anbot. Er lehnte dankend ab, schlug ihr jedoch vor, stattdessen Sherlock zu fragen. Vielleicht konnte sie ihn aus seiner Apathie reißen.
 

Draußen war es grau und kalt. London zeigte sich von seiner besten Seite und hielt sich mit dem Regen zurück. Überall zerrissen grelle Lichter die Umgebung, Weihnachtsmusik erklang aus geöffneten Fenstern und nur halb geschlossenen Ladentüren. Der Tesco-Markt war einige Minuten Fußweg entfernt, doch John ging diese Strecke gern.
 

Er winkte einer Kamera an der Kreuzung zu (in der Gewissheit, dass Mycrofts wachsames Auge sie nie aus dem Blick ließ) und überquerte die Straße. Schließlich am Tesco angekommen, bereute er seinen kurzfristigen Entschluss sofort. Er hätte wissen sollen, dass der Morgen von Weihnachten ein ganz schlechter Zeitpunkt war, um spontan einzukaufen.
 

Entschuldigungen murmelnd drängte er sich an den Menschen vorbei und erreichte schließlich außer Atem die Milch. Nach weiteren sieben Minuten musste er erkennen, dass es kein Bleichmittel gab. Ausgerechnet.
 

Er griff nach seinem Telefon.
 

Wie wichtig ist das Bleichmittel?
 

Gerinnungszeit bei Blut: 5-9 Minuten. Unter örtlichen Umständen siebeneinhalb. Teppich stellt idealen Testuntergrund dar. Bleichmittel ist optional, John. SH
 

John las die SMS genau dreimal. Dann antwortete er: Du hast Blut auf unseren Teppich geschüttet?!
 

Wie immer übersiehst du das Wesentliche, John. Warum habe ich es nicht schon viel früher getan? Es ist ganz eindeutig, dass an dem Tatort in Sutton die Blutspur -
 

Der Text ging noch weiter und endete ohne Zweifel mit einer brillanten Schlussfolgerung und Sherlocks Signatur, doch John war bereits wieder dabei, hektisch eine Antwort zu tippen.
 

Woher hast du das Blut? Vom Barts? Hast du es von Molly? Sherlock, ist wirklich Blut auf unserem Wohnzimmerboden?
 

Und in deinem Schlafzimmer. Der Teppich dort ist von anderer Zusammensetzung. SH
 

Blind streckte er die Hand aus. Glücklicherweise griff sie nicht ins Leere und er konnte seine Haltung bei den Dosensuppen stabilisieren. Ironischerweise stand er direkt bei der Tomatensuppe. Vielleicht sollte er Sherlock eine mitbringen.
 

Er ließ sie stehen und stellte sich an die Schlange für die Kasse. Zehn Minuten später reichte ihm die Verkäuferin angestrengt lächelnd sein Wechselgeld und den Bon. „Frohe Weihnachte, Mister.“
 

John nickte, und drehte sich um. Normalerweise hätte er ihr ebenfalls ein Lächeln geschenkt, allerdings dachte er fieberhaft darüber nach, wo er heute noch Bleichmittel herbekommen sollte. Der nächste Tesco war drei U-Bahnstationen entfernt. Ein gewagtes Unterfangen an Weihnachten.
 

Dann sah er vor seinem inneren Auge das Wohnzimmer und sein Schlafzimmer - jeweils mit schmückenden roten Flecken - und jeder Zweifel war beseitig. Er festigte den Griff um die Tesco-Tüte und steuerte die nächste U-Bahnstation an.
 

Er brauchte eine dreiviertelstunde, um dem Untergrund zu entkommen und sein Puls musste doppelt so schnell schlagen, wie gesund für ihn war. Es war ein reines Selbstmordkommando, heute U-Bahn zu fahren!
 

Auch dieser Tesco war überfüllt. Als befürchteten die Menschen, über die Feiertage würde eine spontane Hungersnot sie heimsuchen und zuvor das Aufstocken sämtlicher Vorräte zur primären Notwendigkeit machen. Wieder drängte John sich an Personen vorbei, die nicht minder gehetzt wirkten. Er wettete allerdings, dass keiner von ihnen Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden hatte. Oder auf dem Schlafzimmerboden. Überhaupt irgendwo, wo Blut ohne Zweifel nicht hingehörte.
 

Und wieder gab es kein Bleichmittel. Als wollte man ihm beweisen, dass Blut an Weihnachten zu beseitigen ein gängiger Brauch war, der Bleichmittel zu einer gefragten Ware machte.
 

„Entschuldigung“, sprach er eine Mitarbeiterin an, die den Eindruck erweckte, als habe sie sich an ihm vorbeiducken wollen. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, bestärkte seine Vermutung.
 

„Ja bitte?“
 

„Ich brauche Bleichmittel.“
 

Ein Blick in das Regal an ihm vorbei. „Das ist leider nicht mehr erhältlich. Nach den Feiertagen bekommen wir wieder neue Lieferungen.“
 

„Haben Sie es denn nicht auf Lager?“
 

Seine Hosentasche vibrierte. Er ignorierte es.
 

„Es tut mir leid, aber wenn es nicht in der Auslage ist, dann haben wir es auch nicht mehr.“ Ihr Blick war unstetig. Sie hatte es eilig, aber John bezweifelte, dass sie den Ernst seiner Lage verstehen würde. Immerhin hatte sie keine Blutflecken auf dem Teppich oder einen hochfunktionierenden Soziopathen im Wohnzimmer!
 

„Wüssten Sie denn, was man alternativ verwenden könnte?“
 

„Es tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Fragen Sie doch meinen Kollegen.“
 

John machte den Fehler, mit dem Blick ihrer ausgestreckten Hand zu folgen. Tatsächlich stand einige Gänge weiter ein Mann, umringt von Kunden, die verschiedenste Produkte in Händen hielten und auf ihn einredeten. Als John wieder zurück sah, stand die Verkäuferin nicht mehr neben ihm.
 

Er war für gewöhnlich eine geduldige Person, doch allmählich spürte er seine Gelassenheit bröckeln. Er entsperrte sein Telefon und las die Nachricht.
 

Bleichmittel ist nicht mehr optional, sondern erforderlich. Sofa nicht geeignet als Testobjekt. SH
 

Ein fassungsloses Lachen war alles, was John dem entgegnen konnte.
 

∼*∼
 

Um kurz vor eins verließ er den dritten Supermarkt ohne Erfolg. Stattdessen hatte er einen Packung Waschmittel, Seife und Fleckenentferner gekauft, die nun dafür sorgten, dass ihm die Griffe der Plastiktüten in die Hände schnitten.
 

Seufzend straffte er die Haltung, ignorierte das stärker werdende Ziehen in seiner Schulter und überquerte den Parkplatz. Die nächste U-Bahnstation war glücklicherweise um die Ecke. Kurz vor der Kreuzung stieß er mit einer älteren Frau zusammen, die eine Tüte mit Pfandflaschen bei sich trug. Er entschuldigte sich und sie zog murrend weiter.
 

Ein Wagen kam neben ihm zum Stehen. John hatte bereits damit gerechnet und war nicht überrascht, als die hintere Tür von innen geöffnet wurde. Sich seinem Schicksal ergebend, platzierte er die Taschen im Fußraum und stieg ein.
 

Es war nicht Anthea die ihn begrüßte, sondern Mycroft persönlich. Damit hatte John nicht gerechnet.
 

„Was beschert mir das Vergnügen?“ Abwesend rieb er sein Bein.
 

„Dr. Watson.“ Mycroft nickte ihm zu. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, beugte er sich vor. Er ließ seinen Blick über die Einkaufstüten schweifen, als gehörten sie ihm. „Wie ich sehe, ist mein Bruder auch an Weihnachten nicht untätig. Ich nehme an, es geht um ein Experiment.“
 

Du hast ja keine Ahnung, dachte John und sagte: „Worum geht es?“
 

Er hoffte, dass was-immer-es-war keine USB-Sticks beinhaltete. Oder geheime Regierungsinformationen. Noch viel weniger geheime Regierungsunterlagen auf USB-Sticks. Nicht nach dem letzten Mal. Er wollte nicht wieder in einer Jacke mit Semtex enden. Keine schöne Art, den Abend zu verbringen.
 

Mycroft griff in die Innentasche seines Anzugs und reichte John einen Umschlag. Er gab mit einem Nicken zu verstehen, ihn zu öffnen. John zog eine förmliche Karte hervor. Sekundenlang sprach niemand, dann ließ er sie sinken und betrachtete den älteren Holmes mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Belustigung.
 

„Ein Ball?“
 

„Ein Dinner. Weihnachtsball ist lediglich der offizielle Titel.“
 

„Und wer wird alles kommen? Die Queen? Elton John?“ Erschreckend war, dass es John noch nicht einmal überraschen würde, sollte Mycroft seine Frage bejahen.
 

Viel mehr überraschte ihn dann jedoch die ernüchternde Antwort: „Es ist ein Familienessen.“
 

„Klingt nach einer großen Familie.“
 

„Genau genommen geht es nur um uns und Mummy.“
 

„Oh.“
 

Oje.
 

„Soll das heißen, ihr nennt es einen Weihnachtsball und verschickt Einladungskarten für eine Veranstaltung, an der nur drei Personen teilnehmen?“
 

„Fünf.“
 

„Das ändert natürlich alles.“
 

Mycroft zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Meine Frau und ich werden da sein. Mummy ist die Gastgeberin und Sherlock wird selbstverständlich erwartet. Ebenso Sie, Doktor Watson.“
 

Er musste sich verhört haben. „Wie bitte?“
 

„Dieser Einladungskarte ist nicht für Sherlock bestimmt“, fuhr Mycroft fort. „Er hat seine längst erhalten und ehrlich gesagt hatte ich angenommen, Sie seien bereits in Kenntnis gesetzt worden. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, sah ich es als meine Verpflichtung, dieses Missverhältnis zu korrigieren.“
 

John öffnete den Mund, fand jedoch keine Worte. Mycroft kommentierte es nicht. Stattdessen hielt er auf einmal ein Notizbuch in Händen. „Laut meinen Informationen haben Sie keine unmittelbaren Pläne am sechsundzwanzigsten. Dem Dinner sollte demnach nichts im Weg stehen.“ Er klappte das Buch zu und lächelte John an.
 

„Ich schlage vor, Sie erinnern Sherlock an das Versprechen, das er Mummy gegeben hat. Ich weiß, dass er alles Mögliche unternehmen wird, um der Festlichkeit fern zu bleiben. Letztendlich wird er scheitern. So, wie jedes Jahr.“
 

Der Wagen hielt. „Es macht keinen Sinn, Sie einige Straßen vorher abzusetzen. Mein Bruder wird zweifellos längst von unserem Gespräch wissen. Grüßen Sie ihn von mir. Wir sehen uns übermorgen.“
 

Als John schließlich vor 221B Baker Street stand und die schwarze Limousine um die nächste Ecke bog, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht verabschiedet hatte. Wenigstens hatte er an die Einkaufstüten gedacht.
 

Noch immer in einem Zustand zwischen Verwirrung und Sprachlosigkeit, schloss er die Tür auf und betrat das Haus. Erklomm die Stufen und stellte fest, dass die Tür zum Appartement offen stand.
 

Die Wohnung war leer. Abgesehen von dem pfannengroßen Blutfleck auf dem Teppich und dem unwesentlich kleineren auf dem Sofa. In der Küche lag eine Blutkonserve in der Spüle. Ein Blick auf das Etikett verriet John, dass es sich um Schweineblut handelte. Es war ein schwacher Trost.
 

Es wäre das mindeste, wenn DU die Flecken entfernen würdest, schrieb er Sherlock, während er die Einkäufe sortierte und die Milch in den Kühlschrank stellte. Die leere Verpackung landete im Müll.
 

Langweilig. Verfolge wichtige Spur. Schick mit bitte die Adresse von dem Zettel in deiner rechten Jackentasche. SH
 

„Was zum -“, murmelte John und gab einen frustrierten Laut von sich, als er ein Stück Papier in seiner Tasche ertastete.
 

Fadestreet 12A, Beddington. Kannst du mir wenigstens sagen, ob es den Teppich wert war?
 

Er legte das Handy auf den Küchentisch. Als er Minuten später, nachdem die Putzmittel bereits mit sämtlichem Utensil neben dem Blutfleck aufgereiht waren, wieder auf den Bildschirm sah, hatte Sherlock noch immer nicht geantwortet.
 

„Großartig.“
 

Er krempelte seine Ärmel hoch und zog sich Handschuhe an. Dann begab er sich an das unmögliche Unterfangen.
 

Es stellte sich heraus, dass Blut sich nur geringfügig mit flüssigem Waschmittel und Fleckenreiniger entfernen ließ. Tatsächlich war der Fleck nachher beinahe um die Hälfte größer als zuvor. Und John wagte sich gar nicht erst an das Sofa. Entsetzt fiel ihm ein, dass Sherlock in der SMS von seinem Schlafzimmer geschrieben hatte. Mit schnellen Schritten eilte er die Treppe nach oben und gab einen Laut zwischen Wimmern und Fluchen von sich, als er das Desaster erblickte.
 

„Verdammt, Sherlock!“
 

Nicht einer, sondern gleich drei Flecken zierten den Boden unmittelbar vor seinem Bett. Je länger John darauf starrte, desto eher glichen sie einer Fratze, die ihn hämisch angrinste.
 

Vielleicht lag es an den Dämpfen der Reinigungsmittel. Vielleicht lag es daran, dass er diesen Vormittag ganze dreieinhalb Stunden durch London geeilt war, auf der Suche nach Bleichmittel für Blutflecken. Vielleicht war Weihnachten Schuld daran.
 

Jedenfalls drehte John sich auf dem Absatz um, kehrte ins Wohnzimmer zurück und streifte sich die Handschuhe ab. Er öffnete die zweitoberste Schublade rechts in der Küche und griff nach dem Cutter.
 

Und machte sich wirklich an die Arbeit.
 

∼*∼
 

Er musste eingenickt sein. Als er wieder zu sich kam, saß er auf dem Boden im Wohnzimmer und lehnte mit dem Rücken am Sofa. Vor ihm klaffte ein Loch im Teppichboden. Das Stück mit dem Blutfleck lag auf seinen ausgestreckten Beinen.
 

In der Küche vibrierte sein Telefon. Ächzend richtete er sich auf und legte schließlich das Stück Teppich auf den Tisch.
 

Verdächtiger hat wie vermutet an besagtem Abend den Pub aufgesucht. In Begleitung. Hat sich auch heute wieder mit ihr getroffen. Lestrade ist informiert. SH
 

Wusstest du, dass unter dem Teppich Parkett ist?
 

Nicht schwer zu ermitteln. Geräusch der Schritte, sowie Bewegung des Bodens bei Belastung lässt auf Belag zwischen Teppich und Beton schließen. Außerdem ist die Decke eineinhalb Zentimeter tiefer als im Badezimmer, in welchem die Fliesen direkt auf dem Beton liegen. Keine anspruchsvolle Deduktion, John. SH
 

Jedenfalls ist Parkett unter dem Teppich. Wir sollten ihn ganz entfernen.
 

Ganz? SH
 

Derzeit ist ein Loch im Teppich. Mag zwar unter genauerer Betrachtung ansprechend aussehen, könnte sich jedoch auf lange Sicht als Stolperfalle entpuppen.
 

Du scheiterst nicht daran, nicht zu beeindrucken, John. Kehre zur Baker Street zurück. Betrachtung des Lochs ermöglicht genaue Untersuchung der Wirkung des Blutes auf den unmittelbaren Untergrund. Das hatte ich bisher nicht berücksichtigt. Heute Abend Essen bei Angelo? SH
 

Und nach all den Strapazen, schafften es diese Zeilen von Sherlock, dass die Anstrengung nicht mehr ganz so penetrant in seinen Knochen wütete. Ein Lächeln zerrte an seinen Mundwinkeln.
 

Klingt gut. Soll ich die Flecken im Schlafzimmer auch herausschneiden?
 

John hörte, wie unten die Tür aufschwang, dann erklangen Schritte auf den Stufen und wenige Momente später wehte Sherlock mit aufbauschendem Mantel in den Raum und nahm ihm im Vorbeigehen den Cutter aus der Hand.
 

„Praktische Durchführung ist für valide Daten erforderlich.“
 

Dann war er aus Johns Blickfeld verschwunden und er hörte ihn oben durch das Schlafzimmer schreiten. Er schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Stuhl neben sich. Das waren die ersten Worte, die Sherlock seit zwei Tagen verbal mit ihm gewechselt hatte.
 

Wieder summte sein Handy. Tee. SH
 

„Verwöhntes Balg“, murmelte John, doch in seiner Stimme lag keine Schärfe.
 

∼*∼
 

Der Weihnachtsmorgen kam und ging. John war überrascht, wie heimisch es sich mit Sherlock anfühlte. Sie sahen gemeinsam fern und Sherlock echauffierte sich über darüber, wie keiner bisher erkennen konnte, dass die Moderatorin der Weihnachtssendung nicht nur seit gestern von ihrem Freund getrennt war, sondern auch noch den Familienhund in der bald folgenden Scheidung für sich beanspruchte und darüber hinaus seit zwei Wochen wieder regelmäßig rauchte - was wohl einer der Gründe für die Trennung war (neben den Geldproblemen und dem Stimmungskiller namens Stress).
 

John verkniff sich ein überaus peinliches ,Phantastisch!‘ (an Tatorten war es vielleicht angemessen, doch im Wohnzimmer von 221B Baker Street erschien es ihm überaus deplatziert) und nötigte Sherlock dazu, gemeinsam mit ihm den ersten James Bond anzusehen (was gab es weihnachtlicheres!).
 

Die Stimmung hielt solange, bis Sherlocks Handy vibrierte und eine Nachricht von Lestrade ankündigte. John hatte geahnt, dass über Weihnachten keine Ruhe einkehren würde - vielmehr wunderte es ihn, dass die Pause so lange angehalten hatte - und zum offensichtliche Entzücken Sherlocks bat man um seine Hilfe. John wusste, dass sein Mitbewohner dem weihnachtlichen Frohsinn wohl nie näher kommen würde, als durch einen komplizierten Mord.
 

Also streiften sie sich die Jacken über, riefen ein Taxi und fuhren quer durch London, nur um schließlich im Lagerraum eines Spielzeugladens zu stehen, in dem eine offene Spielzeugkiste mit einer Leiche stand.
 

Sherlock beugte sich tief über die Kiste, dann griff er in seine Jackentasche und betrachtete den Haaransatz des Toten durch seine Lupe.
 

„Gefärbt, aber nicht so, dass man es auf den ersten Blick sieht. Die Farbe ist frisch, keine grauen Ansätze, nicht einmal minimal. Zeitpunkt des Todes?“
 

Lestrade warf Anderson einen auffordernden Blick zu, doch noch ehe dieser den Mund für eine widerwillige Antwort öffnen konnte, sprach Sherlock weiter: „8-12 Stunden, danke Anderson, aber ich bevorzuge den Anblick Ihres Hinterkopfes doch mehr als den Ihres Gesichts.“
 

Der Inspektor verdrehte die Augen, während John versuchte, unauffällig den Raum zu verlassen, bevor Anderson jegliche Fassung verlor. Er schaffte es bis kurz vor die Tür.
 

„John“ - ein ausgestreckter Arm in seiner Richtung - „Telefon.“
 

Ernsthaft?, dachte John. Hier? Von allen Momenten, in denen Sherlock seine legendäre Faulheit zur Schau stellen konnte, musste es vor Lestrade und seiner Einheit sein?
 

„Innen oder außen?“
 

Er sah, wie sich Sherlocks Mundwinkel hoben, während er mit behandschuhten Händen die Krawatte des Opfers inspizierte. „Innen.“
 

Natürlich innen. John trat näher an ihn heran und griff in Sherlocks Mantelinnentasche. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Inspektor und Sergeants vielsagende Blicke wechselten. Großartig.
 

„Hier.“
 

Sherlock nahm es ihm kommentarlos ab und begann, mit einer Hand zu tippen, während seine andere mit dem Kragen beschäftigt war.
 

Nach einigen Minuten richtete er sich auf. Lestrade gab Donnovan zu verstehen, dass sie die nächsten Worte mitschreiben sollte.
 

„Der Mann ist Mitte dreißig, wohlhabend, jedoch nicht seinem Aussehen entsprechend. Er verkehrt in Kreisen, die nicht im Verhältnis zu seinem Einkommen stehen - seine Haare sind akkurat geschnitten, die Farbe ist erst kürzlich erneuert worden, um Ansätze zu verhindern. Jedoch ist sie nicht allzu teuer, etwa 35 Pfund die Packung, gewöhnlich wären in den Kreisen 70 bis 100. Seine Finger sind manikürt, die Schuhe sauber. Der Anzug ist jedoch nicht maßgeschneidert und auch die Armbanduhr erscheint teuerer, als sie tatsächlich ist. Ähnlich verhält es sich mit der Krawattennadel.
 

Er ist unverheiratet - kürzlich geschieden - und führte derzeit keine Beziehung. Die Exfrau fällt als Verdächtige heraus, denn um einen Mann seiner Statur nach dem Mord in diese Kiste zu schaffen, ist eine erhebliche Menge Kraft erforderlich. Und da er zierliche Frauen bevorzugte, passt seine Exfrau nicht in dieses Profil.
 

Nun zum Bruder der Frau, der sich Geld von ihm geliehen hat und es ihm noch immer schuldet. Es geht um keine geringe Menge, aber warum so lange darauf warten, es zurück zu fordern, wo die Scheidung doch bereits zwei Monate zurückliegt? Es muss an dem Neffen liegen.“ Auf einmal hielt Sherlock die Brieftasche des Mannes in der Hand. „Es war für ihn. Er hätte das Geld nie zurückverlangt. Somit fällt auch der Schwager als Verdächtiger weg. Ebenso die Kollegen.“
 

„Wieso die Kollegen?“, fragt Anderson und Sherlock schenkte ihm einen Blick, der John einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
 

„Normalerweise würde ich diese sinnlose Frage übergehen. Da ich jedoch mit nichts Anderem gerechnet habe, im Anbetracht der Tatsache, dass Weihnachten das kollektive Weltverständnis auf eine rosa Zuckerwattenebene reduziert, werde ich es auch für Anderson erklären.“
 

Sherlock musste gute Laune haben.
 

„Seine Kollegen mochte ihn nicht wirklich und es beruhte auf Gegenseitigkeit. Er gab viel auf sein Äußeres und hielt wenig von Unpünktlichkeit, Unorganisiertheit und Inkompetenz. Anderson wäre demnach genau in sein Feinbild gefallen, aber wer könnte es dem Mann verübeln? Dennoch war der Mörder niemand, den er kannte.“
 

„Und wie kommst du darauf?“, fragte Lestrade und trat neben ihn.
 

Bitte. Es ist doch offensichtlich.“ Ein Blick in die Runde. Keine Antwort. „Weihnachten“, spuckte Sherlock, als wäre es eine Krankheit. „Macht alle noch unzugänglicher als ohnehin schon. Senkt die Aufnahmefähigkeit durch Reizüberflutung. John.“
 

Darauf hatte er gewartet und bereits seit Minuten überlegt, wie Sherlock zu seinen Schlussfolgerungen kam. Den ersten hatte er folgen können, die Geschichte mit den Arbeitskollegen war ihm schleierhaft. Aber das war jetzt nicht die Frage. Auch er beugte sich vor und betrachtete den Toten. Der Saum seiner Hose war nass und besprenkelt mit Flecken.
 

„Er ist gerannt“, sagte John und Sherlocks Gesichtszüge erhellten sich. „Er hat versucht, seinem Mörder zu entkommen. Hätte er ihn gekannt, wäre er nicht weggelaufen. Denn er kannte niemanden, von dem so viel Gefahr ausgeht, dass er nicht vor ihm fürchten muss?“ Der letzte Teil war etwas geraten, doch offensichtlich war es gut genug, denn Sherlock nickte zufrieden.
 

„Genau. Natürlich hast du das offensichtlichste übersehen - nämlich dass die Schuhe sauber sind, obwohl er gerannt ist. Wieso? Weil der Mörder sie gereinigt hat. Um seine Fingerabdrücke zu entfernen. Um das Opfer in diese Kiste zu bringen, machte er nämlich den Fehler, ihn bei den Schuhen zu packen. Stümperhaft.“
 

Sherlock kehrte der Kiste den Rücken. „Er wird wieder morden. Vielleicht hat er es schon bereits. Vermutlich in einem Umkreis von einer Meile. Und er hat einen Fußabdruck hinterlassen.“
 

John lauschte den nächsten Schlussfolgerungen gebannt und konnte nicht verhindern, dass ihm ein „Brillant“ entwich, doch das selbstzufriedene Lächeln Sherlocks minderte das nicht - im Gegenteil.
 

Es war ein mittlerweile eingeübter Ablauf. Sherlock würde den Fall lösen, John würde ihm bewundernde Anerkennung zollen. Lestrade würde erleichtert, gleichzeitig jedoch auch frustriert sein, nicht selbst auf die Lösung gekommen zu sein. Unterm Strich würde Anderson zweimal die Beherrschung verlieren und Donnovan Sherlock viermal Freak nennen.
 

Routine. Überlebenswichtig für Sherlock. Und John würde feststellen, dass sein eigenes Wohlbefinden mittlerweile geradezu untrennbar mit Sherlocks verbunden war.
 

∼*∼
 

„Wann wolltest du es mir sagen?“
 

„Dieses Experiment ist geradezu lächerlich ungefährlich, John. Im schlimmsten Fall haben wir einen verbrannten Fleck auf dem Tisch. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei sechs Prozent.“
 

John hatte die Arme verschränkt und beobachtete Sherlock. Er kauerte auf einem Hocker, vor ihm stand ein Bunsenbrenner auf dem Tisch, und er balancierte mithilfe einer Klammer ein Reagenzglas mit brodelndem Inhalt. Wenigstens hatte er sich die Mühe gemacht, eine Schutzbrille aufzusetzen.
 

Doch das war nicht Johns derzeitiges Problem.
 

„Sherlock.“
 

Er erhielt keine Antwort.
 

Sherlock.
 

Lediglich ein genervtes Abwinken wurde ihm zuteil. Besser als nichts, aber noch immer nicht ausreichend.
 

Er beugte sich vor und pustete den Bunsenbrenner aus. Das sicherte ihm Sherlocks uneingeschränkte Aufmerksamkeit. „Dir ist bewusst, dass das Experiment ruiniert ist. Der Tisch war nie in akuter Gefahr, John.“
 

Er begnügte sich damit, zu starren. Sherlocks Augen analysierten zunächst sein Gesicht, dann seine Haltung. Sein Mund öffnete sich zu einem erkennenden: „Oh.“
 

Er nahm die Schutzbrille ab und warf sie achtlos auf den Tisch. „Hier geht es nicht um das Mobiliar.“
 

„Sehr gute Beobachtung.“
 

„Du bist gereizt. Wir haben noch Milch im Kühlschrank, auch habe ich gegen keine der von dir auferlegten sogenannten Hausregeln verbrochen. Es geht hier also um eine zwischenmenschliche Thematik.“
 

John hörte Sherlock schweigend zu.
 

„Mycroft hat vor zwei Tagen mit dir gesprochen. Heute ist der sechsundzwanzigste. Zweifellos hat er dich auf den weihnachtlichen Ritus meiner Familie hingewiesen und dich zum Dinner eingeladen.“
 

„Und?“
 

„Und du hast darauf gewartet, dass ich mich dazu äußere? Wirklich, John, du solltest mittlerweile genug Informationen gesammelt haben, um zu wissen, dass ich nicht intendiere, am Dinner teilzunehmen.“
 

„Du wirst hingehen“, erwiderte John. „Weil du deiner Mutter dein Wort gegeben hast.“
 

Ein scharfer Zug erschien um Sherlocks Mundwinkel. John fuhr fort: „Es geht hier nicht darum, ob du teilnimmst. Ich will wissen, warum meine Anwesenheit erwartet wird. Und warum du ganz offensichtlich versäumt hast, mich darüber aufzuklären.“
 

„Ist es nicht offenkundig, John?“
 

„Nein.“
 

Etwas an Sherlocks Haltung änderte sich. Sie verlor kaum merklich an Sicherheit und wirkte plötzlich defensiv. „Du bist der erste Mitbewohner, der länger als drei Monate geblieben ist. Darüber hinaus bist du Teil meiner Arbeit.“
 

Und dieses Geständnis traf John wie ein Schlag in die Magengrube. Mit einem überraschten Laut ließ er sich auf den Stuhl neben sich fallen. „Wiederhol das.“
 

„Ist das denn nicht offensichtlich?“ Nun mischte sich deutliche Ungeduld in Sherlocks Stimme. John fuhr sich durch die Haare und lehnte sich auf seine Unterarme, während er sich vorbeugte.
 

„Nein, Sherlock, ist es nicht. Bitte erklär mir, wann ich von einem Mitbewohner zu einem Teil deiner Arbeit geworden bin. Mir ist bewusst, dass ich dir hin und wieder behilflich bin - wahrscheinlich mehr, als deine vorherigen Mitbewohner, aber das ist es auch schon.“
 

„Behilflich? Du befragst Zeugen, wenn ich es dir auftrage. Du reist quer durch London, um mein Telefon von der Küche ins Wohnzimmer zu bringen. Letzte Woche hast du eine Schicht im Krankenhaus unterbrochen, um bei Molly die Laborergebnisse abzuholen. Du verfolgst flüchtende Täter. Du hast einen Taxifahrer für mich erschossen. Du hast deine Sicherheit für meine aufs Spiel gesetzt, um Moriartys Scharfschützen von mir abzulenken.“
 

„Oh“, entwich es John, dem all die Dinge vorher nie in diesem Ausmaß bewusst gewesen waren. Und wieder „Oh!“ als ihm die Bedeutung immer klarer wurde.
 

„Du suchst die Gefahr. Afghanistan hat dir etwas über dich gezeigt, das dir vorher nicht bewusst war. Du bist zurückgekehrt und hast etwas vermisst. Nachdem wir uns getroffen hatten, war dir klar, dass ich dir das bieten kann, was du sonst nicht mehr bekommen würdest. Es ist so offensichtlich, dass selbst du es nicht länger übersehen kannst.“
 

„Worauf willst du hinaus?“ Seine linkes Bein hatte begonnen, im immer schneller werdenden Takt auf und ab zu wippen. Seine Hände waren vollkommen ruhig.
 

Sherlocks Augen schienen ihn zu durchbohren und in dem Moment, in dem John dachte, er hielte den analysierenden Blick nicht länger aus, sprang Sherlock regelrecht von seinem Stuhl auf. Er riss theatralisch die Arme in die Höhe. „Streite dich nie mit einem Dummkopf. Es könnte sein, dass die Zuschauer den Unterschied nicht erkennen.“
 

Dann hatte er die Küche verlassen und John hörte, wie die Tür zu seinem Schlafzimmer hinter ihm zuschlug. Damit war er allein mit seinen verwirrenden Gedanken und den Worten, die Sherlock zurück gelassen hatte.
 

Sein Telefon vibrierte.
 

Ein Fahrer wird euch in zwei Stunden abholen. Abendgarderobe wird auch von Sherlock erwartet. Erinnern Sie ihn auch an das Weihnachtsgeschenk für Mummy. Mycroft Holmes
 

John vergrub das Gesicht in den Händen und ließ die gnadenlosen Umstände des Schicksal auf sich einwirken.
 

Eine unverständliche Erwartungshaltung von Mycroft, Sherlocks kryptische Andeutungen zwischen den Zeilen und Johns langfristig ungesunde Fixierung auf Sherlock, die er bis zu diesem Moment erfolgreich hatte ignorieren können.
 

Was sollte ihn jetzt noch überraschen?
 

∼*∼
 

Er hätte es besser wissen sollen, als das Schicksal offen herauszufordern.
 

Zwei Stunden später stand er im Anzug vor Sherlocks noch immer verschlossener Tür und haderte mit sich, ob er klopfen oder einfach den Raum stürmen sollte. Es war ein langes Hin und Her gewesen, bis er sich überhaupt dazu entschlossen hatte, der Einladung tatsächlich nachzukommen. (Ein Teil von ihm hatte wohl nur aus Sorge zugestimmt, Mycroft könnte eine SAS-Einheit losschicken, um ihn zu orten und hinterher zu bringen, sollte er den Versuch unternehmen, sich an diesem Abend in einem Pub abzusetzen.)
 

Einen passenden Anzug zu finden war insofern leicht gewesen, als dass er bereits in seinem Schrank gehangen hatte. Mycrofts Einflussgebiet machte wohl auch vor John Garderobe keinen Halt. Der Gedanke war äußerst beunruhigend.
 

John verfluchte seine gute Erziehung und klopfte. Er erhielt keine Antwort, was ihn nicht wirklich überraschte.
 

Es klingelte.
 

Fluchend griff John in seine Tasche und tippte eine Nachricht auf seinem Telefon. Zeit zu fahren, Sherlock. Hör auf zu schmollen.
 

Alleine der Umstand, dass er Sherlock texten musste, obwohl sie nicht mehr als eine Tür trennte, war absolut lächerlich.
 

Ich ,schmolle‘ nicht. Und das Geschenk, dass du für Mummy ausgesucht hast, wird nicht im mindesten ihren Ansprüchen gerecht. SH
 

„Woher-“, setzte John reflexartig an, schloss jedoch augenblicklich den Mund, als es erneut klingelte. Natürlich wusste Sherlock, dass John, im Versuch künftiger Etikette gerecht zu werden, an der nächsten Tankstelle einen Blumenstrauss gekauft hatte. Und ihm war klar, wie sinnlos das gewesen war, aber mit leeren Händen vor Sherlocks Mutter zu stehen war ihm irgendwie schlimmer vorgekommen.
 

Schritte auf der Treppe holten ihn in die Gegenwart zurück. Misses Hudson klopfte höflich an den Rahmen der offenen Tür zum Appartement. „Unten ist ein Gentlemen, der euch abholen will. Oh, Doktor Watson!“
 

Ein Ausdruck der Verzückung erschien auf ihren Zügen und sie eilte auf ihn zu. „Dieser Anzug steht Ihnen wirklich außerordentlich gut. Nein wirklich, ein wahrer Kavalier.“ Sie zwinkerte ihm zu, dann hob sie die Stimme. „Sherlock, sieh ihn dir nur an.“
 

„Misses Hudson“, setzte John beschwichtigend an, doch die Tür zu Sherlocks Zimmer wurde aufgerissen, noch eher sie warnen konnte, dass es ein ganz schlechter Zeitpunkt für derartige Kommentare war.
 

Sherlock im Anzug war kein neuer Anblick. Sherlock in einem zweifellos maßgeschneiderten Armani-Anzug mit weißem Hemd ließ John einige Sekunden zu lang starren. Das selbstgefällige Lächeln des Consulting Detectiv machte die Situation nicht weniger unangenehm.
 

„Misses Hudson, erwarten Sie uns heute nicht allzu früh zurück.“
 

„Oh, ein Weihnachtsessen? Zu zweit?“ Sie lächelte wissend. „Lasst es euch gut gehen, Jungs.“
 

John hatte keine Zeit, ihr zu widersprechen, da scheuchte sie sie bereits liebevoll die Treppe hinunter. „Keine Zeit zu verlieren. Der Abend ist noch jung und ihr wollt doch sicher so viel wie möglich davon genießen.“
 

Sie winkte ihnen hinterher und schloss erst die Tür, als sie in den Wangen mit verdunkelten Scheiben eingestiegen waren.
 

John hatte diese Art der Behandlung noch nie leiden können. Eine Limousine, ein Chauffeur. Verdunkelte Scheiben. Die Illusion von Wichtigkeit. Er hätte lieber ein Taxi genommen. Er rieb sich die Hände an der Anzughose und bemerkte erst jetzt, dass er den Blumenstrauß vergessen hatte. Soviel zum Thema ,Nicht mit leeren Händen vor Sherlocks Mutter stehen‘.
 

Er hob den Blick und realisierte, dass Sherlock ihm direkt gegenüber saß und ihn beobachtete. Er schluckte und setzte sich etwas gerader hin. „Was?“
 

„Sie erwartet kein Präsent von dir. Du bist ihr Gast.“
 

„Es geht mir nicht um die Erwartung.“ Das war eine glatte Lüge. Aus irgendeinem Grund hatte John eine geradezu unsinnige Angst davor, einen falschen ersten Eindruck zu machen. Dabei gab es keinen Grund dafür, sie beeindrucken zu wollen. Er würde sie wohl kaum oft wieder sehen.
 

„Natürlich.“ Dieses Mal lag eindeutiger Sarkasmus in Sherlocks Stimme. John knurrte.
 

„Was ist dein Problem?“
 

Sherlock beugte sich vor. „Mein ,Problem‘, John, ist, dass du das Offensichtliche nicht siehst.“
 

„Dass du wieder eine deiner Launen hast?“
 

„Von Anderson erwarte ich diese Ignoranz, aber nicht von dir.“
 

Diese Worte machten ihn nur noch wütender. „Hör auf, in Rätseln zu sprechen! Wenn du so ein großartiger Beobachter und Ermittler bist, dann sag du mir doch, was ich übersehe!“
 

Sherlock betrachtete ihn lange Sekunden. Schnaubend wandte er schließlich den Blick ab. „Langweilig. Ich hatte gehofft, Mummy jemandem mit mehr Scharfsinn vorstellen zu können.“ John spürte, wie ihm sämtliche Luft entwich.
 

Jetzt zitterten seine Hände. „Anhalten“, sagte er, zunächst leise, dann mit gehobener Stimme und energischer, als keine Reaktion folgte. „Anhalten!“
 

Der Fahrer warf ihm einen verwunderten Blick im Rückspiegel zu, setzte jedoch den Blinker und fuhr auf eine Bushaltestelle. Sherlock blinzelte irritiert, während John sich abschnallte und die Tür öffnete. Dann war er draußen an der kühlen frischen Luft und fühlte sich schlagartig um ein mehrfaches besser.
 

Er schlug die Tür hinter sich zu und entfernte sich vom Wagen. Nach einigen Metern hörte er, wie die Tür sich wieder öffnete. „John?“
 

Er drehte sich nicht um. „John?“
 

Er hatte Sherlock überrascht. Das sollte ihm Genugtuung verschaffen, doch es frustrierte ihn tatsächlich noch mehr, denn es machte die ganze Situation um ein vielfaches komplizierter.
 

Er blieb stehen und hörte, wie Sherlock ihm folgte.
 

„Damit ein klar ist“, sagte John und beobachtete, wie sein Atem bei den niedrigen Temperaturen sichtbar wurde. „Ich folge dir nicht blind, egal, wie du mich behandelst. Ich fahre mit der Bahn quer durch London, um dir dein Telefon zu reichen, dass fünf Meter entfernt auf dem Küchentisch liegt, weil du ein Genie bist, das Mörder überführt und dir hin und wieder Faulheit in anderen Bereichen erlauben darfst. Ich unterbreche Schichten im Krankenhaus, um Botengänge zu erledigen, weil ich die Arbeit zwar mag, sie mich aber nicht erfüllt und weil es mir das Gefühl gibt, Teil des Falles zu sein. Ich erkläre mich immer wieder zu haarsträubenden Überführungsplänen bereit, weil es, egal, wie wahnsinnig oder halsbrecherisch sie sind, letztendlich immer noch deine Pläne sind und weil ich für den Kampf ausgebildet wurde.“
 

Er ballte die Fäuste und lockerte sie wieder. Spürte, wie die Kälte seine Beine hinaufkroch und erinnerte sich daran, dass er in all der Eile auch seine Jacke in der Baker Street vergessen hatte.
 

„Und ich bin bereit, mich zwischen dich und Moriartys Scharfschützen, seine Lakaien oder von mir aus eine ganze Armee zu stellen, weil du trotz all deiner sozialen Rücksichtslosigkeit, den übellaunischen Phasen, dem Violinenspiel mitten in der Nacht und deiner selbstdiagnostizierten Soziopathie immer ein brillanter Mann bleiben wirst, der das Richtigstellen der Verhältnisse von Gut und Böse über sein eigenes Wohl ordnet.“
 

Er wirbelte herum. „Ich lasse mich von dir korrigieren und bevormunden. Ich toleriere es, wenn du mich über lange Zeit ignorierst oder mir nur einen geringen Teil Aufmerksamkeit zukommen lässt. Aber ich bin kein verdammtes Experiment, dass du deiner Mutter zum Beeindrucken präsentierst und an dem du augenblicklich das Interesse verlierst, sobald es nicht deinen Erwartungen gerecht wird!“
 

Er merkte erst, wie sehr diese Annahme schmerzte, nachdem er sie ausgesprochen hatte. Er wollte das nicht sein. Wollte nicht Sherlocks Beweis für seine Mutter repräsentieren, dass er sozial kompatibel war.
 

„John, ich ...“ Sherlocks Gesicht war blank, ohne jeglichen Ausdruck. Doch während er nach Worten suchte, erschien etwas auf seinen Zügen, dass John zunächst irritierte und dann immer mehr verwirrte.
 

Es sah beinahe aus, wie Unsicherheit.
 

„Ich hatte es ... das war nicht so gemeint.“
 

„Wie war es dann gemeint? Was wolltest du sagen? Sherlock, ich bin nicht du. Ich kann zwischen den Zeilen lesen und ich kann den meisten deiner Schlussfolgerungen folgen, aber ich kann dir nicht in den Kopf sehen. Ich weiß nicht zu jedem Zeitpunkt, was du denkst.“
 

„Du ordnest es.“
 

„Was?“
 

„Du ordnest die Gedanken.“ Sherlock sah ihn direkt an und John konnte den Blick nicht abwenden. „Sie überhäufen sich. Wenn ich etwas sehe, gibt es unendliche Variationen und Möglichkeiten. Konsequenzen, Schlussfolgerungen, Deduktionen. Doch ohne Struktur bringen sie gar nichts. Ich habe gelernt, sie zu filtern, aber manchmal ist es zuviel. Die Violine hilft und Heroin hat früher für einige Momente für Ruhe gesorgt, aber dann bin ich dir begegnet und ...“
 

John hielt den Atem an.
 

„Du machst es erträglicher. Wenn ich dir meine Erkenntnisse darlege, fungiert das Gespräch wie ein neuer Filter, der es nicht nur ordnet, sondern der mit mir interagiert. Du reagierst und machst mich auf Dinge aufmerksam, die zwar offensichtlich sind, jedoch bei genauerer Betrachtung eine völlig andere Bedeutung bekommen können. Du bist ein Teil meiner Arbeit John, kein Experiment. Niemals ein Experiment.“
 

„Was bedeutet es, ein Teil deiner Arbeit zu sein, Sherlock?“, fragte John leise und machte einen Schritt auf ihn zu. „Dass ich solange geduldet werde, wie es zweckmäßig ist? Dass ich eine nützliche Erweiterung bin? Ich erwarte keine Sonderbehandlung. Kein Anfassen mit Samthandschuhen.“ Wenn Sherlock überhaupt zu etwas Ähnlichem in der Lage war. „Was bin ich für dich, Sherlock?“
 

„Ein T-“
 

„Nein“, fiel John ihm energisch ins Wort. „Wer bin ich für dich?“
 

Und Sherlock kämpfte mit dem Wort. Er öffnete den Mund, seine Augen fixierten erst das Bushaltestellenschild hinter John, dann seine Krawatte. Schließlich trafen sich ihre Blicke wieder und Sherlock sagte: „Mein Freund.“
 

Die Anspannung wich aus Johns Haltung. Er lächelte. „Genau. Selbst der große Sherlock Holmes hat Freunde. Nicht nur Erzfeinde.“
 

Er überspielte die Erleichterung, die ihn bei Sherlocks Worten erfüllt hatte. Ebenso wie den Umstand, dass seine Knie einen Moment lang vor Sorge, Sherlock würde sich umdrehen und gehen, weich geworden waren. Sherlock hatte John bereits oft als seinen Freund vorgestellt. Doch das war stets in Gegenwart anderer gewesen, so als habe er beweisen wollen, dass er selbst zu solchen banalen sozialen Bindungen imstande war. Doch nie hatten Sherlock und er wirklich darüber gesprochen, wie sie zueinander standen.
 

Mitbewohner. Kollegen. Partner. Freunde? Oder nur eine Zweckgemeinschaft unter dem Mantel der Freundschaft?
 

„Du bist erleichtert“, sagte Sherlock, als John mit ihm auf einer Höhe war. Er musterte ihn aufmerksam. „Du hast befürchtet, ich würde das Konstrukt der Freundschaft nur als Fassade für Außenstehende benutzen.“
 

„Nicht ganz“, antwortete John und fühlte sich auf einmal wie der letzte Idiot.
 

Sherlock hatte sich ihm mehr geöffnet als den meisten Menschen um ihn herum. Selbst Mycroft hatte erstaunt darüber gezeigt, wie viel Vertrauen Sherlock in John setzte, nachdem klar war, wie loyal John Sherlock bereits nach kürzester Zeit war. Sherlock gab John Aufgaben, die er niemandem vom Scotland Yard zutraute (obwohl sie dafür ausgebildet worden waren). Oft waren Sherlocks Handeln egoistisch, doch es gab Momente, in denen er innehielt und Johns Perspektive berücksichtigte - etwas, das er vorher bei niemand getan hatte.
 

John hatte Sherlock eben einzig und allein an seinem eigenen Verständnis von Freundschaft gemessen. Gemessen an Sherlocks Verständnis konnte John sich verdammt glücklich schätzen, denn ihm wurde mehr zuteil, als allen anderen.
 

„Tut mir leid“, murmelte er und wich Sherlocks Blick aus. „Ich habe ... das muss der Stress ... Ich weiß nicht, was mir mir los ist. Diese ganze ... Szene hier war unangebracht. Vergiss es einfach, okay?“
 

Als ob Sherlock Holmes je etwas vergessen würde. John konnte sich glücklich schätzen, wenn Sherlock ihn nach diesem Zwischenfall überhaupt wieder in das Appartement ließ.
 

Eine Hand legte sich um seinen Oberarm und er sah auf. „Faszinierend“, murmelte Sherlock und John verspürte das befremdliche Bedürfnis, sich vor zu beugen.
 

Dann ließ Sherlock ihn abrupt los. Er kehrte zum Wagen zurück und gab John mit einer unmissverständlichen Handbewegung zu verstehen, ihm zu folgen. „Mummy hält wenig von Unpünktlichkeit.“
 

„Oh ... okay.“
 

Während John die Tür hinter sich zuzog, kam er zu dem Schluss, dass sie das wohl schrägste Duo in der Geschichte abgeben mussten.
 

[tbc]

Act II

Act II
 


 

„Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“, fragte John, als sie sich der Eingangstür des Landhauses näherten.
 

Sherlock warf ihm einen flüchtigen Blick von der Seite zu. „Zum Beispiel?“
 

„Ich weiß nicht. Dass deine Mutter eine Gräfin ist? Dass sie neben deinem Bruder die britischen Geheimdienste koordiniert? Oder dass sie ein Problem mit Ärzten hat?“
 

„John.“
 

„Ich meine ja nur. Vielleicht hättest du mir auch sagen können, dass deine Familie offensichtlich nicht unter Geldmangel leidet“, murmelte John und deutete auf die Steinlöwen, die den Eingang flankierten.
 

„Weswegen?“, entgegnete Sherlock kalt. „Weil du dann seltener widersprochen hättest, da meine Familie einflussreich ist? Vielleicht weil ich die Miete für uns hätte übernehmen können?“
 

John verdrehte die Augen. „Das meinte ich nicht, Sherlock. Ich dachte, du würdest mich mittlerweile gut genug kennen, um zu wissen, dass mir Status relativ egal ist.“ Er hob die Hand zum Klingeln. „Die eine oder andere Taxifahrt hätte ich dich aber doch schon zur Abwechslung bezahlen lassen“, fügte er hinzu und ignorierte den pikierten Seitenblick.
 

Die Tür schwang auf und Mycroft winkte sie herein. „Ihr seid spät dran.“
 

John war drauf und dran, in einer Erklärung sich die Schuld daran zu geben, Sherlock kam ihm jedoch zuvor. „Sei froh, dass wir überhaupt hier sind. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann -“
 

„Dann was, Sherlock?“
 

Eine Frau war in die Eingangshalle getreten. Sie trug ein langes schwarzes Kleid und hatte die Haare künstlerisch hoch gesteckt. Es war eindeutig, von wem Sherlock sein Gesicht geerbt hatte, denn John konnte ihn ohne Probleme in den Zügen seiner Mutter wieder erkennen. Dieselben hohen Wangenknochen und ebenso eindrucksvolle Augen.
 

„Mummy.“ Sie trat vor ihn und einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er auf dem Absatz kehrt machen und wieder gehen, dann breitete sie einladend die Arme aus und Sherlock umarmte sie - wenn auch etwas steif. John wandte den Blick ab und betrachtete stattdessen die Inneneinrichtung, da es ihm furchtbar unhöflich vorkam, dieser familiären Intimität zuzusehen.
 

„Schön, dass du gekommen bist. Ich weiß, wie sehr dir diese Familienrituale missfallen.“
 

„Das ist kein Grund, ihnen fern zu bleiben“, bemerkte Mycroft unberührt und schloss die Tür.
 

„Mycroft, wie ich sehe zeigt deine Diät noch immer keinen Erfolg. Kannst du denn so mit reinem Gewissen an einem Weihnachtsdinner teilnehmen?“ Sherlocks Stimme war reines Gift.
 

„Aber Sherlock, doch nicht in diesem Ton vor unserem Gast. Magst du uns denn nicht vorstellen?“
 

John lächelte angestrengt, während Sherlock die Förmlichkeiten übernahm. „Doktor John Watson. John, meine Mutter Adèle Holmes.“
 

Die Überraschung musste John anzusehen gewesen sein, denn Misses Holmes lächelte und reichte ihm die Hand. „Ein wenig französisches Blut fließt durch unsere Familienadern, Doktor Watson.“
 

„Bitte, äh ... nennen Sie mich John.“
 

Sie wechselte einen amüsierten Blick mit Mycroft. „Mit Vergnügen, John. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Natürlich nur Gutes“, fügte sie hinzu, als habe sie Johns Unruhe gespürt. „Aber was stehen wir hier noch rum? Wir sollten ins Esszimmer gehen. Wir wollen Judith nicht länger warten lassen.“
 

Sie folgten ihr in ein angrenzendes Zimmer, das größer war, als das gesamte Appartement der Baker Street und John konnte nicht fassen, dass Sherlock es geschafft hatte, das vor ihm zu verbergen. Vermutlich lag es wirklich daran, dass Sherlock befürchtet hatte, John würde ihn mit dem Wissen anders behandeln. Idiot, dachte er kopfschüttelnd und ließ sich von Mycroft dessen Ehefrau Judith vorstellen, die viel zu sympathisch wirkte, um tatsächlich mit Mycroft verheiratet zu sein.
 

Er drehte sich Hilfe suchend zu Sherlock um, doch dieser redete leise und eindringlich mit seiner Mutter. John verstand nicht, worüber sie sprachen. Sherlocks Mimik ließ aber erkennen, dass er unzufrieden war.
 

„Das erste Essen ist das seltsamste“, erklärte ihm Judith schmunzelnd. „Danach gewöhnt man sich immer mehr daran. Achte einfach darauf, nicht in die Schussbahn zu geraten.“
 

„Schussbahn?“, fragte John, der gerade im Begriff war, sich zu setzen. Kaum war der erste Gang serviert, erkannte er, weshalb Judith ausgerechnet dieses Wort gewählt hatte.
 

„Es geht das Gerücht um, die Leute seien immer unzufriedener mit der derzeitigen Regierung“, startete Sherlock den ersten Angriff. „Ist es nicht frustrierend, die mächtigste Person im Land zu sein und dennoch nichts daran ändern zu können?“
 

„Wie ich sehe, haben sich deine Manieren noch immer nicht verbessert, lieber Bruder“, entgegnete Mycroft und nippte an einem Löffel Suppe. „Oder warum sonst würdest du nicht einmal so viel Takt besitzen, bis zum Hauptgang zu warten, bevor du die weihnachtliche Besinnlichkeit störst.“
 

Bitte, Mycroft, seit wann gehört Besinnlichkeit in deinen Wortschatz? Ein Mann, der im nächsten Jahr die Steuern trotz Finanzkrise erhöhen lässt, sollte nicht ganz so verheuchelt sein.“
 

„Dieses Thema ist noch nicht einmal in den Medien, Sherlock. Ganz davon abgesehen, gehört das britische Finanzwesen nun wirklich nicht in meinen Arbeitsbereich.“
 

„Was gehört nicht in deinen Arbeitsbereich? Du kannst John stellvertretend für alle Ärzte gerne persönlich mitteilen, dass auch seine Rente nicht sicher ist.“
 

Mycroft ließ den Löffel sinken, John verschluckte sich an der Suppe und hustete in seine Serviette. „Sherlock, das ist ein wirklich prekäres Thema und gehört wohl kaum in diese Runde.“ Der mahnende Unterton war wohl kaum eine Einbildung. „Außerdem scheinen deine Deduktionen lückenhafter zu werden. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du bei dem Tesco-Mord ganze drei Tage gebraucht hast, bevor du den Filialleiter überhaupt belasten konntest.“
 

Das war ein heikles Thema und Mycroft schien zu wissen, wie sehr es an Sherlock nagte, nicht sofort erkannt zu haben, dass besagter Filialleiter gar keine Zwangsneurosen hatte und einfach nur ein hervorragender Schauspieler war.
 

An einem schmaleren Esstisch hätte Sherlock wohl versucht, Mycroft gegen das Schienbein zu treten.
 

„Weiß Judith eigentlich, dass du dich nicht konsequent an die Diät hältst?“, fragte er stattdessen mit einem liebenswürdigen Lächeln, das lediglich durch den boshaften Tonfall getrübt wurde. „Bei offiziellen Besuchen wird immer Gebäck für britische Staatsmänner serviert und du lehnst es nicht in jedem Fall konsequent ab, wie ich sehe.“
 

„Das steht hier kaum zur Debatte, Sherlock. Erzähl Mummy doch lieber von deiner Arbeit und deinen Kollegen beim Scotland Yard.“
 

„Ablenken - ist das jetzt deine Taktik?“
 

John fühlte sich wie bei einem Tennisspiel. Sherlock und Mycroft saßen sich schräg gegenüber und feuerten in abwechselnden Salven verbal aufeinander.
 

„Nun, Sherlock, es würde mich tatsächlich interessieren, wie es mit deiner Arbeit voran geht.“
 

„Aber doch bitte nicht beim Essen“, warf Judith dazwischen und sah Misses Holmes bittend an. „Ich bin sicher, dass das Thema beim abschließenden Tee viel ... passender ist, als unmittelbar vor dem Hauptgang.“
 

„Wie wahr, meine Liebe.“ Adèle Holmes lächelte nachsichtig und wandte sich John zu. „Aber vielleicht könnte ich stattdessen erfahren, wie Sie meinen Sherlock kennen gelernt haben.“
 

„Ein ehemaliger Studienkollege von John stellte uns vor“, antwortete Sherlock so schnell, dass John nicht einmal über seine Antwort nachdenken konnte. „Ich suchte einen Mitbewohner, John eine bezahlbare Wohnung in London. Es passte. Ende der Geschichte.“
 

„Aber Sherlock“, protestierte seine Mutter und legte die Serviette beiseite. „Du klingst, als würdest du es aus einem Protokoll ablesen. Ich bin sicher, es ist nicht ganz so trocken gewesen.“
 

Im Gegenteil, dachte John und nahm einen letzten Löffel von der Suppe. Es war die seltsamste erste Begegnung, die ich je hatte.
 

Das Essen setzte sich auf ähnliche Weise fort. Sherlock und Mycroft begannen mit jeden weiteren Gang einen neuen Satz, der stets in einem Tie-Break endete und konsequent von Misses Holmes unterbrochen wurde, sobald er zu eskalieren drohte. Immer wieder versuchte sie wiederum, John in ein Gespräch zu verwickeln, doch zu mehr als kurzen Antworten war er nie imstande, bevor Sherlock ihm ins Wort fiel oder durch einen erneuten Seitenhieb auf Mycroft das Thema abrupt wechselte.
 

Als das Dessert abgeräumt wurde, hatte Sherlock sieben Gesprächsversuche seiner Mutter abgewehrt. Johns Gelassenheit war mürbe. Er räusperte sich und entschuldigte sich einen Moment auf die Toilette.
 

„Sherlock“, sagte Misses Holmes lächelnd - als habe sie erkannt, dass ein Gespräch unter vier Augen nötig war - und nickte ihm zu, „sei doch so nett und zeige John den Weg.“
 

Kaum hatten sie das Esszimmer hinter sich gelassen und die Gästetoilette erreicht, wollte Sherlock bereits wieder kehrt machen, doch John packte ihn am Arm und zog ihn mit sich in den Raum. Er schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel um.
 

„Du sagst mir jetzt sofort, was hier gespielt wird.“


„John, sei nicht albern.“
 

„Albern? Wer streitet sich denn mit seinem Bruder, als wäre er ein trotziges Kind? Und wer unterbricht seine eigene Mutter jedes Mal, wenn sie auch nur Anstalten macht, mit mir zu reden? Wenn das deine Art ist, zu zeigen, dass ich kein Experiment bin, dann nehme ich alles zurück, was ich vorhin gesagt habe, denn das ist lächerlich, Sherlock.“
 

„Was willst du damit sagen?“
 

„Oh nein, du bist der Consulting Detective. Du siehst mir jetzt ins Gesicht und ermittelst, was ich dir damit deutlich machen will!“ John verschränkte die Arme. Zunächst wirkte Sherlock widerspenstig, dann legte sich ein konzentrierter Ausdruck auf sein Gesicht und er begann, John zu analysieren.
 

„Dein Pulsschlag ist erhöht und deine Körpertemperatur ist in den letzten zehn Minuten leicht gestiegen. Du bist verärgert. Deine Hände zittern unmerklich und du belastest dein rechtes Bein etwas weniger, da es heute wieder stärker schmerzt, als sonst. Deine Schulter ist davon nicht betroffen, es ist also ausschließlich eine psychosomatische Reaktion und keine Wetteranfälligkeit. In Mummys Gegenwart wird deine Haltung defensiv. Du befürchtest eine negative Beurteilung. Es ist dir wichtig, dass sie einen guten Eindruck von dir bekommt, du weißt aber nicht, weswegen es dir so wichtig ist. Deine Augenbraue zuckt - das tut sie nur, wenn du dich selbst unter Druck setzt.“
 

John hatte zwar gewollt, dass Sherlock aus seinem Verhalten das eigentliche Problem erschloss, doch er hatte für einen Moment die Brillanz des anderen außer Acht gelassen. Nun bekam er es mit allen Fakten zurück.
 

„Meine Mutter interessiert dich. Sie fasziniert dich, weil du sie dir nicht so vorgestellt hast. Du dachtest, sie sei reservierter. Distanzierter. Nicht so sozial. Du fühlst dich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch nach mehr Details und der höflichen Distanz der ersten Begegnung.“
 

„Das ist es nicht.“


„Oh, natürlich ist das nicht alles, John.“ Sherlock beugte sich vor und John war mit einmal Mal furchtbar froh darüber, die Arme verschränkt zu haben, da er nicht wusste, was er sonst mit seinen Händen hätte anfangen sollen. Gleichzeitig fragte er sich, wann die Situation sich so gewandelt hatte, dass Sherlock auf einmal die Richtung angab, wo es doch noch vor zwei Minuten John gewesen war, der Sherlock irritiert hatte.
 

„Es ärgert dich, dass ich dich nicht zu Wort kommen lasse. Es nagt an dir, dass ich dich so offensichtlich nicht mit ihr sprechen lassen will und du fragst dich, woran es liegt. Vielleicht daran, dass ich dir beweisen will, kein Experiment zu sein. Vielleicht, weil ich befürchte, sie könnte Dinge erfahren, die nicht für sie bestimmt sind. Oder vielleicht“, und Sherlock machte einen Schritt direkt in Johns intime Zone. „Weil ich nicht will, dass sie dich aushorcht. Oder dir Dinge über mich erzählt, die du nicht erfahren sollst.“
 

„Dann sag das doch einfach“, stammelte John und ärgerte sich darüber, dass er um ein so vieles kleiner war als Sherlock und nun den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm hoch zu sehen.
 

Sherlocks Mundwinkel hoben sich. „Dein Pulsschlag ist wieder schneller geworden, John. Dein Gesicht ist gerötet und ... Oh.“ Ein selbstgefälliges Funkeln erschien in seinen Augen. „Deine Pupillen sind geweitet.“
 

John war Arzt. Doch selbst ohne seine Ausbildung hätte er gewusst, worauf Sherlock damit anspielte. Er schluckte. Und sah selbst genauer hin. Was er dann erkannte, raubte ihm beinahe den Atem.
 

Auch Sherlocks Pupillen hatten sich geweitet. Und das lag nicht an den Lichtverhältnissen im Raum.
 

„Seit wann?“, fragte er leise und spürte eine Hand an seinem Hinterkopf.
 

„Offenkundig, John“, erwiderte Sherlock und überbrückte die letzte Distanz zwischen ihnen.
 

Dafür, dass John Sherlock erst für nicht-interessiert und nach Monaten des gemeinsamen Zusammenlebens für asexuell gehalten hatte, konnte er ebenso brillant küssen, wie beobachten und analysieren. Viel erstaunlicher war jedoch, dass John nirgendwo die Kraft, noch die Empörung fand, sich loszureißen.
 

Sherlock reduzierte ihn zu einem atemlosen, nicht kohärenten Schatten seiner selbst. Noch ehe er sich den durch die eindeutige Reaktion seines Körpers auf einen Kuss von Sherlock den aufkommenden Fragen stellen konnte und bevor die damit verbundene sexuelle Identitätskrise ihn vollkommen unbrauchbar machen konnte, wurden seine Lippen wieder von einem äußerst enthusiastischen Holmes in Beschlag genommen.
 

„Verheiratet mit deiner Arbeit“, murmelte John zwischen den immer hitziger werdenden Lippen und Zungenkontakten. Einige seiner Worte wurden verschluckt.
 

„Halt den Mund“, erwiderte Sherlock und presste ihn nachdrücklicher gegen die Wand. (Ein Handtuchhalter bohrte sich in Johns Rücken, doch was machte das schon, wo Sherlocks Zunge immer faszinierendere Dinge mit seiner anstellte.) Als würde er das weiße Rauschen der ungestellten Fragen in Johns Kopf hören, fügte er hinzu: „Du bist ein Teil meiner Arbeit.“ Und brachte somit sämtlichen Lärm augenblicklich zum Verstummen.
 

John verstand. Es war ja so logisch.
 

„Und Sexualität ist eine von der Gesellschaft überbewertete Aufschrift“, murmelte Sherlock ihm ins Ohr, während seine Hände über Johns Rücken tasteten und heißkalte Schauer auslösten. „Insofern ist die drohende Panikattacke unnötig.“
 

John wollte ihm deutlich machen, dass Sherlock es nicht einfach plausibilisieren konnte, dass Johns Körper eindeutig entschlossen hatte, speziell auf Sherlock zu reagieren und dass John sich selbst eine immer größer werdende Fixierung auf seinen Mitbewohner eingestehen und akzeptieren musste. Er kam nicht dazu, da Sherlock den Moment seines Luftholens ausnutzte, um John die Raffinessen einer ganz neuen Technik nahe zu bringen, die seine Knie zu Gummi werden ließ.
 

Ein Klopfen an der Tür machte ihnen ihr immer lauter werdenden Atmen bewusst. Johns Herzschlag hallte bis tief in seine Ohren.
 

„Mummy möchte wissen, ob es Doktor Watson auch wirklich gut geht, da er eben so blass ausgesehen hat.“ Mycrofts Stimme war gelangweilt und Sherlock verdrehte die Augen. „Sherlock, es ist nun wirklich weder der richtige Ort noch die Zeit, um den guten Doktor zu vereinnahmen.“
 

„Fuck“, murmelte John und lehnte den Kopf nach hinten gegen die kühlen Fliesen. Natürlich wusste Mycroft es. Wahrscheinlich hatte er es, wie Sherlock, noch vor John selbst gewusst.
 

„Geh weg, Mycroft.“
 

„Äußerst erwachsen, Sherlock.“
 

Eine Pause. Zu seinem Entsetzen spürte John, wie Sherlocks Hände wieder begannen, sich zu bewegen. Sein Atem beschleunigte sich.
 

„Sherlock“, zischte er und griff nach seinen Handgelenken. „Dein Bruder hat recht, wir sollten -“
 

John.“ Noch nie hatte Sherlock seinen Namen so ausgesprochen. Dazu so dicht an seinem Ohr.
 

Weswegen war das hier noch gleich eine so schlechte Idee?
 

„Sherlock, wirklich. Du weißt, wie ungeduldig Mummy werden kann.“
 

Ein Luftzug dicht an Johns Ohr war alles, was Sherlock sich von seiner Frustration anmerken ließ, dann machte er einen Schritt zurück. John konnte nun zum ersten Mal bewundern, wie er Sherlock mit seinen Händen zugerichtet hatte. Seine Haare standen noch wirrer ab als sonst, der Krangen seines Anzugs war zerknittert und die obersten Knöpfe seines Hemdes standen offen. John konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, sie überhaupt geöffnet zu haben.
 

„Nun ...“ Er strich sich mit der Hand durch die eigenen Haare und war froh darüber, dass sie so kurz waren. „Das war ... inspirierend.“
 

Sherlock, der sich in diesem Moment die Kleidung richtete, schenkte ihm einen wenig begeisterten Blick durch den Spiegel. „Es wäre angebracht, vor dem Reden zu denken, John.“
 

John spürte Hitze in seine Wangen schießen. „Sehr weiser Rat, Herr Detektiv.“
 

Ihre Blicke trafen sich. Sie begannen gleichzeitig zu kichern.
 

∼*∼
 

„Nun, John, wenn Sherlock mir die Frage gestattet“, Adèle warf ihrem Sohn einen stechenden Blick von der Seite zu. Sherlock, auf einem Sessel platziert, als gehöre er ihm (und John zweifelte nicht daran, dass Sherlock über die Jahre hinweg genau diesen Sessel als sein Eigen gekennzeichnet hatte, so wie das Sofa in der Baker Street) schnaubte nur. „Sie arbeiten mit meinem Sohn zusammen? Wie kommt es dazu, wo Sie doch Arzt sind?“
 

John stellte die Tasse auf den Tisch vor sich und verschränkte die Hände auf seinen Knien. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Sherlock sich etwas nach vorne lehnte und er war sich sicher, dass es genau die Art von Fragen war, die Sherlock die ganze Zeit von seiner Mutter befürchtet hatte.
 

Als ob es dazu einen Grund gab. John hatte sie ihm vor ein paar Stunden doch schon längst gegeben.
 

„Zusammen arbeiten ist vielleicht etwas überspitzt. Ich biete lediglich hin und wieder meine Hilfe und ein geringes Maß an Fachwissen in bestimmten Bereichen an. Sie dürften ja selbst gut genug wissen, dass Sherlock nicht viel Wert auf die Meinung anderer legt“, fügte er hinzu, doch es war nicht ganz ernst gemeint. Sherlock setzte für seine Verhältnisse erstaunlich viel auf Johns Meinung und das wusste er zu schätzen. Dennoch war ein bisschen Stichelei keinesfalls schädlich. Sherlock sollte nicht denken, dass er sich alles mit John erlauben durfte.
 

„Wie wahr“, seufzte Misses Holmes und schenkte sich und Judith etwas Tee nach. „Ich bin nun weiß Gott mit zwei Söhnen gesegnet worden, die es wissen, ihre Ansicht zu vertreten. Doch die Fähigkeit, andere Meinungen zu berücksichtigen, ist etwas ganz anderes.“
 

Zwei Augenpaare richteten sich empört auf sie. John verkniff sich das Lachen und erntete einen giftigen Blick von Sherlock.
 

„Jedenfalls“, setzte er seine Erklärung fort, um die Holmes-Brüder zu besänftigen, „arbeite ich zwischendurch Schichten im Krankenhaus. Wenn es meine Freizeit erlaubt, begleite ich Sherlock bei den Fällen.“
 

„Oh, bitte.“ Mycroft hatte die Augenbrauen gehoben. „Doktor Watson, verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich weiß aus zuverlässigen Quellen, dass es, seit Sie und Sherlock zusammen wohnen, gerade einmal drei Fälle gibt, bei denen Sie ihn nicht begleitet haben, zwei davon in England, einer in Minsk. Dafür gibt es ganze neun Verbrechen, bei denen Sie allein am Tatort erschienen sind. Als Sherlocks Vertretung, da er diese Fälle nicht als bedeutend genug eingestuft hat.“
 

John starrte Mycroft mit offenem Mund an. Für diesen Moment vergaß er sämtliche Etikette. „Lässt du uns rund um die Uhr überwachen?!“ Er wandte sich an Sherlock. „Was zum Teufel hast du getan, dass er dich ... uns wie Staatsfeinde observieren lässt?“
 

„Für die Willkür der Regierung braucht es keine Begründung“, sagte Sherlock ungerührt. John reichte diese Antwort nicht und er richtete sich wieder an Mycroft.
 

„Ist das eine Art Spiel? Wer von euch es schafft, den anderen zuerst in den Wahnsinn zu treiben? Nun, ich kann euch beruhigend, dass das nicht passieren wird. Denn so, wie es aussieht, werde ich derjenige sein, der bei zwei solchen Kindsköpfen zuerst verrückt wird.“
 

Er fragte sich, wie Judith es die ganzen Jahre lang ausgehalten hatte. Als hätte sie diesen Gedanken gehört, beugte sie sich zu Adèle und flüsterte ihr etwas zu. Misses Holmes schmunzelte in ihren Tee und nickte.
 

Diese Reaktion ließ John erkennen, dass er soeben etwas die Fassung verloren hatte. Er räusperte sich peinlich berührt und senkte den Blick. „Tut mir leid, ich wollte nicht so ... Das war wohl unangebracht ...“
 

„John“, sprach Sherlock, bevor er weitere Entschuldigungen von sich geben konnte, „es gibt überhaupt keinen Grund, sich zu rechtfertigen. In diesem Haus gab es schon weit skandalösere Situationen.“
 

„Ah.“ Das sollte ihn nicht überraschen. Genau genommen beruhigte es ihn sogar etwas.
 

„Nun Doktor Watson“, ergriff Mycroft das Wort, „ich verstehe Ihre ausbleibende Begeisterung im Angesicht der wirklich umfassenden Observation, allerdings haben vergangene Ereignisse diese Maßnahmen notwendig gemacht.“
 

„Das war vor Jahren, Mycroft“, knurrte Sherlock. Die ganze Atmosphäre kippte auf einmal in eine völlig andere Richtung. „Deine Aufzeichnungen sollten dir zeigen, dass das Scotland Yard innerhalb des letzten Monats zwei falsche Drogenrazzien bei uns durchgeführt hat, ohne etwas zu finden.“
 

John war mit einem Mal deutlich kälter, denn endlich verstand er, worum es hier ging. Und er war sich nicht sicher ob er Zeuge dieser Auseinandersetzung sein wollte. Ein Blick in die Gesichter der Frauen zeigte ihm, dass auch sie es für kein angebrachtes Thema hielten.
 

„Dass sie nichts finden, heißt nicht, dass es nichts zu finden gibt, wie du du bereits so eindrucksvoll demonstriert hast, lieber Bruder.“
 

„Ich. Bin. Clean. Mycroft.“
 

Warum musste die Familie Holmes ausgerechnet dieses Weihnachten ein Kernproblemgespräch führen?
 

„Aber für wie lange? Bis es einen Monat lang keine Fälle mehr gibt? Bis die Langeweile so übermächtig wird, dass du alles dafür geben würdest, um Abwechslung zu bekommen?“
 

„Diese Diskussion ist langweilig, Mycroft. Und darüber hinaus gegenstandslos.“
 

„Nur weil sich hypothetisch ist, macht es sie nicht gegenstandslos.“ Eine Falte hatte sich auf Mycrofts Stirn gebildet. „Ich habe dich schon an deinem schwärzesten Tag erlebt, Sherlock. Und ich werde nicht zulassen, dass es noch einmal so weit kommt.“
 

John fixierte angestrengt das Teeservice vor sich.
 

„Und wieder geht es nur um dich, Mycroft.“


„Nein, es geht um dich, Sherlock! Und darum, dass das hier kein Spiel ist. Glaubst du es hat mir gefallen, dich in so einem ... Zustand zu erleben? Denkst du, es hat mir auf irgendeine Art und Weise Genugtuung verschafft, berechtigt besorgt gewesen zu sein? Dir mag es etwas gegeben haben, aber mir ... uns hat es nichts gebracht, abgesehen von Schmerz.“
 

„Wie überaus theatralisch. John, wir sollten gehen.“
 

„W-was?“ Als er in Sherlocks Gesicht sah, erblickte er eine ausdruckslose Maske.
 

„Den Rückzug antreten - ist das deine brillante Lösung, Sherlock? Du kannst dich nicht ewig hinter Doktor Watson verstecken.“
 

Es war eine Sache, dieser immer weiter eskalierenden Unterhaltung zuhören zu müssen. Viel schlimmer war, auf einmal Teil der Problems zu sein.
 

„Ich verstecke mich nicht -“
 

„Wie nennst du es dann? Die Freundschaft ist real, aber du lebst in einer Illusion. Wie lange wird das gut gehen, Sherlock? Bis du dir nichts mehr vormachen kannst? Oder bis Doktor Watsons Suche nach einer Lebenspartnerin nicht mehr von dir sabotiert werden kann und glückt?“
 

Mycroft.“ Die Schärfe in Adèles Stimme ließ John zusammenzucken. Judith hatte nach der Hand ihres Mannes gegriffen.
 

Eine plötzliche Bewegung neben ihm ließ John zur Seite blicken. Sherlock hatte sich erhoben. In seinem Blick lag etwas, das John bis dahin noch nie in diesem Ausmaß bei ihm gesehen hatte: Blanke Wut.
 

Er wirbelte herum und verließ mit schnellen, langen Schritten das Wohnzimmer.
 

„Das war unangebracht, Mycroft“, murmelte Judith und strich über seine Hand. Mycroft legte sich die freie Hand auf die Augen und wirkte plötzlich überaus erschöpft. „Wir können es nicht ewig totschweigen, es musste ihm gesagt werden.“
 

„Aber doch nicht an Weihnachten.“
 

„Sollten wir es dadurch zum Tabu erklären und niemals ansprechen? Damit wir merken, wie wichtig es gewesen wäre, wenn es zu spät ist?“
 

John wusste, dass er diesen Dialog eigentlich nicht hätte hören sollen. Das ganze war viel zu familiär, um ihn etwas anzugehen. Er bemerkte, dass Adèle ihn ansah. Sie hatte ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen.
 

„Auf ein Wort, John?“, fragte sie und er nickte kraftlos. Was sollte er auch sagen? Nein danke, ich hätte lieber noch eine Tasse Tee? Oder: Passiert das hier jedes Jahr?
 

Sie standen auf und ließen Mycroft und Judith zurück. Misses Holmes legte John eine Hand auf den Rücken und geleitete ihn in den Wintergarten.
 

„Verstehen Sie diese ganze Situation bitte nicht falsch, John. So läuft das alljährliche Weihnachtsessen in der Regel nicht ab. Meine Söhne haben es sich zwar zur Aufgabe gemacht, sich gegenseitig den Abend so unangenehm wie möglich zu machen, doch dieses Thema eben ... gehört üblicherweise nicht zur ihrem Repertoire an Feindseligkeiten.“
 

„Mycroft ist offensichtlich sehr besorgt um Sherlock.“ John verschwieg, dass ihn Mycrofts Worte ebenfalls sehr getroffen hatten. Sie zeigten ihm, dass man von ihm erwartete, Sherlock über kurz oder lang fallen zu lassen.
 

„Oh, das ist er. Schon immer.“ Misses Holmes seufzte. „Und glauben Sie mir, die selbstzerstörerischen Phasen von Sherlock haben uns alle sehr mitgenommen.“
 

John konnte es nachvollziehen. Als er davon erfahren hatte, dass Sherlock übe reinen längeren Zeitraum regelmäßig Drogen genommen hatte, war er schockiert gewesen. Dann wütend, regelrecht ohnmächtig und schließlich resigniert. Er hatte die Destruktivität einer Sucht an der eigenen Familie zu spüren bekommen. Und auch, wenn er keinen Eifluss auf die Zeit hatte, bevor sie einander vorgestellt worden waren, so hatte er sich geschworen, es für die Zukunft mit allen Mitteln zu verhindern. Und wenn es mit Gewalt sein musste.
 

„Mycroft ganz besonders. Seit sie klein sind, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, ein Auge auf Sherlock zu haben. Und Sherlock hat das stets gehasst. Bevormundet zu werden ist für ihn das denkbar schlimmste. Es nagt an seinem Ego.“
 

„Das ohnehin schon viel zu groß ist.“
 

Sie wechselten einen amüsierten Blick. Dann wurde Adèle Holmes wieder ernst. „Ich hoffe, Sie missverstehen Mycrofts Worte nicht. Es ist nicht so, dass er Ihnen nicht traut oder ihnen vorwirft, Sherlock absichtlich zu ... verlassen. Doch vergangene Erfahrungen haben gezeigt, dass er Menschen in seiner Umgebung ...“
 

„Abstößt“, beendete John den Satz und das Wort stand für einige Moment zwischen ihnen, wie eine kalte Mauer. Es erfüllte ihn mit ungeheurer Wut, doch sie galt nicht Sherlocks Mutter oder Mycroft. Sie richtete sich gegen all die Menschen, die Sherlock je Anders und Freak genannt hatten. Einen so genialen, einzigartigen Mann ...
 

Und er verstand Mycroft. Ein Mann, der seinen Bruder bereits kurz vor dem Abgrund gesehen hatte, wurde natürlich vorsichtig. Und misstrauisch gegenüber allen, die sich Sherlock näherten.
 

Misses Holmes strich abwesend über eine dunkle Holzkommode. „Sherlock hat nie aktiv versucht, jemanden in seiner Nähe zu behalten. Er hat es hingenommen, wenn die Distanz immer größer wurde. Doch nach allem, was ich von Mycroft über Sie gehört habe, ist es bei Ihnen anders.“
 

John erinnerte sich. An die Dates, die von dem Vibrieren seine Handys und einer Nachricht von Sherlock frühzeitig beendet worden waren. An das erste Treffen mit Sarah, bei dem Sherlock in Person erschienen war und ihnen keinen Augenblick allein zugestanden hatte. War das Sherlocks Art, ihm zu zeigen, dass er ihm wichtig war?
 

„Ich wollte mich selbst davon überzeugen, darum ließ ich Sie einladen. Ich bin darüber im Klaren, dass ihre Beziehung rein freundschaftlich-kollegial ist und ich wollte damit auch nichts suggerieren, John. Aber ich wollte Sie wissen lassen, dass Ihre Freundschaft Sherlock viel bedeutet und Sie bitten, nicht achtlos damit umzugehen.“
 

„Das würde ich nie.“ Die Worte hatten seinen Mund verlassen, ehe er über sie nachdenken konnte. Doch sie entsprachen ganz der Wahrheit. Adèle bedachte ihn mit einem wohlwollenden Blick.
 

„Sie sind ein sehr aufrichtiger Mann, John. Vielleicht ab und an etwas zu vorsichtig in meiner Gegenwart. Seien Sie versichert, dass Sie einen vortrefflichen ersten Eindruck gemacht haben. Mit Ihnen, Doktor, hat mein Sohn einen wirklich großartigen Freund gefunden.“
 

„Ehrlich gesagt verstehe ich die anderen nicht“, gestand John. Er wollte ehrlich zu ihr sein, denn sie hatte diese Antwort verdient. „Als wir uns zum ersten Mal begegneten, sah er mich kaum drei Sekunden lang an und erzählte mir meine gesamte Lebensgeschichte bis zu diesem Tag. Er diagnostizierte einen Teil meiner Verletzung aus Afghanistan als psychosomatisch und schaffte es innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden, mich davon zu befreien. Natürlich ist es im ersten Moment erschreckend, von einem fremden Mann Dinge über sich zu erfahren, die man selbst nicht imstande ist, über sich zu sagen, aber nach dem ersten Schock fand ich es absolut brillant.“
 

John erinnerte sich an den ersten Tatort zurück, zu dem Sherlock ihn mitgenommen hatte. „Ihn bei seiner Arbeit zu sehen - so etwas habe ich noch nicht erlebt. Er sieht die Dinge ganz anders als wird, er verarbeitet viel mehr, erkennt Zusammenhänge, die andere übersehen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, in seinem Kopf zu stecken, aber es ist so unglaublich faszinierend, ihn in seinem Element zu erleben. Ich kann nicht begreifen, wie die Leute das nicht sehen können.“
 

Nach Afghanistan war er ohne Ziel gewesen. Ohne Aufgabe. Und so unglaublich gelangweilt. Erst Sherlock hatte ihm gezeigt, wozu er noch imstande war und dass der Schuss in die Schulter ihn nicht frühzeitig unbrauchbar gemacht hatte.
 

John starrte abwesend auf eine Büste neben sich und schreckte auf, als ein Paar Hände sich um seine rechte schlossen. Adèle lächelte ihn an und ihre Augen glänzten verdächtig. John überlegte, ob er etwas Falsches gesagt hatte, doch sie schüttelte den Kopf, bevor er zu einer Entschuldigung ansetzen konnte.
 

„Danke, John. Auch wenn ich jetzt wie eine romantische, alte Frau klinge, aber das waren unbeschreiblich schöne, ehrliche Worte.“ Sie räusperte sich und ließ seine Hände los. „Nun gut, genug der Emotionalität. Ich möchte nicht bei Ihnen den Eindruck erwecken, ich wäre nah am Wasser gebaut.“
 

John schmunzelte. „Auf diese Idee würde ich nie kommen, Misses Holmes.“
 

„Bitte, genug der Förmlichkeiten, John. Wenn ich Sie bei Ihrem Vornamen anspreche, erwarte ich das gleiche von Ihnen.“
 

Er blinzelte überrascht. „Natürlich ... Adèle.“
 

„Sehr gut. Und jetzt schlage ich vor, sollten Sie nach meinem Sohn sehen. Er wird auf seinem Zimmer sein. Sie sollten keine Schwierigkeiten haben, ihn zu lokalisieren. Sie dürften ihn von Weitem hören.“
 

Als hätte Sherlock auf ihr Stichwort gewartet, erfüllte nur Sekunden später Geigenmusik das Haus. John legte den Kopf in den Nachen und blickte an die Decke. Schließlich sagte Adèle: „Ich wünschte, ich könnte dieses Verhalten seinem Vater zuschreiben, doch tatsächlich muss er es von mir geerbt haben.“
 

„Spielen Sie auch Violine?“
 

„Nein, ich war Opernsängerin. Die Musik liegt in unserer Familie. Lediglich Mycroft hat nichts von dem künstlerischen Blut geerbt. Sie sollten ihn am Klavier hören - eine Tortur für die Ohren.“ Sie schüttelte sich und John schnaubte. „Er ist ein besserer Redner.“
 

Die Musik schwoll einen Augenblick lang nahezu unerträglich an, dann ließ sie wieder nach. Sherlocks Mutter strich sich eine Strähne aus der Stirn.
 

„Während ich Beethoven doch sehr schätze, würde ich es vorziehen, ihn weniger gereizt an Weihnachten zu hören“, fuhr sie fort und wandte sich ab. „Ich kehre ins Wohnzimmer zurück, John.“
 

Während sie sich von ihm entfernte, lauschte John den Tönen der Violine. Sherlock musste wirklich sehr aufgewühlt sein. In Mycrofts Gegenwart produzierte er in der Regel nur unmusikalisches Grauen auf der Geige. Doch das hier war viel emotionaler.
 

Er verließ den Wintergarten und kehrte in die Eingangshalle zurück. Da die Musik eindeutig aus den oberen Etagen erklang, bestieg er die Treppe. Ein kurzes Innehalten im ersten Stück bestätigte seine Vermutung und er stieg noch eine Treppe höher.
 

Er kam der Quelle immer näher. Bei einem der Zimmer war die Tür nur angelehnt und als John sie aufdrückte, traf Beethoven ihn ungebremst und mit voller, furioser Kraft. Sherlock stand am Fenster, mit dem Rücken zur Tür im unbeleuchteten Raum. John konnte durch die Dunkelheit lediglich seine Silhouette ausmachen.
 

Lange Minuten blieb er an der Tür stehen und lehnte sich, der Musik lauschend, an den Rahmen. Er wusste, dass Sherlock ihn bemerkt hatte, denn durch die offene Tür fiel mehr Licht in den Raum als vorher.
 

Er verlor irgendwann das Gefühl für die Zeit und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte Sherlock sich zum ihm umgedreht und sah ihn an. Noch immer spielte er, doch nun war es ein anderes Stück. Er brodelte vor Energie und zurückgehaltener Wut, doch es war nicht ganz so umgezügelt wie das vorherige.
 

John erwiderte Sherlocks Blick ungerührt. Er konnte nur erahnen, was sich in diesem Augenblick in dem viel zu schlauen Kopf abspielen musste.
 

Schließlich wurden seine Bewegungen langsamer und die Laute des Instruments leiser, bis sie ganz verstummten. John blieb, wo er war, während Sherlock die Violine geradezu andächtig zurück in ihren Kasten legte und ihn verschloss.
 

„Das ist nicht die Violine aus der Baker Street“, stellte John fest.
 

Das Klacken der Verschlüsse war ein Schnitt durch die Stille. „Natürlich ist es nicht die gleiche“, sagte Sherlock und richtete sich auf.
 

„Warum bist du wütend, Sherlock?“
 

Er erhielt keine Antwort. Dass Sherlock diese Frage nicht einmal verneinte, zeigte John, wie erzürnt er tatsächlich war.
 

„Weil Mycroft glaubt, es bestünde eine Gefahr, dass du rückfällig wirst?“
 

Sherlock verschränkte die Arme. John ließ seine eigenen sinken.
 

„Weil er glaubt, dass du es nicht ewig durchhalten wirst, clean zu bleiben, sobald eine längere Zeit lang kein neuer Fall kommt?“
 

Im Halbdunkel des Zimmer konnte John Sherlocks Gesicht nicht vollständig erkennen. Doch auf dem sichtbaren Teil zeichnete sich keine Regung ab. Damit hatte er gerechnet.
 

„Oder weil er dich daran erinnert hat, dass ich dich irgendwann fallen lassen werde?“
 

Ein neuer Schatten legte sich auf Sherlocks Gesicht. Darauf hatte John gewartet und löste sich von der Tür. „Wie kann ein so schlauer Mann so blind sein? Ich dachte, ich hätte es dir vorhin deutlich genug gemacht. Und ja, ich mag mich mit anderen Frauen getroffen haben. Aber ich habe sie jedes Mal für dich stehen gelassen. Ich kann mich an kein Date erinnern, das ich tatsächlich ohne Unterbrechung von dir beendet habe. Und auch, wenn ich mich im Nachhinein beschwer habe, hätte ich deine Nachrichten doch auch einfach ignorieren können. Doch das habe ich nicht. Nicht ein einziges Mal. Sieh in deinen SMS-Eingang, Sherlock. Ich habe immer geantwortet.“
 

Und diese Erkenntnis war die eigentlich erschreckendste des gesamten Abends. Es gab keine Kurzmitteilung von Sherlock, auf die John nicht irgendwie reagiert hätte. Manchmal hatte er ihn etwas schmoren lassen, doch nie hatte er ihn vollkommen ignoriert. Als ob er es es nicht konnte. Es gar nicht wollte.
 

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du von mir hören willst, Sherlock“, gestand er und machte noch einen Schritt auf ihn zu. „Du solltest wissen, dass Mycrofts Worte Unsinn waren. Ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass du nicht rückfällig wirst. Denn sollte ich dich auch nur mit dem geringsten bisschen Heroin erwischen, trete ich deinen Hintern ins Übermorgen, soviel kann ich dir versprechen. Und sollte es tatsächlich mal passieren, dass einen Monat lang nichts von Scotland Yard zu hören ist, dann bringe ich dich höchstpersönlich nach Irland oder Kopenhagen oder in die hinterste Ecke Osteuropas, um dich irgendeinen Mord in einem kleinen Dorf aufklären zu lassen, verstehst du? Denn ich habe keinen Bock, einen Monat lang deinen Launen ausgesetzt zu sein und noch einen Angriff mit dem Revolver überlebt die Wand in unserem Wohnzimmer nicht.“
 

Er stand jetzt unmittelbar von Sherlock, der keinen Moment lang den Blickkontakt unterbrochen hatte. John seufzte. „Außerdem würde ich dich nie fallen lassen. Ich werde dich niemals einen Freak nennen, denn du bist zwar eine verdammte Nervensäge und ein ziemlicher Egoist, aber auch ein unglaublich cleverer, hoch begabter Mann, der nicht weiß, wie gut er eigentlich ist. Und nach der ... Eskapade vorhin auf der Gästetoilette solltest du wissen dass ich derzeit in einer sexuellen ... Identitätskrise stecke und deswegen vielleicht an einigen Stelle zögern werde, aber das heißt nicht, dass ich ... wie soll ich es sagen ... Hals über Kopf türmen werde oder etwas in der Art.“
 

„John“, sagte Sherlock und hob die Hand. Er legte sie in seinen Nacken und verzog plötzlich das Gesicht, als stünde er unter Schmerzen. „Clever? Du kennst mich seit drei Monaten und alles, was dir zu mir einfällt ist ,clever‘? Weißt du, dass sie Anderson beim Scotland Yard ,clever‘ nennen? Verglichen mit ihm, ist meine Intelligenz revolutionär!“
 

„Halt die Klappe!“, fluchte John und riss sich von ihm los. „Ich war gerade so verdammt ehrlich zu dir, wie ich nur sein konnte und du beschwerst dich über meine Wortwahl?!“ Er warf die Hände in die Luft. „Was habe ich getan, um mit so einem verfluchten Dickschädel gestraft zu sein?!“
 

Sherlock stand mit einem Mal unmittelbar vor ihm. In seinen Augen lag ein intensiver Ausdruck und er zog John zu sich. Arme schlangen sich um ihn und pressten ihn an einen größeren, warmen Körper.
 

„John“, murmelte Sherlock gegen sein Ohr, begleitet von heißem Atem. „John.“
 

John entspannte sich in der Umarmung und lehnte seine Stirn gegen Sherlocks Nacken. „Du bist ein Idiot, wenn du tatsächlich angenommen hast, ich könnte mich einfach so von dir abwenden. Nachdem ich einen Taxifahrer für dich erschossen und mich in eine Weste aus Semtex beinahe von Moriarty hab in die Luft jagen lassen, damit dir nichts passiert. Nicht zu vergessen, dass ich vorgestern durch ganz London gelaufen bin, um verdammtes Bleichmittel zu holen“, ergänzte er seine verrückte Argumentation, die wohl nur in Sherlocks Ohren logisch klingen konnte.
 

„Vergiss nicht all die Mühen, die ich für uns aufnehmen musste“, sagte Sherlock, der sein Gesicht mittlerweile in Johns Haaren vergraben hatte. Wenn er nicht gewusst hätte, dass sie (aus praktischen Gründen) das gleiche Shampoo benutzten, hätte John sich einbilden können, Sherlock würde sich seinen Geruch einprägen.
 

In diesem Moment musste er sich jedoch das ungläubige Lachen verkneifen. „Du?!“, entgegnete er und seine Stimme wurde nur unmerklich von Sherlocks Anzugjacke gedämpft. „Welche Mühen meinst du genau?“
 

„Keine Experimente, die potentielle Lebensmittel enthalten. Keine Köpfe mehr im Kühlschrank. Ich musste ein ganzes Experiment dafür stilllegen. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass Anderson längst Tatortverbot von mir bekommen hätte, wenn du nicht interveniert hättest.“
 

„Weil Lestrade kurz davor stand, dich vom Tatort entfernen zu lassen, Sherlock! Also wirklich, wie ignorant kann man eigentlich sein?! Du bist Consulting Detective, nicht Detective Inspector. Du wirst geduldet.“
 

„Als ob ohne mich überhaupt einer dieser Fälle gelöst worden wäre ...“, murmelte Sherlock gegen Johns Schläfe.
 

„Bestimmt nicht“, versicherte John, durch die Bewegungen von Sherlocks Hand in seinem Nacken plötzlich deutlich milder gestimmt. „Denn du bist zu brillant für uns alle.“
 

„Weißt du, dass du das laut gesagt hast?“, fragte Sherlock und sein Gesicht schwebte nun unmittelbar über Johns.
 

„Soll ich aufhören?“
 

„Nie.“
 

Und mit diesen Worten presste Sherlock seine Lippen auf Johns. Dagegen hatte er nicht im geringsten etwas einzuwenden.
 

∼*∼
 

„Auf Wiedersehen Doktor Watson. Es war mir eine wirkliche Freunde, Sie kennen zu lernen.“
 

„Ganz meinerseits, Adèle.“
 

Sie reichte ihm die Hand und winkte ihnen hinterher, als sie sich vom Haus entfernten. John warf Sherlock von der Seite einen skeptischen Blick zu. „Hast du dich mit Mycroft ausgesprochen?“
 

„Es war kein Gespräch nötig.“ Das Augenverdrehen war der Stimme geradezu anzuhören.
 

„Ihr habt euch trotzdem unterhalten.“
 

Der Fahrer wartete bereits auf sie und hielt ihnen die Tür auf. Sherlock blieb stehen und drehte sich zum John um. Bei der Bewegung wehte sein Mantel theatralisch im Abendwind. „Wir sprachen, wir diskutierten - letztendlich ist es irrelevant, ob wir Verbalitäten austauschen oder uns nur anstarren. Es kommt auf dasselbe hinaus.“
 

„Gegenseitige Paralyse?“
 

„John. Solltest du dich an humoristische Ansätzen versuchen, leg bitte etwas mehr Geist in deine Aussagen.“
 

John blieb stehen und hielt Sherlock am Arm fest, bevor er einsteigen konnte. „Ernsthaft. Ist zwischen euch alles in Ordnung.“
 

„Zwischen uns gab es nie etwas, dass den Terminus in Ordnung rechtfertig. Mycroft hat auf seine Art versucht, sich zu entschuldigen, was - offen gesagt - bemerkenswert zu beobachten war. Durch und durch Politiker, der er ist, hat er sich gewunden wie ein Fisch.“
 

John schmunzelte, denn er hatte das Bild nur allzu deutlich vor Augen.
 

„Ich hoffe, du warst nicht allzu ungnädig.“
 

„Ich ließ ihn meine Absolution ein wenig Kosten.“
 

John seufzte und ließ den Arm los. Während sie einstiegen und er die Tür hinter sich zuzog, kam er zu dem Schluss, dass die Brüder Holmes einer tatsächlichen Entschuldigung und Vergebung wohl nie näher kommen würden.
 

Die Fahrt verlief überwiegend schweigend. Hin und wieder erwischte John sich dabei, wie er Sherlock aus den Augenwinkeln beobachtete. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass Sherlock es selbstverständlich mitbekam, doch er sprach John nicht darauf an, was er als Zeichen dafür nahm, dass es geduldet wurde.
 

Nach einer halben Stunde meinte John, seine Gedanken überwiegend gesammelt und sortiert zu haben (eigentlich hatte er lediglich den gesamten Abend noch einmal Revue passieren lassen, aber mehr würde er momentan ohnehin nicht zustande bringen) und öffnete in dem Moment den Mund, als Sherlocks Handy vibrierte.
 

Er fühlte sich einen Moment lang wie ein Fisch auf dem Trockenen, dann überdeckte er seine Geste mit einem Husten. Unterdessen überflogen Sherlocks Augen den Text und ein altbekannter Ausdruck legte sich auf sein Gesicht.
 

„Ein weibliches Opfer wurde gefunden. Stranguliert. Keine Spur von der Mordwaffe.“
 

John lehnte sich zurück und schloss die Augen. Von allen Zeiten, die es hätte treffen müssen, musste es da ausgerechnet -
 

„John.“
 

„Hm?“
 

Er wandte den Kopf und begegnete Sherlocks hellwachem Blick. Er konnte das einzigartige Gehirn durch die Stirn bereits arbeiten sehen.
 

Abwinkend wandte er sich ab. „Gib dem Fahrer einfach die Adresse.“
 

„Der Fall ist vermutlich nicht mehr als eine fünf, hat aber Potential für eine sechs“, erklärte Sherlock, nachdem sie den Kurs gewechselt hatten. Als ob er John irgendetwas erklären müsste.
 

Sie hielten eine viertel Stunde später vor der Polizeiabsperrung. John bedankte sich bei dem Fahrer und als er sich umdrehte, war Sherlock nicht mehr da. Nicht, dass er etwas Anderes erwartet hätte.
 

Im Vorbeigehen grüßte er Sally Donnovan und stellte sich neben Lestrade.
 

„Schöne Feiertage gehabt, Doktor Watson?“, fragte der Inspektor und nickte ihm zu. Einige Meter entfernt inspizierte Sherlock die Leiche, die quer über einem Fußhocker lag.
 

„Fabelhaft, ganz fabelhaft“, antwortete John.
 

„Ich muss zugeben, ein wenig dankbar bin ich schon. Das hier erspart mir ein Essen bei den Schwiegereltern.“ Lestrade vergrub die Hände in den Taschen.
 

„Tatsächlich?“
 

„Habe es gerade noch vor dem Hauptgang hinaus geschafft. Einer der wenigen Vorzüge dieses Berufs. He, Sherlock, die Leiche nicht, ich wiederhole nicht bewegen.“
 

„Sieht es nach einem komplexeren Fall aus?“, fragte John und beäugte die umstehenden Polizisten.
 

„Kann ich bisher noch nicht sagen. Vorerst sind keine ähnlichen Fälle bekannt und -“ Lestrade machte plötzlich einen egelrechten Hechtsprung nach vorne. „Was hatte ich gesagt? Die Leiche muss genauso bleiben!“
 

„Irrelevant“, entgegnete Sherlock, ohne sich umzudrehen. „Sie ist nach ihrem Tor bereits bewegt worden. Sie starb auf dem Bauch liegend.“
 

„Das ist mir egal, Sherlock. Bei allen - warum sage ich wohl, dass sie so liegen bleiben soll, bis die Forensik sie sich angesehen hat?“
 

„Sie meinen Anderson? Ich bitte Sie, Lestrade.“
 

John beobachtete dass Geschehen mit einer Mischung aus Belustigung und Resignation. Ihm war klar, dass Sherlock für die nächsten Stunden, vielleicht sogar Tage, viel zu abgelenkt für ein ernstes Gespräch sein würde.
 

Aber das war ja das herrliche an seiner derzeitigen Situation. Er hatte Zeit.
 

„Sherlock, ich sage es nur noch ein einziges Mal!“
 

„Seien Sie still. Es stört beim Denken.“
 

Jede Menge Zeit.
 

[tbc]

Act III

B]Act III
 

Drei Tage nach dem skandalösen Essen bei der Holmes Familie stand John kurz davor, Sherlock mitsamt seinem Totenschädel, den Experimenten und jedem einzelnen Finger im Kühlschrank aus der Wohnung zu werfen.
 

„Erklär es mir bitte.“ Er marschierte bereits seit beinahe fünf Minuten aufgebracht vor dem Sofa auf und ab, welches sich ein ganz bestimmter Colsulting Detective ausgesucht hatte, um sich dramatisch zu einer Kugel zusammen zu rollen und John sowie dem Rest der Welt den Rücken zu kehren.
 

„Nein, ganz ehrlich, erklär es mir, Sherlock.“ Er war sich sicher, dass er etwas sehr Unüberlegtes tun würde, sobald er stehen blieb, darum konzentrierte er sich auf die fünfeinhalb energischen Schritte, die das Wohnzimmer zuließ, bis er kehrt machte. Immer wieder. „Wir haben darüber gesprochen. Ich habe dich verdammt nochmal davor gewarnt. Wieso willst du einfach nicht auf mich hören? Oder auf Lestrade? Wenigstens auf ihn!“
 

Sherlock rührte sich nicht. John hatte nichts Anderes erwartet.
 

„Du bist selbst schuld daran. Ich werde das ganze bestimmt nicht gerade biegen. Abgesehen davon, dass ich es nicht einmal könnte. Den Verweis hast du verdient und du kannst froh sein, dass du keine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung, vorsätzlicher Beweisvereitelung und was-weiß-ich-noch dazu bekommen hast. Herrgott, wir können froh sein, dass das Scotland Yard nicht wieder eine -“
 

Unten hämmerte jemand gegen die Tür. John blieb stehen und wirbelte herum. Er hörte, wie die Tür von Misses Hudson sich öffnete.
 

„Sherlock, erwartet ihr Besuch?“
 

„Na großartig. Einfach nur großartig.“ Er musste nicht einmal genau hinhören, um zu wissen, dass es in den nächsten Minuten voll in ihrem Appartement werden würde. „Bist du jetzt zufrieden?“, herrschte er Sherlocks Rücken an. „Ist es das, was du gewollt hast?!“
 

Er war lange nicht mehr so wütend gewesen. Im Vorbeigehen trat er gegen das Sofa. Schließlich ließ er sich in den Sessel mit dem Union Jack-Kissen fallen und verschränkte die Arme.
 

Schritte erklangen auf der Treppe. Lestrade schob die Tür zum Appartement auf. Er sah nicht minder angespannt aus, als John sich fühlte.
 

„Doktor Watson.“ Er nickte ihm zu. Dann erblickte er Sherlocks Gestalt auf dem Sofa und baute sich vor ihm auf. „Ich hoffe du weißt, wie tief du in der Scheiße steckst, Holmes.“
 

John verzog das Gesicht.
 

„Wir konnten gerade noch verhindern, dass Devon seine Schwester ebenfalls erwürgt. Sie liegt mit Quetschungen am Hals im Krankenhaus und kann froh sein, wenn sie bis Neujahr entlassen wird. Ist dir bewusst, dass du deswegen belangt werden kannst? Du hast die Ermittlungen nicht nur behindert, du hast vorsätzlich Informationen zurück gehalten und damit beinahe einen Mord zugelassen!“ Er war zum Ende hin immer lauter geworden. Tatsächlich war es das erste Mal, dass Lestrade in Sherlocks Gegenwart ernsthaft die Stimme gehoben hatte.
 

Ein Blick zur Tür verriet John, dass Sally Donovan und Anderson dort warteten. Hinter ihnen standen Schatten im Treppenhaus. Vermutlich weitere Beamte. Seine Stimmung sank noch um einiges mehr. Er konnte sich weitaus bessere Gesellschaft für den Abend vorstellen.
 

„Wenn auch nur einer von euch ein wenig über seinen beschränkten Horizont hinaus gedacht hätte, würdet ihr erkennen, dass dieses Risiko notwendig war.“ Sherlocks Stimme war vom Stoff der Sofalehne gedämpft, doch jeder im Raum konnte ihn hören. John presste sich eine Hand gegen die Augen. 
 

Lestrade starrte fassungslos auf Sherlocks Rücken. „Notwendig? Sherlock du scheinst hier etwas zu missverstehen: Du bist kein Polizist. Du bist ein Berater, mehr nicht! Deine Meinung wird geschätzt, aber du hast keine Befugnis, der Polizei Informationen vorzuenthalten. Ganz egal, wie schlau du bist, dein Anspruch endet hier.“
 

„Langweilig.“
 

„Ich meine es ernst!“ John zuckte zusammen.
 

Sherlock regte sich zum ersten Mal seit einer dreiviertel Stunde. Er drehte sich auf den Rücken und presste die Fingerspitzen aneinander. „Stellen wir etwas klar, Detective Inspector.“ Seine Stimme war ruhig, doch die letzten beiden Worte hatte er mit beißendem Nachdruck ausgesprochen. „Ohne mich hätte das Scotland Yard die vergangenen sechs Monate dreiundvierzig Prozent ihrer Fälle nicht aufklären können. Was die unaufgeklärten Fälle angeht, habe ich jeden dritten der vergangenen fünf Jahre lösen können. Rechnen wir das hoch, bin ich als Einzelperson so effektiv wie halb Scotland Yard. Betrachtet man es realistisch“, und dabei sah er Anderson an, „erbringe ich die Leistung von fünfundsechzig Prozent.“
 

Er richtete seinen Blick auf Lestrade. „Wie effektiv wäret ihr wohl ohne mich?“
 

„Hörst du dich eigentlich reden, Freak?“, fragte Donovan von der anderen Seite des Raumes. „Noch etwas größenwahnsinniger und wir sollten uns Sorgen machen. Aber Moment! Das sollten wir ja ohnehin, nicht wahr?“
 

John biss die Zähne aufeinander. Lestrades Worte waren gerechtfertigt, aber Sallys Beleidigung war unangebracht. Fehlte nur noch, dass Anderson -
 

„Ich habe es von Anfang an gesagt. Sherlock Holmes ist ein Risiko. Und verrückt noch dazu.“
 

„Anderson, würde auch nur irgendwer in diesem Raum Ihnen Beachtung schenken -“, setzte Sherlock gelangweilt an, doch Lestrade brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
 

„Genug.“
 

„Tho-Anderson hat recht!“, protestierte Sally Donovan und machte einen Schritt in den Raum. „Der Freak mag schlauer sein als alle anderen, aber er ist dafür skrupelloser. Er hat es heute gezeigt! Das Leben der Frau hat ihm nichts bedeutet, es ging ihm lediglich darum, den größtmöglichen Nervenkitzel zu bekommen.“
 

„Donovan“, mahnte Lestrade, doch sie sprach weiter.
 

„Sherlock Holmes ist eine Gefahr für sich und seine Mitmenschen. Können wir das wirklich verantworten, wo unser Kodex doch lautet, die Menschen zu beschützen?“
 

Das Knirschen seiner Zähne musste mittlerweile hörbar sein. John krallte sich mit den Händen in die Sitzlehne. So wütend er auch auf Sherlock gewesen war, was er in diesem Moment zu hören bekam, entfachten einen ganz anderen Zorn. 
 

Lestrade ließ die Hand sinken und seufzte. „Nein“, stimmte er zu und wandte sich ab.
 

„Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung. Alle Unterlagen zu sämtlichen Mordfällen, die Sherlock Holmes in den letzten sechs Monaten für das Scotland Yard übernommen hat, sind ihm mit sofortiger Wirkung zu entziehen.“
 

John stand ruckartig auf. Er wusste, was die nächsten Worte waren und er musste verhindern, dass Sherlock sie zu hören bekam.
 

„Inspektor“, sagte er nachdrücklich, doch Lestrade schüttelte den Kopf.
 

„Tut mir Leid, Doktor Watson, aber daran ist nichts zu ändern. Sherlock Holmes wird vorläufig keine Fälle mehr erhalten.“
 

John wagte es nicht, zum Sofa zu sehen. Stattdessen trat er näher an Lestrade heran. „Ist das wirklich nötig?“, fragte er leise und ignorierte die empören Blicke von der Tür. „Nach allem, was Sherlock für Sie getan hat?“
 

„Glauben Sie mir, das ist nicht meine Entscheidung. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihm eine verpasst und ihm einen Monat lang Tatortverbot erteilt. Dieser Befehl kommt von weiter oben.“
 

Das war nicht gut. John biss sich auf die Lippe. „Ist Ihnen bewusst, was das für ihn bedeutet?“
 

Ein Schatten legte sich auf Lestrades Gesicht. Einen Moment lang erinnerte er ihn an Mycroft und John erkannte, dass noch jemand anderes Sherlock am Boden gesehen hatte. „Es ist mir mehr als bewusst, Doktor Watson.“
 

John nickte. „Dann werden Sie wohl auch verstehen, warum ich das jetzt tun muss.“ Ein stirnrunzelnd war seine Antwort, doch John wartete nicht auf eine Antwort. Stattdessen trat er zurück und warf einen finsteren Blick in die Runde. Als er den Mund öffnete und sprach, war seine Stimme ruhig und ohne irgendwelche Emotionen. Er wusste, dass er so die größtmögliche Wirkung erzielte.
 

„Raus. Allesamt.“
 

Die Beamten an der Tür, inklusive Anderson und Donovan starrten ihn an, als haben sie sich verhört. John gab ihnen ganze drei Sekunden, bevor er seine Worte wiederholte.
 

„Sie können uns nicht einfach rauswerfen“, entgegnete Sally und verschränkte die Arme. Das machte keinen Eindruck auf John.
 

„Und ob ich das kann.“ Er nickte zur Tür. „Und jetzt raus.“
 

Hilfesuchend sah sie zu Lestrade, der John anstarrte, als sei er ihm noch nie zuvor begegnet. Es stimmte, dass John bisher keinen Grund gehabt hatte, sein Militärverhalten einzusetzen. Er erwiderte den Blick des Inspektors unberührt und fand schließlich den Funken, den er gesucht hatte.
 

Lestrade nickte. „Wir kommen morgen früh wieder.“
 

Er gab den anderen einen Wink. „Wir gehen.“
 

„Aber Inspektor!“
 

„Wir gehen. Jetzt. Wir haben unseren Mörder, da kommt es auf acht Stunden nicht an.“
 

Widerwillig zogen sie ab. Lestrade warf einen letzten Blick über die Schulter und schloss die Tür. Sofort fiel sämtliche Spannung von John ab und er atmete aus. Dann nahm er allen Mut zusammen und sah Sherlock an.
 

„Das lief überraschend gut.“ Sherlock hatte sich mittlerweile aufgerichtet, doch sein Blick lag an der gegenüberliegenden Wand. Sein Gehirn schien wieder bei voller Arbeitskraft zu sein. „Und nun zum nächsten Schritt: Den Mörder finden.“
 

„Sherlock.“
 

„Wo habe ich die Nikotinpflaster, John? Das ganze ist nicht mehr als ein Zwei-Pflaster Problem, aber auf der Skala mindestens eine fünfeinhalb.“
 

„Sherlock Holmes!“
 

Ihre Blicke trafen sich. „Was spielst du hier?“, fragte John entnervt. „Hast du etwa nicht mitbekommen, was Lestrade gerade gesagt hat?“
 

Sherlock winkte ab. „Irrelevant. Sobald wir den eigentlichen Mörder gestellt haben, werden alle Einschränkungen aufgehoben.“
 

„Den eigentlichen Mörder?“, echote John und ließ sich in den Sessel fallen. Das war für den Moment einfach zu viel. „Sherlock, war das eine Farce?“
 

„Eine überaus clevere List mit fabelhafter Mitwirkung deiner Seite aus, John.“ Sherlock musterte ihn aufmerksam und ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus. „Abgesehen von der Tatsache, dass du es für etwas Anderes gehalten hast. Es war dir ernst.“
 

„Und ob es das war! Sherlock, habe ich gerade eine Einheit der Polizei mitsamt Inspektor  für einen deiner Pläne vor die Tür gesetzt?“
 

„Offenkundig.“
 

Er vergrub die Hände in den Haaren. Nach einigen Sekunden ließ er die Arme sinken und schüttelte erst langsam, dann immer bestimmter den Kopf. „Nein. Nein, ganz ehrlich? Ich hab genug.“ Er drückte sich mit einem Ächzen hoch - sein Bein setzte ihm gerade heute wieder besonders zu. „Erinnerst du dich an das, was ich dir Weihnachten gesagt habe?“ Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. „Es ist eine Sache, wenn du mich ignorierst oder bevormundest. Aber wenn du mich ohne mein Mittwissen zu einem Teil deiner Scharaden machst, hört bei mir der Spaß auf, verstanden?“
 

Sherlock hörte ihm gar nicht mehr zu. Er hatte begonnen, wie John einige Minuten zuvor, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Sein Blick wechselte zwischen hochkonzentriert und geistesabwesend, während seine Lippen sich lautlos bewegten. John kannte dieses Verhalten. Sherlock würde ihn nicht einmal wahrnehmen, wenn er ihn anschrie.
 

Das schlimmste daran war, dass es keine eigentliche Unhöflichkeit war. Denn Sherlock konnte nicht anders. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, analysierte und ermittelte sämtliche Fakten des Falls. In gewissem Sinne arbeitete er wie ein Computer.
 

John fühlte sich schrecklich ausgelaugt. Er sollte froh darüber sein, dass Sherlock Lestrades Worte offensichtlich so wenig zugesetzt hatte. Seine Befürchtungen waren weitaus schlimmer gewesen (und er hatte sich erschreckenderweise sehr an Mycrofts Worte während des Dinners erinnern müssen). Dennoch blieb der bittere Beigeschmack.
 

Ohne ein weiteres Wort verließ John das Wohnzimmer. Die Stufen hinauf in sein Zimmer hatten lange nicht mehr so viel Zeit in Anspruch genommen. Er erwischte sich einen Moment lang bei dem Gedanken, die Abwesenheit des Stocks zu bedauern. Als er sich dessen bewusst wurde, breitete sich eine kalte Frustration in seinem Magen aus und er beschleunigte die Schritte. 
 

In seinem Zimmer angekommen streifte er sich die Jacke ab, die er die ganze Zeit über getragen hatte und legte sie über seinen Stuhl. Sein Laptop stand aufgeklappt auf dem Tisch in der Ecke, doch er verspürte kein Verlangen danach, etwas vom heutigen Abend aufzuschreiben.
 

Sein Kopf schwirrte vor Gedanken. Ob es Sherlock immer so ging?
 

Das Ziehen in seinem Bein wurde nun immer unerträglicher. Er fluchte, denn er wusste, dass es psychosomatisch war. Doch so sehr er sich konzentrierte, es linderte den Schmerz nicht.
 

„Das ist deine Schuld, Sherlock“, murmelte er. Eine schwache Lüge. Er konnte niemandem außer sich die Schuld dafür geben. Wenn ihn etwas störte, dann dass Sherlock das Humpeln nicht wieder wundersamerweise verschwinden ließ.
 

Schließlich konnte er nicht länger stehen und setzte sich auf sein Bett. Und starrte in die Dunkelheit vor sich.
 

Und starrte.
 

Und starrte.
 

Unter ihm im Wohnzimmer konnte er Sherlock hören. Hin und wieder erreichten Wortfetzen Johns Ohren. Fakten über die Tatorte. Die vergangenen Morde. Blutwerte der Opfer. Phorensische Details. Die Zusammensetzung des Seils. Sein Blick verschwamm und sein Verstand driftete ab, während das Echo von Sherlock Deduktionen sich mit seinen eigenen halb bewusstlosen Gedanken vermischte.
 

Es kann unmöglich der Bruder gewesen sein. Er hat nur ein Motiv für seine Schwester. Die anderen Morde stehen damit nicht in Verbindung. Wenn er etwas tut, dann das bereits existierende Muster nachahmen.
 

Mycroft ist offensichtlich sehr besorgt um Sherlock.
 

Oh, das ist er. Schon immer.
 

Das Seil war jedes Mal ein anderes. Und die Haare der Opfer ... Die Garderobe ... Oh!
 

„Hüte“, murmelte John, als er mit einem Schlag wieder zu sich kam. Er lag rücklings auf dem Bett und sein Blick fiel auf eine Gestalt, die am Fenster stand.
 

„Deine Aufnahmefähigkeit im Halbschlaf ist bemerkenswert“, sagte Sherlock und drehte sich um. „Weitere Experimente würden zeigen, wie weit sich dieses Potential ausschöpfen lässt.“
 

John war noch immer nicht wirklich wach. „...Sherlock?“
 

Das Bett senkte sich unter dem Gewicht einer zweiten Person. Ein flüchtiges Blinzeln und Sherlock hatte sich nun direkt über ihn gebeugt.
 

„Sag mir, was du denkst, John.“
 

„Die Hüte“, wiederholte er nuschelnd, denn sein Körper musste sich erst noch daran erinnern, wie er die erforderlichen Muskeln aktivierte. „Sie lagen am Boden, obwohl die Hutablagen viel zu hoch waren, um bei einem Kampf in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Der Mörder ... Hat etwas bei den Hüten gesucht ...“ Er musste sich konzentrieren, um sich nicht irgendwo zwischen Sherlocks Kragen und seinem Kinn zu verlieren. Es war nur ein heller Fleck im halbdunkel des Zimmers.
 

„Fahre fort.“
 

„Das nächste Opfer sollte Devons Schwester sein, doch ihr Bruder kam dem Mörder zuvor.“ John blinzelte, die Worte fielen ihm immer leichter. „Ein unwahrscheinlicher Zufall, dass zwei unterschiedliche Leute sie tot sehen wollten. Der Mörder sucht etwas und er wird es als nächstes bei Susan Devon suchen.“
 

Sherlock gab einen zustimmenden Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Brummen und einem sonoranten Summen lag. Es ging John bis ins Mark. „Und das alles durch dein Unterbewusstsein. Was für einen beeindruckenden Einfluss ich auf dich habe, John.“
 

Einen verdammten Einfluss, dachte John, besaß jedoch nicht die nötige Kraft, um Sherlock zu korrigieren.
 

„Hast du Lestrade schon informiert?“, fragte er und rappelte sich auf, bis er sich auf seinen Ellbogen abstützte. Sherlock wich nicht zurück, sodass sich ihr Atem vermischte. John dachte an Violinenmusik und den Geschmack von Himbeersorbet an Weihnachten.
 

„Unnötig“, wurde er aus den Gedanken gerissen. „Uns bleibt noch mindestens eine halbe Stunde, ehe der Mörder bei Susan Devon einbricht. Genug Zeit, um uns selbst auf den Wag zu machen.“
 

„Wa-hä ... Meinst du das ernst?“
 

„Sei etwas aufmerksamer John. Man könnte noch den Eindruck gewinnen, deine Zweckdienlichkeit sei bei vollem Bewusstsein gemindert.“
 

„Es ist noch zu früh für Respektlosigkeiten.“ John setzte sich ganz auf und fasste sich an seine Schulter. Die Geste erntete ihm einen Seitenblick von Sherlock, der mittlerweile wieder stand. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und verließ das Zimmer. Seine Schritte entfernten sich.
 

John starrte ihm abwesend hinterher. Erst als von unten Sherlocks eindeutig ungeduldige Stimme zu ihm herauf wehte („John, der Mörder fasst sich wirklich nicht von allein“), verstand er, dass Sherlock auf ihn wartete.
 

„Sag das doch gleich“, antwortete er und beeilte sich, ihm zu folgen. 
 

∼*∼
 

Eine Stunde später erkannte John, dass es so nicht weiter gehen konnte.
 

„Ruf. Lestrade. An“, knurrte er durch zusammengebissene Zähne, um zu verhindern, dass sie klapperten. Er hatte bereits vor zehn Minuten das Gefühl in seinen Zehen verloren.
 

„Damit das Scotland Yard sich auch diesen Fall wieder auf die eigenen Fahnen schreiben kann? Du solltest anfangen, praktischer zu denken.“
 

„Ich denke gerade vielmehr pragmatisch.“ Er rieb sich die steifen Oberarme. „Und das Maximum an Pragmatik bietet ein verdammter Anruf bei Lestrade!“, zischte er die letzten Worte.
 

„Irrelevant.“
 

„Effektiv.“
 

„Langweilig.“
 

Ein Totschlagargument. John schwieg beleidigt. Bis er eine Bewegung im Inneren des Hauses wahrnahm. Ein Funke Wärme kehrte in seinen Körper zurück. „Da ist jemand.“
 

Keine Antwort zu erhalten, war nichts Neues für ihn, doch ein Blick nach links zeigte einen leeren Fleck, an dem vor einigen Sekunden noch Sherlock gehockt hatte. Er verbiss sich ein Fluchen und folgte dem Schatten, der sich dem Haus näherte.
 

Als er die Hausecke umrundete, wurde es für einen Moment taghell und Schmerz explodierte in seinem Kopf. Als er sich auf dem kalten Boden liegend wiederfand, dämmerte ihm, dass sowohl Sherlock als auch er niemals den Gedanken berücksichtigt hatte, es könnte zwei Täter geben.
 

Jemand packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Sämtliche Militärreflexe aktivierten sich und Johns Körper reagierte, noch bevor sein Geist sich ganz von dem Schlag gegen den Kopf erholt hatte. 
 

Ein Tritt gegen das Knie. Gleichgewichtsverlust. Lockerung des Griffs. Seine rechte Hand schloss sich um das linke Handgelenkt des Angreifers. Mit der Linken schlug er die zweite Hand zur Seite. Keine Deckung. Angriffsfläche. Eine Drehung zur Seite, Ellbogen gegen den Solar Plexus. 
 

Die Person sackte mit einem Stöhnen in sich zusammen und wand sich nach Luft schnappend am Boden. Zehn Minuten Minimum, bis er überhaupt wieder daran denken konnte, aufzustehen. Genug Zeit, um nach Sherlock-
 

Im Haus schepperte es. John rannte mit hämmerndem Kopf und rauschendem Blut in seinen Ohren los. Die Hintertür stand offen, wahrscheinlich hatte Sherlock das Schloss geknackt. Oder die Mörder waren selbst durch die Hintertür eingestiegen.
 

Er duckte sich in die Küche und folgte den Geräuschen eines Kampfes. Er erreichte das Wohnzimmer rechtzeitig, um zu sehen, wie Sherlock einem Mann mit Messer erst ein Buch frontal ins Gesicht schleuderte und ihn anschließend mit einem Knie in den Magen kampfunfähig machte.
 

Schwer atmend stand er über der eindeutig bewusstlosen Gestalt und musste John wohl an seinem nicht minder schnellen Luftholen gehört haben. „Zwei Täter“, konstatierte er und richtete sich den in Mitleidenschaft gezogenen Kragen. 
 

John tastete mit einer Hand nach Halt, als das Wohnzimmer eine hundertachtzig Grad-Drehung machte. Der Adrenalinschub ließ wohl schon nach. Leichtes Schädeltrauma, kein Blut, keine Gehirnerschütterung.
 

Eine Welle von Übelkeit zwang ihn beinahe in die Knie. Die Gehirnerschütterung war wohl doch nicht ausgeschlossen.
 

„Hier ist er.“ Sherlock hielt plötzlich einen Hut in Händen. Außerdem trug er Handschuhe. 
 

„Und was ist jetzt so besonders daran?“, fragte John und lehnte sich gegen die Wand, um nicht stumpf umzukippen.
 

„Das Hutband."
 

„Das Hutband.“
 

„Vielmehr das, was in dem Hutband ist.“
 

John schnaubte. „Oh, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen. Geheimcodes?“
 

„Wirklich John, ein bisschen mehr Finesse. Ich meinte es wörtlich. Das Hutband ist aus einer überaus seltenen Seide - höchst illegal nach England gebracht und - Oh.“
 

„Oh?“
 

Sherlock drehte den Hut. „Ein Blutfleck. Identisch mit dem genetischen Material auf deinem Hemd.“
 

Der Mann, den er außer Gefecht gesetzt hatte. Gott wusste, woher Sherlock die Sicherheit nahm, dass ausgerechnet er es war und nicht die Gestalt, die zusammengesunken zu seinen eigenen Füßen lag.
 

Polizeisirenen näherten sich dem Haus. John bemerkte erst jetzt, dass er grinste.
 

„Anderson wird sich schwarz ärgern.“ Er freute sich auf den Gesichtsausdruck.
 

Sherlock ließ den Hut sinken. Auch er grinste. „Allerdings.“
 

Sie hätten wohl angefangen zu kichern, hätte nicht die Polizei in diesem Moment das Haus gestürmt.
 

∼*∼
 

Die Taxifahrt zurück zur Baker Street verlief in einvernehmlichem Schweigen. Sherlock beschäftigte sich eingehend mit seinem Handy (vermutlich überprüfte er im Internet den Preis der Seide, sowie ihre genaue Zusammensetzung), während John die rote Schock-Decke enger um sich schlang und müde aus dem Fenster blickte.
 

Die vorbeirauschenden Lichter hatten eine äußerst einschläfernde Wirkung. Außerdem ließen sie ihn das kontinuierliche Pochen hinter der Stirn etwas vergessen.
 

Sobald sie zurück im Appartement waren, würde er eine Schmerztablette nehmen. Vielleicht auch vier.
 

John hatte eine plötzliche Eingebung. Umgehend sprach er sie aus: „Ich hätte gerne gesehen, wie Lestrade dir eine reinhaut.“
 

Er spürte eine Bewegung neben sich und das Klicken der Handytastatur verstummte. „Ich wäre nichts so dramatisch zu Boden gegangen, wie du es dir vorstellst.“
 

„Woher weißt du, wie ich es mir vorstelle?“ Langsam drehte John den Kopf und sah seinen Sitznachbarn an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Sherlocks Wange sich dunkel verfärbt hatte. Wohl ein nicht geblockter rechter Harken. Nicht ganz durchgezogen. Zwei Knöchel hatten ihn getroffen. Glück für Sherlock, sonst wäre der Knochen durch gewesen. John hatte die Arme des Mannes gesehen, als er abgeführt worden war.
 

Bei seinen Worten hatte Sherlock das Handy ganz sinken lassen. „Du dachtest, Lestrades Schlag würde mich unvorbereitet treffen. In deiner Vorstellung wäre ich über den Hocker am gestrigen Tatort gestolpert und hinten rüber gefallen. Der Ausdruck meiner Überraschung und Fassungslosigkeit hätte dir Genugtuung bereitet. Darüber hinaus“, Sherlocks Blick wanderte über sein Gesicht, als würde er es scannen, „hätte es dich erregt.“
 

John hob abwehrend die Hände. „Okay, ich würde normalerweise fragen, wie du es schaffst, in meinem Kopf zu sehen, würdest du nicht mit der letzten Annahme so verdammt ...“ Seine Worte verloren sich irgendwo zwischen Sherlocks plötzlicher Nähe und seinem Atem auf Johns Gesicht.
 

„Korrekt liegen?“
 

„Korrekt. Falsch. Ich meinte falsch.“
 

Sherlock brachte lehnte sich zurück. „Selbstverständlich.“ Er widmete sich wieder seinem Telefon und John atmete frustriert die angehaltene Luft aus.
 

Fünf Minuten später hielt der Wagen und Sherlock war ausgestiegen, noch bevor John sich aufgerichtet hatte. Missmutig blickte er ihm hinterher und rappelte sich knurrend auf. Sein Kopf dröhnte, als er auf dem Bürgersteig stand und den Fahrer bezahlte.
 

Den Weg von der Eingangstür durch den Flur und die Treppen hinauf waren ein Schleier aus Schwindel und Schmerz. Im Wohnzimmer angekommen, ließ er sich stumpf aufs Sofa fallen. 
 

Schmerztabletten waren oben in seinem Zimmer oder im Medizinkasten im Badezimmer, doch für beide Distanzen hatte er nicht mehr genug Kraft. Stattdessen schloss er die Augen und schlief umgehend ein.
 

Es konnte Minuten, aber auch Stunden später sein, dass ihn die Kopfschmerzen weckten. Im ersten Moment war er orientierungslos und versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, die ihn bewegungsunfähig machte. Erst als er auf dem Boden lag, wurde ihm bewusst, dass er sich einfach in der Decke verheddert hatte.
 

Er hörte Schritte und sah auf. Sherlock stand vor ihm, ein Glas Wasser in der Hand. Er beugte sich vor und half John, sich wieder auf das Sofa zu setzen. Er reichte ihm zwei Tabletten.
 

John hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu bedanken. Er schluckte sie und nahm das Glas, das Sherlock ihm regelrecht unter die Nase hielt. Es würde etwas dauern, ehe die Wirkung einsetzte. Selbst im Halbdunkel konnte er das Feilchen erkennen, dass sich immer prägnanter auf Sherlocks Gesicht bildete. Er hob die Hand und drehte Sherlocks Kopf, sodass er einen besseren Blick hatte.
 

„Im schlimmsten Fall, ist es eine Prellung des Jochbeins“, nuschelte er und spürte, wie seine Augen drohten, wieder zuzufallen.
 

Sherlock griff nach Johns Hand und hielt sie einige Sekunden lang fest. Anschließend drückte er ihn so weit nach hinten, bis er schließlich wieder auf dem Sofa lag.
 

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Wohnzimmer. John driftete bereits wieder ab, da erfüllte Violinenmusik die Luft. Entgegen seinen Befürchtungen heizte sie die Kopfschmerzen nicht an, vielmehr begleitete sie ihn, während er in immer tieferem Schlaf versank.
 

∼*∼
 

Der achtundzwanzigste Dezember war ein düsterer Tag für John Watson.
 

Die meiste Zeit lag er fluchend auf dem Sofa, zu ermattet, um aufzustehen und von den Kopfschmerzen in eine liegende Position gezwungen. Er konnte Sherlock nicht an dem Experiment in der Küche hindern, das beinahe die Spüle zu einem unbrauchbaren Klumpen Metall reduzierte. Er konnte die unangenehm riechenden Finger im Kühlschrank nicht entfernen. Darüber hinaus besaß er nicht einmal mehr genug Überzeugungskraft, um Sherlock dazu zu bewegen, Milch zu kaufen. (Nicht, dass er sie jemals besessen hätte, besten Dank.)
 

Ein überaus schwarzer Tag, dieser achtundzwanzigste Dezember.
 

„Sherlock.“
 

Stille.
 

„Sherlock.“
 

Keine Antwort. Lediglich ein Knistern von Papier.
 

„Sherlock.“
 

John würde nicht jammern. Nein, er würde nicht jammern.
 

Er tastete nach seinem Telefon, dass auf dem Wohnzimmertisch lag und tippte:
 

SHERLOCK
 

„John, du störst beim Denken.“
 

„Reich mir bitte meinen Laptop.“ Er konnte das Luftholen sogar vom Sofa aus hören und fiel Sherlock ins Wort, bevor er etwas erwidern konnte. „Und wehe, du sagst mir jetzt, dass der Rechner doch nur drei Meter von mir entfernt steht. Sherlock, wenn du das sagst, dann schwöre ich dir, Schmerz hin oder her, ich werde die Finger im Gefrierfach aus dem Fenster werfen!“
 

„Zweieinhalb Meter.“
 

Sherlock!“
 

Das war nicht gut für die Kopfschmerzen. John presste sich beide Hände gegen die Schläfen. Als er die Augen wieder öffnete, stand der Laptop neben ihm auf dem Wohnzimmertisch und Sherlocks Gestalt entfernte sich von ihm.
 

„Danke.“ Er klappte ihn auf und legte ihn sich auf die Beine. „Was ist mein Passwort?“, fragte er, nachdem er es eingegeben hatte, in den Raum. 
 

„picadillymurderR, letztes R groß geschrieben. Beim Tippen auf der Tastatur brauchst du für das i länger als für die anderen Vokale. Darüber hinaus war die Pause zwischen den zwei ‘R‘ kürzer, als bei den anderen. Du schreibst mit zwei Fingern und brauchst dadurch allgemein dreißig Prozent länger als der Durchschnitt. John, ich wiederhole mich ungern: Ich denke nach und benötige dafür Ruhe.“
 

„Erstaunlich“, formte John lautlos mit den Lippen und öffnete den Internet Browser. Dann wählte er die Seite für seinen Blog und kontrollierte den letzten Eintrag. Er hatte drei Antworten.
 

Damit ist er wirklich durchgekommen? 

Mike Stamford, 28. Dezember 13:56
 

Klingt nach einer erfreulichen Nachweihnachtszeit, Brüderchen.

Harry Watson, 28. Dezember 14:22
 

Ach übrigens, was machst du Silvester? Meld dich mal bei mir.

Harry Watson, 28. Dezember 14:23
 

Seine Hand verharrte über der Taste zum Antworten. Er hatte an Weihnachten mir Harry telefoniert. Ihr Verhältnis war nach wie vor angespannt und der alleinige Gedanke, den ganzen Abend von Silvester mit seiner Schwester zu verbringen, bereitete ihm Unbehagen. Gleichzeitig meldete sich sein schlechtes Gewissen. Was war er nur für eine Entschuldigung von einem Bruder?
 

Er schluckte die Reue.
 

Tut mir leid, Harry, aber ich habe schon Pläne. Vielleicht nächstes Jahr, schrieb er ihr zurück und hoffte, sie würde nicht weiter nachhaken.
 

Danach schaltete er das Gerät ab, drehte sich auf die Seite und zwang sich, zu schlafen.
 

Es war etwa sechs Uhr abends, als er von Sherlocks Stimme geweckt wurde. „Angelo oder Bestellung?“, fragte er aus der Küche.
 

John rieb sich die Augen und setzte sich vorsichtig auf. Die Schmerzen hatten nachgelassen. Zur Sicherheit würde er wohl noch eine Tablette nehmen. „Chinesisch?“, schlug er vor und das Ausbleiben einer Antwort war ihm Bestätigung genug. 
 

Zum ersten Mal an diesem Tag erhob er sich vom Sofa und hatte nicht das Gefühl, sich sofort übergeben zu müssen. Er ging ins Badezimmer, entledigte sich seiner Kleidung und nahm eine Dusche. Anschließend zog er sich frische Kleidung an und kehrte ins Wohnzimmer zurück. 
 

Auf dem Tisch stand bereits das Abendessen, sowie eine Packung Schmerztabletten und ein Glas Wasser. Sherlock hatte tatsächlich alles erledigt.
 

Vielleicht sollte er öfter den Tag auf dem Sofa verbringen? Kopfschüttelnd erinnerte sich an das Gespräch mit Sherlock an Weihnachten und schallt sich innerlich erneut einen Idioten, weil er ihn beschuldigt hatte, sich nicht genug zu kümmern.
 

An Sherlocks Maßstäben gemessen, waren diese Gesten jetzt schon wirklich bemerkenswert. 
 

„Kommst du essen?“, fragte er in Richtung Küche.
 

„Keinen Hunger.“
 

„Sherlock, ich habe dich das letzte Mal bei deiner Mutter richtig was essen sehen.“
 

„Hättest du genauer aufgepasst, wäre dir nicht entgangen, dass ich gestern Morgen gefrühstückt habe.“
 

„Oh, wie unaufmerksam von mir.“
 

„Prioritäten, John.“
 

„Sherlock. Komm essen.“
 

Ein frustrierter Laut war alles, was er als weitere Antwort bekam. Drei Minuten später senkte sich das Sofa neben John, der bereits angefangen hatte. Er lächelte in seine Pappschachtel mit gebratenen Nudeln und schob den Reis in Sherlocks Richtung, während er mit der freien Hand nach der Fernbedienung tastete und den Fernseher einschaltete.
 

Er vergaß Silvester für den Moment.
 

∼*∼
 

Viel später am Abend saßen sie nebeneinander auf dem Sofa und sahen fern. Genaugenommen sahen sie eine Quizshow und John lauschte belustigt Sherlocks Ausführungen darüber, warum manche Fragen doch so offensichtlich waren, wohingegen andere (beispielsweise über das Sonnensystem oder die derzeitige Regierung) absolut irrelevant und langweilig waren.
 

Sherlocks Ernsthaftigkeit machte es John nicht schwer, ihn aufzuziehen.
 

„Aber unser Premierminister. Wirklich, Sherlock, das ist Grundschulwissen.“
 

Sherlock hatte sich verstimmt in den eigenen Bademantel gewickelt und die Arme verschränkt. „Und was bringt es mir in einem Fall? Ich werde ihn nicht schneller lösen, weil ich weiß, dass der Premierminister ein besonderer Idiot ist, so wie sein Vorgänger und sein Nachfolger.“
 

John musste zugeben, dass Sherlock einen Punkt hatte, aber er wollte nicht locker lassen. „Und was ist mit dem Sonnensystem?“
 

„Irrelevant.“
 

„Aber wenn du einen Mörder hast, der Personen mit dem Namen des Premiers umbringt und dabei die Position der Sonne eine Schlüsselrolle spielt?“
 

Im ersten Moment wirkte Sherlock, als würde er er diese Frage nicht einmal mit einer Antwort wert empfinden, dann änderte sich seine Haltung. Er ließ die Arme sinken und beugte sich vor. Sein Blick bohrte sich in Johns.
 

„In diesem Fall werde ich ihn anhand der Handschrift seiner Morde überführen, denn seine Übergriffe wären gezeichnet von einer angestauten Wut. Er würde Fehler machen und selbst wenn nicht, würde ich etwas finden. Fasern seines Anzugs unter den Fingernägeln der Opfer. Tierhaare am Tatort von einer seiner Katzen. Der Winkel, von dem aus die Opfer angegriffen wurden, welcher eindeutig zeigt, dass er Linkshänder ist und Piano spielt.“
 

Sherlock war ihm jetzt so nah, dass John Mühe hatte, sich auf die Worte zu konzentrieren. So viele Fragen schwirrten ihm im Kopf umher. Was tun wir hier, Sherlock? Was ist das für dich? Ein Spiel? Sollten wir nicht darüber reden? Wie soll es weitergehen? Ich bin Ex-Soldat, sollte ich so weinerlich klingen?!
 

Er holte Luft, um all diese Gedanken endlich mit einem Gespräch aus der Welt zu schaffen (auch, wenn er viel lieber andere Dinge mit seinem Mund und Sherlock angestellt hätte). Doch wieder kam er nicht dazu, denn Sherlocks Gesicht erhellte plötzlich ein Gedanke und er sprang von der Couch.
 

„Piano, John. Piano. Das ist es.“ Auf einmal hielt er sein Telefon in der Hand und tippte.
 

„Lestrade dachte, es sei Zufall, so etwas es ist nie Zufall.“
 

„Äh...“ John wusste nicht, wohin mit seinen Hände. Und mit seinen Gedanken. „Hast du einen neuen Fall?“
 

Sherlock antwortete, ohne ihn mit irgendeiner Geste zur Kenntnis zu nehmen. „Offenkundig, John. Nicht alle können den Tag auf der Couch verbringen und nur schlafen.“
 

„Als ob ich das gerne gemacht hätte“, murmelte John und lehnte sich zurück. Er öffnete die Augen, als er eine Bewegung an der Garderobe wahrnahm. „Willst du weg?“
 

Sherlock hatte den Bademantel achtlos fallen gelassen und John realisierte, dass er darunter die ganze Zeit angezogen gewesen war. Nun schlüpfte er in seine Schule und warf sich den Mantel über. „Du musst nicht auf mich warten, ich bin vor morgen früh nicht zurück.“
 

Ehe John fragen konnte, was zur Hölle Sherlock vorhatte, war er bereits die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss fiel die Tür zu.
 

„Das darf doch wohl nicht wahr sein.“
 

Müde rappelte John sich auf. Es würde eine lange Nacht mit unruhigem Schlaf werden. Wenigstens hatte Sherlock die Aufmerksamkeit besessen, seine ungefähre Rückkehr anzugeben.
 

John blickte an sich hinab und fluchte. Er brauchte eine kalte Dusche. Sherlock, dieser sprunghafte, ignorante Stimmungskiller.
 

∼*∼
 

Bis Ende Dezember löste Sherlock Holmes einen mysteriösen Uhrendiebstahl, den Fall des tanzenden Mädchens (einer von Johns persönlichen Favoriten) und überführte den Klempner von Mrs Hudson des Haustierschmuggels. 
 

Zwei weitere Gelegenheiten, mit Sherlock über die Spannung zwischen ihnen zu reden, verstrichen abrupt. Das führte zu einer unliebsamer Ernüchterung und John gab die Versuche vorerst auf.
 

Es wäre der durchaus gelungene (gleichzeitig sexuell äußerst frustrierende) Abschluss eines außergewöhnlichen Jahres gewesen, hätte am Morgen des einunddreißigsten um 10.22 Uhr nicht zum ersten Mal seit zwei Monaten das pinke Handy vibriert.
 

[tbc]

Act IV

Avt IV
 

Der Wind rauschte in den Ohren. Sand peitschte ihm ins Gesicht. 
 

Er konnte es hören. Jede Explosion war wie ein Erdbeben, brachte den Boden zum Erzittern. In der Ferne hörte er Schreie. Doch alles, was er sehen konnte, war das Blut. So viel Blut und Sand.
 

Er hätte bei seiner Einheit bleiben müssen. Sich nicht abhängen lassen dürfen. Sie brauchten ihn. Standen unter schwerem Beschuss. Er war Militärarzt, verflucht nochmal!
 

Sein Atem ging in schnellen, unregelmäßigen Schüben. Seine Hand zitterte nicht. Nur der Griff um seine Waffe hielt ihn noch aufrecht.
 

„John!“

Afghanistan verschwand. Die Realität war wie ein Schlag ins Gesicht.
 

John Watson stand auf einem Dach in London, die Pistole auf seinen Mitbewohner Sherlock Holmes gerichtet.
 

∼*∼
 

14 Stunden vorher

„Was war das?“ John verließ die Küche, eine Schachtel Teebeutel in der Hand. Sherlock stand am Fenster und drehte ihn dem Rücken zu.
 

„Eine Nachricht.“
 

Etwas in seiner Stimme ließ John stutzen. Er trat neben ihn und erhaschte einen Blick auf das Telefon, ehe Sherlock es aus seinem Sichtfeld bringen konnte. Alles in ihm verspannte sich.
 

„Moriarty.“
 

„Moriarty“, bestätigte Sherlock. Er strich mit dem Daumen über das Display. Dann hielt er John den Gegenstand entgegen. 
 

Mir ist langweilig. Lust, zu Spielen?

„Nicht antworten“, entwich es John, noch ehe er über seine Worte nachdenken konnte. Sherlock taxierte ihn herablassend und zog den Arm zurück.
 

„Natürlich reagiere ich nicht auf seine Provokation, John.“
 

John hätte ihm gerne gesagt, dass es so natürlich nicht wahr und dass er das Zucken von Sherlocks Mundwinkel ganz genau registriert hatte. Es musste ihm in den Fingern jucken, Moriary zu antworten, um seine Reaktion zu lesen.
 

Eine neue Nachricht erhellte den Bildschirm. John beugte sich vor und las mit.
 

Natürlich hast du das. Du hast Post, Darling.

John war aus dem Appartement, ehe Sherlock ihn daran hintern konnte. Er nahm drei Stufen auf einmal und riss die Eingangstür auf. Ein Blick nach links und rechts zeigte keine verdächtige Gestalt, schon gar nicht Moriarty. Er hatte zwar nicht wirklich damit gerechnet, war aber dennoch enttäuscht. Wie sehr er sich wünschte, seine Finger um den Hals des wahnsinnigen -
 

Sherlock stand hinter ihm. Doch er beachtete John nicht, stattdessen griff er nach einem Päckchen, dass auf der Stufe ihrer Eingangstür stand. John folgte ihm zurück ins Haus, wo Sherlock mit einer raschen Handbewegung sämtliche Zettel und Bücher vom Küchentisch fegte (John war einen Moment froh darüber, dass kein Experiment auf dem Tisch gestanden hatte, denn die Scherben hätte er ganz bestimmt nicht aufgefegt) und anschließend das Paket mitten auf die Holzplatte stellte.
 

Dann legte er die Fingerspitzen unterhalb seines Kinns aneinander.
 

John starrte ihn von der Tür aus an. Er ließ eine Minute ereignislos verstreichen und durchquerte schließlich den Raum. Er zog die Vorhänge beiseite und blickte auf die Straße hinab. Keine Person, die vor dem Gebäude herumlungerte. Ihm war bewusst, dass seine Paranoia zwar nicht unangebracht, die Methoden seiner Überprüfung jedoch regelrecht kindisch waren. 
 

Nur wenn Moriarty es wollte, würde man seine Überwachung mitbekommen.
 

„Willst du nicht Lestrade anrufen?“, fragte er über die Schulter, nachdem weitere fünf Minuten ohne eine Reaktion des Detektivs verstrichen waren.
 

Sherlock schwieg und als John sich wieder umdrehte, stand er noch immer vor dem Küchentisch. John ließ den Vorhang los. „Sherlock, hörst du mir zu? Ruf die Polizei. Wer weiß, was in dem Päckchen-“
 

Erst jetzt fiel ihm sein eigener Fehler auf. Seine Blindheit.
 

Sherlock!“, er stürmte durch den Raum, packte den Consulting Detective am Arm und wirbelte ihn herum, sodass er zwischen Sherlock und dem Tisch stand. Dann presste er ihn hinter dem Sofa in Deckung. Erst als er sich sicher war, dass auch Sherlocks Kopf hinter dem Möbelstück mehr oder weniger geschützt war, ging er in die Hocke.
 

Sein Herz schlug bis zum Hals und Adrenalin machte seine Sicht messerscharf. Wie hatte er das vergessen können? Moriarty, der Pool, die Weste. Eine Bombe! Sherlock hätte schon dreimal tot sein können, während John einfach aus dem Fenster gestarrt hatte!
 

Sherlock machte Anstalten, aufzustehen und John zog ihn an seinem Ärmel zurück. Er ignorierte den brüskierten Blick. „Bist du wahnsinnig?“, zischte er. „Wir rufen jetzt Lestrade an und der schickt gefälligst eine Spezialeinheit, die-“
 

„Es ist keine Bombe.“
 

„Wie willst du das wissen?“
 

Sherlock schenkte ihm seinen Es-ist-offensichtlich-John-du-müsstest-nur-hinsehen-um-es-zu-wissen-Blick und John biss die Zähne aufeinander, weil es ihn ärgerte, dass er diesen Blick auch noch erkannt hatte. 
 

Sherlock begann, die Fakten aufzuzählen:
 

„Das Päckchen ist zu leicht, um Sprengstoff zu enthalten. Bei den meisten Paketbomben sieht man auf der Unterseite eine Erhebung durch den Zündmechanismus, hier nicht. Die  Beschaffenheit weißt auf Styropor im Inneren und ein etwa zehn Zentimeter großes quadratisches Behältnis hin. Dabei handelt es sich nicht um Sprengstoff. Auch nicht um Nitroglycerin. Eine Delle an der Seite. Das Paket wurde vor dem Platzieren zu nachlässig behandelt. Das Packpapier hat millimetergroße Feuchtigkeitspartikel auf der Oberfläche. Eindeutig geschmolzene Eissplitter. Das Paket enthält also eine Box mit Eis. Warum Eis? Es ist ein Hinweis von Moriarty. Zehn Zentimeter zum Quadrat. Zu klein für einen Kopf oder eine andere Extremität. Groß genug für einen Finger, ein Ohr oder ein Auge.“
 

John schüttelte den Kopf und versuchte, die Worte zu verarbeiten. „Keine Bombe?“, wiederholte er, um ganz sicher zu gehen.
 

„Offenkundig. Wenn du nur hin-“
 

Keine Bombe. Hundertprozentig?“
 

„Was hätte Moriarty davon?“
 

Das klang tatsächlich plausibel. Moriarty hatte sie schon einmal nicht in die Luft gejagt. Widerwillig ließ er Sherlocks Oberarm los und beobachtete, wie er sich aufrichtete.
 

„Hast du das ermittelt, während du das Päckchen minutenlang angestarrt hast?“
 

„Natürlich nicht.“ Sherlock stand nun wieder am Tisch und strich mit einer Hand über das Papier. Er trug bereits weiße Einweghandschuhe. „Das wusste ich schon vor der Tür.“
 

John war sich nicht ganz einig, ob er Sherlock brillant oder einen Angeber schimpfen sollte. Er stützte sich von der Sofalehne ab, als er aufstand. „Und du fandest es nicht erwähnenswert-“
 

„Es war so offensichtlich, dass selbst du es nicht übersehen konntest.“
 

John schnaubte. Schließlich bemerkte er, dass Sherlock wieder begonnen hatte, zu starren. „Und was hast du jetzt vor?“
 

Er erhielt keine Antwort und fand darin Bestätigung genug. 
 

Darüber hast du vorhin minutenlang nachgedacht.“ Er verschränkte die Arme. „Wenn du es nicht öffnest, handelst du gegen seine Erwartung und wärest ihm gewissermaßen überlegen. Öffnest du es, hättest du jedoch einen interessanten Fall. Du würdest vielleicht auch Menschenleben retten, aber das ist zweitrangig. Er ist ein Consulting Criminal und du ein Consulting Detective. Die einzigen eurer Art und gleichzeitig die besten.“ 
 

Er schaffte es nicht, die Bitterkeit ganz aus seiner Stimme zu verdrängen. Vielleicht gab er sich auch einfach nicht genug Mühe und wollte sogar, dass Sherlock sie hörte.
 

„Hat dir der Pool nicht gereicht, Sherlock?“, fragte er und sprach damit zum ersten Mal seit Monaten über etwas, das sie thematisch immer vermieden hatten. Höchstwahrscheinlich ein Fehler. (Manchmal wachte John mitten in der Nacht auf - nicht verfolgt von Afghanistan, sondern von roten Punkten auf Sherlocks Stirn, die nicht verschwanden und eine Semtexweste, die sich als echt entpuppte.)
 

John sprach gegen eine Wand. Was sollte er auch sagen, das interessanter war als ein Paket von Moriarty?
 

Seufzend drehte er sich um. „Mach was du willst.“ Er verließ das Wohnzimmer, obwohl sämtliche Intuition ihn davor warnte, Sherlock allein mit Moriartys neuestem Plan zu lassen. Aber er hatte nicht die Kraft. Nicht noch einmal. 
 

Auf halber Höhe der Treppe wurden seine Schritte langsamer. Er blieb schließlich ganz stehen.
 

Sherlock hatte ihn schon einmal gehen lassen. Das hatte ihnen beiden beinahe das Leben gekostet.
 

Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück nach unten. In der Küche griff er nach einem weiteren Paar Handschuhe und schob Sherlock mit der Schulter beiseite. „Lass mich das machen.“
 

„Ich glaube nicht, dass -“
 

„Und ich halte all das für absolut verantwortungslos, aber ich lass dich das nicht alleine tun, klar?“, fauchte John und rieb die Hände aneinander. „Also, was soll ich machen?“
 

Sherlock betrachtete ihn von der Seite. Einen Moment lang fühlte John sich wie eines seiner Experimente, analysiert und zerlegt, dann änderte sich etwas an Sherlocks Ausdruck. Er wirkte buchstäblich zufrieden. Wahrscheinlich hatte John es geschafft, ihn zu überraschen. (Er ignorierte das warme Gefühl in seiner Magengegend und das lächerliche Kribbeln in seinem Nacken bei dieser Erkenntnis.)
 

„Während die Wahrscheinlichkeit für eine Bombe bei etwa sieben Prozent liegt“, begann Sherlock, „ist es nicht ausgeschlossen, dass er sich anderer ... Methoden bedient.“ Er bemerkte, dass John in streng ansah. „Was?“
 

„Sieben Prozent?“ 
 

Sherlock verdrehte die Augen. „Warum klammerst du dich an die irrelevanten Zahlen, John? Die Wahrscheinlichkeit für Bleipulver liegt bei zweiundzwanzig Prozent.“
 

„Soll mich das jetzt beruhigen? Wir werden nicht zerfetzt, aber atmen stattdessen ein giftiges Pulver ein. Soll ich mich darüber freuen?“
 

„Wieder übersiehst du, dass einundsiebzig Prozent verbleiben.“ Sherlock versuchte, ihn weg zu drücken, doch John blieb standfest. Er legte die Hände um das Paket und zog es zu sich. „Versuch es erst gar nicht. Also, was soll ich machen?“
 

Sherlock stutzte. Das irritierte sogar John. „Was? Was hab ich jetzt wieder gesagt?“
 

„Willst du nicht wissen, was die übrigen einundsiebzig Prozent beinhalten?“
 

„Lass mich raten: Zehn Prozent für eine Gasfalle. Einundzwanzig für einen Finger. Vierzig für ein Glas Marmelade? Sag mir einfach, was ich machen soll.“
 

„Öffne es“, sagte Sherlock.
 

John zögerte keinen Moment. Mit ruhigen Handbewegungen löste er das Tesafilm und wickelte das Paket aus dem Papier. Anschließend schlug er den Deckel des Kartons auf.
 

„Bemerkenswert“, murmelte Sherlock neben ihm und als John den Kopf wandte, lag dessen Blick nicht auf dem Inhalt der Box, sondern auf John. Es dauerte, bis er begriff, was so bemerkenswert war. Er hatte Sherlocks Aufforderung nicht hinterfragt. Obwohl aus seiner Sicht eine mehr als fünfzigprozentige Chance für tödliche Vorrichtungen verschiedenster Art bestanden hatte. Natürlich hätte Sherlock es ihn andernfalls nicht einfach so öffnen lassen, das war John klar und dennoch ...
 

Dann war der Moment vorbei und Sherlock griff nach der quadratischen Box. Sie war versiegelt und er öffnete die Verschlussklappen. John sammelte die Verpackung zusammen. Er würde sie aufbewahren und Lestrade geben. (Auch wenn er wusste, dass es keinen Sinn machte, nach DNA oder Fingerabdrücken zu suchen.)
 

„Wie ich vermutet hatte.“ Sherlock hielt den Behälter ins Licht. John beugte sich vor und verzog den Mund. Sherlock ermittelte bereits die Fakten:
 

„Es gehört zu einem Mann zwischen fünfzig und sechzig. Ein Meter siebenundsiebzig groß, hagere Statur, schütteres, graues Haar.“ Er drehte die Box. „Spielt Polo und Bridge. Ist pensioniert. Arbeitete immer im Büro, betreibt heute Gartenarbeit, obwohl er sich problemlos einen Gärtner leisten könnte. Ist das clever? Warum sollte es das sein? Der Gärtner war es? Zu einfach, Moriarty, zu einfach.“
 

John begann, einige der Bücher vom Boden aufzusammeln und legte sie wieder auf den Tisch. Der Totenschädel stand neben der Spüle. John stellte ihn zurück auf den Kaminsims. Die ganze Zeit begleiteten ihn Sherlocks Worte.
 

„Saubere Schnitte, mit einem Skalpell durchgeführt. An den Rändern sind Einrisse auszumachen. Das Opfer war noch am Leben und hat sich gewehrt. Der Vorgang war blutig, die zurück gelassene Wunde kritisch, aber nicht lebensgefährlich. Bei den Schnitten wurde nur das Nötigste mit akkurater Präzision geschnitten. Es geht nicht darum, zu töten. Das ist eine Demonstration. Es wurde Desinfektionsmittel benutzt.“
 

Er drehte sich rechtzeitig um, um zu sehen, wie Sherlock an dem Ohr roch.
 

„Das Opfer ist noch am Leben. Er wird es nicht töten, solange er es braucht. Aber warum? Das Ohr wurde nicht zögerliche abgetrennt. Es bereitet ihm Vergnügen.“
 

„Kranker Bastard“, murmelte John, während ein kalter Schauer seinen Rücken hinab jagte.  Er konnte wohl froh sein, dass seine erste und einzige Begegnung mit Moriarty ihm nur eine falsche Sprengstoffweste und einen ordentlichen Schrecken beschert hatte. 
 

„John.“
 

„Hm?“
 

„Handy.“
 

John warf einen Blick um sich, doch das Telefon war nicht in Sichtweite. Er straffte die Schultern und fragte: „Jacke?“
 

Sherlock treckte eine Hand aus und deutete hinter John, ohne ihn anzusehen. „Schlafzimmer.“
 

„Ah.“ Er wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte oder nicht. Es wäre eine Ausrede gewesen, Sherlock anzufassen (schrecklich, wie tief er gesunken war!), andererseits machte das die frustrierende Situation zwischen Sherlock und ihm nicht einfacher. Er schüttelte den Kopf und kam der Aufforderung nach.
 

Sherlocks Zimmer war alles Andere als das Chaos, das er am Anfang ihres gemeinsamen Zusammenwohnens erwartet hatte. Er war überaus ordentlich und enthielt einen einzigartigen Kleiderschrank voller faszinierender Verkleidungen (Sherlock nannte sie „Ermittlungsausrüstung“).
 

Er entdeckte das Telefon auf dem Nachttisch und nahm es an sich. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf Sherlocks Bett und ihm stockte der Atem. Fuck.

„Scherlock“, rief er ins Wohnzimmer und hörte einen frustrierten Laut.
 

„Auf dem Tisch neben meinem Bett. Wirklich John, wenn ich dir nicht einmal diese Aufgabe-“
 

„Sherlock, das hier ist kein Scherz.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wir stecken in der Scheiße! Diesmal meint er es Ernst! Verdammt, wie ist das möglich?!
 

Etwas in seiner Stimme musste ihn verraten haben, denn es folgte kein Protest. Dann stand Sherlock an der Tür zu seinem Zimmer und ließ seinen Blick analytisch über das Bett gleiten. Sein Gesichtsausdruck blieb der gleiche, während er anschließend das offen stehende Fenster und die nassen Fußabdrücke auf dem Boden aufnahm.
 

John entsperrte Sherlocks Telefon (er fragte nicht einmal um Erlaubnis, immerhin tat Sherlock das auch nie bei seinem Computer) und wählte Lestrades Handynummer.
 

Während des folgenden, angespannten Gesprächs wanderte sein Blick immer wieder zurück zu den vier gleich großen Paketen auf Sherlocks Bett.
 

∼*∼
 

„Niemand hat etwas gesehen oder gehört.“ Lestrade blätterte durch sein Notizbuch. „Keiner eurer Nachbarn hat eine verdächtige Gestalt beobachtet. Das ist allerdings nicht wirklich überraschend - immerhin wart ihr in der Wohnung und habt auch nichts mitbekommen.“
 

Sherlock erweckte nicht den Eindruck, als würde er zuhören. Er schritt mit dramatisch wehendem Mantel vor dem Detective Inspector auf und ab. John saß auf einem Stuhl und versuchte, die Ereignisse irgendwie zu sortieren.
 

Sally Donovan betrat den Besprechungsraum und übergab Lestrade einen Zettel. Er überflog die Zeilen und seine Züge verhärteten sich. Sherlock blieb stehen.
 

„Bisher konnte festgestellt werden, dass die Körperteile zu fünf verschiedenen Opfern gehören. Es ist uns noch nicht gelungen, alle zu identifizieren, aber aufgrund der Blut- und DNA-Proben, die wir haben, ließen sich wenigstens zwei Namen ermitteln. Ein Medizinstudent, Brian Henning. In unserer Kartei, weil er vor zwei Jahren mit Drogen erwischt worden ist. Der zweite ist Captain Henry Thompson, bis vor zwei Monaten in Deutschland stationiert. Er hatte das Wochenende frei, meldete sich jedoch nicht zurück.“
 

Sherlock machte einen Schritt auf Lestrade zu, doch als John ihn ansah, blieb er stehen. 
 

„Wie lange wird es dauern, bis Sie die anderen identifizieren können?“, fragte John stattdessen.
 

Lestrade ließ den Zettel sinken. „Das können wir jetzt noch nicht sagen. Wir müssen die Daten, die wir haben, mit den Vermisstenanzeigen der vergangenen Wochen abgleichen, vielleicht wurden die Personen aber noch gar nicht als vermisst gemeldet. Dass wir zwei Namen bereits jetzt kennen, ist bloßer Zufall. Außerdem müssen wir die Vorgesetzten von Thompson informieren und sie werden ihre eigenen Ermittler schicken. Das erleichtert unsere Arbeit nicht unbedingt.“
 

„Hoch lebe die königliche Polizei“, bemerkte Sherlock und ignorierte die gereizten Blicke, die ihn trafen. „Wenn man mich ließe, könnte ich das Feld einschränken. Zehn Sekunden haben mir mehr über das Ohr verraten, als das Scotland Yard in drei Stunden herausgefunden hätte.“
 

„Das wäre gegen die Vorschriften“, warf Sally dazwischen, doch Lestrade schien die Option bereits abzuwägen. 
 

„Wie sehr könntest du das Feld einschränken?“ 
 

Sherlocks Mundwinkel zuckten. „Alter, Geschlecht und Aussehen verstehen sich von selbst. Eine viertel Stunde mit den Körperteilen und ich kann Beruf, Hobbys und Familienstand auflisten.“
 

Lestrade nickte. „Einverstanden. Eine viertel Stunde.“
 

„Aber Inspektor“, begann Sally, „wie wollen Sie das dem Polizeidirektor-“
 

„Er wird es erfahren, wenn es nötig ist. Bis dahin behandeln wir das ganze mit Diskretion.“ Er sah John entschuldigend an. „Das bedeutet, dass ich Sie nicht mit ihm gehen lassen kann, John.“
 

Wenn er ganz ehrlich war, bedauerte er das nicht einmal sehr. „Das verstehe ich“, antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln. „Passen Sie einfach nur auf, dass er es nicht übertreibt.“ Er nickte in Sherlocks Richtung.
 

„Also ob ich ständige Überwachung bräuchte“, entgegnete der Detektiv und wandte sich ab. Lestrade beeilte sich, ihm zu folgen. 
 

Sally Donovan warf John einen letzten Blick zu, dann ging auch sie. Er war schon oft genug hier gewesen, um den Ausgang zu finden. Bevor er ging, fiel sein Blick auf den Zettel, den Lestrade auf den Tisch gelegt hatte. Er überflog die Fakten.
 

Brian Henning, geboren am 13.02.1989 in Cardiff,

Medizinstudent an der Universität von London, 3. Semester

Vorstrafe: 6 Monate Bewährung und Geldstrafe von 200£ wegen geringfügigen Besitzes von Drogen der Klasse C

Henry S. Thompson, geboren am 04.07.1982 in Manchester,

Ausbildung in der British Army, Abschluss der Ausbildung mit herausragenden Leistungen

Sationierungen: 

2001-2002: Afghanistan, Kabul

2003-2011: Deutschland, Münster

Rückkehr nach London bedingt durch Abzug der übrigen britischen Truppen aus Deutschland.
 

John stutzte, als sein Blick Afghanistan hängen blieb. Doch das war vor Jahren und die Chance, das Opfer zu kennen, lag bei null. Ein anderer Soldat, mehr war er für John nicht.
 

Er verließ das Büro und hielt vor dem Gebäude von Schottland Yard ein Taxi an. Zurück in der Baker Street, stieß er im Eingangsbereich der Wohnung beinahe mit Mrs Hudson zusammen.
 

„Oh John, gut, dass Sie da sind. Ich habe hier einen Brief für Sie. Er lag in meiner Post."
 

John lächelte und nahm den Umschlag entgegen. „Danke Mrs Hudson." 
 

„Sie sollten bei sich in der Wohnung vielleicht einmal den Kühlschrank überprüfen, John. Er riecht ganz furchtbar."
 

„Werde ich." Er unterdrückte ein Schaudern, denn er wusste ganz genau, was so bestialisch stank.
 

Mit einem letzten Gruß verabschiedete er sich von ihrer Vermieterin und erklomm die Treppe zum Appartement. Die Tür stand offen und nasse Fußabdrücke zeichneten sich auf dem Boden ab. Lestrade und seine Einheit hatten die ganze Wohnung noch einmal durchsucht, nachdem sie die Boxen sicher gestellt hatten und das Chaos, das mittlerweile Teil ihres gemeinsamen Wohnens war, hatte nichts Wohnliches mehr. Jetzt war es einfach nur störend.
 

Seufzend schloss John die Tür hinter sich. Er legte den Brief auf den Wohnzimmertisch, zog sich die Jacke aus und machte sich an die Arbeit, wieder Struktur in die Unordnung zu bringen. Erst zwei Stunden später, als er sich erschöpft in seinen Sessel fallen ließ, erinnerte er sich wieder an den Brief. Er suchte nach einem Absender, doch es war keiner vermerkt. Er öffnete den Brief und zog eine Karte heraus.
 

Mit den allerbesten Wünschen.
 

Er klappte sie auf und sein Magen machte einen Satz.
 

Lieber John, 

Rosen sind rot, Veilchen sind blau … Nutze den Tag, verschwende keine (An dieser Stelle war ein Wort bis zur Unleserlichkeit durchgestrichen worden) Gelegenheit. Genieße jeden Tag, denn er könnte dein letzter sein. Wenn die Kirchturmuhr 12 schlägt, dann verwandelt sich die Kutsche zurück in einen Kürbis. Hoch soll er leben, der treue, gute Doktor Watson (bei seinem Namen hatte sich die Schrift geändert und wirkte nun aggressiv).
 

Auf dass noch weitere Jahre kommen.

Nicht.

xoxo

Jim

Er ließ die Hand sinken und starrte an die gegenüberliegende Wand. Der Smiley mit Einschusslöchern schien zu feixen.
 

Er wusste nicht, wie lange er dort saß. Das Vibrieren seines Handys riss ihn aus den Gedanken.
 

Wo bist du? SH

Brillante Frage. Baker Street, antwortete er. Wo auch sonst? Seine Nachricht war keine drei Sekunden verschickt:
 

Ein Streifenwagen wird dich abholen. Ärztliche Meinung vonnöten. SH

„Hm", machte John und betrachtete abwesend den Brief. Sollte er Sherlock schreiben, dass Moriarty nicht locker ließ? Dass es verdammt ernst war und er nicht einschätzen konnte, wie weit Moriarty dieses Mal gehen würde? Er entschied sich dagegen. Er würde den Brief mit zurück zur Wache nehmen.
 

Er hatte ein ganz mieses Gefühl bei alldem.
 

∼*∼
 

Es war vier Uhr nachmittags und John wünschte sich eine Tasse Tee. Oder einen Kaffee. Irgendetwas.
 

Sherlock hatte die Karte von Moriarty auseinander genommen und im Labor eingehend untersucht (Lestrades Proteste ignorierend, doch der Inspektor war viel zu sehr mit den fünf Körperteilen und den Ermittlern der britischen Armee beschäftigt, die ihre Ankunft androhten), doch sie hatte ihm keinen Hinweis gegeben. Auch die Verpackung der Pakete war frei von DNA oder sonstigen Aufschluss gebenden Hinweisen. Im Moment konnten sie nur darauf warten, dass die anderen Opfer identifiziert wurden. 
 

John hatte vorgeschlagen, die Familie des Medizinstudenten zu besuchen, um Sherlock abzulenken (der Soldat hatte keine Angehörigen und fiel somit weg), doch seine Worte waren nur auf Ablehnung gestoßen.
 

„Irrelevant", hatte Sherlock gesagt. „Wenn er keine Spuren hinterlassene will, wird man nichts finden. Das wäre Zeitverschwendung."
 

John empfand das Warten nicht wirklich als etwas Anderes, aber das brauchte er Sherlock nicht zu sagen. Er hatte ihm beim Auflisten sämtlicher möglichen Verbindungen der bereits bekannten Opfer zugehört. Er wusste, es war nur noch eine Zeit, bis Sherlock sich in seinen Gedankenpalast zurückziehen würde.
 

Lestrade erschien in ihrem Blickfeld, einige Mappen in Händen. „In den Akten der Vermissten aus der vergangenen Woche gab es im Großraum London zwei Anwälte und einen Arzt. Dazu drei vermissten Rentner." Er reichte Sherlock die Unterlagen.
 

John beobachtete, wie die Augen des Detektivs die Fakten überflogen und analysierte. Schließlich ließ er vier Akten neben sich auf den Tisch fallen und behielt zwei zurück. „John Finnigan, Veterinärmediziner. Vermisst seit dem fünfundzwanzigsten. Zu ihm gehört das Auge. Albert Browning, pensionierter Lehrer. Biologie und Mathe. Es war sein Finger in der vierten Box."
 

Sally Donovan konnte ihren Ekel nur schlecht verbergen.
 

Lestrade trat neben Sherlock und studierte die beiden Akten. Dann schrieb er sich etwas in sein Notizbuch. „Ein Student, ein Soldat, ein Arzt und ein pensionierter Lehrer. Wo liegt die Verbindung?"
 

„Moriarty", sagte John und sah, wie Sherlock die Augen verdrehte. „Vielleicht haben sie alle seine … Dienste in Anspruch genommen. Auftragsverbrechen, meine ich“, fügte er hinzu, um nicht ganz ignorant da zu stehen.
 

„Unwahrscheinlich", entgegnete Sherlock. „Warum sie dann entführen, aber am Leben lassen und uns gleichzeitig davon wissen lassen? Moriarty will uns demonstrieren, dass er fünf Personen entführen kann, ohne daran gehindert zu werden. Die Körperteile sind nicht mehr als ein Köder. Er macht sich lustig über die Polizei, die kein Gegner für ihn ist." Lestrade wirkte, als wolle er protestieren, schien es sich dann jedoch noch einmal zu überlegen.
 

„Aber was will er damit sagen?" Sherlock beachtete sie schon längst nicht mehr. Er murmelte etwas. Seine Augen waren geschlossen und auf seinem Gesicht lag äußerste Konzentration. In seiner Jackentasche vibrierte das pinke Handy.
 

Alle im Raum hielten die Luft an. Sherlock hielt es einige Momente in der Hand. Schließlich nahm er den Anruf an. „Die Vermissten sind in London, sie sind am Leben und sie sollen nicht sterben", begann er sofort zu sprechen. „Es geht nicht darum, sie zu töten, sie sollen etwas beweisen. Aber ich bin nicht die Polizei, ich lasse mich nicht ablenken."
 

Er lauschte einige Sekunden und verzog frustriert den Mund. „Natürlich sehe ich es." Er schwieg. „Sie sind wahllos gewählt es geht nicht darum, wer sie sind, sondern darum, wofür die stehen."
 

Die nächste Antwort schien ihn zu verärgern. „Ich liege nicht falsch. Umgekehrte Psychologie wird bei mir nicht funktionieren." Dann ließ er die Hand mit dem Telefon sinken. Moriarty schien aufgelegt zu haben.
 

„Londoner Hafen. Auf der Lagoon. Drittes Frachtdeck." John stellte sich etwas gerader hin. Sherlocks Haltung war alles andere als triumphierend.
 

„Was ist dort?", fragte Sally. 
 

„Eines der Opfer. Ermordet."
 

John schloss die Augen.
 

∼*∼

Sie fanden John Finnigan eine halbe Stunde später genau dort, wo Moriarty es Sherlock mitgeteilt hatte. Die gefesselten Hände waren über seinem Kopf mit einer Kette an einem Rohr in der Decke befestigt. Sein Gesicht war blutverschmiert und niemand musste genau hinsehen, um zu erkennen, dass ihm ein Auge fehlte.
 

John hielt sich zurück, während Sherlock den Frachtraum auf und abschritt, anschließen das Opfer zu umkreisen begann und schlussendlich den Leichnam aus nächster Nähe inspizierte.
 

„Präzisionsarbeit. Wer auch immer das Messer geführt hat, wusste, was er tat“, hörte er Sherlock sagen und wünschte sich, er würde nicht verstehen, was das bedeutete. Er wollte sich nicht vorstellen, welche Schmerzen Finnigan gehabt hatte. Seine blutigen Handgelenke sprachen Bände. Er hatte es nicht kampflos zugelassen.
 

„Irgendetwas Brauchbares?“, fragte Lestrade, als er in den Raum trat. Er hatte zuvor ein etwas hitziges Gespräch geführt. Vermutlich mit seinem Vorgesetzten. Höchstwahrscheinlich ging es um den entführten Soldaten.
 

Sherlock sah nicht auf. „Oh, eine ganze Menge. Sergeant Donovan hat wieder mit dem Rauchen angefangen, aber das habe ich schon im Scotland Yard gewusst. Man sieht es an der Art, wie sie ihren Kaffee trinkt. Darüber hinaus hat sie ihre Zähne in den letzten Tagen überdurchschnittlich oft geputzt und ihr Kostüm mit Weichspüler gewaschen, um den Geruch des Rauchs zu überdecken.“ Sally hatte den Mund geöffnet. Lestrade gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, nicht weiter darauf zu reagieren.
 

Sherlock sprach bereits weiter: „Aber das war nicht gemeint, oder Lestrade? Es geht darum, dass derjenige, der diese Arbeit ausgeführt hat, im Töten ausgebildet worden ist. Ein Mann über dreißig, Militärausbildung, hat einer ruhigen Hand. Scharfschütze. Vertraut im Umgang mit Messern. Vermutlich durch selbst gemacht Erfahrung. Die Klinge war gut gepflegt und sauber, desinfiziert.“
 

„Ein Soldat?“ In Johns Stimme lag Schärfe.
 

Sherlock drehte sich zu ihm um und musterte ihn einige Momente, dann sprach er weiter. „Ein Ex-Soldat. Unehrenhaft entlassen. Ein Abtrünniger, der sich eine Nebenbeschäftigung gesucht hat und Moriartys Drecksarbeit erledigt.“
 

„Stationierung?“, fragte John und etwas in Sherlocks Blick erhellte sich. Er hatte gemerkt, dass John nicht irgendwelche Fragen stellte, sondern auf etwas hinaus wollte.
 

„Nach dem Typ Messer, das er verwendet hat: Mittlerer Osten. Afghanistan oder Irak“, sprach er die Worte aus, die ihn und John vor einige Monaten aufeinander aufmerksam gemacht hatten. „Irgendwelche Vorschläge, Doktor Watson?“
 

Johns Blick wanderte kurz zum Opfer und zurück zu Sherlock. Er hatte die Lippen aufeinander gepresst und die letzten Momente fieberhaft versucht, sich zu erinnern. Als er noch bei seiner Einheit gewesen war, hatte er von einem Mann gehört, auf den all das zutraf. Zufall? Meisterschütze einer Sondereinheit im Norden Afghanistans. Er hatte angeblich einen menschenfressenden Tiger erlegt. John erinnerte sich daran, wie seine Kammeraden Witze gerissen hatten, als sie davon Wind bekamen.
 

Etwa ein halbes Jahr vor Johns Rückkehr nach London wurde die Nachricht verbreitet, die Einheit sei in einen Hinterhalt geraten und gefangen genommen worden. Gerüchte machten die Runde, sie seinen alle gefoltert und getötet worden. Dass einige Soldaten sich das Leben genommen hatten, um weiteren Verhören und einem qualvollen Tod zu entgehen. Schließlich hieß es, einer hätte überlebt, doch er sei nicht mehr bei Sinnen. Nach einer Auszeit hatte man ihn zurück in den Kampf geschickt, doch mehrere selbstmörderische Entscheidungen, die anderen Soldaten beinahe das Leben kosteten, führten zunächst zur Anklage und letztendlich zu einer unehrenhaften Entlassung. Wie war der Name des Mannes gewesen? Und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet er jetzt für Moriarty arbeitete?
 

John wollte Sherlock das alles erklären. Allerdings kam er nicht einmal dazu, den ersten Satz zu beenden, da unterbrach man ihn bereits.
 

„Natürlich. Oh, das ist clever.“ Er wirbelte herum und begann, die Taschen des Opfers abzutasten. 
 

„Willst du denn gar nicht wissen-“, setzte John an und Sherlock fiel ihm erneut ins Wort.
 

„Ich weiß es längst John. Es ist offensichtlich, dass du dich an den Mann erinnerst, den ich beschrieben habe. Dafür musstest du mir noch nicht einmal deinen Gedankengang darlegen, denn ein Blick in dein Gesicht hat gezeigt, dass du nicht mehr weißt, wie er heißt. Und wieder wird meine Auffassungsgabe unterschätzt. Ein unehrenhaft entlassener Scharfschütze aus Afghanistan. Ein Handlanger Moriartys, vielleicht sogar sein wichtigster. Er genießt es, das ist sicher. Aber er würde es nicht einfach dabei belassen, er will uns etwas beweisen. Oh.“
 

Er zog die Hand zurück. Darin hielt er einen kurzen Zeitungsartikel. Er hielt ihn Lestrade entgegen. „Sebastian Moran.“
 

„Moran?“, wiederholte der Inspektor und las den Artikel. Sherlock betrachtete mittlerweile eingehend den Kragen des Toten. „Wir werden einen Fahndungsbefehl herausgeben wenn er es tatsächlich war.“
 

„Er war es. Am Opfer werden DNA-Spuren von ihm sein. Es geht nicht darum, den Täter zu verschleiern. Er wird weiter morden und weitere Beweise hinterlassen.“
 

„Damit erleichtert er uns die Arbeit.“ Lestrade winkte Anderson mit seiner Ausrüstung näher.
 

Sherlock trat missbilligend zurück, sagte jedoch nichts dazu. Stattdessen wandte er sich ab und verließ den Raum. John folgte ihm.
 

Vor dem Frachter am Dock blieb Sherlock stehen und begann auf seinem Handy zu tippen. John warf einen Blick zurück auf das Schiff.
 

„Macht er es der Polizei wirklich absichtlich leicht?“, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Umso überraschter war er, als Sherlock reagierte.
 

„Nein. Er setzt das Scotland Yard damit unter Druck. Wie werden sie wohl in den Medien dastehen, wenn sie es nicht schaffen, einen Mörder zu überführen, dessen Identität bekannt ist?“
 

„Ah.“
 

Sekunden verstrichen schweigend. Beamte eilten an ihnen vorbei, befestigten das Sicherheitsband für den Tatort und vom Hafenpersonal hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden, die mit höflichen, aber bestimmten Worten zum Zurücktreten aufgefordert wurden.
 

„Ruf uns ein Taxi“, sagte Sherlock.
 

John seufzte. Damit hatte er gerechnet.
 

∼*∼
 

Zurück in der Baker Street setzte er Wasser für einen Tee auf. Draußen war es mittlerweile ganz dunkel und die ersten Menschengruppen setzten sich unten auf der Straße in Bewegung, um den alljährlichen Silvesterfeiern beizuwohnen.
 

John spürte nicht den geringsten Neid auf sie. Obwohl er sich angenehmere Umstände für das neue Jahr vorstellen konnte, würde er es doch, wenn er ganz sicher war, mit niemand anderem als mit Sherlock verbringen wollen.
 

Im Wohnzimmer polterte es. 
 

John ließ den Kessel auf dem Herd und beugte sich nach hinten, um zu sehen, was dieses Mal umgefallen war. Sherlock hatte die vergangenen Minuten damit verbracht, forschen Schrittes im Wohnzimmer auf und ab zu gehen, ohne dabei auf die eigens aufgerichteten Bücherstapel zu achten, die ihr letzter Fall zurückgelassen hatte.
 

„Ich werde das ganz bestimmt nicht aufräumen“, eröffnete er der Luft vor sich. Sie schwieg. 
 

Stattdessen begann Sherlock, mit angespannter Stimme zu reden: „Was genau bezweckt er damit? Es ist eindeutiges Imponierverhalten. Und jetzt benutzt er seinen Lakaien, um sich der Geiseln zu entledigen. Warum sie zunächst am Leben lassen? Und warum sie nicht alle auf einmal töten?“ Ein Scheppern. „Ein Student, ein Lehrer, ein Tierarzt und ein Soldat. Das ist wahllos. Warum behauptet er das Gegenteil? Was verbindet die Opfer?“
 

Er hörte Papier rascheln, während er das kochende Wasser in zwei Tassen goss. Als er sie ins Wohnzimmer trug, sah er, wie Sherlock durch die Akten blätterte, die er mit Sicherheit ohne Lestrades Erlaubnis mitgenommen hatte. „Ist das nicht eigentlich eine Straftat?“, fragte er stichelnd, erhielt jedoch keine Beachtung.
 

Sherlock ließ die Akten fallen und warf sich aufs Sofa. Er presste die Fingerspitzen aneinander und schloss die Augen. „Ein Student, ein Lehrer, ein Tierarzt und ein Soldat. Es muss eine Verbindung geben ich kenne die Verbindung. Ich weiß, dass ich sie kenne, die Information ist da, aber wo? Wo?“ Stille. Dann: „John, ich muss in in meinen Gedankenpalast.“
 

„Tu dir keinen Zwang an. Vergiss aber deinen Tee nicht.“
 

„Langweilig.“
 

Wieder Schweigen. John verlagerte sein Gewicht auf dem Sessel und fühlte sich auf einmal wie ein Störfaktor. „Soll ich gehen?“
 

Sherlock hatte bereits die Augen geschlossen. „Unnötig. Ob du hier bist oder in deinem Zimmer macht keinen Unterschied.“
 

Jeder andere wäre beleidigt gewesen, doch John verstand die unausgesprochene Wahrheit und schmunzelte.
 

Sei nicht albern, John. Natürlich kannst du bleiben.

Also lehnte er sich zurück und beobachtete das wohl faszinierendste Schauspiel, das ein anderer Mensch ihm jemals ohne irgendwelche Worte bieten konnte. Nicht zum ersten Mal praktizierte Sherlock diese besondere Art, sich an etwas zu erinnern, doch jedes Mal zog es John in seinen Bann. Außerdem hatte er dadurch die Gelegenheit, Sherlock minutenlang ohne Unterbrechung beobachten zu können. 
 

Er stellte die Tasse leise vor sich ab und verschränkte die Arme. Sherlocks Hände zeichneten kryptische Muster in die Luft vor sich, ruckartige Bewegungen gingen in fließende Gesten über und John spürte eine gerade zu hypnotische Wirkung dieses Anblicks.
 

Irgendwann musste er weggenickt sein.
 

Ein Schnappen nach Luft weckte ihn auf und er setzte kerzengerade hin. Sherlock stand vor dem Sofa und starrte in an. In seinem Blick lag etwas, das John zuletzt am Abend des Weihnachtsessens auf der Gästetoilette bei ihm gesehen hatte und ein heißes Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus. 
 

Dann riss der Detektiv sich los und griff nach Schal und Mantel. John beeilte sich, aufzustehen, doch Sherlocks scharfer Befehl ließ ihn erstarren. „Stopp.“

„Was?“
 

Sherlock knöpfte sich den Mantel zu und öffnete die Tür. „Ich muss noch einmal zum Scotland Yard und mir die Körperteile ansehen. Ich muss etwas übersehen haben.“
 

Sherlock log. Er log und nahm an, John würde es ihm abnehmen.
 

Kalte Wut schnürte ihm einige Augenblicke lang die Kehle zu, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Und aus welchem Grund soll ich dich nicht begleiten?“, fragte er stattdessen.
 

„Weil ich allein schneller arbeite. Weil du müde bist und weil dein Bein heute wieder schmerzt. Du bist dadurch langsamer und hältst mich auf.“
 

John zwang sich dazu, gleichmäßig zu atmen. „Und wir beide wissen, dass Sherlock Holmes sich nicht aufhalten lässt.“
 

Er setzte sich wieder hin. Eine untypische Anspannung zeichnete sich auf Sherlocks Rücken ab. Es war eine kleine Genugtuung, dass er John offensichtlich nicht gerne anlog. „Dann geh. Melde dich, falls du mich brauchst.“ John ging sicher, dass Sherlock mitbekam, was er meinte.
 

Glaub nicht, dass ich dich noch einmal alleine gehen lasse.

Sherlock antwortete nicht und verließ das Appartement. John verstand ihn auch so.
 

[tbc]

Act V

Act V
 

John wartete genau zwanzig Sekunden, dann sprang er auf und rannte die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Dort öffnete er den Nachttisch, nahm seine Waffe an sich und eilte mit schnellen Schritten zurück ins Wohnzimmer. Während er die gesicherte Pistole hinten in seinen Hosenbund stecke, sodass er sie mit einer schnellen Bewegung jederzeit ziehen konnte, griff er nach seiner Jacke und warf sie sich im Laufen über. Hausschlüssel Brieftasche und Telefon waren in den Innentaschen. 
 

Unten auf der Straße sah er ein Taxi um die Ecke biegen.
 

John Watson war alles andere als ein schlechter Schüler. Wenn er in den letzten Monaten etwas von Sherlock Holmes gelernt hatte, dann sämtliche Schleichwege und Abkürzungen in einem Radius von einer halben Meile um die Baker Street herum. Heute machte er zum ersten Mal vollkommen eigennützig davon Gebrauch.
 

Er drehte sich nach links, lief etwa einhundert Meter (siebenundneunzig, sagte eine nervige Stimme, die Sherlock äußerst ähnlich klang, am Rande seiner Wahrnehmung) und bog dann wieder links in eine Gasse zwischen 215 und 213. Er wich den Mülltonnen aus, sprang über einige Kartons und brach schließlich sämtliche, eigene Ehrenkodexe, indem er quer durch Mrs Wilkins‘ Garten sprintete. Auf der anderen Seite machte er sich nicht die Mühe, dass Tor des Zauns zu öffnen, sondern nutzte seinen Anlauf und sprang auch darüber.
 

Schließlich erreichte er die andere Seite und verließ gerade rechtzeitig die Gasse, um das Taxi zu sehen, in dem Sherlock saß. Der große Vorteil dieser Route war außerdem, dass er nun auf einer belebteren Straße mit vielen Restaurants war und sofort selbst ein Taxi erwischte.
 

„Folgen Sie bitte dem anderen Taxi“, forderte er den Fahrer außer Atem auf und schloss einen Moment lang die Augen, um wieder zu Luft zu kommen. Sein Herz schlug ihm bis in die Ohren und Adrenalin jagte durch seinen Körper. Noch nie hatte er Sherlock verfolgt. Vor drei Monaten hatte er es nicht realisiert, als Sherlock ihn wegschickte, um sich anschließend mit Moriarty zu treffen.
 

Und trotz der Frustration, der Anstrengung und der sengenden Wut auf Sherlocks Leichtsinn kam John nicht umhin, zu grinsen. Denn er fühlte sich verdammt noch mal großartig. Diese Art von Jagd brachte einen ganz speziellen Nervenkitzel mit sich. Immerhin verfolgte er Sherlock Holmes! Von den psychosomatischen Schmerzen in seinem Bein war nicht die geringste Spur mehr übrig.
 

Der Fahrer schenkte ihm einen irritierten Blick durch den Rückspiegel, sagte jedoch nichts. Auch den Umstand, dass John ihn gerade ein anderes Taxi verfolgen ließ, kommentierte er nicht. Das hier war London.
 

Die Fahrt dauerte fünfundzwanzig Minuten und führte sie in einen düsteren Teil Londons Immer wieder mussten sie zwischendurch halten, sich zurück fallen lassen (John stieg bei jedem Zwischenstopp aus und vergewisserte sich, dass Sherlock ihn nicht abschüttelte), doch schließlich erreichten sie ein neues Ziel und John wusste, dass dieses Mal etwas anders war.
 

Er bat den Fahrer, in eine Nebenstraße zu biegen und zu warten, als Sherlocks Taxi neben einem heruntergekommenen mehrstöckigen Gebäude hielt. John spähte um die Hausecke - der Taxifahrer musste ihn für einen paranoiden Vollidioten halten, aber das war ihm im Moment egal - und beobachtete, wie sein Mitbewohner das Gebäude betrat.
 

Irgendetwas sagte ihm, dass er sich dort nicht mit Moriarty traf. Und als wollte man seine Vermutung bestätigen, sah John, wie eine in Lumpen gekleidete Gestalt mit ausgebeulten Einkaufstüten in der Hand sich dem Gebäude von der Seite näherte und es durch einen anderen Eingang betrat. Einiges der Spannung fiel von ihm ab. Das Obdachlosennetzwerk. Sherlock brauchte Informationen. Die vorherigen Stationen waren Ablenkungen gewesen - zwei konnten dieses Spiel spielen, musste Sherlock sich gedacht haben. Doch jetzt ging es tatsächlich um etwas Anderes als eine Finte.
 

John war geduldig. Also wartete er.
 

Das Gebäude hatte fünf Stockwerke, war verlassen und unbeleuchtet. Zwei Zugänge, einer vorne, einer an der Seite, wie er festgestellt hatte. Er würde es mitbekommen, wenn jemand ging. Näher heran konnte er auch nicht, da er sicher war, dass Sherlock es sofort mitbekommen würde. Der Detektiv wusste zwar ohne Zweifel, dass John ihn verfolgte, aber solange Sherlock nicht festlegen konnte, von wo aus John das Haus m Blick behielt, hatte er zumindest einen geringen Vorteil. Und wenn man gegen Sherlock Holmes spielte, brauchte man jeden Vorteil, den man kriegen konnte. 
 

Ein Blick auf die Uhr verriet John, dass Sherlock bereits eine halbe Stunde weg war. Sein Taxi parkte noch immer am Gehweg. 
 

Etwas stimmte nicht.
 

John kehrte zu seinem Fahrer zurück, bezahlte ihn für die bisherige Zeit und gab ihm den Auftrag, eine weitere halbe Stunde auf seine Rückkehr zu warten. Das Geld dafür gab er ihm im Voraus und versprach ihm noch einmal so viel für später. Dann verließ er die Nebenstraße und näherte sich dem Haus durch die Schatten.
 

Er nahm den Nebeneingang auf der rechten Seite. Vorsichtig zog er die Feuerschutztür auf und betrat den unbeleuchteten Flur. Er hielt inne, konnte jedoch nichts hören. Den Weg die Treppe hinauf horchte er immer wieder nach Stimmen oder anderen Geräuschen. In der Dunkelheit tastete er nach dem Geländer und im dritten Stock sah er schließlich am anderen Ende des Hausflurs Licht durch eine halb offene Tür scheinen.
 

Noch immer hörte er nichts.
 

Eine Hand legte er auf seine Waffe, während er mit der anderen langsam die Tür aufdrückte. Sie schwang quietschend nach innen.
 

Mitten im Raum stand eine entzündete Kerze. Auf einem Stuhl unmittelbar daneben saß eine Frau, die Beine übereinander geschlagen, und musterte ihn aufmerksam. Als John eintrat, beugte sie sich vor und lächelte. Sie musste die Person gewesen sein, die er vorhin beobachtet hatte. Ihre Kleidung war alt und abgenutzt, ihr Gesicht zeichneten die scharfen Züge einer Person, die schon viel gesehen hatte. 
 

„Sherlock hat nicht gelogen. Du bist gut.“
 

John nahm die Hand von der Pistole und schlug die Jacke zurück, um sie zu verdecken, auch wenn er wusste, dass es der Frau keineswegs entgangen war. Ihr Blick hatte etwas von einem Raubvogel. „Das war also nur ein Bluff“, bestätigte er seine Befürchtung. Was hatte er auch von Sherlock erwartet?
 

Die Frau lachte leise und bedeutete John, sich auf den Stuhl neben ihr zu setzen. Er blieb stehen und sie neigte den Kopf. „Mein Name ist Alice und ich leite das Obdachlosennetzwerk.“
 

John nickte. „Wo ist Sherlock jetzt?“
 

Alice ignorierte die Frage. „Ich kenne ihn jetzt schon seit sieben Jahren, aber soweit ich weiß, bist du der erste, der es so lange mit ihm aushält.“
 

„Er ist also nicht mehr hier“, murmelte John und sah sich um. Es musste noch einen weiteren Zugang zum Haus geben. Sherlock hatte den offensichtlichen Eingang genommen und Alice angewiesen, den Seiteneingang zu nehmen, um ihn in dem Glauben zu lassen, es gäbe nur zwei. Eigentlich hätte John dieses Detail stutzig machen müssen. Es war eine Ablenkung gewesen. (Dumm, so dumm, Watson.)
 

„Was ist so besonders an dir, John Watson?“
 

„Vielleicht ist er ja doch wieder beim Scotland Yard“, sagte er zu sich selbst.
 

„So eine Mühe hat er sich bisher nie gegeben.“ 
 

Er hatte sich bereits abwenden wollen, doch die letzten Worte von Alice ließen ihn innehalten. „Wie bitte?“
 

„Sherlock Holmes ist vieles, aber rücksichtsvoll zählte in all den Jahren, in denen ich ihn kenne, nicht zu seinen Eigenschaften.“ Als John nichts sagte, fuhr sie fort: „Versteh mich nicht falsch, er ist zweifellos kein schlechter Mensch, das ist uns allen bewusst. Aber er gibt sich auch keine Mühe, ein guter Mensch zu sein. Er löst Fälle für die Polizei und gibt uns Geld für Informationen. Manchmal auch mehr, als die Information wert ist. Aber keiner von uns hat je erlebt, dass er so etwas tut.“
 

„Und was genau ist ,so etwas‘?“
 

Alice deutete an sich hinab. „Was glaubst du, warum ich hier bin? Wenn ich wollte, hätte ich das Haus längst verlassen können und du hättest nichts weiter vorgefunden als ein leer stehendes Gebäude ohne den geringsten Hinweis darauf, dass überhaupt jemand hier gewesen ist. Stattdessen sitze ich hier - nicht um dich abzulenken, sondern um dir eine Nachricht zu übermitteln.“
 

John straffte die Schultern. „Welche Nachricht?“
 

Die Belustigung verschwand aus ihren Augen. „Kehr‘ um, John“, sagte sie. „Das hier ist nicht deine Aufgabe. Ich weiß, was ich tue.“ Sie schloss den Mund und John schürzte die Lippen.
 

„Ich nehme nicht an, dass du mir deine Information für Sherlock wiederholen kannst.“
 

„Bedaure.“ An einem anderen Tag, unter anderen Bedingungen hätte John sich gefragt, wer Alice genau war. Was für ein Leben sie bis heute gelebt hatte und ob sie tatsächlich so hieß. Doch in diesem Moment und in dieser Situation war es John egal und es kümmerte ihn nur, wo Sherlock jetzt war.
 

„War es das?“, fragte er steif.
 

„Nicht ganz.“ Alice‘ Blick flackerte einen Moment. Die Selbstsicherheit schien sie plötzlich zu verlassen und sie blinzelte. John erkannte all die Anzeichen für Nervosität und das gefiel ihm gar nicht. „Es gibt noch eine Nachricht. Sie kursiert in ganz London in unserem Netzwerk, aber sie ist nicht von Sherlock Holmes. Eine Nachricht für Doktor John Watson. Und es ist ganz explizit darauf bestanden worden, dass nur er sie hören soll.“
 

Er hatte eine Ahnung und wappnete sich für die folgenden Worte. Das machte sie nicht wirklich angenehmer.
 

Heute Nacht werde ich Sherlocks Herz verbrennen. Und kein Doktor wird die Verletzung heilen können.“ Alice senkte den Blick.
 

John nickte knapp. „Danke.“ Dieses Mal drehte er sich wirklich um und verließ den Raum. 
 

∼*∼
 

Zurück auf der Straße griff er nach seinem Handy und rief Lestrade an. „Ist Sherlock bei Ihnen?“
 

„Nein. Bisher haben wir auch keine neuen Informationen zum fünften Vermissten. Wir warten noch auf die Laborergebnisse.“
 

„Okay. Danke.“ Er ließ das Telefon sinken, doch Lestrades Stimme kehrte seine Bewegung um. „Ja?“
 

„Ich weiß nicht, wie wichtig es genau ist, aber Sie können es Sherlock sagen. Wir haben neben der DNA von Moran am letzten Opfer Spuren von Chlor gefunden. Wir analysieren die Probe noch nach weiteren Hinweisen, aber soviel steht bereits fest.“
 

Chlor. Genau diese Information hatte John gebraucht.
 

„Danke Lestrade, ich richte es ihm aus.“ Er legte auf und blieb einen Moment stehen, um alles zu verarbeiten.
 

Sherlock wollte ihn abschütteln. Moriarty schickte ihm Drohungen und düstere Prophezeiungen. Irgendwo in der Stadt mordete ein abtrünniger Soldat. Und vier Personen wurden noch vermisst, wobei nicht klar war, ob sie überhaupt noch am Leben waren.
 

Das Taxi von Sherlock stand nicht mehr vor dem Gebäude. Noch eine Finte. Der Mann hatte gewartet, um John in dem Glauben zu lassen, Sherlock würde zurückkommen. Und er war natürlich darauf reingefallen. Einen feinen Soldaten gab er ab.
 

Er kehrte zurück in die Nebenstraße und war erleichtert, dass sein Taxi noch immer dort stand. Er bedankte sich und gab dem Fahrer die neue Adresse. Während der Fahrt ging er die Fakten im Kopf immer wieder durch. Ein Student, ein Rentner, ein Tierarzt und ein Soldat. Wer war das letzte Opfer, damit es Sinn ergab?
 

Er versuchte den Blickwinkel zu verändern. Ein junger Mann, beinahe noch ein Junge, zwei erwachsene Männer und ein Rentner. Auch das brachte ihn nicht weiter. Und wieso musste ausgerechnet John Finnigan sterben?
 

„Wir sind da.“
 

John sah aus dem Fenster und sein Magen zog sich zusammen. Er zögerte allerdings nicht, als er ausstieg und dem Fahrer das restliche Geld überließ.
 

Er sah ihm nach und erst als das Taxi außer Sichtweite war, drehte er sich um und betrat das öffentliche Schwimmbad. Seit dem letzten Mal war es noch nicht wieder geöffnet worden. Flatterband verwies darauf, dass Bauarbeiten ausgeführt wurden. Als John durch die Türen trat, fühlte er sich einen Moment lang drei Monate in die Vergangenheit versetzt. Nur hatte er zu diesem Zeitpunkt eine Weste mit Sprengstoff getragen und Moriarty hatte ihm vergiftete Worte ins Ohr geflüstert.
 

Er schüttelte die Erinnerung ab und sah sich um. Der Schutt, den die Explosion der Weste vor beinahe drei Monaten zurück gelassen hatte, war weggeräumt worden, doch die Reparaturarbeiten waren noch nicht beendet. Im Schwimmbecken befand sich kein Wasser und der ganze Pool glich mehr einer Baustelle, als etwas Anderem. John stieß den Atem aus, den er ohne es zu merken angehalten hatte und ließ seinen Blick über die Wände schweifen, während er an den Rand des Pools herantrat.
 

Dann sah er ihn.
 

Ein regungsloser Körper lag auf dem Boden des Beckens. Unter ihm hatte sich eine Blutlache gebildet.
 

Sämtliche Militärreflexe aktivierten sich und John kletterte die Leiter hinab, ließ sich dann für den letzten Meter fallen und eilte auf die Person zu. Während er mit seiner rechten Hand den Notruf wählte, fühlte seine Linke nach einem Puls. Er spürte nichts.
 

Als er dem Mann die Haare aus der Stirn strich, begegneten ihm leblose, weit aufgerissene Augen. John fluchte.
 

Er forderte Lestrade und einen Krankenwagen an. Dann versuchte er, herauszufinden, wer der Tote war. Seiner Ausbildung als Arzt und der Zeit mit Sherlock sei Dank, hatte er sich angewöhnt, immer ein Paar Handschuhe bei sich zu tragen und vorsichtig tastete er die Hosentaschen des Mannes ab, bis er die Brieftasche fand.
 

Er schlug sie auf und blendete die Kinderbilder aus, denn wenn er daran dachte, dass der Tote eine Familie hatte und eigentlich nur ein sinnloses Opfer war, dann würde er auch daran denken, dass all dies nicht nötig wäre, wenn Moriarty nicht -
 

Sein Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als er den Ausweis des Mannes in Händen hielt. Die Brieftasche fiel achtlos neben ihm auf den Boden.
 

Er hatte seine fehlende Verbindung. Den Blickwinkel, den er gesucht hatte. Das fünfte und letzte Opfer.
 

Ein Student, ein Lehrer, ein Tierarzt, ein Soldat. Eine Reihe, ja, aber die Schwerpunkte waren falsch gesetzt.
 

Nicht nur ein Student, sondern ein Medizinstudent.
 

Ein Tierarzt? Irrelevant. Ein Arzt.
 

Ein Soldat mit zwischenzeitlicher Stationierung in Afghanistan.
 

Ein Lehrer, aber viel wichtiger der Name: John Finnigan.
 

Und nun der letzte Tote. Der Unbekannte, dem die Zunge fehlte. Tom Watson.
 

Moriarty hatte mit fünf Opfern Johns gesamte Biografie inszeniert und keinen Raum für Zweifel gelassen: Ein ehemaliger Militärarzt mit Medizinausbildung in fünf Akten. Und über all dem die beiden Toten mit dem Namen John und Watson. Eine Botschaft: John Watson wird sterben. Jeder Teil von ihm.
 

Es war ein kleiner Trost, dass er allein darauf gekommen war, denn Moriarty hatte alles so arrangiert. Er wollte, dass John es selbst herausfand, während es Sherlock bereits vor eineinhalb Stunden realisiert und darauf reagiert hatte.
 

Heute Nacht werde ich Sherlocks Herz verbrennen. Und kein Doktor wird die Verletzung heilen können.
 

Moriartys Nachricht war eindeutig. Er hielt John für Sherlocks Herz. John Watson, der humpelnde, gebrochene Soldat, der aus Afghanistan zurückgekehrt war und erst in London feststellte, dass ihm etwas fehlte. Der in Sherlock Holmes einen Mann kennen gelernt hatte, der ihm genau das bieten konnte. Zwei so ungleiche Menschen mit einer Freundschaft. Moriarty musste das ganz scheußlich finden.
 

Und genau in diesem Moment bot John die perfekte Angriffsfläche.
 

Jetzt haben Sie einen Trumpf aus der Hand gegeben, Dr. Watson.
 

Er griff nach seiner Pistole und entsicherte sie. Die Polizei würde bald hier sein, aber das schützte ihn nicht vor möglichen Übergriffen. Vielleicht wartete Moriarty auch nur darauf, dass er seine Deckung vernachlässigte. Oder Sebastian Moran hatte ihn längst im Visier, so wie schon einmal die Scharfschützen von Moriarty?
 

Er presste sich mit dem Rücken gegen die Außenwand des Pools und behielt seine hockende Position bei. Er lauschte auf verdächtige Geräusche. Abgesehen von dem Flattern der Plastikplanen war es jedoch still. Im Hintergrund hörte er das stetige Atmen der Hauptstadt. Nichts Ungewöhnliches.
 

Er atmete leise aus. Mit seiner freien Hand schrieb er eine Nachricht an Sherlock.
 

Hör auf, Fangen zu spielen und komm zum Pool. Die fünfte Geisel ist tot. 
 

Er überlegte, ob er Sherlock den Namen schicken sollte, doch mit einem Kopfschütteln verwarf er den Gedanken. Sherlock kannte Moriartys Plan längst, hatte ihn schon vor Stunden erkannt, als er seinen Gedankenpalast besucht hatte. Deswegen war er gegangen und hatte nicht gewollt, dass John ihm folgte. Es würde ihn nicht einmal überraschen, wenn Sherlock ihn die ganze Zeit unbemerkt hatte beschatten lassen, um zu wissen, wo John war.
 

Fünf Minuten verstrichen und er erhielt keine Antwort. Er schrieb einen neuen Text.
 

Sherlock, ich weiß, was Moriarty mit den Entführungen sagen will. Es ist gefährlich, wenn wir uns trennen. Wo immer du gerade bist, antworte.
 

Nach weiteren drei Minuten hörte er die Sirenen und entspannte sich merklich. Eine Antwort erhielt er allerdings auch die nächste Stunde über nicht, während der das Scotland Yard den Tatort sicherte, Sally Donovan seine Aussage aufnahm und Lestrade ihn beiseite nahm, um ihm Polizeischutz anzubieten.
 

John dachte darüber nach. „Ist es notwendig?“
 

Lestrade seufzte. „Die Situation ist kritisch. Zwei der fünf Entführten sind tot und wir kommen keinen Schritt weiter, was die Ermittlungen nach Moran angeht. Darüber hinaus ist offensichtlich, auf wen Moriarty als nächstes abzielt. Ich halte mich wirklich nicht für übervorsichtig, John, aber in diesem Fall würde ich kein Risiko eingehen.“
 

„Hat Sherlock sich irgendwie gemeldet?“
 

„Ich habe seit heute Nachmittag nicht mehr von ihm gehört.“
 

John drängte die Sorge, die immer penetranter wurde, für den Moment zurück und versuchte, die Situation nüchtern zu betrachten. Von Sherlock war seit zwei Stunden kein Lebenszeichen gekommen. Moran würde auch die anderen Entführten töten, um seiner Nachricht weiteren Ausdruck zu verleihen.
 

Und die Nachricht war eindeutig: John Watson war ein toter Mann.
 

„Sie sehen müde aus, John. Wollen Sie mit einer Streife zur Baker Street fahren?“
 

John lehnte dankend ab. „Ich glaube, ich nehme ein Taxi.“
 

Lestrades Blick wurde skeptisch. „Halten Sie das für eine gute Idee? Moriarty hat Sie als sein nächstes Opfer festgelegt.“
 

John hätte ihm gerne gesagt, dass Moriarty es ruhig versuchen sollte, dass er ihm liebend gerne eine Antwort darauf geben würde, aber er schwieg. Noch hatte niemand die nicht ganz legale Waffe unter seiner Jacke bemerkt. Oder Lestrade hatte sie wahrgenommen, sprach ihn jedoch nicht darauf an. John wusste nicht, ob das sein Vertrauen in die Polizei bestärken oder schwächen sollte ...
 

„Ist gut, ist gut“, beschwichtigte er den Inspektor und hob abwehrend die Hände. „Ich lasse mich von einer Streife fahren.“
 

Lestrade nickte, dann zwang er sich zu einem Lächeln. „Was für ein Übergang ins neue Jahr. Es kann hoffentlich nur besser werden.“
 

„Hoffentlich.“ John glaubte nicht wirklich daran. Es war einfach noch viel zu viel Luft nach unten übrig.
 

∼*∼
 

„Mrs Hudson, war Sherlock in den letzten zwei Stunden hier?“, rief John, als er die Tür der Baker Street hinter sich schloss. 
 

Die Tür im Erdgeschoss ging auf. „Ja. Vor einer dreiviertel Stunde ist er die Treppe hoch und war keine fünf Minuten später wieder weg. Wenn Sie Neujahr zusammen verbringen wollen, dann sollten Sie ihn aber bald finden, John.“ Sie zwinkerte ihm zu. John hätte ihre gute Laune gerne geteilt. Stattdessen verabschiedete er sich von ihr und beeilte sich nach oben in die Wohnung.
 

Sherlock hatte etwas gesucht. Er hatte sich durch einige Papierstapel gewühlt und die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Aber wo war er jetzt? Was hatte er gesehen, was ihn Moriarty einen Schritt näher gebracht hatte?
 

Auf dem Wohnzimmertisch lagen die Akten der Entführten, die Sherlock vom Yard mitgebracht hatte. John schlug sie auf, doch die Informationen halfen ihm nicht weiter. Als er sie wieder zurücklegte, fiel sein Blick auf die Karte, die Moriarty ihm geschickt hatte.
 

Wenn die Kirchturmuhr 12 schlägt, dann verwandelt sich die Kutsche zurück in einen Kürbis.
 

Ob Moriarty darin einen weiteren Hinweis verpackt hatte? Um zwölf Uhr begann das neue Jahr und am London Eye würde ein Feuerwerk stattfinden. Die Kirchturmuhr könnte jede Uhr sein, aber vielleicht war es auch der Big Ben? Doch warum die Anspielung auf Aschenputtel?
 

John hasste solche Rätsel.
 

„Du siehst, aber du beobachtest nicht, John“, murmelte er und schloss die Augen. Sherlock war hierher zurückgekommen und hatte etwas gesehen. In diesem Appartement war etwas gewesen ...
 

Er öffnete die Augen, doch der Anblick war derselbe. Als ob er tatsächlich damit gerechnet hatte, die Welt plötzlich mit Sherlocks Augen zu sehen. 
 

Er trat ans Fenster und blickte auf die Straße. An der Ecke stand ein Streifenwagen. Also behielten sie ihn im Auge. Doch sie konnten ihn nicht am Verlassen der Wohnung hindern.
 

Bevor er ging warf er einen letzten Blick auf sein Telefon. Noch immer keine Antwort.
 

Und so begab John Watson sich auf die Suche nach Sherlock Holmes.
 

∼*∼
 

Um zehn Uhr siebenundzwanzig hatte John acht Kontakte von Sherlock überprüft, ohne eine Spur vom Detektiv gefunden zu haben. Niemand wusste, wo Sherlock Holmes war und diejenigen, die behaupteten, ihn gesehen zu haben, entpuppten sich als Sackgassen.
 

Mittlerweile hatte John sieben Nachrichten verschickt, ohne eine einzige Antwort zu bekommen und seine Sorge hatte ein Ausmaß erreicht, bei dem sie sich nicht mehr effektiv zurückhalten ließ. Jegliche Ruhe, die ihm die Ausbildung zum Soldaten gelehrt hatte, war einer angespannten Nervosität gewichen. Vor einer viertel Stunde hatte er in seinem Bein wieder ein nur allzu vertrautes Ziehen gespürt.
 

20:58 Uhr

Sherlock?
 

21:17 Uhr

Sherlock, auch wenn du meinst, dass ich dich aufhalte, zu zweit sind wir schneller. Zu zweit können wir Moriarty dieses Mal aufhalten.
 

John Watson war mit seinem Latein am Ende, während er mittlerweile ziellos durch die Straßen von London irrte. 
 

21:33 Uhr

Angelo lässt seine Grüße ausrichten. Sherlock, wo bist du?
 

22:01 Uhr

Du weißt, dass es kein Spiel ist. Lass dir von Moriarty nichts einreden. Sherlock, antworte.
 

Nichts. Sherlock Holmes war wie vom Erdboden verschluckt. Ob Moriarty ihn gefasst hatte? Aber was dann? Wartete er vielleicht darauf, dass John ihn fand und blind in eine Falle tappte?
 

22:23 Uhr

Schick einfach ein Lebenszeichen. Irgendeins.
 

22:24 Uhr

Bitte, Sherlock.
 

Die Unwissenheit nagte an ihm. Gleichzeitig war da diese Wut auf Sherlock. Wieso war er auch alleine losgezogen? John hätte ihm den Rücken freihalten können. Hatten sie nicht die letzten Monate gut gemeinsam funktioniert? Nun fühlte John sich wie überflüssiger Ballast, der Sherlock nur aufgehalten hätte.
 

22:25 Uhr

Das ist nicht fair.
 

Er stand kurz davor Mycroft anzurufen, da summte sein Handy. Erleichterung war wie ein warmer Regen und er nahm ab, ohne die Nummer zu prüfen.
 

„Sherlock, eins sage ich dir, das ist absolut lächerlich und -“
 

„Hallöchen, Johnny-Boy.“ Er erstarrte. „Ich hoffe, du hast meine Nachricht erhalten. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, sie adäquat zu platzieren. Hat es dir gefallen?“
 

Das letzte Mal hatte Moriarty ihn wenigstens noch gesiezt. Dieser letzte Rest Distanz war jetzt Geschichte und John verspürte nicht den Wunsch, ihn künstlich aufrecht zu erhalten. Nicht, wenn es um Sherlock ging.
 

„Woher hast du diese Nummer?“
 

„Oh, ein Kinderspiel. Aber sag mir lieber, wie dir mein Geschenk gefallen hat?“
 

„Es war kreativ.“ Warum machte Moriarty sich die Mühe, ihn zu kontaktieren? Er hätte erwartet, dass er irgendwo am anderen Ende der Stadt mit Sherlock telefonierte und ihn von Station zu Station schickte. Aber das?
 

„Nicht wahr? Du hättest Sebastian sehen müssen, wie ein kleiner Junge an Weihnachten.“
 

John verzog angewidert den Mund. „Und wo ist er jetzt? Arbeitet er an dem nächsten Geschenk?“
 

„Nun, siehst du, Johnny-Boy, genau das ist das Problem. Er würde ja gerne, aber er hat im Moment alle Hände voll.“
 

„Bedauerlich. Weswegen rufst du mich an und nicht Sherlock?“
 

„Genau da liegt die Krux.“ Der spielerische Ton verschwand plötzlich aus der Stimme. „Sherlock ist derzeit etwas - wie soll ich es sagen - vereinnahmt. Was auch der Grund dafür ist, dass Moran keine Hand frei hat.“
 

Bleierne Angst schnürte ihm den Magen zu und John hörte sein eigenes Schlucken viel zu deutlich. Er zwang sich zur Ruhe. „Und wie soll dagegen vorgegangen werden?“
 

„London Waterloo Academy in einer Stunde. Auf dem Dach.“
 

„Ist das Gebäude überhaupt geöffnet?“
 

„Finde es heraus, Johnny-Boy. Und komm ohne Begleitung. Wir finden schon jemand Passenden für deinen Abschlussball“, trällerte Moriarty. „Und um das Ganze filmreif zu machen.“ Er räusperte sich und knurrte: „Keine Polizei, verstanden?“ Dann war die Verbindung unterbrochen.
 

Johns Finger waren taub, als er die Hand sinken ließ.
 

Moriarty hatte Sherlock. Viel schlimmer: Moran hatte Sherlock. Er wollte sich nicht ausmalen, was er alles mit ihm anstellen konnte. Er hatte die Leichen gesehen. Es war eindeutig gewesen, dass es Moran Spaß gemacht hatte. John lief ein kalter Schauer den Rücken hinab und er winkte ein Taxi heran. 
 

Eine Stunde. So lange konnte er nicht warten. 
 

Moriarty hat Sherlock, schrieb er Mycroft während der Fahrt. Dann hängte er die Adresse an die Nachricht und schickte sie ab. 
 

Auch hier erhielt er keine Antwort. Was war los?
 

Verdammt, seid ihr von der Holmes Familie euch zu fein, um mir zu antworten? Moriarty. Hat. Sherlock. JW
 

Die Minuten verstrichen viel zu schnell und noch immer hatten weder Sherlock noch Mycroft zurück geschrieben. Ob es eine Falle war, in die er lief?
 

Sein Handy summte. Als John die Nachricht öffnete, begann ein Bild zu laden. Es dauerte neun Sekunden, bis es ihm angezeigt wurde und sein Griff um das Telefon verkrampfte sich. 
 

Es war Sherlocks Gesicht, durch ein Zielfernrohr anvisiert. Direkt auf seiner Schläfe lag das X. Um ihn herum war es dunkel, Schweiß stand auf seiner Stirn und er wirkte angespannt. Unter dem Bild stand: Stayin‘ alive, Johnny.
 

∼*∼
 

Eine halbe Stunde vor der eigentlichen Zeit stand John vor dem Gebäude und seine Befürchtungen wurden bestätigt: Sie war geschlossen. Natürlich war sie geschlossen, es war ja auch Neujahr. Er umrundete das Grundstück und näherte sich von der Rückseite, dabei die Augen nach Kameras offen haltend. Er registrierte vier. 
 

Das war nicht gut. Wenn man ihn auf den Videos dabei sah, wie er versuchte, in die Akademie einzubrechen, würde die Polizei eingeschaltet werden und Moriarty würde womöglich nicht auf John warten, ehe er Sherlock etwas antat.
 

Zwei Kameras an den Ecken, eine über dem Eingang auf der Rückseite und eine nahe dem Lieferanteneingang. Das war die Schwachstelle, des Gebäudes. Die Kamera machte alle dreißig Sekunden einen Schwenk und gab John somit ein Zeitfenster. In geduckter Haltung lief er über den Hof und wich den übrigen Kameras aus. An der Tür angekommen, inspizierte er das Schloss. Drei Stifte. Er griff nach seiner Brieftasche und förderte einen Dietrich zutage (mit Sherlock konnte man nie wissen). Dann machte er sich an die Arbeit. 
 

Er war nicht schnell genug. Nach fünfundzwanzig Sekunden musste er zurückweichen und warten, bis die Kamera wieder zurück schwenkte. Dann versuchte er es erneut. Das Problem war, dass Sherlock für gewöhnlich die Schlösser knackte. John hatte ihm zwar oft genug zugesehen und verstand das Prinzip, aber er besaß nicht das Feingefühl dafür. Dreimal versuchte er es noch, bevor er resignierend aufgab.
 

Er zog sich zurück und ging hinter einer Mauer in Deckung. Er rutschte an ihr hinab und vergrub das Gesicht in den Händen.
 

Denk nach, rief er sich zur Ordnung. Es muss einen anderen Weg hinein geben. Es kann doch nicht sein, dass du an einem einfachen Schloss scheiterst.
 

Aber die Wahrheit war nie rücksichtsvoll. John schaffte es nicht, das Schloss zu knacken. Und ihm blieben noch dreiundzwanzig Minuten, um eine andere Lösung zu finden. Er ignorierte die wachsende Panik und rappelte sich auf. Er machte sich auf die Suche nach einem leichteren Eingang.
 

∼*∼
 

Zwanzig nach elf. Es gab keinen verdammten Weg hinein. John wusste nicht weiter. Seine Lippen waren wund gebissen und seine Schulter schmerzte vom Versuch, die Tür einzurennen. Das Zeitfenster war einfach zu klein.
 

Mycroft meldete sich nicht und John hatte sich den Hals verrenkt, um nach seinen Leuten Ausschau zu halten. Nichts. Er stand ohne Backup da. Wieso? Das passte nicht! Ließ man ihn bewusst in der Schwebe hängen, nur um Moriarty im entscheidenden Moment zu überrumpeln? Aber Mycroft würde Sherlocks Leben nicht so gefährden. Das konnte John sich nicht vorstellen.
 

Er umrundete zum bestimmt zehnten Mal das Gebäude. Mittlerweile konnte er die Panik nicht länger zurückhalten. Er würde es nicht schaffen. Er würde versagen. Was war er für ein Soldat, dass er sich von einer Tür aufhalten ließ?
 

Ein hilfloser Blick auf sein Handydisplay. Eine Nachricht, zehn Minuten alt. Die Nummer war unterdrückt.
 

Tick, tack, Johnny.
 

Seine Hand zitterte, als er eine neue Mitteilung öffnete. 
 

Noch sechs Minuten. 
 

Sherlock?, schrieb er.
 

Ein letzter Versuch. Er konnte die Tür nicht knacken. Warum funktionierte es immer in den Filmen? 
 

Fünf Minuten.
 

Als die Kamera dieses Mal wieder zurück zur Tür schwenkte, machte er sich nicht einmal mehr die Mühe, zurück zu weichen. Er schlug mit der geballten Faust gegen die Tür. Hätte er einfach ein Fenster eingeschlagen und den Alarm riskiert. Oder das Schloss aufgeschossen? Aber wer wusste, wie Moriarty auf das Geräusch reagiert hätte? Solange er Sherlock in seiner Gewalt hatte, konnte John das nicht riskieren! 
 

Das Handydisplay war eine kümmerliche Lichtquelle.
 

Ich schaff es nicht, Sherlock. Ich schaff es nicht. Es tut mir leid.
 

„Verdammt!“, fluchte er und presste die Stirn gegen die Tür.
 

Halb zwölf. Er war nicht da. 
 

John konzentrierte sich nur auf seine Atmung. Ein und aus. Ein und aus. Keine Panik. Vielleicht sollte er einfach Lestrade anrufen. Sie würden die Tür aufbrechen, das Dach stürmen und Moriarty überwältigen. Er schaffte es nicht allein, aber mit der Hilfe vom Yard wäre es bestimmt möglich. Sie würden - 
 

Er kam nicht dazu, den Gedanken zu beenden. Er hörte ein Flattern, gefolgt von einem widerlichen Knacken. Dann war es still. John atmete zitternd aus und löste sich von der Tür.
 

Mit langsamen Schritten näherte er sich der Gebäudeecke. Der Weg dorthin schien unendlich weit. Als er aus dem Schatten des Gebäudes trat, fiel sein Blick auf eine reglose Gestalt in zwanzig Metern Entfernung auf dem Boden. Selbst aus der Distanz war ihm klar, dass sie diesen Fall nicht hatte überleben können.
 

Eine unbeschreibliche Ruhe erfasste sein Bewusstsein. (Wie in Afghanistan, würde er sich später erinnern. Als die Kugel seine Schulter durchdrang und er Momente - sekundenlang - nur auf das Blut an seiner Hand gestarrt hatte, ohne auch nur irgendetwas zu empfinden.) Er drehte sich um und kehrte zur Tür zurück. Er entsicherte seine Waffe, zielte auf das Schloss und feuerte. Das Geräusch musste einen halben Kilometer weit zu hören sein, doch John drückte bereits die Tür auf und begann erst langsam, dann immer schneller die Treppen hinauf zu laufen.
 

Er brauchte ganze zweieinhalb Minuten bis in die sechste Etage. Oben angekommen gönnte er sich keine Pause und riss die Tür zum Dach auf, die Waffe bereits im Anschlag. Ohne zu blinzeln richtete er die Pistole auf James Moriarty, der am Rand des Daches stand, die Händen in den Taschen seines hellgrauen Anzugs, und nach unten blickte. 
 

Wie auf ein Zeichen drehte er sich zu John um und breitete lächelnd die Arme aus. „John. Du bist leider zu spät. Unser Gast hatte einen wichtigen Termin. Einen Flug, musst du wissen, der sich nicht verschieben ließ.“
 

John trat auf das Dach. Der Schuss würde direkt zwischen Moriartys Augen gehen. Eine Kugel. (Eine reglose, zerbrochene Gestalt auf dem Asphalt vor dem Gebäude. Starre, tote Augen, die John sich nicht vorstellen wollte, aber musste, denn es waren einzigartige, stechende Augen, die schon so viel gesehen hatten und nun nie wieder sehen würden.) Vielleicht auch fünf Kugeln.
 

„Warum das ernste Gesicht? Oh“, er verzog das Gesicht in gespielter Überraschung, „habe ich dich verärgert? Nun, wie unhöflich von mir.“ Er imitierte Johns Gesichtsausdruck, dann grinste er. „Immer so ernst und stoisch. ,Doktor John Watson‘“, er verstellte seine Stimme in falscher Seriosität. „,Stets zu Ihren Diensten.‘ Ein treuer, folgsamer Doktor, loyal wie ein dummer Hund.“ Der Schalk verließ seine Augen. „Wie langweilig.“
 

Und dieses Wort löste etwas in John. Dieses eine Wort, dass Sherlock gehörte und oh Gott Sherlock Sherlocksherlocksherlock...
 

Moriarty vergrub die Hände in den Taschen und blickte wieder nach unten. „Das war nicht Sherlock“, sagte er geradezu beiläufig und drehte sich wieder zu John um, dessen Welt sich gerade zum zweiten Mal in drei Minuten um einhundertachtzig Grad drehte. Dieses Mal schmerzte es wie Hölle. „Versteh mich nicht falsch, Johnny“, fügte er hinzu und zuckte die Schultern, „das hätte er sein können und genau genommen wäre das nicht einmal so weit hergeholt, denn jemand wie er verdient einen Fall. Aber er war es nicht.“
 

John öffnete den Mund, doch kein Ton verließ seine Lippen. Jim Moriarty verstand ihn auch so.
 

„Das, mein lieber Doktor, war der Besitzer des Daumens. Brian Henning, der gute, gute Student. Hat vergessen, seine Hausaufgaben zu machen“, ergänzte er in einem Singsang. „Wollte mit mir diskutieren, als ich ihm deutlich machte, dass es dafür keine Entschuldigung gibt. Eins führte zum anderen und ... hoppsa!“ 
 

Die Hand mit der Waffe zuckte, doch sie war weiterhin auf Moriarty gerichtet. „Wo ist Sherlock dann? Wo hast du ihn?“ Sie waren allein auf dem Dach, also musste Sherlock mit Moran woanders sein. In der Nähe? Im gleichen Gebäude womöglich? 
 

„Ich habe ihn nirgendwo.“ Und Johns Gesichtsausdruck musste fassungslos sein, denn er begann haltlos zu lachen. „Oh, das ist großartig, du hast wirklich geglaubt, ich hätte ihn.“ Von einem Moment auf den anderen war er wieder ernst. „Überraschung, Johnny. Du bist soeben in eine Bilderbuchfalle getappt. Ups!“
 

Er zog sein Handy aus der Tasche und hielt John das Display entgegen. „Hat dich das verwirrt?“ Es war das Bild von Sherlock. „Hübsch, nicht wahr? Nur alt, John-Boy. Genau genommen zwei Monate alt. Und hättest du etwas genauer hingesehen, hättest du die Reflexionen vom Wasser bemerkt. Aber Emotionen machen so unglaublich blind, nicht wahr?“
 

Wasser? Der Pool. Einer der Scharfschützen musste das Bild zu dem Zeitpunkt gemacht haben. Die Erleichterung war wie ein frischer Luftzug. Sherlock lebte. Er war nie in Gefahr gewesen!
 

John fühlte sich benommen. Sherlocks scheinbarer Tod und doch wieder nicht ließen sich nicht einfach so wegstecken. Moriarty trat näher und schließlich unmittelbar vor ihn. Er nahm die Hände aus den Taschen seines maßgeschneiderten Anzugs und legte sie John bedeutungsschwer auf die Schultern.
 

„Du hast meine Nachricht erhalten. Du weißt, warum du hier bist.“ Als John nicht antwortete, fuhr er fort. „Sherlock Holmes, großartige Kreatur, die er ist, hat ein Herz, das ihn behindert. Es hemmt ihn, macht ihn langsam, macht ihn menschlich.“ Er spuckte das Wort regelrecht aus. „Aber die Behandlung ist leicht und die Lösung noch viel leichter. Siehst du, Johnny, dass hier ist nichts Persönliches. Außer vielleicht doch!“ Und damit schubste er John brutal nach hinten.
 

Er stolperte und stieß mit dem Rücken gegen die offen stehende Tür. Er wollte die Hand mit der Waffe heben, doch Moriarty kam ihm zuvor und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht. John stürzte zu Boden und die Pistole rutschte einige Meter weiter. Ehe er sich sammeln konnte, trat Jim mit voller Kraft auf seine Hand, mit der er sich vom Boden abgestützt hatte. John spürte seinen Mittelhandknochen brechen und biss einen Schrei zurück. Stattdessen verließ seinen Mund nur ein Ächzen.
 

Ein Blick nach oben zeigte Moriartys hassverzerrtes Gesicht. „So menschlich. All diese Gefühle. Human. Schwach.“ Er hob den Fuß und ehe John seine Hand zurückziehen konnte, trat er wieder zu. Dieses Mal schrie John wirklich. „Sag mir, Johnny, hattet ihr Spaß? War eure gemeinsame Zeit einzigartig?“ Moriarty tippte sich gegen das Kinn. „Fühltest du dich endlich wieder gebraucht? Und hattest nichts Besseres zu tun, als Sherlock Holmes herab zu stufen. Von einzigartig zu gewöhnlich, so wie du es bist?!“, schrie er ihn an und John wäre zurück gewichen, hätte der Fuß auf seiner Hand ihn nicht daran gehindert.
 

Ein Ekel erregendes Knirschen war zu hören, als Moriarty seinen Fuß drehte und Wellen aus Schmerz peitschten Johns Arm hinauf. Einen Moment lang verschwamm seine Sicht.
 

Er erinnerte sich.
 

An die Warnungen, sich von Sherlock Holmes fern zu halten. An skeptische Blicke und unheilvolle Prognosen. Sherlock Holmes hat keine Freunde. An einsame Taxifahrten, an Auseinandersetzung, an verschiedene Prioritäten. Menschen sterben, Sherlock! 

Erinnerte sich an unterschiedliche Auffassungen. Mach aus Menschen keine Helden John. Helden existieren nicht und selbst wenn, wäre ich keiner von ihnen.
 

„Du bist so blind, Jim“, sagte er und fluchte gegen die Schmerzen in seiner Hand. „Du denkst, Sherlock wäre heute irgendetwas Anderes als genial, dabei kannst du es einfach nicht sehen, verblendet wie du bist.“ Moriarty tat so, als hätte Sherlock vorher nie ein Herz besessen, aber das war falsch. Sherlock Holmes hatte ein großartiges, einzigartiges Herz. Und es zu besitzen machte ihn in in keiner Weise weniger effizient. Weniger Sherlock. Im Gegenteil.
 

Denn da waren so viele andere Erinnerungen. Wir können an einem Tatort nicht kichern. Gemeinsames Lachen im Hausflur. Das ist mein Freund John Watson. Eine hektisch abgestreifte Weste mit Sprengstoff. Das, was du eben getan hast ... das war gut. Hitzige Diskussionen und brillante Schlussfolgerungen. Und nicht zuletzt immer wieder ein Blick über die Schulter (seltene Momente, wenn niemand hinsah oder wenn Sherlock sich sicher war, dass niemand außer ihm es beobachtete), um sicher zu gehen, dass John noch da war.
 

Sherlock war noch immer er selbst. Moriarty erkannte nur nicht, dass brillant sein nicht hieß, genauso wie Jim Moriarty zu sein.
 

„Was bezweckst du? Denkst du, er wird meinen Tod rächen und ihr habt eine wunderbare Zeit - du als Gejagter und er als Jäger? Oder glaubst du vielleicht, der Mord an mir wird aus Sherlock etwas formen, das dir irgendwie ähnelt? Als ob er dadurch sein Herz verlieren würde“, knurrte er. 
 

Moriarty lächelte. „Wie könntest du es verstehen? Du bist langweilig, John Watson. Gewöhnlich.“
 

John lachte atemlos gegen den Schmerz. „Versuch es, Jim.“ Angst schnürte ihm die Kehle zu, aber er erlaubte es nicht, dass Moriarty sie in seinen Augen sah. „Du kannst lange darauf warten, Sherlock Holmes fallen zu sehen. Das wird nie passieren.“
 

„Ich warte nicht darauf. Ich weiß, dass es passieren wird.“
 

„Viel Spaß bei dem Wahnsinn.“
 

„Den werden wir haben. Leider wirst du es nicht mehr erleben.“
 

„Was willst du machen? Mich auch vom Dach werfen?“
 

„Oh bitte.“ Er verdrehte die Augen. „Einer reicht. Du wirst springen, Johnny.“
 

„Warum sollte ich?“
 

„Der tapfere Bauer bietet sich für ein Damenopfer an, um den schwarzen König Schach zu setzen. Aber der Schwarze König hat einen äußerst zuverlässigen Turm.“ Moriartys Grinsen hatte etwas Bestialisches. „Und der Turm mag nicht hier sein, aber er hat bereits gemordet und die Polizei konnte es nicht verhindern. Was meinst du, wen er noch umbringen kann, bevor sie ihn fangen?“
 

John schluckte. Das Problem war, dass er abgesehen von sich selbst keinen Trumpf hatte. Und er verstand genau, worauf Moriarty anspielte. Sein Verstand reagierte vertraut auf diese Art von Gefahr und Ruhe erfasste John. Es fiel ihm immer leichter, zu denken. Er wartete einige Momente, bevor er erwiderte: „Darf ich dann aufstehen?“
 

Jim Moriarty hob den Fuß von seiner gebrochenen Hand. John rappelte sich auf. So, wie er die Situation sah, hatte er drei Möglichkeiten. Nummer eins beinhaltete eine Kehrtwende und taktischen Rückzug. Kurz: Um sein und Sherlocks Leben rennen. Nummer zwei war seine unwahrscheinliche Rettung durch Mycroft, Lestrade oder Sherlock. Vielleicht sogar durch alle drei Parteien, denn irgendwo mussten sie ja sein, wenn John gerade mit Moriarty auf einem Dach stand. Nummer drei endete weitaus unappetitlicher, denn dabei würde er wirklich springen. Das Problem war, dass er Moriartys Wort nicht traute, also wäre sein Sprung letztendlich wertlos.
 

Er hatte lange genug auf sein Rettungskommando gewartet, doch er war nicht so naiv, alles auf sie zu setzen. Wer wusste, was Moran in diesem Moment vielleicht auf der anderen Seite der Stadt eingefädelt hatte? Vielleicht glaubten sie auch, John sei entführt worden und folgten einer falschen Fährte. Wer wusste, was Moran ihnen erzählte? Dass er vielleicht mit Johns Telefon alle Nachrichten geschickt hatte, um sie zu verwirren. 
 

Moriartys Pläne waren nie etwas Anderes als komplex und verworren. John war auf sich allein gestellt und stand vor dem Boogey-Mann.
 

John Watson war kein Feigling. Er suchte den Nervenkitzel des Kampfes, das Risiko des Krieges, aber er setzte sich nicht leichtsinnig irgendwelcher Gefahr aus. Schon gar nicht, wenn klar war, dass er der Unterlegene war. Er wusste, wann er sich in einer Situation befand, die er nicht überleben konnte und die keinerlei Option für ihn offen hielt. Er konnte Sherlock besser beschützen, solange er am Leben blieb. 
 

Er tat das einzige, was ihm übrig blieb. Er wirbelte herum und stürmte durch die offene Tür zurück ins Gebäude, weg von Moriarty.
 

∼*∼
 

Er kam gerade über die Türschwelle, da erwischte Moriarty ihn, als habe er genau auf diese Reaktion gewartet. John stolperte und fiel die obersten sieben Stufen hinunter, bis zur nächsten Ebene. 
 

Einen Moment lang wurde alles schwarz, dann explodierten Lichter in seinem Kopf.
 

Als er die Augen wieder öffnete, schwebte Jim Moriartys Gesicht dicht über seinem, ein mörderisches Glimmen in den Augen. „Dachtest du, ich würde dich einfach so weglaufen lassen? Oh Johnny, du unterschätzt mich immer wieder.“
 

Sein Kopf schien zu bersten. Etwas Kühles presste sich gegen seine Schläfe und John erkannte den Lauf seiner eigenen Pistole.
 

„Steh auf“, befahl Moriarty. Als John nicht sofort reagierte, presste er die Pistole gegen Johns verletzte Schulter. „Ich werde dich nicht umbringen, aber ich werde dich wünschen lassen, du wärest tot. Sterben kann so unglaublich lange dauern, Johnny.“
 

Er tastete blind über sich und zog sich am Geländer hoch. Der Sturz war glimpflich ausgegangen, würde ihm nicht mehr als ein paar blaue Flecken beschweren, vielleicht eine Prellung des Ellbogens. Viel mehr Soge bereitete ihm die Aussicht auf einen ganz anderen Sturz ... 
 

Moriarty dirigierte ihn wieder hinaus aufs Dach und nach vorne bis zum Rand. Er hielt sein Telefon in der anderen Hand, ebenfalls auf John gerichtet. Vermutlich filmte er alles, um es später Sherlock zuzuschicken. „Da sich unsere Wege bald trennen werden, Doktor Watson, möchte ich dich eins noch wissen lassen.“
 

John erfuhr nie, was Moriarty sagen wollte, denn in diesem Moment schlugen in ganz England die Uhren Mitternacht. Am London Eye wurde das Feuerwerk gezündet. 
 

Es geschah etwas, das weder John Watson noch Jim Moriarty hatten vorhersehen können: Licht und Lärm überfluteten Johns Sinne. Nicht in der Lage, die Eindrücke korrekt einzuordnen, tat sein Verstand das einzige, was ihm übrig blieb: Er suchte sich eine Erinnerung, die dem Licht von Sprengkörpern und dem Geräusch von Explosionen am nächsten kam.
 

Und schickte ihn zurück in den Krieg.
 

∼*∼
 

John spürte Wind im Gesicht. Er musste Sand in die Augen bekommen haben, denn sie brannten. Er war verschwitzt, sein Atem war abgehackt. Es war so heiß und die Luft wurde knapp.
 

Er konnte es hören. Jede Explosion war wie ein Erdbeben, brachte den Boden zum Erzittern. In der Ferne hörte er Schreie. Doch alles, was er sehen konnte, war das Blut. So viel Blut und Sand.
 

Er hätte bei seiner Einheit bleiben müssen. Sich nicht abhängen lassen dürfen. Sie brauchten ihn, standen unter schwerem Beschuss. Er war Militärarzt, verflucht noch mal! Wenn er ihnen nicht helfen konnte, welchen Zweck erfüllte er dann noch?
 

Sein Atem ging in schnellen, unregelmäßigen Schüben. Die Luft um ihn herum wurde immer heißer, das Atmen fiel mit jedem Zug schwerer. Nur der Griff um seine Waffe hielt ihn noch aufrecht. Seine Hand zitterte nicht, im Gegensatz zum Rest seines Körpers, der sich gegen die unmenschlichen Naturbedingungen wehrte.
 

Man hatte ihn angegriffen. Er hatte sich wehren müssen, denn sie waren bewaffnet gewesen und hätten ihn getötet, wenn er nicht gehandelt hätte. Das, was er getan hatte, war Notwehr. Furchtbare, zwingende Notwehr. Hätte man ihn getötet, wäre seine Einheit das nächste Ziel gewesen und er hätte nicht mehr die Möglichkeit gehabt, sie zu warnen, sie zu versorgen oder irgendetwas für sie zu tun. (Nutzlos, nutzlos, zischte eine leise Stimme, aber es konnte auch bloß der Wind sein, der ihm einen Streich spielte.)
 

Eliminierung war die einzige Möglichkeit gewesen, zu beschützen. Er hatte eine Aufgabe.
 

Warum wurde dann immer noch geschossen? 
 

Eine Gestalt trat vor ihm aus dem Sandsturm und sein Körper reagierte, bevor sein Verstand überhaupt eine Chance hatte, dazwischen zu gehen.
 

John!“
 

Afghanistan verschwand. Die Realität war wie ein Schlag ins Gesicht.
 

John Watson stand auf einem Dach in London, die Pistole auf seinen Mitbewohner Sherlock Holmes gerichtet.
 

Jim Moriarty lag vor ihm auf dem Boden, die Augen weit geöffnet, ein Blick der absoluten Überraschung auf seinen Zügen. Eine Blutlache breitete sich unter ihm aus.
 

Johns Welt erbebte unter einer weiteren Detonation. Hörte denn niemand die Schreie? Jemand musste sie stoppen!
 

„John. John, sieh mich an.“
 

Das war kein Paschtu und auch kein Dari, sondern Englisch. 
 

„Sieh mich an. John.“
 

Seit wann kniete er auf dem Boden? Und wie konnte er nicht bemerken, dass Sherlock vor ihm hockte und sein Gesicht in den Händen hielt. Ihr Atem vermischte sich.
 

Lichter explodierten hinter Johns Augen und seine Ohren sirrten. Das kam davon, wenn man zu dicht neben einer Granate stand, wenn sie hochging. Anfängerfehler. Seine Kameraden würden ihn auslachen.
 

Sie mussten runter von diesem Gebäude. Es würde einem direkten Angriff nicht standhalten und John hatte nicht ausreichend Munition, um sie beide zu verteidigen. Die Angriffe kamen von oben. Er würde Sherlock Deckung geben und ihn vorschicken. Runter vom Dach, durch das Treppenhaus. Vielleicht ein Hinterhalt? Er dürfte Sherlock nicht vorschicken, er würde es keinen Moment- 
 

Sein Gedankengang wurde jäh unterbrochen.
 

Sherlock presste die eigene Stirn gegen Johns und seine Daumen drückten gegen Johns Schläfen. Der Schmerz in seinem Kopf ebbte für einige wunderbare Momente ab und endlich, endlich lichtete sich der Schleier um seinen Verstand und die Rationalität orientierte sich neu. John verstand.
 

Posttraumatische Belastungsstörung. Ein Kriegs-Flashback.
 

Über ihnen erhellten Feuerwerkskörper den Himmel und jeder Knall schickte ein Zittern durch seinen zusammengekauerten Körper, weckte Erinnerungen an längst vergangene Kämpfe in einem weit entfernten Land. Es war sein erstes Feuerwerk, seit er aus Afghanistan zurück war. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, dass er so darauf reagieren würde. (War das normal? Er war eine tickende Zeitbombe, soviel stand fest! Was, wenn er in der Nähe anderer Menschen gewesen wäre? Oh Gott. Oh Gott.)
 

„Es ist okay“, murmelte Sherlock, keine Sekunde lang den Blick von ihm nehmend. Die Waffe entglitt Johns kraftlosen Händen. Er erinnerte sich nicht daran, sie Moriarty abgenommen zu haben. Geschweige denn, ihn erschossen zu haben. Oder die Waffe anschließend auf Sherlocks Kopf gerichtet zu haben.
 

Er hätte Sherlock erschießen können!
 

„Es tut mir leid“, flüsterte er und nichts in seiner Stimme kam ihm bekannt vor. Das war nicht John Watson. Da sprach ein Mann, der auseinander zu fallen drohte und der nur noch von einem Paar Hände an seinem Kopf zusammengehalten wurde. Er hob die Arme und legte die eigenen Hände auf Sherlocks. Ignorierte den gebrochenen Knochen. „Es tut mir leid. Es tut mir leid.“
 

Sherlock durfte ihn jetzt nicht loslassen.
 

Wieder und wieder explodierte der Himmel in neuen Lichtern. Johns Augen wussten nicht, wohin sie sehen sollten. Seine Ohren schmerzten. Zuviel Input. Es klang wie Bomben, Detonationen, Chaos, Zerstörung, Tod. Sein Verstand sagte ihm, dass davon keine Gefahr ausging, aber sein Körper und sämtliche Instinkte schrien ihn an, Deckung zu suchen und Sherlock zu beschützen.
 

„Sieh mich an, John.“ Er folgte der Aufforderung und fixierte Sherlock. Unter seinem Blick schien er neu zusammen gefügt zu werden, wie ein falsch gelöstes Puzzle. Er fühlte, wie sein Herzschlag sich etwas beruhigte und die Panikattacke ihn langsam aus ihren Klauen entließ.
 

Er wusste nicht, wie lange sie so voreinander hockten und wie oft Sherlock ihn daran erinnerte, den Blick nicht abzuwenden. Er wusste auch nicht wie oft er sich entschuldigte und was für Unsinn seinen Mund sonst noch verließ, doch irgendwann wurden die Explosionen über ihnen weniger und John schloss erschöpft die Augen. Ein feuchter Druck auf seinen Lippen gab ihm einen Anker, an den er sich dankbar klammerte.
 

Als die Polizei (Sekunden, Minuten, Stunden) später das Dach stürmte, kauerten sie noch immer auf dem Boden und John brauchte eine weitere Ewigkeit, ehe Sherlock gefahrlos die Hände sinken lassen konnte. 
 

Sie wurden nach unten begleitet, um sich medizinisch versorgen zu lassen. Während der Behandlung wich Sherlock nicht von Johns Seite. 
 

Lestrade würde später Folgendes in seinen Polizeibericht schreiben: J. Moriarty bedrohte J. Watson mit einer Waffe. Das Neujahresfeuerwerk überraschte beide Beteiligte und J. Watson versuchte, J. Moriarty zu überwältigen. In dem folgenden Handgemenge löste sich ein Schuss, der J. Moriarty tödlich traf.
 

Mit keinem Wort wurde erwähnt, dass die Waffe John Watson gehörte. Ebenso wenig stand in dem Bericht, dass die Hand des Schützen nicht gezittert hatte und dass die tödliche Kugel direkt in Moriartys Herz eingedrungen war.
 

[tbc]

Acv VI

Act VI
 

Wenn sie dachten, dass durch Moriartys Tod Ruhe einkehren würde, dann wurden sie früh eines Besseren belehrt. Am Nachmittag des ersten Januars fand die Polizei die übrigen zwei Vermissten tot am Ufer der Themse. 

John hätte sich diesen Tag lieber auf dem Sofa gewünscht, gemeinsam einer Folge Doctor Who oder einem James Bond Film, doch natürlich kam es nicht dazu. Stattdessen stand er mit eingegipster Hand und dicker Jacke neben Sally Donovan auf nassem Kies und beobachtete Sherlock dabei, wie er die Münder der angespülten, zusammengebundenen Toten untersuchte. John wollte nicht einmal genau wissen, wonach sein Mitbewohner suchte.
 

„Aha!“ Sherlock richtete sich auf. In seinen Händen hielt er ein zerknülltes Stück Papier. Lestrade beendete das Gespräch mit dem Beamten, der als Erster am Tatort gewesen war, und trat neben ihn. „Was steht drauf?“, hörte John ihn fragen.
 

„Wie geht es Ihrer Hand?“, suchte Sally sich diesen Moment für Small-Talk aus und auch wenn John es zu schätzen wusste, wollte er doch eigentlich nicht daran erinnert werden, dass er momentan in seiner Mobilität eingeschränkt war. (Ganz abgesehen von den anderen Dingen, um welche er derzeit gedanklich einen weiten Bogen machte. Seine Psychologin würde ihm zwar Verdrängung vorwerfen, aber John war vor zweieinhalb Monaten das letzte Mal bei ihr gewesen und würde bestimmt nicht heute damit anfangen, sich zu hinterfragen.)
 

„Doppelter Bruch des Mittelhandknochens, aber glücklicherweise ohne Fraktursplitter.“ Es war ein schwacher Trost, dass keine Schienen und Schrauben notwendig waren. „Vier Wochen mit Gips und danach kann ich mir Gedanken darüber machen, wieder Flexibilität in die Hand zu bekommen.“ Er war froh, dass es nicht seine Schusshand war, aber das sagte er Sally natürlich nicht.
 

„James Moriarty war ein kranker Mistkerl.“
 

Dieses Mal kam John nicht umhin, zu schmunzeln, denn Sally hatte die Worte so aufrichtig ausgesprochen, dass seine Sympathie für sie schlagartig um einige Prozentpunkte stieg. „Ja, das war er.“
 

Er betrachtete Sherlock und Lestrade, die aufeinander einredeten und bemerkte erst einige Sekunden später, dass Sally ihn noch immer von der Seite ansah. Er erwiderte den Blick fragend. Sie schien mit sich zu ringen, dann sagte sie: „Keiner von uns verurteilt Sie für das, was heute Nacht passiert ist.“
 

„Oh.“ Tatsächlich hatte er sich darüber noch keine Gedanken gemacht. (Schmerzmittel und weißes Rauschen hatten das zu verhindern gewusst. Darüber hinaus war er sich sicher, dass Sherlock den Rest der Nacht neben ihm auf dem Boden gesessen  und ihn beobachtet hatte, aber es war wieder eine andere Geschichte, wie John auf dem Boden gelandet war und daran wollte er nun wirklich nicht erinnert werden!)
 

„Danke ... nehme ich an.“
 

Es war tatsächlich seltsam, dass der Zwischenfall abgesehen von der kurzen Aussage vergangene Nacht im Krankenhaus bisher ohne Konsequenzen für ihn geblieben war. Er hatte einen Mann erschossen und selbst wenn es Notwehr war, blieb es doch bis zur Auswertung des Berichts nur seine Behauptung. Nach allem, was die Polizei wusste, hätte John Moriarty vorsätzlich erschießen können. Ganz abgesehen davon, dass die Waffe nicht wirklich legal gewesen war. (Vermutlich sollte er sich nicht zu früh freuen.)
 

„Dass Sie gleich wieder mit an den Tatort kommen“, fuhr Sally fort und John kam nicht umhin, sich zu fragen, ob sie sich um Mitternacht einen ganz besonders guten Vorsatz für das neue Jahr gefasst hatte, indem sie äußerst einfühlsam auftreten wollte, „ist beeindruckend. Aber wollen Sie nicht vielleicht etwas Urlaub?“
 

Urlaub. Das klang so surreal.
 

„Urlaub mit Sherlock Holmes?“, scherzte er und schüttelte den Kopf. Nur um zu realisieren, dass er automatisch Sherlock mit einbezogen hatte. Die bloße Vorstellung, alleine irgendwo anders als in London zu sein, verstärkte das stetige Pochen in seiner fixierten Hand. 
 

Dankenswerterweise ging Sally Donovan darauf dann doch nicht ein. Stattdessen sah John sie lächeln. „Ein dummer Vorschlag“, räumte sie ein, dann straffte sie ihre Haltung und verabschiedete sich von ihm. Sie musste noch die Aussage des Mannes aufnehmen, der die Leichen gefunden hatte.
 

John sah ihr nach.
 

„John.“ Sherlock stand neben ihm. Er besaß nach wie vor die unglaubliche Fähigkeit, einfach aufzutauchen, wie ein Phantom. Er zeigte ihm den Zettel.
 

Sherlock Holmes wird büßen.

„Also kein gemütlicher Abend heute?“
 

„Fünf Tote, vier Tatorte. Jeder von ihnen mit einem fehlenden Körperteil. Sebastian Moran ist noch immer auf freiem Fuß und hat keinen Vorgesetzten mehr.“
 

„Das kann gut und schlecht sein.“
 

Sherlock schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich gegen den kalten Wind zu schützen. (Und um besonders mysteriös auszusehen, wie John jedes Mal feststellte.) „Du solltest dir ein Taxi nehmen. Es bringt nichts, wenn du hier sinnlos rumstehst.“
 

Das war Sherlocks eigene Art, um ihm zu sagen: Hier wird es noch dauern und die Polizei wird ohne mich keinen Schritt weiter kommen. Du siehst müde aus. Ruh dich aus.

John schüttelte den Kopf. „Ich kann warten.“
 

In Wahrheit wollte er nicht alleine zurück in die Baker Street. Er befürchtete, dass die Wände anfangen würden, sich auf ihn zuzubewegen, wenn er sie zu lange anstarrte. Er hatte Angst vor der Reaktion seines Körpers auf die Geräusche des Fernsehers. Und dann war da die unausweichliche Stille. Das Ticken der Uhr. Das Tropfen des Wasserhahns.
 

Natürlich entging Sherlock all das nicht. Er wirkte, als wolle er etwas dazu sagen, doch John schien genug Signale zu versenden, dass hier weder der angebrachte Ort noch die richtige Zeit dafür war. Stattdessen sagte Sherlock: „Der Beamte dort hinten hat eine Thermoskanne mit Kaffee in seinem Streifenwagen. Sag ihm, Lestrade schickt dich.“ 
 

Dann wandte er sich ab und vertiefte sich wieder in seinen Ermittlungen. Es war der beruhigendste Anblick, den John sich wünschen konnte. Er lenkte ihn von den Erinnerungen an die vergangene Nacht ab, die noch immer am Rand seines Bewusstseins lauerten und darauf warteten, erneut durchlebt zu werden.
 

∼*∼
 

„Wie ... hast du mich gefunden?“

John hatte lange gebraucht, um seinen Körper dazu zu bringen, ihm einigermaßen zu gehorchen. Das eindeutigste Zeichen für seinen anhaltenden Kontrollverlust war wohl das Zittern, das ihn noch immer schüttelte.

Blaulicht erhellte ihre Gesichter. Polizisten hatten das Gebäude gestürmt und sie nach unten gebracht. Nun durchkämmten sie es nach weiteren Leuten von Moriarty. Natürlich würden sie nichts finden.

„Und wo zur Hölle bist du gewesen?“, fragte John und schlang die Schock-Decke enger um sich.

Ich habe gebettelt, dachte er. Und du hast nicht geantwortet.
 

Sherlock starrte ihn an. John konnte sich nicht daran erinnern, die letzten Minuten nicht Zentrum seiner Aufmerksamkeit gewesen zu sein. Normalerweise würde es ihm schmeicheln, aber er war müde, erschöpft, aufgewühlt und verdammt nochmal einfach nur verängstigt und konnte es demnach nicht wirklich wertschätzen.

Sherlock“, wiederholte er nachdrücklicher und das schien den gewünschten Effekt zu haben. „Ich habe dir bestimmt zehn SMS geschickt.“

„Mein Telefon liegt irgendwo in einem Hinterhof“, sagte Sherlock, als wäre das Rechtfertigung genug und griff nach Johns notdürftig bandagierter Hand. Sie warteten noch auf das Okay von Lestrade, dann würde man John ins Krankenhaus bringen. 

„Gewalteinwirkung auf den Handrücken“, murmelte Sherlock, während er mit den Fingern ungewöhnlich vorsichtig Johns Hand abtastete. Der Schmerz war mittlerweile nur noch ein dumpfes Pochen. Irgendeinen Vorteil musste die Kombination von Adrenalin und Schock ja haben. „Fraktur des Mittelhandknochens. Die Verfärbung der Haut um den Bruch lässt auf mehrfache Einwirkung schließen.“ Er hob den Blick und sah John direkt an. „Er ist dir auf die Hand getreten. Mehrmals.“

„Er hat seinen Frust an mir abgebaut“, bestätigte John und schürzte die Lippen. „Was hast du erwartet? Dass er mit mir Tee trinkt? Dass wir ein Pläuschchen halten. Oh, geredet hat er viel.“ Und wahrscheinlich konnte er froh darüber sein, denn er sähe vermutlich anders aus, wenn Moriarty sich nicht so gerne reden gehört hätte und stattdessen sofort zur Sache gekommen wäre. „Aber es waren nicht wirklich ansprechende Themen.“

Er schwieg einen Moment. „Wo bist du gewesen?“

Sherlock ließ seine Hand los und wirkte mit einem Mal überfordert.

„Er hat Sie gesucht, John.“ Damit hatte Mycroft sich ohne Ankündigung in das Gespräch eingeschaltet. 

∼*∼

„Es ist absolut nichts Persönliches, John. Aber wir sind dazu verpflichtet, dem Protokoll zu folgen.“
 

John nickte, während Lestrade sich ihm gegenüber an den Tisch setzte. Er hielt zwei Akten in der Hand und schlug die oberste auf.
 

Johns Puls beschleunigte sich, als er die Bilder vom Dach sah. Tatort, rief er sich in Erinnerungen. Es war ein Tatort. Und er war der Mörder. Wenn man es sachlich betrachtete; und genau das war die Aufgabe der Polizei. 
 

Es setzte seinem Gewissen nicht zu, dass er Moriarty umgebracht hatte. Viel schlimmer waren die fehlenden Erinnerungen an den Vorfall. Weder an den Moment, in dem er Moriarty die Waffe entrungen hatte. Noch an den Augenblick des Schusses.
 

Aber die Fakten waren klar: Er hatte einen Mann erschossen und selbst wenn es Notwehr war, blieb es doch bis zur Auswertung der Ermittlungen nur seine Behauptung. Ganz abgesehen davon, dass der Besitz der Waffe nicht als legal bezeichnet werden konnte.
 

Lestrade schob John eine Fotografie entgegen. Sie zeigte Jim Moriartys Gesicht, blass und leblos auf einem Obduktionstisch. (Ob Molly ihn obduziert hatte? Was es für ein Gefühl sein musste, dem Ex-Freund so wieder zu begegnen.) 
 

„Ist das der Mann, der Sie gestern Nacht bedroht hat?“
 

John nickte steif. 
 

Er versuchte zu ignorieren, dass die Wände des Verhörraums sich, wenn er sie nicht direkt ansah, zu bewegen schienen. Stress, rief er sich in Erinnerung. Kombiniert mit Schock. Irrational, würde Sherlock es nennen und John wiederholte das Wort wie ein Mantra, bis er sich einbildete, es zu glauben.
 

Irrational. Irrational.

„Kennen Sie seinen Namen?“, fragte Lestrade. Obwohl das Verhör aufgezeichnet wurde, machte er sich Notizen. 
 

„Jim Moriarty“, antwortete John und runzelte die Stirn. „Aber das sollten Sie doch mittlerweile rausgefunden haben.“
 

Als Lestrade den Blick hob, dämmerte ihm, dass dem eben nicht so war. Und seine Situation sah mit einem Mal ganz anders aus.
 

„Er taucht nicht in unserer Datenbank auf. Soweit wir das sehen, existiert Jim Moriarty nicht.“
 

Das war nicht gut.
 

„Und seine Fingerabdrücke?“, hakte John nach.
 

„Sind nicht verzeichnet. Nach unserem Kenntnisstand hat dieser Mann keine Identität.“
 

„Aber das ist Moriarty!“ John tippte mit dem Zeigefinger auf das Foto. „Er ist derjenige, der vor drei Monaten Menschen entführt und in Sprengstoffwesten gezwungen hat. Eine Frau ist dabei umgekommen. Schauen Sie in Ihre Berichte! Ich war der letzte in der Reihe und wäre ebenfalls beinahe drauf gegangen, wenn Sie sich erinnern. Dabei ist beinahe ein ganzes Schwimmbad zerstört worden!“
 

„Das wissen wir, John. Aber keines der Opfer hat seinen Entführer beschreiben können, ebenso wenig Sie. Nach Sherlocks und Ihrer Aussage trat Moriarty erst selbst in Erscheinung, als Sie die Weste bereits trugen. Es gibt demnach keine Zeugen dafür, dass er aktiv daran beteiligt war.“
 

„Und die Scharfschützen, die uns auf seinen Befehl hin beinahe erschossen hätten? Ich habe mir die Zielpunkte auf Sherlocks Stirn kaum eingebildet“, knurrte John, dem die Richtung des Gesprächs gar nicht gefiel. Er hatte doch angenommen, dass die Polizei weiter war oder vielleicht Mycroft sich in die Ermittlungen eingeschaltet hatte, damit die Sachlage geklärt war. Stattdessen war gar nichts klar. Nicht einmal Moriarty.
 

„Wir haben nicht mehr als Ihre Aussagen“, gestand Lestrade und eine Falte war auf seiner Stirn erschienen. „Damals gab es keine Aufzeichnung von Moriarty, wir sehen sein Gesicht heute also zum ersten Mal. Sind Sie sicher, dass dieser Mann der gleiche ist?“
 

John sah das Foto nicht noch einmal an. „Er ist es. Haben Sie Molly Hooper nicht befragt? Vor zwei Monaten war er ihr Freund, also wird sie ihn auch wieder erkennen. Er muss ihr doch einen Namen genannt haben oder hieß er für sie auch Moriarty?“
 

„Molly Hoopers Aussage zufolge nannte er sich James und arbeitete im IT-Bereich des Krankenhauses“, antwortete Lestrade, nachdem er durch sein Notizbuch geblättert hatte. „Die Spur führte ins Leere. Dieser Mann tauchte bis vor einem halben Jahr in keiner Datenbank auf.“
 

John lehnte sich zurück. Ein Nerv in seiner Schulter hatte vor wenigen Momenten begonnen zu zucken. Noch eine Stressreaktion. Er vermied es, an die Wände zu sehen. Auch die eine verspiegelte Scheibe setzte ihm zu und er wusste nicht einmal, warum genau.
 

„Wir haben es mit einem Phantom zu tun“, fasste Lestrade zusammen und ließ Stift und Block sinken, um John anzusehen. „Und haben neben den fünf entführten Toten nun eine weitere Leiche. Können Sie mir noch einmal den Hergang schildern, John?“
 

In knappen Sätzen wiederholte John die Worte aus der vergangenen Nacht. Er hatte sie Lestrade schon einmal erzählt, noch im Krankenhaus, kurz bevor sie sich ein Taxi zurück in die Baker Street genommen hatten. Aber auch daran erinnerte er sich nur Bruchstückhaft. Seit zwölf Uhr fehlten ihm Zeitabschnitte, die jedoch glücklicherweise seitdem immer kürzer geworden waren. Seit vier Stunden hatte er keinen Aussetzer mehr gehabt, was bedeutete, dass er aus dem Gröbsten raus war. 
 

(Was nicht bedeutete, dass es keine Art von Rückfall geben könnte, das wusste er, aber daran wollte er jetzt nicht denken.)
 

Lestrade nickte ermutigend und John war dankbar, dass niemand anderes ihn verhörte. Das Ganze war anstrengend genug. Lestrade war ein guter Polizist und würde John nicht gewaltsam zu etwas drängen. Er musste einfach dem Protokoll folgen (was die ganze Situation nicht weniger unangenehm machte, doch zumindest war sie nicht unerträglich).
 

Mittlerweile stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn. Sein Körper wehrte sich gegen die Rekapitulation. Als er mit seiner Schilderung an den Punkt gelangte, an dem er die Waffe auf Sherlock gerichtet haben musste, geriet er ins Stocken.
 

Der Inspektor warf einen flüchtigen Blick zur Seite und John wurde erst jetzt bewusst, dass hinter der verspiegelten Scheibe womöglich weitere Beamte standen. Sally Donnovan oder - ihm schauderte - Anderson. 
 

Wenigstens konnte es nicht Sherlock sein, denn dieser war vor einer Stunde vom Tatort verschwunden, um einem Hinweis zu folgen, den nur er gesehen haben konnte. Das machte er oft und John hatte es nicht einmal großartig gestört. Das hätte es eigentlich, wie ihm jetzt auffiel, denn Moran war noch dort draußen. Er hoffte, Mycroft hatte ein wachsames Auge auf seinen Bruder, solange John es nicht konnte. 
 

Lestrade räusperte sich. „Wollen Sie etwas trinken?“
 

John schüttelte den Kopf und biss die Zähne aufeinander. Zumindest behandelte Sherlock ihn nicht so, als würde er jeden Moment zerbrechen. Über diesen Punkt war er hinaus. (Ein Paar Hände, das ihn festhielt. Zusammenhielt. Sherlocks Blick, einem Anker gleich, der John erdete.)
 

Kurz nach Sherlocks Aufbruch hatte Lestrade John darauf hingewiesen, dass im Angesicht der vergangenen Nacht ein Verhör notwendig war, wobei es ratsam war, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ihm war bewusst, wie unwohl John sich dabei fühlen musste, daher die Eile, um es rasch abzuhaken. (Du hast ja keine Ahnung, hatte John gedacht, dann jedoch zugestimmt denn je eher er es hinter sich brachte, desto schneller konnte er es vergessen. Und überhaupt, was blieb ihm für eine Wahl? Hätte er Lestrade abgewiesen, wäre die Polizei vielleicht einen Tag später vorgefahren und hätte John aus der Baker Street abgeführt.)
 

Dass man John unter diesen Umständen überhaupt an den Tatort gelassen hatte, wunderte ihn rückblickend, aber vermutlich hatte er auch das dem Inspektor zu verdanken.  Dem Verhör zuzustimmen war das Mindeste, was er tun konnte.
 

Lestrade öffnete nun die zweite Akte. „Wir haben eine medizinische Zweitmeinung einholen lassen, nach der ein durch Geräusche und visuelle Eindrücke ausgelöster Flashback bei Personen, die unter PTBS leiden, nicht ungewöhnlich ist“, erklärte er mit neutraler Miene. „Auch wurde uns mitgeteilt, dass unter diesen Umständen nicht von Zurechnungsfähigkeit gesprochen werden kann. Wenn dann noch Notwehr hinzugenommen wird, ist die Straflage stark gemindert. Was jedoch die ganze Situation verkompliziert ist die Waffe“, fügte er hinzu und präsentierte ein Tatortfoto von der Pistole mit Maßeinheiten am Rand.
 

John schluckte, denn er hatte eine Ahnung, was nun kommen würde. Diese Waffe war der Polizei nicht unbekannt. 
 

„Die Kugeln im Magazin passen zu einer Kugel, die vor drei Monaten als Beweisstück bei einem anderen Mord sichergestellt wurde. Ein Mord, in den Sherlock Holmes involviert war. Sie erinnern sich an die scheinbare Selbstmordserie, die sich als Mordserie entpuppte?“
 

Wieder nickte John. 
 

„Der Täter wurde erschossen und der Schütze nie überführt. Auf der gestrigen Waffe wurden Ihre und Moriartys Fingerabdrücke nachgewiesen. Das hier sind Routinefragen, John, das müssen Sie verstehen, aber ich muss Sie fragen, ob Sie in irgendeiner Weise in den Mord des Taxifahrers verwickelt waren.“
 

Er wusste, dass er Probleme hatte. Genau genommen hatte er befürchtet, dass die ganzen Umstände seines ersten Falls mit Sherlock, der Studie in Pink, ihn irgendwann einholen würden.
 

Bevor er dazu kam, Lestrade zu antworten, wurden Stimmen im Gang vor dem Raum laut. Sie waren zunächst nur gedämpft zu hören, doch es war eindeutig, dass die Quelle sich auf sie zubewegte. Dann wurde die Tür unvermittelt aufgerissen und Sherlock Holmes stürmte in den Raum, dicht gefolgt von zwei Beamten, die nur mühsam mit ihm Schritt halten konnten. 

Sein Blick nahm die Situation auf und er erfasste die Sachlage in Sekunden. Was John am meisten verblüffte, war die ehrliche Wut auf Sherlocks Zügen, als er Lestrade fixierte. „Was fällt Ihnen ein?“ 
 

Er umrundete den Tisch und stellte sich neben John. Seine Haltung erinnerte an die eines Raubtiers, kurz vor dem Angriff. John starrte fasziniert zu ihm hoch.

„Ich folge nur dem Protokoll, Sherlock“, erwiderte Lestrade und erhob sich. Er wirkte nicht im Mindesten von Sherlock eingeschüchtert. Stattdessen straffte er sichtlich gereizt die Schultern und sah zu den Beamten an der Tür. „Ist es nicht Ihre Aufgabe, die Unterbrechung eines Verhörs zu verhindern?“
 

Der jüngere von beiden errötete und stammelte: „D-das haben wir versucht, Inspektor, aber -“
 

„Ich insistierte“, beendete Sherlock seinen Satz. „Nachdem ich herausfand, dass Sie John hinter meinem Rücken hierher gebracht haben.“
 

„Er ging aus freien Stücken mit. Niemand hat ihn gezwungen.“
 

Sherlocks Blick bohrte sich mit einem Mal in Johns und Finger pressten gegen seine Halsschlagader. „Puls beschleunigt, Pupillen verengt, schnelle, unregelmäßige Atmung und kalter Schweiß. Man muss kein Ermittler sein, um zu bemerken, dass dieser Mann noch immer unter Schock steht und körperlich nicht in der Verfassung für ein Verhör ist. Muss er erst eine Schock-Decke tragen, damit Sie es sehen?“
 

Lestrades Sicherheit geriet einen Moment lang ins Wanken. Sherlock stürzte sich darauf wie ein Bussard.
 

„Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als ihn die vergangene Nacht noch einmal durchleben zu lassen, nachdem er nicht einmal die Möglichkeit gehabt hat, das Geschehene zu verarbeiten? Äußerst professionell, Lestrade.“
 

„Die Situation ist kompliziert!“, protestierte dieser. „Wir haben sechs Tote und -“
 

„Einen abtrünnigen Soldaten auf freiem Fuß, der erwiesenermaßen ein Handlanger von Moriarty ist. Wäre es nicht logisch, zunächst dieser Spur zu folgen, bevor Sie haltlose Beschuldigungen aussprechen?“
 

John wollte Sherlock sagen, dass keine Beschuldigungen geäußert worden waren, doch eine flüchtige Bewegung der Hand an seinem Hals zerstreute sämtliche Gedanken. Er musste den Impuls unterdrücken, den Kopf zu neigen. Der direkte Kontakt mit Sherlock brachte für einige wunderbare Momente Ruhe in das Chaos seiner Gedanken und Erinnerungen.
 

„Ich müsste ihn vorläufig hier behalten“, begann Lestrade und man sah ihm deutlich an, dass er das nicht gerne sagte. John verspürte keinen Groll, vielmehr tat ihm der Inspektor leid. Lestrade und er hatten schon ein Bier zusammen getrunken und er konnte sich vorstellen, wie zwiespältig er dem gegenüber stehen musste.
 

Sherlocks Gesicht war ausdruckslos. „Inkorrekt. Es liegen keine eindeutig belastenden Beweise vor. John Watson wurde von einem Mann ohne Namen angegriffen und wehrte sich.“ Woher Sherlock wusste, dass Moriarty ein Phantom war? Was fragte John sich das überhaupt, Sherlock hatte es vermutlich vor ihnen allen gewusst „Er ist ein aufrichtiger Mann, der die Sicherheit anderer vor seine eigene stellt. Er diente für die Krone und das Land. Von ihm geht keine Gefahr aus, solange sein Leben nicht mit niederen Absichten bedroht wird  - was auf siebenundachtzig Prozent von Londons Population zutrifft, wenn Sie es genau wissen wollen. Demnach können Sie ihn nicht hier festhalten.“
 

„Was ist mit der Waffe?“
 

Ein scharfer Zug war auf Sherlocks Stirn erschienen. „ Alles, was Sie bisher haben sind Ergebnisse aus Schnelltests. Erst wenn Sie eindeutige Laborergebnisse vorlegen können, was eine Woche dauern kann - zehn Tage, wenn Anderson sie ausführt - ist die Waffe wieder von Relevanz. Bis dahin ist John Watson ein unbewaffneter Londoner Bürger.“
 

Lestrade und Sherlock starrten sich einige lange Sekunden an. Dann entspannte der Inspektor sich merklich und fuhr sich durch die Haare. Er sah müde aus, doch er nickte auf beinahe zufriedene Art. „Das sind gute Argumente. Überzeugend genug für meinen Vorgesetzten. John“, er hob hilflos die Hände, „Sie müssen verstehen, dass ich das hier nicht gerne gemacht habe. Sie sind ein guter Mann und haben uns nie das Gegenteil glauben lassen. Meine Abteilung und ich stehen hinter Ihnen.“
 

Und das schätzte John so sehr an Lestrade. Er machte keinen Hehl aus seiner eigenen Meinung, selbst wenn sie nicht der seiner Vorgesetzten entsprechen würde. John spürte, wie ein müdes Lächeln an seinem Mund zerrte.
 

„Danke, Lestrade. Darf ich jetzt gehen?“
 

„Wir fahren Sie nach Hause, John.“
 

„Unnötig, wir nehmen ein Taxi“, warf Sherlock dazwischen und zog John auf die Beine. Im ersten Moment fühlte er sich wackelig, doch der Griff um seinen Ellbogen stabilisierte ihn im entscheidenden Moment. Sherlock dirigierte ihn an Lestrade und den Beamten, die zur Seite traten, vorbei. „Inspektor.“

„Sherlock.“
 

John ließ sich schweigend nach draußen führen. Mit einem Funken Selbstzufriedenheit registrierte er, dass Sherlock seinen Arm nicht losließ, bis sie im Taxi saßen.
 

∼*∼
 

Sherlocks Blick war, gelinde ausgedrückt ,giftig‘. (John wäre sogar so weit gegangen, mörderisch zu sagen - das aber nur an einem anderen Tag und an einem anderen Ort.)

„Solltest du nicht deine Marionetten dirigieren, Mycroft?“

Der Schirm in Mycrofts rechter Hand wirkte - und daran hatte John sich mittlerweile zwar gewöhnt, kam jedoch nicht umhin, es zu bemerken - äußerst deplatziert, bot jedoch genau die richtige Ablenkung für seine Gedanken. Wenn er sich darauf konzentrierte, musste er sich nicht an Moriartys tote Augen erinnern. Oder an die Schreie, die ihm auch jetzt noch eine Gänsehaut bereiteten. Oder an das Blut.

„Mein lieber Bruder, glaube mir, dass auch ohne meine ständige Überwachung alles dem Protokoll entspricht.“

Die momentane Unsicherheit fiel von Sherlock ab und ein böses Lächeln umspielte seine Lippen. „Zwei deiner Spezialkräfte haben ein Verhältnis. Miteinander. Sie verrichten einen stümperhaften Job darin, es zu verschleiern. Sicherlich deckt sich das nicht mit dem Protokoll, Bruderherz, oder ist es dir etwa entgangen?“
 

Mycrofts Mundwinkel senkten sich momentan, dann schien er das Missfallen anstrengungslos abzulegen und richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen wieder auf John. „Hier geht es nicht um mich, Sherlock.“ Er ignorierte das abfällige Schnauben. „Hier geht es um Doktor Watson.“

„Das stimmt nicht“, protestierte dieser und zog die Decke enger um sich. Sie war das einzige, das ihn vor Mycrofts direkten, analytischen Blick abschirmte. „Hier ging es um Moriarty, der jetzt tot ist. Das einzige, was hier in unmittelbarer Zukunft noch gehen wird, bin ich. Und zwar nach Hause.“

Die Brüder wechselten einen Blick. Doch sie ließen ihm das schlechte Wortspiel kommentarlos durchgehen.

„Was ich eigentlich sagen wollte, John“, begann Mycroft schließlich und nahm den Regenschirm in die linke Hand, „ist, dass es einen gerechtfertigten Grund für Sherlocks Abwesenheit gibt. Und der beinhaltet - wie könnte es heute auch anders sein - ebenfalls Sie.“

„Aha.“ John sah zu Sherlock, der noch abzuwägen schien, ob er Mycroft weitersprechen lassen oder stattdessen lieber selbst das Wort ergreifen sollte. John war zu müde für diese Spielchen. 

„Aber wieso haben Sie mir nicht geantwortet, als ich dachte, Moriarty hätte Sherlock in seiner Gewalt? Sherlocks Handy liegt irgendwo in einem Hinterhof, das habe ich verstanden. Was ist Ihre Erklärung?“

Mycrofts Gesicht blieb unbewegt. „Ich möchte Sie nicht mit den Formalitäten eines offiziellen Staatsbesuchs langweilen, John. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich nahm es zur Kenntnis, wusste jedoch aus sicheren Quellen, dass die Information inkorrekt war.“

John machte einen Schritt auf ihn zu und registrierte, wie Sherlocks Gesichtszüge sich dabei interessiert erhellten. „Und Sie hielten es nicht für notwendig, mir das zu sagen, damit ich nicht in eine Fall laufe?“

„Ich nahm an, Sherlock kümmere sich darum.“

John verlor den kümmerlichen Rest Beherrschung und tat etwas, das unter normalen Umständen gar nicht seiner Art entsprach. Er packte Mycroft Holmes am Kragen und zog ihn zu sich. 

„Soll ich dir mal etwas sagen, Mycroft? Ich habe einen Mann von diesem Dach fallen sehen und hab geglaubt, es sei Sherlock. Ich hätte Moriarty beinahe vorsätzlich dafür zwischen die Augen geschossen, wenn er mich nicht aufgeklärt hätte. Nach meinem Aussetzer hätte ich Sherlock um Haaresbreite eine Kugel verpasst! Und du hattest nicht die drei Sekunden Zeit, die es gebraucht hätte, mich darüber zu informieren, dass dein Bruder putzmunter durch London tobt?!“

Im Nachhinein würde ihm einzig und allein der Umstand Genugtuung verschaffen, dass Mycroft einen Moment lang sprachlos war (denn stolz war er auf seinen Ausbruch keinesfalls). John ließ ihn los und trat zurück. Er würde sich nicht entschuldigen. Nicht heute Nacht. Vielleicht morgen. Er stand unter Schock, er durfte unüberlegt handeln.

Mycroft richtete sich den Kragen und ignorierte Sherlocks schadenfrohen Blick. (Einige Beamte, die überrascht inne gehalten hatten, beeilten sich, ihre Aufgaben fortzusetzen.) „Ich verstehe Ihren Ärger. Und ich wollte Sie damit keinesfalls in Rage bringen. Geschweige denn in diese Situation.“

„Rage?“ John hätte beinahe gelacht. „Ich bin nicht in Rage. Sherlock, sag deinem Bruder, dass ich nicht in Rage bin.“

„Sei nicht absurd, Mycroft. Muss ich dir die physischen Symptome einer akuten Belastungsreaktion etwa auflisten?“

„Ganz und gar nicht.“

„Wenn John in Rage wäre, würdest du es merken.“

„Ich nehme den Hinweis zur Kenntnis.“

„Was willst du dann noch hier?“, grollte Sherlock und trat zwischen sie. Somit konnte John nicht mehr sehen, als Sherlocks Rücken, und verpasste offensichtlich ein wichtiges Signal, denn aus seiner Perspektive fragte Mycroft unvermittelt:

„Wirklich, Sherlock?“ Er erhielt keine Antwort und fügte hinzu: „Willst du es Mummy mitteilen oder soll ich es tun? Nicht, dass sie es nicht selbst längst geahnt hätte.“

Verpiss dich, Mycroft.“ 

„Deine Wortwahl ist beschämend.“

Ein Sanitäter legte John eine Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, ihn zum Krankenwagen zu begleiten. John wollte die Nacht nicht in einem Krankenhaus verbringen müssen und schüttelte den Kopf.

„Sir, wir müssen Ihre Hand röntgen. Noch wissen wir nicht, wie kompliziert die Fraktur ist. Wenn wir sicher sind, dass ein Gips und eine Schiene reichen, können Sie gehen und müssen nicht über Nacht bleiben.

Seufzend gab John sich geschlagen. Vom medizinischen Standpunkt aus wusste er, dass der Mann recht hatte. Das machte die Kapitulation nicht angenehmer.

Aus den Augenwinkeln sah er Mycroft leise mit Sherlock reden, doch er verstand die Worte nicht. Anschließend trat der ältere Holmes zurück.

John wusste, dass es an diesem Tatort viel zu viel Interessantes für Sherlock gab (ganz vorneweg die Leiche von Moriarty), um ihn jetzt schon zu verlassen. „Ich komme später zur Baker Street“, verkündete er ihm daher und versuchte, nicht ganz so entkräftet zu klingen. Er hatte auch seinen Stolz. „Wenn man mich lässt. Sollte ich heute Nacht nicht zurückkommen, dann musste die Hand wohl doch operiert werden.“

Und dann beobachtete John ein ganz eigenartiges Schauspiel: Sherlock verzog bei seinen Worten den Mund und Mycroft gab ihm mit seinem Schirm einen schnellen Schlag von hinten gegen die Wade. John wollte diesen Anblick bereits als Sinnestäuschung abtun (immerhin stand er unter Schock und trug eine Schock-Decke, was ihm einen angemessenen Spielraum gab), doch Sherlock stieß Mycroft in diesem Moment den Ellbogen in die Seite und trat danach, als wäre nichts gewesen, neben John.

Auf seinem Gesicht lag ein ganz eigenartiger Ausdruck, während er nach Johns Arm griff und ihn zum Krankenwagen führte. Ein Blick zurück über die Schulter zeigte, wie Mycroft sich kopfschüttelnd, jedoch lächelnd abwandte. Scheinbar aus dem Nichts war Anthea hinter ihm aufgetaucht.

„Was war das?“, fragte John perplex.

„Ein brüderlicher Wink“, knurrte Sherlock und hakte seinen Arm jetzt ganz bei ihm ein. „Wieder tut Mycroft so, als wäre er um ein vielfaches schlauer. Dabei sieht er gar nichts.“

John nickte, obwohl er nicht das Geringste verstand. „Heißt das, du fährst mit ins Krankenhaus? Ich dachte, Krankenhäuser seien langweilig. Noch dazu mit dem Tatort hier als Alternative.“

Sherlock sah zu ihm hinab, als habe John gerade etwas besonders Falsches gesagt. „Was für eine Alternative?“, fragte er. „Moriarty ist tot und ich kenne bereits alle Fakten. Der letzte relevante Beweis ist sein Telefon, welches bereits von Lestrade aus meiner Reichweite geschafft wurde. Vor morgen werde ich keinen Zugriff darauf erhalten. Moran ist die letzte noch unbekannte Variabel und wenn er irgendwo ist, dann bestimmt nicht hier.“

Sie hatten den Krankenwagen erreicht und Sherlock half ihm hinein. Während John sich auf der Liege ausbreitete (und sich lächerlich vorkam, denn es ging hier nur um seine Hand, aber der einzig weitere freie Platz wurde von dem Sanitäter eingenommen), führte Sherlock seine Ausführungen fort:

„Er hat mich mit langweiligen, viel zu banalen Rätseln durch London geführt und ich habe zu spät erkannt, dass es nur Ablenkung war.“

Die Türen wurden zugeschlagen und der Krankenwagen setzte sich in Bewegung.

„Was meinte Mycroft damit, du hättest mich gesucht?“, fragte John schließlich, während der Sanitäter seine Vitalfunktionen überprüfte. 

Sherlock reagierte nicht auf die Frage und begann stattdessen, die Vorgehensweise des Sanitäters zu kritisieren. „Hat man Ihnen nicht gezeigt, wie man einen Puls richtig prüft?“

Und etwas später: „Bevor Sie sich falsche Angaben bezüglich seiner Statur machen, fragen Sie lieber mich. Wenn es nach Ihrer Auffassungsgabe geht, können wir ihn gleich als „durchschnittlich“ bezeichnen.“

John schloss lächelnd die Augen und ignorierte für den Moment, dass Sherlock seiner Frage bewusst ausgewichen war. Das konnte warten.

∼*∼

Mit einem Ächzen ließ John sich in seinen Sessel fallen, während Sherlock in der Küche rumorte.
 

Die Taxifahrt vom Tatort an der Themse war überwiegend schweigend verlaufen. Hin und wieder hatte John Sherlock etwas murmeln hören, aber die Worte waren unverständlich und meist zu leise gewesen, um den Kontext zu verstehen. (Lediglich Fragmente wie inkompetent und eklatant meinte er, herausgehört zu haben.)
 

Es mussten Minuten vergangen sein, denn es war Sherlock, der ihn aus seinen Gedanken riss, indem er eine dampfende Tasse vor John auf den Tisch stellte. ER blinzelte dreimal, ehe er die Erkenntnis akzeptierte, dass Sherlock ihm Tee gemacht hatte.
 

„Ist das dein Ernst?“, fragte er.
 

Anstatt ihm zu antworten oder sich auf das Sofa zu setzen, lief Sherlock unruhig auf und ab. Das war kein neuer Anblick, doch derzeit gab es keinen Anlass dazu. Es sei denn, der Brühvorgang des Tees hatte zu einer ganz besonders wichtigen Schlussfolgerung im Fall geführt. 
 

John griff nach der Tasse. „Danke“, sagte er und inhalierte das Aroma. Wie auf ein Kommando blieb Sherlock stehen.
 

„Wiederhol das.“
 

John runzelte die Stirn. Sherlock hasste unnötigen Wiederholungen.
 

Danke?“
 

Sherlock starrte ihn lange Momente an, dann gab er einen undefinierbaren Laut von sich, wirbelte herum und trat ans Fenster. John verstand gar nichts mehr.
 

„Was? Was ist los?“
 

Er erhielt keine Antwort.
 

„Sherlock. Würdest du die Güte besitzen, mich aufzuklären?“
 

„Nach allem, was passiert ist, fällt dir nichts Besseres ein, als dich zu bedanken?“
 

„Du hast mir Tee gemacht. Du machst nie Tee.“
 

„Eine Schock-Decke hatte ich nicht zur Hand. In emotional belastenden Situationen hilft ein heißes Getränk. Es war die nahe liegende Alternative.“
 

„Und ich darf mich nicht dafür bedanken, weil ...?“, hakte John nach.
 

Sherlock drehte sich zu ihm um. „Du hättest heute Nacht sterben können.“
 

Jetzt war John wieder mit Sherlock auf einer Höhe. Dies hier war das Gespräch, das sie vergangene Nacht nicht geführt hatten. Oder nach der Eskalation am Swimming Pool vor zwei Monaten. 
 

„Es ist nicht das erste Mal.“
 

Er hätte schon so oft sterben können. Und auch wenn es im Nachhinein eine erschreckende Erkenntnis sein müsste, so war das Überleben anderer in diesen Momenten doch immer vorrangig gewesen. Als Militärarzt war es seine Pflicht, Soldaten zu retten und sich in die Schussbahn zu stellen. Als Sherlocks Partner war seine Aufgabe im Prinzip die gleiche. Nur, dass es nicht mehr vorrangig aus Verpflichtung dem Land gegenüber geschah, sondern vielmehr aus einem aufrichtigen Verlangen heraus. 
 

Sherlock Holmes hatte sich in seinem Leben nie wirklich um sein eigenes Wohl gekümmert. Es war Johns Aufgabe, sich zu sorgen und zu beschützen. Und im Gegenzug gab Sherlock ihm dadurch wieder einen Zweck. Sie hatten sich auf ganz eigene Art, ohne es zu bemerken, gesucht und gefunden. 
 

Aber vielleicht steckte hinter Sherlocks Worten mehr, als John auf den ersten Blick sah. Denn es war auch nicht das erste Mal, dass seine Zusammenarbeit mit Sherlock ihn in Lebensgefahr gebracht hatte. Sie verfolgten immerhin Verbrecher und nicht jeder war nur ein Dieb oder ein Betrüger. Es waren auch Mörder dabei, die bereit waren, über weitere Leichen zu gehen, um dem Gefängnis zu entkommen.
 

„Du siehst es nicht, John. Du bist zu blind, um die Verbindung zu sehen. Warum warst du letzte Nacht auf dem Dach?“
 

„Weil ich dachte, Moriarty hätte dich in seiner Gewalt.“
 

„Ist das eine logische Handlung?“
 

„Ja.“ Er musste nicht einmal darüber nachdenken.
 

Sherlock deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Falsch, John. Logisch wäre gewesen, nachzudenken. Es war vollkommen unmöglich, dass Moriarty und ich am selben Ort waren. Es gab genug Indizien dafür, du hättest dir nur die Mühe machen müssen, sie zu beachten.“ 
 

Auch wenn Sherlock nur die Fakten darlegte, fühlte John sich beleidigt. Er griff nach seinem Handy und öffnete das Bild, welches Moriarty ihm geschickt hatte. „Und was ist damit?“
 

Sherlock betrachtete es ganze zwei Sekunden und richtete seinen Blick wieder auf John. „Wirklich? Das war für dich der ausschlaggebende Beweis? Selbst aus zwei Metern Entfernung sehe ich die Reflexionen des Swimmingpools. Darüber hinaus sind meine Haare auf dem Foto einen halben Zentimeter kürzer. Moriarty hat sich noch nicht einmal Mühe gegeben, dich zu täuschen und du bist enthusiastisch in seine Falle gelaufen, John. Das war einfältig.“ Er wandte sich ab.
 

John starrte lange auf seinen Hinterkopf, dann tat er zum zweiten Mal an diesem Tag etwas Unüberlegtes. Er holte aus und warf sein Handy quer durch den Raum. Es traf Sherlock am Rücken. (Genau dort, wo John es haben wollte.) Sherlocks Blick wanderte von dem Mobiltelefon am Boden hinauf in Johns Gesicht.
 

Dieser zitterte vor unterdrückter Wut. Am liebsten hätte er etwas zerbrochen und er musste sich zurückhalten, um Sherlock Holmes, unerträglichsten Idioten Londons, nicht zu packen und kräftig zu schütteln, bis er es endlich verstand.
 

„Du kapierst es nicht oder? Und das trotz deiner Genialität?“, fragte er und seine Stimme war ruhig. Er würde bald merken, wie lange er das durchhielt. „Dass es Moriarty nicht um mich, sondern um dich ging. Ich war nur ein Mittel zum Zweck, ich war nützlich und mein Tod sollte sein Meisterstück sein, um dich fallen zu sehen. Hier ging es nie um mich, Sherlock, sondern immer nur um dich. Und du denkst, ich schaue dabei zu? Soll ich teilnahmslos am Seitenrand stehen und dich anfeuern? Hältst du wirklich so wenig von mir?“
 

Er war aufgestanden und sah Sherlock herausfordernd an. 
 

„Hättest du an meiner Stelle gewartet?“ Er ließ Sherlock keine Zeit zu antworten. „Natürlich nicht. Sherlock Holmes arbeitet besser allein. Sherlock Holmes ist effizienter ohne Ballast. Entschuldige, dass ich mich kümmere, aber wenn es um dich geht dann -“

„John.“
 

Lass mich verdammt nochmal ausreden, Sherlock!“
 

Er holte zitternd Luft.
 

„Wenn es um dich geht, dann ist es mir egal, hörst du? Es ist mir egal, ob Moriarty mich von einem Dach springen sehen will, ob er mir die Hand bricht oder ob er mich in eine Weste mit Sprengstoff steckt. Das kümmert mich einen Dreck, wenn ich dadurch verhindern kann, dass er dir irgendwie nahe kommt. Wenn ich dich nicht beschützen kann, Sherlock, welchen Sinn habe ich dann noch?“
 

Es wäre ein passender Moment gewesen, um wieder unterbrochen zu werden. Sei es durch das Klingeln von Sherlocks Handy, Mrs Hudsons Schritte auf der Treppe oder irgendetwas Anderes. Doch dieses Mal war John Sherlocks uneingeschränkte Aufmerksamkeit gegönnt.
 

Dieser nahm ihn mit seinem Blick geradezu auseinander. „Emotionen?“, fragte er schließlich und dieses Mal lachte John wirklich, denn nach all seinen Worten brauchte Sherlock noch eine Bestätigung?!
 

„Ja, Sherlock. Emotionen. Haufenweise. Soll ich sie dir auflisten? Willst du mitschreiben? Ach, was sage ich, du kannst es dir ohnehin merken, denn du bist ja ein verdammtes Genie!“ John stieg über den flachen Wohnzimmertisch - wie Sherlock es schon so oft getan hatte. „Wut. Frustration. Entrüstung. Unglaube. Zorn. Erschöpfung. Kraftlosigkeit. Unsicherheit. Frustration.“ Mit jedem Wort war er näher getreten und stand nun unmittelbar vor dem Detektiv.
 

„Du hast Frustration doppelt genannt, John.“
 

„Ich bin auch doppelt frustriert, Sherlock.“ Er hob eine Hand und legte sie auf Sherlocks Schlüsselbein. Seine Fingerspitzen stahlen sich flüchtig unter den Kragen seines Hemdes und ertasteten blasse Haut. Sherlocks Atem beschleunigte sich kaum merklich. „Oh.“
 

„Du bist unmöglich. Und dieses Gespräch ist noch nicht vorbei.“ John zog die Hand ruckartig zurück und trat zurück. Als er wieder Abstand zwischen sie gebracht hatte, verschränkte er die Arme. (Es war ganz und gar nicht der richtige Zeitpunkt, um seine Hände in Sherlocks Locken vergraben zu wollen.)
 

„Also rede. Es stört dich, dass ich hätte sterben können. Was mich alles stört, sage ich erst gar nicht.“
 

„Wenn dich so viel stört, warum bist du dann noch hier?“, fragte Sherlock.
 

John erkannte eine bewusste Provokation, wenn man sie ihm ins Gesicht warf. „Obwohl sich das wohl viele fragen, steht es für mich nicht zur Debatte. Ich bleibe.“
 

„Vielleicht liegt da das Problem. Moriarty wäre gar nicht so weit gekommen, wenn es dich nicht gegeben hätte. Du bist ein Risiko für meine Ermittlungen.“
 

John war es leid. „Warum hast du mich bis jetzt noch nicht weggeschickt, Sherlock? Warum duldest du mich, während du alle anderen wegstößt?“ Er machte eine Pause. „Denk mal darüber nach, was du mir wirklich sagen willst.“
 

Damit drehte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. 
 

∼*∼

Es war die Nacht zuvor und John saß am Rand seines Betts, ignorierte die Schatten, die am Rande seines Sichtfelds lauerten und redete sich ein, dass alles in Ordnung war. Wenn er die Nachttischlampe ausschaltete, waren die Schemen an der Wand nicht ganz so bedrohlich.

Trotzdem waren seine Handflächen feucht.

Sobald er die Augen schloss, sah er die Bilder wieder. Sand, Blut und Moriartys totes Gesicht. Also behielt er sie offen. Und wenn er sich mit voller Aufmerksamkeit auf die vorbeiziehenden Autoscheinwerfer am Fenster konzentrierte, dann ließ sich alles ausblenden. Er begann seine Atemzüge zu zählen. Als das nicht mehr half, fixierte er den hellen Fleck auf seinem Oberschenkel. 

Im Krankenhaus hatte das Röntgen ergeben, dass die Fraktur glimpflich verlaufen war. Ein Gips und Ruhe würde es wieder richten. Ob Sherlock darauf unterschreiben würde, wenn John ihn darum bat? 

Irgendwo schlug eine Autotür zu. Ein Ruck ging durch Johns Körper und ehe er es wirklich realisieren konnte, hatte er sich auf den Boden geworfen und presste sich flach auf den Bauch.

Er schloss überfordert die Augen. 

Ein Laut verließ seine Kehle und er klang viel zu sehr nach einem trockenen Schluchzen, um von ihm zu stammen. Er presste die gesunde Faust gegen seinen Mund, während zurückgedrängte Bilder ihn schüttelten und der ganze Frust sowie sämtliche Angst des Abends sich entluden.

Irgendwann musste er so eingeschlafen sein. Er träumte von einer Hand auf seinem Kopf. Fingern an seiner Schläfe. Atem auf seiner Stirn.

∼*∼

Es war gerade einmal früher Abend und John sah es nicht ein, den Rest des Tages in seinem Zimmer zu verbringen, als würde er schmollen. Die Situation war verfahren. Es konnte so nicht weiter gehen. Wenn Sherlock etwas störte, musste er es sagen. Darüber hinaus besaß John nicht die Geduld, darauf zu warten, bis Sherlock von sich aus zu ihm kam. Bei dessen Dickköpfigkeit konnte sich das ewig hinziehen.
 

Er haderte lange mit sich, dann kehrte er zurück ins Wohnzimmer. 
 

Sherlock stand noch immer am Fenster, als hätte John die Unterhaltung nicht für eine halbe Stunde unterbrochen. John lehnte sich gegen den Türrahmen.
 

„Zu einem Ergebnis gekommen? Gibt es etwas, dass du mir sagen willst?“
 

Sherlock antwortete nicht, woraufhin John den Kopf schüttelte. „So geht das nicht weiter.“ Er brauchte frische Luft. Einmal um den Block war genug in seiner jetzigen Verfassung und er ging davon aus, dass Mycroft sie nach der vergangenen Nacht ohnehin dreimal so intensiv observieren ließ. 
 

Als er sich abwandte, machte Sherlock einen Schritt auf ihn zu und diese Reaktion, die beinahe so wirkte, als wolle er ihn aufhalten, ließ John verharren. 
 

„Eintausendvierhundertneun“, sagte Sherlock. Die Zahl schien aus seinem Mund zu stolpern.
 

„Was?“
 

„Es gibt eintausendvierhundertneun Dinge, die ich dir sagen will.“
 

John verschlug es die Sprache, doch Sherlock redete bereits weiter:
 

„Dass du mir nicht danken solltest, wo die Arbeit mit mir dich heute Nacht beinahe umgebracht hätte. Dass du offensichtliche Dinge aussprichst, die noch nicht einmal einer Äußerung bedürfen.“ John öffnete den Mund, doch er brachte keinen Laut zustande. Sherlock fuhr ohne Pause fort: „Dass du Anfängerfehler machst, die jeder Amateur vermeiden könnte. Dass deine Besorgnis um mich unlogisch und unangebracht ist, weil ich erwachsen bin und vor dir einunddreißig Jahre lang zurecht gekommen bin.
 

Dass du trotz deiner Schulter ein ausgezeichneter Schütze bist. Dass die Narbe aus Afghanistan knapp über deinem Schlüsselbein liegt, knapp eine Arterie verfehlt hat und dir an Tagen mit schlechtem Wetter besonders zusetzt, auch wenn du es dir nicht anmerken lassen willst. Dass du deinen Kaffee schwarz und ohne Zucker trinkst, in einen Tee aber ab und zu etwas von beidem hineintust, wenn du ihn genießen möchtest.
 

Dass du den Nervenkitzel des Krieges vermisst, aber die Erinnerungen an Afghanistan dir Albträume bereiten. Dass du Schuldgefühle hast, wenn Mrs Hudsons Hüfte ihr wieder zusetzt und du weißt, dass die Schmerzmittel, die du ihr gibst, nicht reichen, aber eine stärkere Dosis schlecht für ihre Gesundheit wäre. Dass du viel zu wenig auf deine eigene Sicherheit Rücksicht nimmst, wenn es um andere geht. 
 

Dass ich ganz am Anfang für einen Moment gedacht habe, Moriarty und ich seien gleich, bevor du mir gezeigt hast, wie unterschiedlich wir tatsächlich sind. Dass deine Erwartungen mich nicht beeinflussen sollten, es aber letztendlich doch tun, weil du der erste bist, der ohne eigennützige Gedanken an mich glaubt. Dass ich den Tatort heute Nacht mit dir verlassen habe, weil du das Wichtigste dort warst, obwohl dort so viele Beweise und Indizien lagen, die ich eigentlich hätte untersuchen müssen. Dass dein Verhör unangebracht und unlogisch war, weil du niemals jemanden grundlos erschießen würdest. Dass ich weiß, dass du mir niemals etwas antun würdest, es sei denn, es wäre zu meinem eigenen Wohl. 
 

Dass ich weiß, wie schlecht es dir heute Nacht allein ging und dass ich vor deiner Zimmertür gesessen und deinem Atem gelauscht habe, aber nicht eher hineinkommen konnte, bis du eingeschlafen warst. Dass deine Haare an der längsten drei Komma drei Zentimeter und an der kürzesten Stelle sechs Millimeter lang sind und sich weich zwischen meinen Fingern anfühlen. Dass all meine Schlussfolgerungen sagen, wie normal und gewöhnlich du sein solltest, aber dass du es nie versäumst, mich immer wieder zu überraschen, sobald ich meine, dich durchschaut zu haben. Dass mir das noch nie passiert ist. Dass du der erste bist. Dass du der einzige bist.
 

Das und eintausenddreihundertdreiundachtzig andere Dinge will ich dir sagen, John.“
 

John lehnte längst nicht mehr am Türrahmen. Er versuchte vielmehr, sich an ihm festzuhalten. „Sherlock“, murmelte er und wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Nach all diesen Worten, all diesen Wahrheiten, hatte er keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Jedes weitere Wort schien unangebracht. „Sherlock ich-“
 

„Ich auch, John.“
 

Er schüttelte den Kopf, denn warum war seine Kehle wie zugeschnürt und warum brannten seine Augen und verdammt, er dachte, er hätte es unter Kontrolle!
 

Sein schlechtes Bein gab nach und er rutschte an der Tür hinab. Sämtlicher Stress, sämtliche Ängste entluden sich in diesem Moment und Sherlock war da, wie in der letzten Nacht. Sherlock kniete vor ihm und hielt sein Gesicht in den Händen, während John ihm mit zitternder Stimme erzählte, welche Angst er um ihn gehabt hatte. Wie viel Hass er empfunden hatte, als er geglaubt hatte, Moriarty hätte Sherlock vom Dach gestoßen. Dass er es nicht bereute, Moriarty getötet zu haben, aber dass es ihn verrückt machte, nicht gemerkt zu haben, was mit ihm geschah. Wie groß der Schrecken war, am Ende Sherlock beinahe etwas angetan zu haben.
 

Er erzählte, wie das Verhör von Lestrade ihm klar gemacht hatte, dass Moriartys Plan mit seinem Tod nicht endete und wie viel Angst er davor hatte, dass Moran seine Drohung wahr machte und sich an Sherlock rächte.
 

Als all das von seinen Lippen gefallen war, griff er nach Sherlocks Händen und sagte gar nichts mehr, denn nach all den Sätzen und Worten war sein Kopf leer und mit einem Mal erschien ihm alles weniger bedrohlich. Sie waren zuhause und Sherlock war da. Sie hatten die letzte Nacht überlebt - sie hatten Moriarty überlebt - und würden auch den kommenden Morgen miterleben.
 

Johns Albträume würden nicht verschwinden, aber sie würden mit der Zeit abnehmen und wenn nötig würde Sherlock sich neben ihn legen. Er würde ihn beobachten, damit er ermitteln konnte, wann sich ein Albtraum ankündigte, um ihn gleich zu unterbinden. Und er hatte bereits Hinweise, die sie zu Moran führen würden. Er war da. Er würde John jetzt nicht loslassen. Er war da. John. John
 

Dann wurde ihm klar, dass dies Sherlocks Worte waren. Worte, die der Detektiv gegen seinen Nacken murmelte. John schloss die Augen und lehnte sich gegen den anderen Körper.
 

Wie lange sie dort saßen und einander schließlich beim Schweigen zuhörten, wusste John nicht. Was er wusste war, dass er sich zum ersten Mal seit mehr als vierundzwanzig Stunden wieder lebendig fühlte. Dreieinhalb Monate nachdem von den zitternden Lippen eines sterbenden Taxifahrers ein Name gefallen war, ließ der Schatten Moriartys sie endlich los und John hatte wieder Luft zum Atmen. 
 

Und auf dem Boden der Baker Street Nummer 221B kauernd murmelte er „danke“, denn ohne Sherlock hätte er die Zeit nach Afghanistan nicht überlebt und die Bedrohung durch Moriarty nicht ertragen und nicht erkannt, wie erfüllt sein Leben durch den einzigen Consulting Detective überhaupt sein konnte.
 

Sherlock antwortete nicht, aber John spürte das selbstzufriedene Lächeln gegen seinen Hals nichtsdestotrotz. Ohne etwas zu sagen, hatte Sherlock den Dank erwidert.
 

[tbc]

Act VII

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Act VIII

Act VIII
 

Noch am gleichen Abend erhielten sie Besuch von Lestrade. Sein Gesichtsausdruck war ernst und eine ungewohnte Schwere lag in seinem Gang. Er lehnte den Tee ab und setzte sich auch nicht. Stattdessen vergrub er die Hände in seinem Wintermantel und zog die Schultern hoch.

„Ein Polizist wurde vor einer halben Stunde erschossen.“

John öffnete den Mund, doch Lestrade kam ihm zuvor: „Nicht aus meiner Einheit. Streifendienst. Eine Seitenstraße bei Norbury. Die Mordwaffe war ein Scharfschützengewehr.“

„Moran.“

Lestrade sah müde aus. John fragte sich, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. „Ein Schuss aus großer Distanz direkt in den Kopf. Unmittelbarer Tod. Der Polizist war 24, hat dieses Jahr erst die Polizeiakademie abgeschlossen. Noch ein verdammtes Kind.“ Er strich sich durch die Haare.

„Moran langweilt sich“, sagte Sherlock vom Sofa aus. Er stand auf und trat ans Fenster. John war froh, dass er mittlerweile eine Hose und ein Hemd trug. Das Bettlaken hätte der Situation etwas von ihrer Ernsthaftigkeit genommen. „Er ist es leid, zu warten. Scotland Yard ist ihm zu langsam und ich habe bis auf ein paar Treffen mit Informanten noch nicht aktiv nach ihm gesucht.“

„Langeweile?“, wiederholte Lestrade und verzog den Mund. „Dieser Bastard.“

„Er wird weitere Unbeteiligte ermorden.“ Sherlock drehte sich zu ihnen um. „Wenn daraufhin noch immer keine Reaktion erfolgt, wird er die Beherrschung verlieren. Sobald er diesen Zustand erreicht, ist er unberechenbar.“

„Das ist er jetzt nicht?“

Sherlock schnaubte. „Ich bitte Sie, Lestrade.“ Das Ausbleiben einer Erwiderung schien ihn zu frustrieren. „Sehen Sie es denn nicht? All die letzten Morde, die er verübt hat, waren kein spontaner Kontrollverlust. Das waren kaltblütige, strukturierte Tötungen. Exekutionen. Moran ist ein Kontrollfanatiker mit einer kurzen Geduldsspanne. Solange er sich innerhalb seiner Konditionsgrenzen bewegt, ist er ein berechenbarer Killer. Wird seine Ausdauer überschritten, steigt der Kollateralschaden exponentiell.“

„Warum suchen wir ihn dann nicht schon längst?“, fragte John, der sich mittlerweile dafür schämte, den letzten Tag so sinnlos verbracht zu haben, während Menschen starben.

„Weil das direkt in seine Hand spielen würde. Denkst du, er beobachtet uns nicht?“

„Was ist mit Mycroft?“

„Mycroft ist nur so nützlich wie seine Männer. Sie geben gute Zielscheiben ab, so wie ganz Scotland Yard.“

Niemand sagte etwas. Lestrade wirkte, als könne er sich nur mit Mühe beherrschen. Sherlock suchte Johns Blick. „Nicht gut?“

John hatte die Lippen geschürzt und schüttelte den Kopf. „Unangebracht.“

„Es liegt nur daran, dass ihr es nicht seht!“, protestierte Sherlock und warf die Hände in die Luft. Lestrade ballte die Fäuste.

Was, Sherlock?“

„Das ist ein Spiel für ihn! Er sieht die Menschen als Teil seines Plans, sie sind ihm gleichgültig. Es kümmert ihn nicht, ob sie leben oder sterben. Bisher hat er Moriartys Befehle ausgeführt, aber nun, wo Moriarty tot ist, gibt es keine Kraft mehr, die Moran zurückhält.“

„Moriarty hat Moran zurückgehalten?“, echote Lestrade ungläubig.

„Jim Moriarty lieferte Sebastian Moran die Zerstreuung, die er nach seiner unehrenhaften Entlassung suchte. Wäre er nicht gewesen, hätte nichts Moran davon abgehalten, seine Waffe zu nehmen und mitten auf dem Picadilly Circus, im Regens Park oder wo-auch-immer ein Massaker anzurichten, bevor er von der Polizei erschossen worden wäre.“

„Sollen wir Moriarty dafür jetzt dankbar sein?“

„Darum geht es nicht.“

„Worum geht es dann, Sherlock?“, fragte Lestrade. Seine Stimme bebte vor Ungeduld. „Wir haben vier Leichen und einen toten Polizisten. Meine Vorgesetzten wollen den Mörder in Gewahrsam wissen. Allein dass ich jetzt hier bin, verstößt gegen sämtliche Vorschriften. Wenn Sie mir nicht helfen können, sagen Sie es mir und ich gehe.“

„Ihr hört mir einfach nicht zu! Ich habe es euch eben präsentiert. Die einzige Möglichkeit, Moran aufzuhalten. Wie schafft es euer Verstand nur, in dem Tempo zu arbeiten?“ Er schüttelte den Kopf. „Suicide by Cop.“

„Suicide by Cop? Sollen wir weitere Polizisten riskieren?“

„Keine Polizisten.“ John dämmerte, worauf Sherlock hinaus wollte. „Ich brauche eine Polizeiuniform.“

„Zwei“, fügte John hinzu und ignorierte Sherlocks entrüsteten Blick.

Lestrade blickte zwischen ihnen hin und her und lachte erschöpft. „Ganz langsam. Wollt ihr mir ...“ Er unterbrach sich und richtete sich an Sherlock. „Wollen Sie mir damit sagen, dass ich Ihnen eine Polizeiuniform überlassen soll?“

„Und eine Dienstwaffe.“

„Damit Sie was machen kannst?“

„Moran erschießen. Offenkundig.“

Lestrade suchte Johns Blick, als bräuchte er Bestätigung. John konnte nicht mehr tun, als mit den Schultern zu zucken. „Seine Worte. Er meint es ernst.“

„Ich fange gar nicht davon an, wie illegal das alles ist“, begann Lestrade fassungslos und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „Mal ganz abgesehen davon, dass Sie von mir verlangen, einen Mord zu autorisieren. Während gegen John noch ermittelt wird.“

„Kein Mord“, widersprach Sherlock und verdrehte die Augen. „Suicide by Cop.“

Mord, Sherlock. Sie sind keinPolizist.“

Sherlock sagte einige Sekunden lang gar nichts. „Innerhalb der nächsten Stunde wird ein weiterer Polizist sterben. Keine Streife, sondern ein höherer Beamter.“

Der Inspektor schien mit sich zu ringen und kam schließlich zu einem Entschluss. „Nein, Sherlock. Das kann ich nicht verantworten. Keine Uniform und keine Waffe.“

„Es sind Ihre Männer“, erwiderte Sherlock und wandte sich ab. Lestrade starrte auf seinen Rücken, bevor er sich wortlos umdrehte und das Appartement verließ. Sekunden später fiel die Tür unten zu.

„Was bezweckst du damit, Sherlock?“, fragte John und trat neben ihn. Sie beobachteten, wie Lestrade Donovan, welche unten gewartet hatte, etwas sagte und einstieg. Das Blaulicht ging an und sie fuhren los. „Du hast ihn bewusst provoziert.“

„Aufmerksam, John. Wann hast du es gemerkt?“

„Du dachtest, Lestrade würde deinen Plan durchschauen, als ich eine zweite Uniform verlangt habe.“

„Fordert man zu viel, wird er misstrauisch.“

„Nicht in diesem Fall.“ John sah Sherlock direkt an. „Er weiß, dass ich es erst meine. Ich würde dich nicht allein gehen lassen.“

„Du bist verletzt.“

„Verletzt, aber nicht nutzlos. Vergiss nicht, dass du es bei Moran mit einem ausgebildeten Soldaten zu tun hast.“

„Hm.“

„Was hast du jetzt vor?“

„Wir warten.“

„Was ist mit dem Polizist, der in der nächsten Stunde sterben wird?“

„Das ist nicht unser Problem.“

Ein heißes Stück Eisen legte sich in Johns Magen. „Sherlock!“

„Es ist die Aufgabe der Polizei, ihre Männer zu beschützen, John. Ich kann nicht sagen, wo Moran sein wird, ehe ich nicht die letzte Information habe, die ich brauche.“

„Vielleicht können wir es beschleunigen? Nenn mir den Informanten und wir suchen ihn sofort.“ John ging zum Schreibtisch und griff nach Stift und Zettel. Sherlock beobachtete ihn dabei. Sein Mund war zu einer unzufriedenen Linie verzogen.

„John.“


„Nein, Sherlock. Da draußen sterben Unschuldige, während wir warten und nichts tun. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Moran rechtzeitig zu finden und -“

„Und was? Willst du ihm direkt vor die Waffe laufen und es ihm noch leichter machen?“ Sherlocks Stimme war voller Herablassung. „Willst du ihm die Arbeit abnehmen, zu uns zu kommen, und dich ihm schlachtwillig präsentieren?“

„Besser, als nichts zu tun“, knurrte John, dessen Wut mit jedem weiteren Satz von Sherlock zunahm. „Besser als hier zu stehen und so zu tun, alles zu durchschauen und jedem überlegen zu sein.“

Sherlock verengte die Augen. „Wie herrlich muss es sein. So wenig zu wissen und dennoch zu glauben, alles zu verstehen.“

John ließ den Stift fallen. „Ich kümmere mich einfach, Sherlock.“

„Dumm.“ Sherlock trat an ihn heran und griff von hinten in Johns Haare, zog seinen Kopf in den Nacken, sodass er gezwungen war, zu Sherlock hochzusehen. Mit seiner freien Hand strich er John über die Kehle. „Und naiv. Wieso habe ich das nur übersehen? Ich dachte, diese Diskussion hätten wir hinter uns.“

John biss sich auf die Lippen und riss sich los. Wie gerne er Sherlock in diesem Moment einen mit der Faust verpasst hätte, um wieder Vernunft in sein Verhalten zu bringen. Seine Hand war vollkommen ruhig, John kannte die Anzeichen. Er musste hier raus. 
Ohne Sherlock eines weiteren Blickes zu würdigen stürmte er an ihm vorbei zur Tür.

„Wenn du es nicht tust, dann suche ich eben nach Moran.“

„Tu das. Richte ihm meine Grüße aus, wenn du ihn findest.“ Seine Stimme war voller Hohn und John schlug die Tür lauter als notwendig hinter sich zu.

Am Fuß der Treppe wartete Mrs Hudson. Sie trug ihr feinstes Kleid und schien ausgehen zu wollen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und musterte ihn besorgt.

John schloss für einen Moment die Augen, um nicht vor Wut zu schreien. Mrs Hudson war die allerletzte Person, die seinen Zorn verdient hatte.

„Nur eine Meinungsverschiedenheit.“

„Oje.“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm und lächelte fürsorglich. „Wollen Sie einen Tee und darüber reden?“

„Ist schon gut. Sie wollen ausgehen?“

„Oh.“ Sie blickte an sich hinab und errötete. „Nun Lionel aus dem Laden hat mich zu einem Essen eingeladen. Aus heiterem Himmel, können Sie sich das vorstellen? Ich meine, es ist nicht so, dass es keine Anzeichen gab, aber er war bisher immer so schüchtern, verstehen Sie? Ich rechnete kaum noch damit. Ich komme auf meine alten Tage viel zu selten aus dem Haus.“

Er lächelte und hoffte, dass es nicht ganz so verzerrt aussah. „Das ist schön, Mrs Hudson. Genießen Sie Ihren Abend. Ich brauche nur ein wenig frische Luft“, fügte er angesichts ihres besorgten Blickes hinzu.

Er verabschiedete sich und verließ das Haus. Er drehte sich nicht noch einmal um, als er nach rechts bog.

Je länger er lief, desto bewusster wurde ihm, dass er nicht wusste, wohin. Er kannte einige Anlaufstellen von Sherlock, aber er war sich sicher, dass spezielle Informanten gemeint waren, denen er noch nie zuvor begegnet war. Wie sollte er wissen, wo man sie fand?

Nachdem er fünfzehn Minuten planlos umhergelaufen war, blieb er stehen. Er stand vor einem Laden für Versicherungen. An der nächsten Straßenecke in zwanzig Metern Entfernung sah er, wie eine Kamera sich auf ihn richtete.

Irgendetwas störte John.

Er setzte sich langsam wieder in Bewegung und wurde das nagende Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben. Wusste er vielleicht schon, wo er Moran fand?

Er brauchte weitere fünf Minuten, bevor die Erkenntnis sich wie eine Schlinge um seinen Hals legte.

Denkst du, er beobachtet uns nicht?, hörte er Sherlock sagen und direkt danach: Ich dachte, diese Diskussion hätten wir hinter uns.

Er erinnerte sich an Mrs Hudsons Worte: Aus heiterem Himmel, können Sie sich das vorstellen?

Gleich darauf an sich selbst: Er weiß, dass ich es ernst meine. Ich würde dich nicht allein gehen lassen.

Sein Gang verlor an Sicherheit und John blieb stehen. Einige Passanten auf der anderen Straßenseite starrten ihn irritiert an, als er fluchte und auf dem Absatz kehrt machte. Er hatte es schon wieder getan! „Verdammt, Sherlock!“ Er rannte los.

John war außer Atem, als er zurück in die Baker Street bog. Er machte jedoch nicht Halt, um Luft zu holen, sondern joggte quer über die Straße.

Die Vorhänge zum Wohnzimmer waren zugezogen. Sein Magen zog sich zusammen. Als er die Wohnung verlassen hatte, waren sie definitiv noch offen gewesen.

Es war klar, dass es Moran - sollte er tatsächlich bei Sherlock in der Wohnung sein - Johns Ankunft nicht entgehen würde. Er versuchte dennoch, so leise wie möglich zu sein, als er die Tür zu Nummer 221B aufschloss. Auf jedes Geräusch bedacht, schloss er sie wieder hinter sich.

Von oben waren weder Schritte noch Stimmen zu hören. Wenn er sich leise verhielt, dann könnte er in Mrs Hudsons Wohnung und eines ihrer Küchenmesser als Waffe verwenden. Doch ihre Tür war ein Risiko, da John sie oft genug knarren gehört hatte.

Noch immer war von oben nichts zu hören.

Er wusste, dass Adrenalin durch seinen Körper pulsierte. Als Arzt kannte er die Begleiterscheinungen: Verbesserte Sicht, optimiertes Hörvermögen. Als ehemaliger Soldat und mit Sherlock als Partner und Freund war Adrenalin nicht fremd. Er begrüßte es, doch die Erkenntnis, zu welcher er in diesen Sekunden kam, war alles andere als erfreulich.

Es schien, als wäre niemand im Haus.

Er wusste, dass seine Tarnung auffliegen würde, sobald er begann, die Stufen zu erklimmen. Es war zwar möglich, das Knarren der vierten und siebten zu vermeiden, wenn er etwa die Hälfte seines Gewichts auf das Geländer umlenkte, aber die neunte (Komma) zehnte und elfte Stufe stellten das eigentliche Problem dar, da sie bei John immer knarrten. Und seine Beine waren nicht lang genug, um alle drei zu überspringen, ohne weiteren Lärm zu verursachen.

Sämtliche Überlegungen wurden unterbrochen, als oben im Appartement ein Handy zu klingeln begann. Die Melodie erfüllte den Flur und noch immer vernahm er kein weiteres Lebenszeichen.

Er fasste einen Entschluss und nahm zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen schlug er die Tür zur Wohnung auf und stürmte in ein verlassenes Appartement.

Das Handy klingelte noch immer, aber John nahm es gar nicht wahr. Sein Blick war auf einen Blutfleck geheftet, der sich vor ihm auf dem Teppich ausbreitete.
 

~*~
 

Ruhe. Ruhe, John. Konzentrier dich.

Er zwang sich dazu, gleichmäßig weiter zu atmen und ignorierte die Stimme, die immerzu Sherlocks Namen wiederholte. Hysterie war jetzt unangebracht. Er musste funktionieren und dafür musste er klar denken, verdammt!

„Es kann ein Trick sein“, murmelte er und beugte sich vor. Strich mit dem Zeigefinger über den eingeweichten Teppich und betrachtete die Verfärbung seiner Fingerkuppe. Er hatte die Wohnung vor einer halben Stunde verlassen. Das Blut war noch warm. Keine zehn Minuten alt.

Zehn Minuten.

Wenn ich es nur eher erkannt hätte! Er trat den Gedanken beiseite und begann, den Raum zu untersuchen. Keine Einschusslöcher in der Wand oder im Boden. Auch nicht in den Möbeln, soweit er das sehen konnte. Darüber hinaus keine Spur einer Patronenhülse. Entweder stammte das Blut nicht von einer Schussverletzung oder die Kugel war nicht durchgegangen und -

Einen Moment lang drohte die Panik übermächtig zu werden. Genauso schnell hatte John sich wieder unter Kontrolle und entkrampfte seine Hände, die sich zu Fäusten geballt hatten.

Einer Eingebung folgend kehrte er in die Küche zurück und fand Sherlocks Handy neben dem hinteren Tischbein auf dem Boden. Neue Kratzer zierten das Display. Es mochte durch oder nach einem Kampf dorthin gefallen sein, aber abgesehen davon waren kaum Kampfspuren im Appartement. Ein Sessel war verrückt worden, Bücher lagen um das Sofa herum auf dem Boden, Scherben waren neben der Tür verteilt und - John schluckte - der fürchterliche Blutfleck von der Größe einer Faust verfärbte den Teppich.

Er registrierte, dass seine Hand zitterte, während er das Handy entsperrte. Offenbar zeichnete es noch den Ton auf. John beendete die Aufnahme und atmete konzentriert ein und aus, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Sherlock, dieser sture Dickkopf. Das war seine Nachricht an John. Natürlich war er auch im Angesicht von Moran rational geblieben.

Er begann, die Aufzeichnung abzuspielen.

Ein Knall und Schaben. Sherlock hatte das Telefon dorthin geworfen, wo John es gefunden hatte. Als Nächstes hörte er schwere Schritte. Armeestiefel. Er kannte den Klang und das Gefühl der Schuhe an den eigenen Füßen.

„Moran. Drei Minuten später als erwartet.“

„Holmes.“ Zum ersten Mal hörte er Sebastian Morans Stimme. Sie brannte sich ihm ins Gedächtnis und John richtete alle Wut, allen Ärger auf diese Stimme und diesen Mann. „Kein kluger Zug, den Doktor weg zu schicken.“

„Oh, es war ein äußerst durchdachter Zug. Aber ich erwarte nicht, dass du meinen Gedankengängen folgen kannst.“

„So arrogant.“ Das Klicken einer entsicherten Waffe war John so vertraut, wie der eigene Herzschlag. „Bin gespannt, wie du dich aus dieser Situation herausredest.“

Herausreden.“

„Ja, Holmes. So, wie du es immer tust. Darin bist du doch unschlagbar. Reden. Ermitteln. Erkennen.“ Ein abfälliger Laut. „Versuch es.“

Wieder waren Schritte zu hören. John zweifelte keinen Moment daran, dass Sherlock sich Moran genähert hatte. Er kannte den Consulting Detective gut genug, um zu wissen, dass dieser sich durch eine auf ihn gerichtete Waffe nicht aus der Ruhe bringen ließ.

„Maximal dreieinhalb Stunden Schlaf innerhalb der letzten vier Tage. Kein permanenter Aufenthaltsort. Spuren von Kalk und Schotter an den Stiefeln, dazu Reste von Bauschutt und Kies, wie man ihn an der Themse findet. Ein Blick genügt und ich kann aufzählen, wo du innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden gewesen bist.“ Eine kurze Pause, schließlich fügte Sherlock mit einem selbstzufriedenen Ton hinzu: „Und, was du gegessen hast.“

„Beeindruckend.“ Morans Stimme sagte das genaue Gegenteil. „Und so vorhersehbar.“ Sherlock schwieg.

„Dachtest du, Jim hätte mir nicht von dir erzählt, Sherlock Holmes? Davon, dass du es nicht lassen kannst, zu prahlen? Der Welt zu beweisen, wie schlau und überlegen du doch bist? Du kannst mich nicht überraschen.“

„Tatsächlich?“ Johns Nackenhaare stellten sich auf. Er kannte den Tonfall. Er bedeutete, dass Sherlock im Begriff war, etwas außerordentlich Riskantes zu tun. „Auch nicht, wenn ich dir sage, dass deine Fixierung auf Jim Moriarty obsessive Züge hat. Dass du seit seinem Tod das Gefühl hast, herumzuirren, ohne Aufgabe und Zweck. Dass du dich langweilst.“

Morans Stimme verlor etwas von ihrer Fassung. „Denkst du, es wäre so leicht?“ „Oh, ich weiß es, Moran.“

Dann hörte er einen Knall und ein Scheppern. Johns Blick wanderte zu den verteilten Büchern am Fenster und den Scherben neben der Tür. Sherlock hatte den Stapel umgeworfen, um Moran zu irritieren und danach mit der Vase aus dem Piccadilly-Penny- Fall nach ihm geworfen.

John rechnete mit dem Schuss, der Kugel, die ihm vielleicht alles nehmen würde, aber sie blieb aus. Stattdessen hörte er das Keuchen beider Männer, ein Knurren und das Schaben von im Kampf verrückten Möbeln. Anschließend ein dumpfer Aufprall und Stille.

John hielt den Atem an.
Er hörte Sherlock stöhnen und atmete zitternd aus.
Morans Stimme war etwas außer Atem, aber viel zu gefasst. „Guter Versuch, Holmes.“

Ein gedämpftes Geräusch wurde begleitet von Sherlock Husten. Vermutlich hatte Moran ihm in die Seite getreten. Mistkerl.

„Aber so vorhersehbar. Und sieh nur, was du mit dem Teppich gemacht hast. Was glaubst du, wird Watson sagen, wenn er das sieht?“

„Lass...ihn da raus. Wehe, du -“, knurrte Sherlock und seine Worte verloren sich in einem schmerzerfüllten Laut, als Moran wieder zugetreten haben musste. Johns Wut war zu einem heißen Klumpen in seinem Magen geworden.

Du hast genug geredet. Halt den Mund.“ Lange Sekunden hörte er nichts.
„Steh auf. Na los! Hoch mit dir, Holmes.“

Schleifen und Kratzen über den Boden. Die Tür ging auf und fiel mit einem Knall wieder zu. John hörte gedämpfte Schritte auf der Treppe, die immer leiser wurden. Irgendwann war es still.

Er ließ das Telefon sinken. Beinahe hätte er es gegen die Wand geworfen, aber Sherlock hätte das nicht gut geheißen. Er erwartete von John, dass er sich rational verhielt.

Rational. Er hätte lachen können. Als ob er noch irgendwie rational denken konnte, solange Moran Sherlock in seiner Gewalt hatte! Nachdem Sherlock John weggeschickt und offensichtlich auf Moran gewartet hatte. Was hatte er sich dabei gedacht?! Dass Moran sich mit Worten entwaffnen ließ?

In diesem Moment begann wieder die Melodie von vorher zu spielen. Sie stammte nicht von Sherlocks Handy.

John sah sich um und nach einigen Sekunden entdeckte er sein eigenes Telefon auf ihrem Couchtisch. Kalte Erkenntnis breitete sich in ihm aus, während er Sherlocks Mobiltelefon sinken ließ und langsam näher trat. Diese Melodie hatte er nie eingestellt. Er griff nach dem Handy und nahm den Anruf entgegen.

Alles, was er im ersten Moment hörte, war rasselnder, abgehackter Atem. John brauchte nicht mehr.

So musste es sich anfühlen, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und die Realität mit brutaler Gewalt zuschlug.

Sherlock.

„John.“

Der gleiche Mann, den er noch vor einigen Stunden im Schlafzimmer geküsst hatte. Der gleiche Mann, der ihm gesagt hatte, er würde sich nicht ändern. Der gleiche Mann, dessen Kopf für Stunden auf Johns Schoß geruht hatte, während er immer wieder nach seiner gesunden Hand getastet und Johns Puls gezählt hatte.

„Sherlock“, antwortete er und seine Stimme war geradezu erschreckend ruhig. Automatik. Um nicht die Kontrolle zu verlieren, war er wieder zum Soldat John Watson geworden.

Ein Luftholen am anderen Ende der Leitung. Es klang nach mindestens geprellten Rippen. Möglicherweise angebrochen. Hoffentlich nicht gebrochen.

Wie, fragte der unkontrollierbare Teil seines Verstandes, den John einfach nicht ausblenden konnte, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wie kann das sein? Ich war nur eine halbe Stunde weg.

„John Watson, ich sage das jetzt nur ein einziges Mal.“ Sherlocks Stimme hatte gezittert, als er kurz vor seinem Höhepunkt Johns Namen ausgesprochen hatte. Jetzt war sie unnatürlich gleichmäßig. John wusste, dass er Schmerzen haben musste. „Also sperr deine Ohren auf, denn es wird das letzte Mal sein, dass du von deinem heißgeliebten Ermittler hörst.“

Er stieß langsam den angehaltenen Atem aus. Eine Botschaft von Moran also.

„Ihr hättet euch nicht einmischen dürfen“, zitierte Sherlock. „Ihr hättet Jims Warnung ernst nehmen sollen. Ein Meisterverbrecher, der seinen Gegner nicht beim ersten Mal ausschaltet - was bedeutet das?“ Er machte eine Pause und John fragte sich, ob Moran es ihm so aufgetragen hatte oder ob dies Sherlocks Versuch war, etwas Dramatik in die schlecht gewählten Worte zu bringen. „Dass er es nicht versucht hat.“

John kannte diesen Satz. Etwas Ähnliches hatte General Shan zu ihm gesagt, kurz nachdem sie den Abzug der ungeladenen Waffe betätigt hatte.

„Ihr habt einen Fehler gemacht. Ihr dachtet, ihr könntet schlauer sein als Jim. Ihr dachtet, ihr könntet ihn überlisten. Aber da liegt ihr falsch. Ihr werdet nie an ihn heranreichen.“ Wieder eine Pause, die in diesem Fall nichts mit der Dramatik zu tun hatte. John hatte ganz genau gehört, dass Sherlocks Stimme mit den letzten Worten einen beinahe schon gereizten Ton angenommen hatte.

Sherlock holte Luft. John wusste, was das bedeutete, noch ehe er wieder sprach: „Wirklich? Dieser Vergleich scheint mir etwas übertrieben.“ Die Worte waren eindeutig nicht an John gerichtet, welcher sich auf die Lippen bis, um nicht zu stöhnen. Sherlock und seine Klappe!

Ein dumpfer Laut erklang durch die Lautsprecher, dicht gefolgt von einem Keuchen. John hielt das Handy mittlerweile so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte das Geräusch oft genug gehört, um es wieder zu erkennen. Es entstand, wenn man jemanden mit dem Lauf einer Waffe gegen den Kopf schlug.

Als Sherlock weiter sprach, war sein Atem etwas unregelmäßiger als vorher. Doch in seiner Stimme lag ein trotziger Unwille. „Moriarty ist ein Gott unter den Menschen. Er schafft, was andere nicht wagen. Er wagt, was andere nicht denken. Und nun ist er tot und Sherlock Holmes wird dafür büßen.“ Er schwieg. John konnte ihn bloß noch atmen hören. Er klammerte sich an dieses Geräusch, denn es bedeutete, dass er lebte.

Sherlock, versprich mir eins: Hör nicht damit auf.

„Wozu der Anruf?“, fragte John, als Sherlocks Atem nicht mehr genug war.

„Gute Frage“, stimmte Sherlock zu und sein Augenverdrehen war geradezu hörbar. „Ganz davon abgesehen, dass es unnötig theatralisch -“

Wieder ein dumpfer Laut, dieses Mal begleitet von einem Schnappen nach Luft und Husten. Moran hatte Sherlock die Waffe zwischen die Rippen gestoßen.

Dreckschwein.
„Wozu der Anruf?“, wiederholte John und zwang seine Stimme zur Ruhe. Es brachte

nichts, wenn er fluchte. Oder schrie. Oder um Sherlocks Leben bettelte.

Bitte, Gott, lass ihn leben.

„Eine letzte Großzügigkeit, Doktor Watson.“ Endlich sprach Moran selbst. „Warum sich die Mühe machen, Moran?“


„Weil es Jim gefallen hätte.“

Ah. Auch über den Tod hinaus kontrollierte Moriarty Morans sämtliches Handeln. Mit dem Telefon am Ohr im Wohnzimmer der Baker Street kam John zu einer ganz simplen Erkenntnis: Es gab nur eine Möglichkeit, Sherlock zu retten. Er musste Morans Aggression auf etwas anderes lenken.

Jemand anderen.


„Jim ist tot“, bemerkte er.

Moran schwieg. John hörte Sherlock nach Luft ringen. Der Schlag musste seine ohnehin verletzten Rippen getroffen haben.

„Dass er tot ist, heißt nicht, dass sein Plan nicht weiter existiert.“ Aus Morans Tonlage ließ sich bisher noch kein Ärger heraushören. Für Johns Geschmack wirkte er viel zu beherrscht.

„Welcher Plan?“, fragte er, um Zeit zu schinden und Moran aus der Reserve zu locken.

„Stell dich nicht dümmer als du bist, Watson. Er hat es dir gesagt.“

„Bevor ich ihn erschossen habe, nehme ich an?“

Da war es. Ein kurzer Sprung in Morans Atmung. Seine nächsten Worte enthielten eine deutliche Schärfe. „Jims Plan war euch überlegen.“

John schnaubte. „Dein Jim war ein kranker Psychopath. Er hatte Spaß daran, Menschen zu töten oder von dir töten zu lassen. Das hat nichts mit einem Plan zu tun. Das ist nur kranke Phantasie.“

„Sei still!“, befahl Moran und John schluckte den Klumpen Sorge, der ihn daran erinnerte, dass sein Vorhaben auch nach hinten losgehen konnte, sobald Moran beschloss, seine jetzige Wut direkt an Sherlock auszulassen.

„Ich könnte es dir beschreiben, Moran“, sprach er darum weiter und senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. Als er keine Antwort erhielt, wusste er, dass er Morans volle Aufmerksamkeit hatte. „Wie er gestorben ist. Wie das Leben aus seinen Augen wich. Wie sein Blut sich über den Betonboden ausbreitete. Tot war er wie jeder andere Tote.“ Er zischte das nächste Wort regelrecht: „Gewöhnlich.“

Halt die Klappe!“ Morans Stimme war doppelt so laut wie zuvor.

„Im Tod sind wir alle gleich, das müsstest doch gerade du wissen. Und Jim macht da keine Ausnahme. Sein Blut war genauso rot wie das von all den Soldaten, die ich in Afghanistan gesehen habe. Und sein Gesicht.“ John ignorierte die Bilder, die seine eigenen Worte wieder hochbrachten. Verdrängte die Angst. „Du hättest es sehen müssen. Diese Überraschung. Er hat es nicht kommen sehen. Nach all den großen Worten, hat ein einfacher Ex-Soldat ihn kalt erwischt. Schon irgendwie lächerlich oder?“

„Oh, dafür wirst du büßen, Watson.“ Er hörte das Klicken einer entsicherten Waffe. „Worauf kann der große Sherlock Holmes wohl eher verzichten? Auf seine rechte Kniescheibe oder die linke Schulter?“

John begann zu zittern und er schloss die Augen gegen eine grausame Welle von Übelkeit. Schließlich öffnete er den Mund und erwiderte mit einer Gleichgültigkeit, die er nicht besaß: „Irrelevant. Er braucht nur seinen Kopf.“

Ein Schuss durch einen Schalldämpfer.

Durch Johns Körper ging ein Ruck, doch der befürchtete Schrei blieb aus. Stattdessen erklang nun wieder Morans Stimme aus dem Lautsprecher und flüsterte ihm direkt ins Ohr: „Du solltest sein Gesicht jetzt sehen, Watson. So überrascht.“ Moran fütterte John seine eigenen Worte. „Er dachte, ich würde Ernst machen. Tut einen auf beherrscht und gleichgültig, aber es braucht nicht viel, um die Angst in seinen Augen zu erkennen. Was für ein brillanter Kopf, unser Holmes.“

Moran beherrschte sein Handwerk. Er wartete nur darauf, dass John seine Karten zeigte. Wie vor zwei Monaten am Pool. Er lauerte darauf, wie eine Schlange. John machte sich nichts vor. Moran wusste, dass er John am meisten schaden konnte, wenn er Sherlock verletzte. Alles, was Sherlock jetzt noch vor Moran schützte, war dessen Wut auf John und das Verlangen, John nicht nur indirekt, sondern physisch zu verletzen.

Aber das reichte noch nicht. Moran musste noch viel wütender werden. So wütend, dass er John bereitwillig zu sich rufen würde. Das war ein Willenskampf. Und es war von grundlegender Wichtigkeit, dass Moran nicht erkannte, was John vorhatte.

„Noch am gleichen Tag, als ich Sherlock kennen gelernt habe, erschoss ich einen Mann, der ihn bedrohte“, begann John zu erzählen. „Und ich habe Jim eine Kugel ins Herz gegeben, nachdem er ankündigte, Sherlocks Herz zu verbrennen. Was glaubst du, werde ich jemandem antun, der vorsätzlich auf Sherlock schießt?“ Er hörte Morans Atmung durch die Leitung. „Glaub mir, Moran, Jim Moriarty ist noch glimpflich davon gekommen.“

„Oh, Watson“, knurrte Sebastian Moran und John hörte, wie er die Waffe auf einen Tisch oder eine andere Oberfläche ablegte. „Ich bin froh, dass du das gesagt hast. Nein, ganz ehrlich, dadurch machst du es dir und mir so viel leichter.“

Johns Puls beschleunigte sich.

„Ich will dir in die Augen sehen, wenn ich dir jegliche Lebensgrundlage nehme.“

„Wie pathetisch“, murmelte Sherlock und John hätte ihn am liebsten angeschrien, denn er machte die ganze verdammte Situation nicht einfacher!

John überkam blankes Grauen, als ein abgehacktes Würgen erklang. Moran schien sich vom Telefon abgewandt zu haben, denn John hörte seine Stimme jetzt viel leiser und offensichtlich direkt an Sherlock gerichtet: „Noch ein Wort, Holmes, und ich schwöre, du wirst deine Zunge bald in den Händen halten.“

„Ist das ... eine Drohung?“ Sherlocks Stimme war gepresst und John stellte ich vor, wie Moran eine Hand gegen seine Kehle presste und langsam zudrückte. Kalte, mörderische Wut breitete sich in seinen Eingeweiden aus.

„Nein, das verspreche ich dir.“

„Hat dir das auch Moriarty beigebracht?“, fragte John und hoffte, dass seine Worte nicht zu sehr nach Ablenkungsmannöver schrien. „So gestelzt zu reden? Du scheinst ja ein wirklich wissbegieriger Schüler gewesen zu sein.“

„John...“ Sherlocks Stimme war nur noch ein atemloses Keuchen.

„Schnauze, Holmes!“, fauchte Moran.

Als ob Sherlock sich je den Mund verbieten lassen würde. Nicht einmal John hatte das je geschafft. „Yoricks ... Trittbrett, John.“ Ein Husten.

„Du sollst still sein!“

Die Verbindung wurde unterbrochen. Sämtliche Selbstbeherrschung fiel von John ab. „Nein!“ Er starrte auf das Handy. „Nein! Verdammt, nein! Sherlock!“

Yoricks Trittbrett. Sherlock und er hatten einen Code, der aus mehreren Begriffskombinationen bestand. Dieser Code wuchs ständig um weitere Vokabeln, aber Yoricks Trittbrett war eine der ersten gewesen. Es bedeutete: Nicht einmischen. Abwarten.

Es brachte nichts. Er konnte gar nichts tun, während Moran Sherlock womöglich gerade erwürgte oder sein Versprechen wahrmachte und ihm die Zunge-

John stolperte zum Waschbecken in der Küche und erbrach das kümmerliche Frühstück, das er heute gehabt hatte. Mit zitternder Hand tastete er nach dem Hahn und ließ das Wasser laufen. Sein Kopf war leer. Er spürte nichts.

Plötzlich vibrierte das Handy auf der Arbeitsfläche, wo er es hingeworfen hatte. So schnell hatte er sich noch nie auf ein Mobiltelefon gestürzt.

Eine Nachricht. Nummer unterdrückt.

Schau aus dem Küchenfenster, Watson.

John wischte sich mit dem Handtuch über den Mund, beugte sich vor und schob die Gardine ganz zur Seite. Seine Augen weiteten sich, als er auf der anderen Seite in der dritten Etage des gegenüberliegenden Gebäudes die Gestalt eines Mannes am Fenster erblickte, der ihn direkt ansah und grinste.

Jetzt verstand er, wie Moran es geschafft hatte, Sherlock unter Mycrofts wachsamen Auge aus dem Appartement zu verschleppen. Es bedeutete aber gleichzeitig, dass John die ganze Zeit ein leichtes Ziel für Moran dargestellt hatte.

Erleichterung durchflutete ihn bei dieser Erkenntnis. Der Umstand, dass er noch lebte und nicht durch einen Distanzschuss getötet worden war, machte deutlich, dass es Moran wichtig war, John gegenüber zu stehen, ehe er ihn umbrachte.

Eine weitere Nachricht erhellte das Display.

Du hast drei Minuten. Schaffst du es nicht, ziert Holmes Gehirn die Tapete.

Der Mann am Fenster nickte einmal und wie auf ein Zeichen rannte John Watson los. Aber nicht um sein Leben. Sondern um Sherlocks.
 

~*~
 

Manchmal wünschte er sich, er beherrschte Sherlocks Fähigkeit, mit Handys umzugehen. Dann müsste er sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, ob die blind im Rennen an Mycroft geschriebene Nachricht die Adresse und einen Hilferuf enthielt oder nur aus kryptischen Zeichen bestand.

Doch dafür hatte er jetzt keine Zeit. Auch nicht für einen Plan.

Er nahm zwei Stufen auf einmal, während in seinem Kopf der Timer lief, den Moran ihm gestellt hatte. Es reichte gerade so. Moran hatte ihm keine Hausnummer genannt, aber in der dritten Etage gab es nur zwei Wohnungen und John hatte von ihrem Fenster aus gesehen, dass Moran sich in der linken aufhielt.

Er drückte die Tür auf und trat ein. Seine Begrüßung war eine Faust in den Magen. Stöhnend sackte er in sich zusammen und landete auf der Seite. Dabei begrub er die gebrochene Hand unter seinem Körper und heiße Wellen in seinem Arm gesellten sich zum blendenden Schmerz in seinem Bauch. Er blinzelte dagegen an und erblickte Morans hämisches Grinsen unmittelbar über sich.

„Willkommen, Doktor Watson.“ Moran packte ihn am Oberarm und zog ihn auf die Beine. John versuchte, sich von ihm loszureißen, doch er wurde herum gerissen und mit dem Gesicht voran gegen die Wand neben der Tür gepresst. Morans Körpergewicht hielt ihn bewegungsunfähig. Gleichzeitig verdrehte er Johns rechten Arm so stark, dass er befürchtete, seine Schulter würde jeden Moment aus dem Gelenk springen. Er biss gegen den Schmerz und atmete flach. Die Tapete schabte gegen seine Wange.

„Nur keine Dummheiten“, sagte Moran dicht an seinem Ohr. „Sonst muss ich Maßnahmen ergreifen, ehe der Spaß überhaupt angefangen hat.“

Kaltes Metall schloss sich um Johns gesunde Hand. Der Gips verhinderte, dass Moran beide Hände hinter seinem Rücken fesselte. Er zerrte John durch den Raum zu einer Heizung, anschließend befestigte er das Paar Handschellen an einem der Rohre.

John war somit dazu gezwungen, sich entweder hinzusetzen, oder zu knien. Sein Blick suchte Sherlock, der auf einem Küchenstuhl saß, die Hände auf dem Rücken gefesselt und so weit auf dem Stuhl nach unten gerutscht, dass seine langen, ausgestreckten Beine beinahe allen Platz vor sich einnahmen. Er versuchte damit, den Druck auf seinen Oberkörper zu verringern.

Nach seiner Haltung zu urteilen machten ihm die sechste bis achte Rippe auf der linken Seite zu schaffen. Viel auffälliger war jedoch die Platzwunde an seiner Stirn, die nicht nur sein Gesicht, sondern auch den Kragen seines Hemdes beschmiert hatte und von welcher vermutlich auch der Blutfleck in ihrem Appartement stammte. Keine Stichwunde. Er musste sie sich in ihrem Appartement zugezogen haben, als Moran ihn überwältigt hatte. John hätte beinahe vor Erleichterung gelächelt. Nichts, was sich nicht auskurieren ließ. Dazu im schlimmsten Fall eine leichte Gehirnerschütterung durch Morans Schläge mit dem Pistolenlauf.

Dann traf Johns Blick auf Sherlocks und jedes medizinische Urteil war vergessen. In Sherlocks Augen lag blanker Vorwurf.

Wieso bist du gekommen, John?, schien er ihn zu fragen, dabei war es doch so offensichtlich, dass gerade Sherlock sich die Frage selbst hätte beantworten müssen.

Weil dir nichts passieren darf.

„Genug der Wiedersehensfreude“, unterbrach Moran und trat zwischen ie. „Watson, du bist nur aus einem einzigen Grund hier: So sehr es mir auch Vergnügen bereitet hätte, dich von hier aus durch das Fenster zu erschießen - und wir beide wissen, wie leicht das für mich gewesen wäre - will ich in deinem Blick die Demütigung deiner Niederlage sehen.“

John verengte die Augen und straffte die Schultern. „Lass Sherlock gehen und du kannst mit mir machen, was du willst.“

Morans Grinsen wurde mörderisch. „Ist das so?“

Er entfernte sich von John und stellte sich direkt neben Sherlock, welcher keinen Moment den Blick von John genommen hatte. Er zuckte nicht einmal, als Moran ein Messer aus einer Lederhülle an seinem Stiefel zog und es ihm an die Kehle presste. „Und was bist du jetzt bereit zu tun?“

John wusste, dass die Antwort in seinem Blick lag. Sherlocks Augen weiteten sich.

Moran begann zu lachen. „Ich wünschte, Jim könnte das erleben. Das wäre ganz nach seinem Geschmack.“ Ein berechnender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und als er das nächste Mal sprach, war seine Stimme gänzlich ohne Humor: „Kugel dir die rechte Schulter aus.“

John verstand natürlich, worum es Moran ging. Durch den Gips konnte er Johns rechte Hand nicht fixieren und ein ausgekugeltes Schultergelenkt machte den ganzen Arm nutzlos. Darüber hinaus war es ein Test. John sollte zeigen, wie ernst ihm seine Worte waren.

Er drehte sich mit seinem Oberkörper nach links zu seiner bereits gefesselten Hand, denn er brauchte ihre ganze verbliebene Mobilität, um den Oberarmknochen aus seinem Gelenk zu hebeln. Eigentlich unmöglich mit nur einer Hand. Mit dem notwendigen medizinischen Wissen jedoch durchaus realisierbar. Eine hebelnde, ruckartige Bewegung des Oberarms bei gleichzeitiger Drehung nach außen sollte genügen. Er musste sich konzentrieren, um seine Muskeln dafür so weit zu entspannen, dass er sie dabei nicht verletzte.

Ein Restrisiko blieb. Auch wenn John wusste, was er tat, könnte permanenter Nerven- oder Muskelschaden verursacht werden. Doch in diesem Moment war dies sein geringstes Problem. Fakt war, dass sich ein ausgekugeltes Gelenk immer wieder rückgängig machen ließ. Ein toter Sherlock dagegen nicht.

Er griff nach seinem Arm und sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Moran gab einen warnenden Laut von sich und zog Sherlock an den Haaren zurück. Dieser hatte sich trotz des Messers vorgebeugt. Er schien den Schnitt an seinem Hals nicht einmal zu bemerken. John zwang sich dazu, nicht auf das frische Blut zu achten, dass seinen Nacken hinablief. Oder auf den Mund, der seinen Namen formte.

Er konzentrierte sich darauf, dass der Schnitt nur oberflächlich war, dass Sherlock das alles mit etwas Glück ohne Narben, mit schlimmstenfalls drei Stichen und einem Stützverband um den Brustkorb, überstehen würde. John dachte an all dies, nur daran (Sherlock geht es gut, ihm wird nichts mehr passieren), biss die Zähne aufeinander und hebelte.

Die Schulter sprang mit einem abscheulichen Geräusch aus dem Gelenk und Johns Körper warf sich vor Schmerz und Schock in die entgegengesetzte Richtung. „Fuck“, fluchte er und stieß mit dem Rücken gegen die Heizung, während Schmerz den Rand seines Blickfelds unscharf werden ließ. Einige grausame Momente befürchtete er, das Bewusstsein zu verlieren, dann wurde der Schmerz zu einem schnellen, rhythmischen Pochen und gab ihm einen Anker, an den er sich klammerte. Er atmete schwer durch die Nase, um keinen Laut von sich zu geben. Das Blut hämmerte ihm in den Ohren.

Morans Augen waren glasig und sein Mund leicht geöffnet. Sein Blick wanderte über John und er begann zu lächeln, während er das Messer sinken ließ. Er löste seinen Griff um Sherlocks Schulter und näherte sich John. Unmittelbar vor ihm ging er in die Hocke und musterte ihn aufmerksam. „Wie fühlt es sich an?“, fragte er.

„Beschissen“, knurrte John und starrte entschlossen zurück.

Moran schüttelte den Kopf. „Nein, Watson. Zu wissen, dass du diesen Raum nicht mehr lebend verlassen wirst.“

John leckte sich über die trockenen Lippen. Seine Schulter machte das Denken nicht leichter, aber egal welche Schmerzen er hatte, er würde nicht seine Priorität aus den Augen verlieren.

„Lass Sherlock gehen.“


„Ist es erniedrigend?“


„Lass ihn gehen.“ John verfluchte sich für das 'bitte', das seinen Worten anhaftete.

Moran hob die Hand und presste sie mit einem diabolischen Glimmen in den Augen gegen seine Schulter. John musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu schreien. Stattdessen warf er den Kopf zurück und stieß ihn bewusst gegen die Heizung hinter sich, um sich mit dem neuen Schmerz von dem reißenden Gefühl in seiner Schulter abzulenken.

„Einzelkind, Eltern geschieden.“

Sowohl Moran als auch John richteten ihre Aufmerksamkeit auf Sherlock, der sich auf seinem Stuhl aufgerichtet hatte und sie herablassend musterte. Moran ließ die Hand sinken und legte den Kopf ein Stück in den Nacken, um Sherlock besser zu sehen. „Was hast du gesagt?“

„Der Vater ein Trinker, zunächst nur gelegenheitshalber. Aber aus Gelegenheiten wurden Gewohnheiten und es blieb nie bei der versprochenen letzten Flasche oder? Was wohl der Grund dafür ist, dass deine Mutter ihn verlassen hat. Oh, sie war geduldig, denn das war es, was sie auszeichnete - ihre scheinbar unendliche Geduld. Nur dass sie nicht ganz unendlich war. Zweifellos war es der Whiskey, der ihr jede Hoffnung nahm. Weswegen sie ging.“

„Sherlock“, murmelte John kraftlos. Sei still. Reiz ihn nicht. Siehst du nicht, was ich hier tue? Ist es dir egal?

Moran drehte sich nun ganz zu Sherlock um.

„Du warst fünf, als es passierte. Und er gab ihr die Schuld. Er war so ein nutzloser Mann, im Beruf kaum zu gebrauchen, Durchschnitt, immer nur Durchschnitt. Mittelmaß. Wann wurdest du es leid? Ich nehme an, du warst dreizehn, als dir klar wurde, dass du besser sein wolltest. Mehr. Besonders. Darum bist du Soldat geworden.“

„Sei still“, flüsterte John und schüttelte den Kopf im gleichen Moment, in dem Moran sagte: „Ganz schön mutig.“

Sherlock hatte die Schultern nach vorne geschoben und starrte zu Moran hinauf, der sich unmittelbar vor seinem Stuhl aufgebaut hatte. Seine Stimme war ruhig, so unglaublich ruhig und voller analytischer Brillanz, für die John ihn in diesem Moment zum allerersten Mal verfluchte. „Ein Minderwertigkeitskomplex, der Wunsch sich zu beweisen. Soldat zu sein war eine Ausrede, um Menschen zu jagen und zu beweisen, dass du der wahre Jäger bist. Und was warst du ohne all das? Nichts. Bis Moriarty dich fand und dir einredete, du hättest einen neuen Sinn. Aber soll ich dir etwas sagen, Moran?“ Sherlock beugte sich vor und lächelte kalt. „Jim Moriarty kann niemals deine fehlende Mutter ersetzen.“

Idiot!, dachte John und schluckte ein Stöhnen. Spott macht es nur schlimmer.

Mit einem Grollen holte Moran aus und trat gegen den Stuhl. Dieser kippte hintenüber und John hörte, wie sämtliche Luft aus Sherlocks Lungen wich, als er auf dem Boden aufschlug. Ihm fiel ein, dass Sherlocks Hände noch immer gefesselt waren und dass er vermutlich genau auf ihnen gelandet war. Es blieb ihm kaum Zeit, über die Konsequenzen nachzudenken, da hatte Moran sich bereits auf Sherlock gestürzt und begonnen, ihm die Kehle zuzudrücken. „Du verfluchter Freak!“

„Nein!“, rief John und riss an den Handschellen, die seine linke Hand fixierten. Sämtlicher Schmerz rückte in den Hintergrund und er sah nur noch das paar Hände an dem viel zu dünnen, blutigen Hals. „Lass ihn los! Moran, hör auf!“

Moran hockte über Sherlocks Oberkörper und John konnte sehen, wie Sherlocks Beine unter dem Angriff hin und herschaukelten. Er wehrte sich nicht einmal.

Tränen brannten ihm in den Augen, während er sich mit seinem vollen Körpergewicht gegen die Fesseln stemmte, um etwas zu tun, irgendetwas, ganz egal was, ehe Sherlock ganz-

Moran ließ von ihm ab und richtete sich auf. Der Consulting Detective würgte und schnappte nach Luft. Nie hatte John etwas Schöneres gehört. „Oh, das war gut“, sagte Moran und schüttelte den Kopf. „Du hättest mich beinahe so weit gehabt, Holmes. Aber nur beinahe.“ Sein Kopf schnellte herum und er fixierte John. „Er wollte mich von dir ablenken. Wollte dich beschützen. Herzerwärmend“, spuckte er und trat ein letztes Mal gegen Sherlocks Stuhl. Er drehte sich um und packte im Vorbeigehen das Messer auf dem Tisch.

Spielerisch balancierte es in seiner Hand, während er John musterte. „Ich frage mich, was du noch für ihn tun würdest, Watson. Würdest du einen Finger opfern?“

John war bewusst, dass Moran dieses Spiel noch ewig hinauszögern könnte. Alles hing davon ab, wie lange John es ertrug. Er konnte nur darauf hoffen, dass Moran Sherlock irgendwann gehen ließ oder dass Mycroft seine Nachricht erhalten hatte.

„Würdest du?“, wiederholte Moran seine Frage.

John antwortete nicht, sondern presste seine eingegipste Hand mit der Fläche nach unten vor Moran auf den Boden und spreizte die Finger. Der Gips umfasste seine gesamte Mittelhand, doch seine Finger waren weitgehend frei. Frei genug für Moran, um John mehr als die Hälfte von ihnen zu nehmen.

John.“ Er sah auf und begegnete Sherlocks Blick. Darin lag etwas, das er vorher noch nie so deutlich gesehen hatte. Bevor er es weiter ergründen konnte, kniete Moran sich vor ihn und nahm ihm dadurch den Blick auf Sherlock. An seinem Messer klebte bereits Blut. Sherlocks Blut.

John wusste, dass der nächste Schmerz weitaus schlimmer sein würde als die ausgekugelte Schulter. Er war darauf angewiesen, dass der Schock einsetzte, damit er nicht das Bewusstsein verlor. Außerdem musste die Blutung gestoppt werden, ehe er zu viel verlor. Er konzentrierte sich auf all diese medizinischen Details, um nicht darauf zu achten, wie Moran das Messer langsam senkte und die Klinge gegen den Rücken seines Mittelfsinger presste.

John sah ihm stattdessen direkt in die Augen. Moran prüfte die Position des Messers noch einmal und erwiderte anschließend Johns Blick schadenfroh. Ehe er zu schneiden begann.

Natürlich beendete Moran es nicht mit einem Schnitt. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, aber das hätte ihm kaum Befriedigung verschafft. Die erste Bewegung des Messers durchtrennte die Sehne des Fingerstreckers und dieses Mal biss John sich so fest auf die Zunge, bis er Blut schmeckte. Er machte den Fehler, auf seine Hand hinab zu sehen und der Anblick des Blutes und des Messers, welches zum zweiten Schnitt ansetzte, brachten sein ohnehin instabiles Bewusstsein an die Grenzen seiner Belastbarkeit.

Ein Schwindel erfasste ihn und sein Sichtfeld verschwamm. Schmerz blendete seine Sinne und er meinte, eine Bewegung hinter Moran zu sehen. Dann spürte er den frischen Schmerz eines zweiten, tieferen Schnittes und schrie.

Der Laut hatte seine Kehle kaum verlassen, da wandelte sich die Situation schlagartig. Etwas erfasste Moran und schleuderte ihn zur Seite. John sackte an der Heizung hinab und wurde nur noch von der Fessel an seiner linken Hand aufrecht gehalten. Er blinzelte und erkannte, dass Sherlock Moran mit dem Stuhl niedergeschlagen hatte.

Sherlock.

Moran lag reglos auf dem Boden. Blut strömte aus einer Wunde an seinem Kopf. Blut. John sah auf seine Hand hinab. „Oh.“ Sie war blutverschmiert.

Sherlock fiel vor ihm auf die Knie. „John. Sieh mich an, John.“ Diese Worte waren wie ein Schalter, genauso wie an Silvester.

„Sherlock.“ Er beugte sich vor, bis der Detektiv verstand und einen Arm um seine unverletzte Seite schlang. Mit einer Hand gefesselt und der anderen bewegungsunfähig und blutend am Boden, war es für John unmöglich gewesen, das zu tun. Er vergrub sein Gesicht in Sherlocks Hemd und atmete einfach. Mit einem Klicken sprangen die Handschellen auf. Sherlock hatte sie geknackt.

„Anfängerfehler“, kommentierte er Johns Blick. „Mich auf meinen Händen liegen zu lassen, hat es mir nur leichter gemacht“ Anschließend beugte er sich vor und küsste ihn. In diesem Kuss lag all das, was John vorher in den Blicken gesehen und nicht hatte benennen können.

Angst. Verzweiflung. Erleichterung.

„Schreibst du Mycroft?“, fragte er, nachdem er Sherlocks Hände an seiner Hosentasche registriert hatte, wo er sein Handy verstaut hatte. Er spürte ein Nicken gegen seinen Nacken und Sherlock schlang wieder die Arme um ihn. Behutsame Finger tasteten die Region um seine linke Schulter herum ab. Nach Sekunden oder vielleicht auch Minuten löste er sich von John und befahl ihm, sitzen zu bleiben, während er das Appartement durchsuchte. Im Badezimmer fand er offensichtlich einen Erste-Hilfe-Kasten und kehrte mit seinem Inhalt zurück.

„Was muss ich tun, John?“

Es war klar, dass Sherlock genau wusste, was zu tun war, und dass er Johns Konzentration damit auf eine vertraute Arbeit lenken wollte. Die Wunde an seinem Finger war nicht lebensgefährlich tief, aber sie blutete stark und ein Spezialist müsste die durchtrennte Sehne wieder richten. John gab Sherlock die notwendigen Anweisungen und spürte, wie sämtlicher Schmerz allmählich durch den Schock abebbte. Schließlich war seine Hand notdürftig versorgt und sie konnten nur noch auf Mycroft und seine Männer warten.

Sherlock zog John vorsichtig zu sich und breitete ihn rücklings auf dem Boden aus. Im Anschluss bettete er Johns Kopf auf seine Beine und begann, ihm die einzelnen Knochen des menschlichen Brustkorbes aufzulisten. Dabei nahm er den Blick keinen Moment von Morans regloser Gestalt.

„Wie viele Finger, John?“, fragte Sherlock leise, als der letzte Knochenname gefallen war.

„Hm?“ John blinzelte gegen die Trägheit, die sich in den letzten Minuten immer weiter in ihm ausgebreitet hatte. Nun, wo das Adrenalin seinen Körper verlassen hatte, fühlte er sich schrecklich.

„Wie viele Finger hättest du dir abschneiden lassen?“


John schloss die Augen. „Jeden einzelnen.“
Sherlock schwieg eine lange Zeit.

„Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle gewesen.“

John lächelte und presste die Lippen aufeinander, als der Schmerz mit voller Härte zurückkehrte. Das hieß wohl, dass die Schock-Schonfrist abgelaufen war. Mycroft und seine Leute sollten sich verdammt nochmal beeilen!

„Ich weiß.“


„Ich hoffe, der Schlag hat ihn getötet.“

„Ich auch.“

Es lag sich unglaublich schlecht mit einer ausgekugelten Schulter, musste er feststellen. Er schloss die Augen und seine Haltung verkrampfte sich. Sherlock entging dies natürlich nicht. Er strich mit einer Hand durch Johns Harre. Nicht zärtlich, vielmehr grob, als würde er John aus seinen Gedanken reißen wollen. „Reiß dich zusammen.“ Sherlocks Verständnis von Zärtlichkeit.

„Du hast leicht reden“, knurrte John zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Das habe ich.“ Sherlock blickte auf ihn hinab und selbst durch Schleier aus Schmerz und Erschöpfung sah John die aufrichtigen Emotionen in seinen Augen. Er vergaß beinahe zu fluchen, nachdem Sherlock sich wieder ein Stück vorgebeugt und „Danke, John“ gemurmelt hatte.

Jederzeit wieder, hätte er unter besseren Umständen entgegnet, aber wenn er ehrlich war, wünschte er keinem von ihnen diese Situation jemals wieder und scheiße verdammt, die Schmerzen wurden nicht besser und wo zur Hölle blieb Mycroft?

Sherlock ertrug sein schmerzerfülltes Stöhnen, seine Flüche und ermunterte ihn in allen Verwünschungen, die sich gegen Mycroft richteten. John wusste, dass dies Sherlocks eigene Art war, mit Erleichterung und Dankbarkeit umzugehen und mit der richtigen Dosis Schmerzmittel hätte er es auch besser zu schätzen gewusst. So blieb ihm nicht mehr übrig, als zu hoffen, dass Mycroft Holmes die Güte besaß, seinen Allerwertesten in naher, unmittelbarer Zukunft durch die Tür des Appartements zu befördern. Und dass er Schmerzmittel dabeihatte.

Als das Sondereinsatzteam schließlich die Wohnung stürmte und erneut feststellen musste, zu spät gekommen zu sein und als Mycroft persönlich eintrat, den Regenschirm in der rechten Hand schwingend, driftete John irgendwo zwischen Ohnmacht und Wachsein. Er lauschte Sherlocks forschem Tonfall, ohne die Worte wirklich zu verstehen.

Irgendwann ließ er sich aufrichten und hatte nicht einmal mehr wirklich die Kraft, den Schmerz dieser Bewegung zu artikulieren. Er blinzelte gegen das grelle Licht einer Taschenlampe.

Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr, während jemand begann, seine Schulter abzutasten. Etwas von der Benommenheit lichtete sich.

„Wieso hat das so lange gedauert?“


„- lediglich unverständlichen Inhalt. Ehe ich erkannt habe -“

„Sir, können Sie mich hören?“

Der Tonfall von Sherlocks Stimme hatte sich verändert. Auch die Lautstärke seiner Worte war gestiegen. „Wie konnte das passieren? Ich dachte, du würdest ihn observieren. Nach Silvester ist es doch nicht zu viel verlangt!“

„Sir“, wiederholte die Person neben ihm. „Wie lange ist Ihre Schulter bereits in diesem Zustand?“

„Viel zu lange“, murmelte John. Männer liefen durch das Appartement, zwei fesselten Moran und schleiften ihn aus dem Raum. Wieder andere durchsuchten die angrenzenden Räume. Zur gleichen Zeit lieferten Sherlock und Mycroft Holmes sich eine hitzige Diskussion, als hätten sie vergessen, wo sie ich befanden.

„Was willst du von mir hören?“, fragte Mycroft und John blinzelte gegen die verschwommenen Umrisse an, weil er wusste, dass dieser Dialog relevant war.

„Dass du und deine Männer nutzlos sind, wenn es darauf ankommt. Dass man sich nicht auf euch verlassen kann.“

„Wann hast du dich je auf mich verlassen?“ Mycrofts Stimme war voller Bitterkeit und John wimmelte den Sanitäter für diesen Moment ab, weil er das jetzt nicht verpassen durfte. Das war viel zu wichtig. „Wann bist du je zu mir gekommen, weil du Hilfe brauchtest?“

„Oh, clever Mycroft, wirklich clever. Willst du, dass ich es dir direkt sage, obwohl du die Antwort weißt? Geht es dir um damals? Weil nicht du es warst, der mich gefunden hat, nachdem ich die Überdosis genommen habe? Willst du diesen Streit wirklich hier vom Zaun brechen? Vor deinen Männern?“

„Es geht um keinen Streit, Sherlock. Es ging nie um einen Streit. Es geht darum, dass du meine Hilfe noch nie in Anspruch genommen hast, weil du zu störrisch bist, um zu akzeptieren, dass ich dein älterer Bruder bin und-“

„Und was?!“


„Dich beschützen will.“ Ein Seufzen. „Ist dir das denn nach all den Jahren nicht klar? Muss bei dir alles einen Haken haben?“

„Sir, wir müssen ihr Gelenk wieder einkugeln. Je länger es in diesem Zustand bleibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für bleibende Schäden.“ Die Hände kehrten zu seiner Schulter zurück und John nickte grimmig. Natürlich hatte der Mann Recht. Genau genommen boten Sherlock und Mycroft gerade die ideale Ablenkung von dem kommenden Schmerz.

Der Sanitäter winkte einen der Männer heran und gab ihm den Auftrag, John festzuhalten, während er mit einer Schere seinen Pullover aufschnitt und den Arm freilegte. Er reichte John den Ärmel, welcher ihn sich zwischen die Zähne klemmte. Er kannte das Prozedere, hatte es in der Armee oft genug bei eigenen Leuten vollzogen. Lieber Stoff zwischen den Zähnen, als sich versehentlich die eigene Zunge abzubeißen.

Sherlock wirbelte zu Mycroft herum und starrte ihn wütend an. „Ich habe dich um eine Sache gebeten, Mycroft. Einen Gefallen. Hast du ihn erfüllt?“

Mit einem Ruck, begleitet von einem Übelkeit erregenden Geräusch, wurde das Gelenk wieder in seine Fassung gehoben. John vergrub die Zähne in dem Ärmel seines Pullovers und verschluckte sich an einem Schrei. Das schien Mycroft und Sherlock daran zu erinnern, wo sie sich befanden.

In dem Blick des älteren Holmes lag offenes Bedauern, als er John musterte. „Nein. Das habe ich nicht.“

„Bring John in ein Krankenhaus“, sagte Sherlock, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. „Beweis mir, dass du wenigstens das schaffst.“

John blinzelte einige Tränen beiseite und atmete zitternd ein. Anschließend ließ er sich auf die Beine ziehen. Er suchte Sherlocks Blick. „Bleibst du hier?“

„Ich komme später nach.“ Sherlock wirkte, als wollte er noch etwas sagen, schloss jedoch den Mund.

„Lass dich vorher noch untersuchen“, beharrte John und versuchte zu lächeln. Es musste ihm furchtbar misslingen, wenn Sherlocks Blick ihn nicht täuschte. „Du kannst nicht mit angebrochenen Rippen den Tatort unsicher machen.“

„Sie sind geprellt.“

„Trotzdem.“

„Vielleicht später.“

Mehr konnte Sherlock ihm nicht zugestehen. John verstand das und nickte. Er ließ sich aus der Wohnung nach unten zu einem Krankenwagen begleiten.

Man fuhr ihn nicht in das nächstgelegene Krankenhaus. Mycroft musste seine Finger im Spiel haben, denn die Einrichtung wirkte privat und teuer. John fehlte die Energie, dieser Sonderbehandlung zu widersprechen. Man untersuchte seine Hand und brachte ihn eine halbe Stunde später in den OP. Er erhielt eine örtliche Betäubung und viele optimistische Worte. Man entfernte seinen Gips, um besser an den Finger zu kommen. Anschließend begann der Chirurg damit, die Sehnen wieder zu verbinden und den Schnitt zu nähen. Da John wusste, was Moran mit seinem Messer alles durchtrennt hatte, war ihm klar, wie kompliziert das war. Er hoffte, dass er den Finger später wieder halbwegs bewegen konnte.

Irgendwann verlor er das Gefühl für die Zeit. Sein Verstand driftete ab und er dämmerte vor sich hin. Als er die Augen das nächste Mal öffnete, lag er in einem Zimmer und draußen vor den Fenstern war es hell. Die Uhr an der Wand stand auf zehn. Er war allein.

Also tat John das, was er am besten konnte: Er wartete.

Vergebens, denn Sherlock blieb weg. Den ganzen Tag.
 

[tbc]

Act IX

Act IX
 

Routine hatte etwas Beruhigendes. In Afghanistan hatte John direkt nach dem Aufstehen sein Feldbett gemacht und seine Waffe gereinigt. Noch vor dem Frühstück hatte er alle Einzelteile benannt und verinnerlicht. Jeden Morgen. Siebeneinhalb Monate lang.
 

Die Routine gab ihm einen Anker. Damit sein Verstand sich auf etwas anderes konzentrierte als darauf, dass jeder Morgen dort vielleicht der letzte sein konnte, weil die Patrouille in einen Hinterhalt geraten oder der Transporter über eine Mine in der Straße fahren konnte. Ganz abgesehen davon, dass John für den Extremfall lebte - ihn brauchte um zu funktionieren - gab es doch nichts Schlimmeres, als einen Kameraden sterben zu sehen. Dafür der Anker. Dafür die Routine.
 

In der Baker Street mit Sherlock verhielt John sich im Grunde genauso. Unmittelbar nach dem Aufstehen machte er sein Bett und prüfte seine Waffe. Nur nahm er sie nicht mehr jeden Tag auseinander. Jeden vierten, wenn er ehrlich zu sich war, aber er rechtfertigte es damit, dass er mit Sherlock nie wissen konnte, wann er sie wieder brauchte. Eine weitere Routine, die dazu gekommen war, war der Tee. 
 

John liebte seinen Tee. Und er schätzte die Routine. 
 

Er befand sich zwar nicht mehr im Kriegseinsatz, doch Routine erfüllte ihren Zweck auch (oder womöglich sogar gerade) dann, wenn man sich mit Sherlock Holmes eine Wohnung teilte. Sie war es, die John nicht mehr die Beherrschung verlieren ließ, wenn er im Kühlschrank menschliche Körperteile fand. Oder im oberen rechten Küchenschrank ein Glas mit Hühnerbeinen entdeckte. (Ein Experiment, natürlich, aber warum hatte John dann den Eindruck, dass Sherlock jene Dinge immer erst brauchte, nachdem John über sie gestolpert war?)
 

Das Problem an Routine? John war nicht der Einzige, der sie praktizierte. Krankenhäuser lebten von Routine. Sie verkörperten Routine. 
 

John verabscheute sie.
 

~*~
 

Er war geduldig geblieben, als der Chefarzt diesen Morgen zu ihm gekommen war und ihm den Zustand seiner Hand dargelegt hatte.
 

„Die Operation ist erfolgreich verlaufen, Dr. Watson. Die nächsten zwei Wochen müssen sie den Finger unbedingt ruhig halten, danach können Sie beginnen, ihn langsam wieder zu bewegen. Physiotherapie mit speziellen Übungen wird es Ihnen ermöglichen, ihn beinahe so gut wie vorher einzusetzen.“ 
 

Beinahe. Besser als gar nicht.
 

Und er hatte es erduldet, als die Krankenschwester Silvia ihn bei seiner ersten Mahlzeit gefüttert hatte. Mit einer Hand fixiert und dem anderen Arm in einer Schlinge, um das Schultergelenk zu schonen, war er unmöglich dazu in der Lage gewesen, allein zu essen. Er war dankbar dafür gewesen, dass Silvia ihn in ein Gespräch über sein Medizinstudium am Barts verwickelt hatte, um ihn von seiner Verlegenheit abzulenken. Stille hätte es nur schlimmer gemacht.
 

Dann wieder Warten. John wartete - das konnte er am besten.
 

Das Warten selbst war nicht das Problem. Es war die Umgebung. Er hörte den Betrieb vor seinem Zimmer, die Schwestern und Ärzte, Zimmerkontrollen – Routine. Überall Routine.
 

Er musste aufs Klo, brauchte Hilfe. Schaffte es gerade, den Knopf für die Schwester zu drücken. Nicht einmal zehn Sekunden vergingen, da öffnete sich die Tür und Silvia lächelte ihn warm an. „Nur keine Sorge, Dr. Watson“ (Dr. Watson nannten sie ihn alle. Nicht John. Dr. Watson.) „Das kriegen wir schon hin. Das ist alles Routine.“ (  )
 

Routine. Er befand sich keine vierundzwanzig Stunden im Krankenhaus und hielt es bereits nicht mehr aus.
 

John wartete weiter. Schlief. Das Narkosemittel der Operation war noch nicht ganz aus seinem System. Wenn er die Augen aufschlug, war er einige Sekunden lang orientierungslos. Dann erinnerte er sich und drängte die Gedanken beiseite. Wartete stattdessen lieber.
 

Nachmittag. Ein kurzer Besuch von Silvia. „Einen Tee, Dr. Watson? Brauchen Sie noch Schmerzmittel? Rufen Sie mich bitte, sobald etwas ist.“
 

Lächeln. Verneinen. Bedanken. Warten.
 

Ein privates Krankenhaus. Mycrofts Handschrift. Als ob John Wert darauf legte, dass er auf einem Bett mit teuren Laken lag und frische Blumen auf der Fensterbank standen. Dass der Fernseher einen flachen Bildschirm hatte und dass alle dreißig Minuten (wie ein Uhrwerk, Routine, Routine) jemand nach ihm sah und fragte, ob er etwas brauchte.
 

Sie würden es ihm nicht geben können. Was er wirklich brauchte.
 

Sei still, John. Denk nicht daran. Warte.
 

Abendessen. Die gleiche peinliche Prozedur wie beim Mittagessen. („Sie werden sehen, in ein paar Tagen brauchen Sie mich nicht mehr, Dr. Watson. Sobald die Reizung Ihres Schultergelenks abgeklungen ist, müssen Sie die Schlinge nicht mehr tragen.“)
 

Ruhe kehrte auf den Fluren ein. Rasche Schritte wurden kürzer und langsamer. Türen schlossen sich leiser als vorher. Ein abendlicher Check. Routine.
 

John nahm die letzte Dosis Antibiotika und Schmerztabletten für den Tag. Schloss die Augen und hieß den Schlaf willkommen.
 

„Worauf kann der große Sherlock Holmes wohl eher verzichten? Auf seine rechte Kniescheibe oder die linke Schulter?“ Ein Schuss. Stille. Dann Atem. Eine Person. Nur eine Person. „Planänderung, Watson. Du kannst kommen und ihn abholen.“

Nein. Neinneinnein!

Sherlock!

Er schlug die Augen auf. Sein Körper bäumte sich für einen Moment auf und erinnerte sich dann daran, dass keine akute Gefahr herrschte. Schmerz schoss durch seine Schulter und ging über in ein stetiges Pochen, synchron zu seinem Herzschlag.
 

Ein Blick auf die Uhr verriet John, dass es noch viel zu früh war, um wach zu sein. Nicht einmal auf die Seite drehen konnte er sich. Er fixierte die Decke und begann, sich die Einzelteile seiner Waffe vor Augen zu rufen. Setzte sie zusammen und nahm sie anschließend wieder auseinander.
 

Nach Stunden musste er wieder eingeschlafen sein. Als er aufwachte, war er nicht allein.
 

Mycroft saß neben seinem Bett in einem Besuchersessel. John war sich nicht sicher, ob der Sessel schon gestern dort gestanden hatte. Er konnte sich sogar vorstellen, dass er eigens für Mycroft Holmes dorthin gestellt worden war.
 

John tastete nach der Fernbedienung für sein Bett und ließ das Kopfteil hochfahren, bis er aufrecht saß und erst dann schenkte er dem älteren Holmes seine Aufmerksamkeit. 
 

Sekunden-, vielleicht auch minutenlang sprach keiner von ihnen. John sah es nicht ein, als erster das Wort zu ergreifen. Mycroft schien ihn mit seinem Blick systematisch zu analysieren und mit einer leichten Veränderung seiner Haltung zu einem Ergebnis gekommen zu sein. „Ich war so frei, Ihre Krankenakte zu lesen.“
 

John wusste nicht, welche Reaktion von ihm erwartet wurde. Er konnte nicht behaupten, dass er sonderlich überrascht war. 
 

„Und ich habe mit dem Chefarzt gesprochen. Sollte der Heilungsprozess weiterhin so gut vorangehen, können Sie das Krankenhaus Ende der Woche verlassen.“
 

John reagierte mit keiner Geste und Mycroft schien dies als Einladung zu sehen, fortzufahren: „Um die Finanzierung Ihres Aufenthalts müssen Sie sich keine Gedanken machen. In der Zwischenzeit wurde auch Ihr Appartement aufgeräumt und gereinigt.“
 

Einen Moment lang fürchtete John, sich übergeben zu müssen. (Das Bild des Blutflecks hatte sich vor seinen Augen manifestiert.) Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.
 

Mycroft wartete darauf, dass er etwas sagte.
 

John gab sich geschlagen, denn die Schmerzen in seiner Schulter hatten in den letzten Minuten immer weiter zugenommen. Die nächste Dosis Schmerzmittel war fällig. Er hatte keine Lust darauf, auf Mycroft zu warten.
 

„Wo ist er?“
 

Mycroft Holmes war nicht nur der große Bruder von Sherlock Holmes, er war auch Großbritanniens gottverdammte inoffizielle Regierung. Dennoch schien ihm die Frage, diese drei einfachen Worte, mehr Unbehagen zu bereiten, als ein Sicherheitsleck der Stufe Vier im Verteidigungssystem.
 

„Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich und erfüllte somit Johns Befürchtungen. 
 

Die Enttäuschung, die sich in seinen Gliedern ausbreitete wie Blei bekämpfte er nicht. Er lag ohnehin schon auf dem Rücken, was sollte ihm also noch passieren?
 

„Und Moran?“
 

„In Gewahrsam. Er wird kein Problem mehr darstellen.“
 

Wenigstens etwas. Frag ihn, drängte es ihn unterdessen und John versuchte, den nagenden Gedanken zu unterdrücken. Frag ihn, verdammt nochmal, frag ihn einfach!

Es machte doch keinen Sinn. 
 

John fragte trotzdem.
 

„Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“
 

„Nachdem man Sie wegbrachte. Nachdem Moran sichergestellt war, hatte ich viele Dinge zu klären. Gespräche. Bürokratie. Ich ließ meinen Bruder am Tatort zurück.“ John konnte genau hören, wie bitter Mycroft dieses Wort schmecken musste. Tatort. Der Ort, an dem Moran beinahe Sherlock umgebracht hätte. „Seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Er scheint die Überwachung zu umgehen.“
 

Also konnte Big Brother doch nicht alles sehen. 
 

„Okay.“
 

Für John war das Gespräch damit beendet. Mycroft sah das ganz offensichtlich anders. Er verschränkte seine Hände und beugte sich vor. „Dr. Watson. John.“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause. „Ich bin über das, was gestern passiert ist, informiert. Ich weiß, was Sie für Sherlock getan haben.“
 

John ertrug Mycrofts Blick nicht länger und sah zur Seite. Er bereute nicht, was er getan hatte. Gott, er bereute keine Sekunde davon. Aber Dank von Mycroft Holmes zu erhalten war nicht nur gruselig, es war beängstigend. Und John war ohnehin schon viel zu aufgewühlt, um auch noch damit konfrontiert zu werden.
 

„Ich will Sie nicht länger behelligen, John.“ Vornamensbasis. Mycroft war mit ihm offiziell auf Vornamensbasis. Wie schon gesagt: beängstigend. „Aber eines sollten Sie wissen.“ Er stand auf und griff nach dem Regenschirm, der, wie John in diesem Moment bemerkte, die ganze Zeit am Sessel gelehnt hatte. „Er hätte das gleiche für Sie getan.“
 

War Mycroft sentimental geworden? Diese Worte sollten John wohl trösten.
 

Wenn er wüsste. Sie fraßen John Stück für Stück weiter auf.
 

-*-
 

Der nächste Besucher war Lestrade, einen Tag später. Er klopfte an die halbgeöffnete Tür, während Silvia gerade die Reste des Mittagessens auf ein Tablett räumte. Sie nickte Lestrade lächelnd zu, dann verließ sie mit einem letzten, warmen Blick auf John den Raum.
 

John mochte Silvia. Zwar waren die Worte, die sie miteinander wechselten, nicht mehr als Smalltalk, aber genau das brauchte er. Zerstreuung. Ablenkung von der Routine. Außerdem kommentierte sie nicht weiter, dass er nach wie vor Hilfe beim Essen brauchte.
 

„Sie sehen gut aus“, sagte Lestrade und sein Blick wanderte durch das Zimmer. „Nett. Mycroft Holmes?“
 

John kam nicht umhin, zu schmunzeln. „Offensichtlich, was?“
 

Etwas von der Anspannung wich aus Lestrades Haltung. Er deutete auf den Sessel, der seit Mycrofts Besuch von niemandem angerührt worden war. (Was wohl bedeutete, dass der ältere Holmes es sich vorbehielt, wieder zu kommen.) John zuckte mit der gesunden Schulter. „Nur zu.“
 

Lestrade zog seinen Mantel aus und legte ihn über die Lehne, dann setzte er sich. „Ich hätte ja etwas mitgebracht, aber ich dachte, Sie sind nicht so der Typ für Blumen und der Tee aus dem Yard wäre auch mehr eine Zumutung gewesen, daher ...“ Er präsentierte seine leeren Hände. „Sehen Sie sich einfach eingeladen, wenn wir nach Ihrer Entlassung in einen Pub gehen.“ (süüüß!)
 

John hob die Brauen. „Tun wir das?“
 

Lestrade lächelte grimmig. „Moriarty ist aus der Welt und Moran sehr bald hinter Schloss und Riegel. Ich behaupte, das ist ein Grund zum Feiern. Meine Vorgesetzten haben heute Morgen inoffiziell angestoßen“, fügte er hinzu und schnaubte. „Tun so, als wäre es ihr Verdienst gewesen. Die Verhandlungen mit Mycroft Holmes laufen noch. Das Scotland Yard würde sich Morans Festnahme nur zu gerne auf die eigenen Fahnen schreiben.“
 

„Beamtenpolitik.“
 

„Wem sagen Sie das? Aber genug davon. Wie geht es Ihrer Hand?“ 
 

„Den Umständen entsprechend. Der Chirurg hat gute Arbeit geleistet und es werden wohl keine bleibenden Schäden zurückbleiben. Aber die Immobilität nervt“, gestand er schließlich. „Und das Krankenhaus. Eigentlich will ich nur zurück in die Baker Street.“
 

Der Inspektor nickte. Die Stille, die sich nun zwischen ihnen ausbreitete, war nicht unangenehm, aber John hatte das Gefühl, Lestrade wollte noch etwas sagen und brachte es nur noch nicht ganz über sich. 
 

„Lestrade“, begann er, wurde jedoch von einer Handbewegung des anderen Mannes unterbrochen. 
 

„Greg.“
 

„Bitte?“
 

„Wie lange kennen wir uns jetzt?“
 

„Ähm ... etwa vier Monate?“
 

„Ein viertel Jahr. Lange genug, um uns beim Vornamen zu nennen, finden Sie nicht auch?“
 

„Oh. Gut. Greg. Das Gleiche gilt natürlich auch umgekehrt.“
 

„Okay.“ Der Inspektor strich sich abwesend durch die Haare. „Also, John. Weswegen ich auch hier bin ... ich wollte mich entschuldigen.“
 

„Wofür?“
 

Lestrade Hände bewegten sich unruhig. „Wofür?“, wiederholte er und schüttelte ungläubig den Kopf. „John, ich war bei euch, bevor Moran euch verschleppt hat. Ich ... ich bin da gewesen und war so wütend auf Sherlock, dabei hat er mich bewusst provoziert, nicht wahr? Oh, ich war so aufgebracht und es ist mir erst eine Stunde später klar geworden, dass ich vorgeführt worden war. Und dann habe ich einen Anruf von Mycroft Holmes‘ Assistentin erhalten, die mir mitteilte, dass man Moran in einem Appartement gefasst hätte, in dem er euch festgehalten hatte. Dass man dich ins Krankenhaus bringen musste, weil er dir beinahe einen Finger abgeschnitten hatte.“
 

Johns Herzschlag hatte sich bei den Worten beschleunigt. Den ganzen Nachmittag noch einmal aus der Sicht einer anderen Person erzählt zu bekommen, war zwar nicht ganz so schlimm, wie sich daran zu erinnern, aber dennoch genug. 
 

„Das wäre nicht passiert, wenn ich darauf bestanden hätte, dass ihr mit aufs Revier kommt.  Und das hätte ich, wenn ich nicht so sauer gewesen wäre.“ Lestrades Gesicht war eine Maske der Schuld. „Und das tut mir leid.“
 

Eine Welle von Empathie erfasste John. Das Scotland Yard konnte ja so ungemein froh darüber sein, einen Inspektor wie Lestrade zu haben. 
 

„Es ist nicht deine Schuld“, sagte er schließlich und fühlte sich in diesem Moment so verdammt hilfsbedürftig. Er konnte Lestrade noch nicht einmal auf die Schulter klopfen, um ihm zu zeigen, dass er es ernst meinte. Stattdessen musste er versuchen, es in Worte zu fassen. „Die Situation war ... unglücklich. Aber alles, was passiert ist, nachdem du gegangen warst, wäre so oder so geschehen. Nichts davon werde ich dir zum Vorwurf machen. Und Sherlock auch nicht“, fügte er hinzu, weil er wusste, dass Lestrade diesen Zuspruch brauchte (und es war egal, wie wütend ihn die alleinige Nennung des Namens machte).
 

„Danke. Das ... ist gut. Trotzdem hätte ich euch mitnehmen sollen.“
 

„Moran wäre früher oder später zu uns gekommen.“
 

Plötzlich wurde John etwas ganz anderes bewusst. Lestrade hatte kein einziges Mal danach gefragt, wo Sherlock war. Und das war verdächtig, denn bei Johns letztem Krankenhausbesuch (zwei Monate vorher, nachdem er in eine unschöne Prügelei verwickelt worden war, als er für Sherlock einen Verdächtigen hatte ablenken sollen) war Sherlock die ganze Zeit nicht von Johns Seite gewichen. 

Dass Sherlock jetzt nicht hier war hätte Lestrade verwundern müssen. Es sei denn, er wusste, dass Sherlock sich nicht einmal in der Nähe des Krankenhauses befand. Der Gedanke musste ihm anzusehen gewesen sein. Lestrade setzte sich etwas aufrechter hin. 
 

„Hat er dich geschickt?“, fragte John und seine Stimme zitterte. „Um zu sehen, wie es mir geht? Dass ich noch lebe. Dass ich meinen Zeigefinger noch habe? Weil er er es nicht über sich bringt, Mycroft zu fragen?!“
 

Lestrade hob abwehrend die Hände. „Nur um eines klar zu stellen: Ich war bereits auf dem Weg hierhin. Ich war in der Eingangshalle, als er mir die SMS geschrieben hat.“
 

„Ich will sie sehen.“
 

Kein bitte. Auch nicht wenn möglich. John biss die Kiefer so fest aufeinander, dass sie beinahe ächzten, während Lestrade in die Innentasche seiner Jacke griff und ein paarmal das Menü bediente. Anschließend hielt er John das Display entgegen.
 

Update über Johns Gesundheitszustand erforderlich. SH

„Hast du ihm schon geantwortet?“, fragte John. Lestrade zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf. „Dann schreib ihm, dass es mir großartig geht. Hervorragend.“ John schnaubte und starrte aus dem Fenster. „Einfach nur hervorragend.“
 

„Solltest du es ihm nicht selbst sagen?“, fragte Lestrade und klang dabei so verflucht einfühlsam, als wäre John ein verschrecktes Tier. Er war nicht zerbrechlich! Das hätte doch spätestens das Aufeinandertreffen mit Moran zeigen sollen. Seinem Körper mochte es schon besser gegangen sein, aber er konnte das wegstecken.
 

Was viel schwerer zu ertragen war, war Sherlocks Abwesenheit. Verdammt.
 

„Er hat sich bisher geweigert, eine Aussage zu machen“, eröffnete Lestrade unvermittelt. „Schiebt es auf seinen Bruder. John, ich weiß nicht, was genau vorgestern passiert ist, aber ich kann dir sagen, dass ich Sherlock noch nie so außer sich gesehen habe. Als ich am Tatort eingetroffen bin, hatte Mycroft Holmes‘ Team Moran längst weggebracht und du warst bereits mitten in der OP, wie man mir mitgeteilt hatte. Meine Leute haben den Tatort übernommen, nur Sherlock ...“ Lestrade hob die Schultern. „Er wollte nicht gehen.“
 

John sah ihn nicht an. Er wollte das nicht hören und gleichzeitig doch. Nur eben von Sherlock selbst und nicht von einem dritten. 
 

„Ich musste ihn anschreien, damit er sich von einem Sanitäter untersuchen ließ und selbst dann hat er sich noch geweigert, in ein Krankenhaus zu fahren. Er hat einfach nicht aufgehört zu reden. Die ganze Zeit hat er etwas gemurmelt und mein Team damit beinahe in den Wahnsinn getrieben. Schließlich habe ich ihm ein Taxi gerufen und ihn aus dem Appartement geworfen.“
 

„Und dann?“
 

„Ist er trotzdem geblieben. Und hat zugesehen. Er hat nicht einmal mehr Anderson beschimpft.“
 

Scheiße.
 

„Er stand unter Schock. Es hat ihn nicht einmal gestört, dass sein Hals und seine Kleidung blutig waren.“
 

John schwieg. Nach ein paar Minuten schien Lestrade zu erkennen, dass mit keiner weiteren Reaktion zu rechnen war. Er stand auf und griff nach seiner Jacke. Bevor er sich zum Gehen wandte, zögerte er, dann legte er sein Telefon auf Johns Nachttisch. „Ich hole es morgen wieder ab.“ Und gab John damit gleichzeitig die Aussicht auf einen weiteren Besuch. „Keine Sorge“, fügte er hinzu, als John Anstalten machte, zu protestieren. „Ich habe noch meinen Pager.“
 

John lauschte den sich entfernenden Schritten.
 

-*-
 

Das Problem an allem war, dass John so unglaublich enttäuscht war. Er hatte nicht von Sherlock erwartet, dass er die ganze Zeit bei ihm blieb. Er war nicht so naiv gewesen, anzunehmen, Sherlock würde für ihn alles stehen und liegen lassen.
 

John war nicht dumm. Er hätte nie von Sherlock erwartet, sich zu ändern.
 

Und trotzdem ...
 

Es war gut gewesen. Ihre Situation. Ihre Beziehung (wenn man es denn so nennen konnte). John hatte gedacht, dass sie einen guten Weg gefunden hatten. 
 

Und nun versteckte Sherlock sich vor ihm. Wich ihm aus. Mied ihn. Idiot
 

Warum? Weil er Angst hatte? Weil John ihm gezeigt hatte, wie viel er für ihn aufs Spiel setzen würde?
 

„Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle gewesen.“
 

John ließ sich mit einem Stöhnen zurück in die Kissen sinken. 
 

Oh, Sherlock.
 

-*-
 

Am späten Nachmittag hielt er es nicht mehr aus. 
 

Er drehte sich zur Seite und starrte Lestrades Telefon lange an, dann griff er umständlich mit der freien Hand danach und schnaufte gegen den Schmerz in seiner Schulter. Er navigierte sich umständlich durch die Adressliste des Handys (warum konnte das nicht bei allen Mobiltelefonen gleich sein, sondern benötigte immer modernste Fachkenntnisse?!). 
 

Sherlock Holmes.
 

John sah den Namen lange an. Vierzehn Buchstaben, die sein Leben nach Afghanistan mehr verändert hatten, als die zwanzig Stunden mit seiner Therapeutin.
 

Er schloss die Augen und drückte die grüne Taste. Sein Atem war unnatürlich laut, als er das Telefon ans Ohr hob und dem Wahlton lauschte. Seine Schulter beschwerte sich nur geringfügig über die Bewegung.
 

Beim dritten Klingeln nahm Sherlock ab. „Eine Nachricht hätte gereicht.“ Er klang müde. John schluckte. Sherlock klang müde. „Ging es nicht früher?“
 

Das war eine schlechte Idee gewesen. Sherlocks Stimme allein erstickte sämtlichen Frust und ließ nichts weiter zurück als ein Verlangen nach seiner Gesellschaft. Er fehlte John.
 

„Lestrade.“ Sherlocks Tonfall klang genervt. Johns Griff um das Handy wurde mit jeder Sekunde schwächer. „Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für Scherze.“
 

Ein humorloses Lachen gurgelte in Johns Kehle. Sherlock musste es gehört haben, denn er war auf einmal absolut still. Nicht einmal sein Atmen war mehr zu hören.
 

„John?“
 

Und ebenso plötzlich kehrten sämtliche Gefühle zurück, vermengten sich und wurden zuviel. John legte auf.
 

An der gegenüberliegenden Seite des Raumes sprang die Uhr auf sechs Uhr dreiunddreißig. „Was tue ich hier?“, murmelte John, und dann etwas lauter: „Was tue ich hier?“
 

Zehn Sekunden später begann das Handy in seiner Hand zu vibrieren.
 

Eingehender Anruf: Sherlock Holmes

Es vibrierte einmal. 
 

Zweimal.
 

John Watson wusste nicht, was er tun sollte.
 

Dreimal.
 

Viermal.
 

Er wusste nur, was er wollte.
 

Fünfmal.
 

Wen er wollte.
 

Stille. Sherlock hatte es aufgegeben. Warum schmerzte diese Erkenntnis mehr als alles andere?
 

Plötzlich vibrierte es wieder und Johns Magen machte einen Satz. Noch beim ersten Summen nahm er den Anruf entgegen.
 

„Sherlock.“
 

„John.“
 

Wo bist du gewesen? Ich habe auf dich gewartet, Sherlock. Ich hätte dich gebraucht. Glaubst du, nur dir fällt es schwer, sich daran zu erinnern? Glaubst du, du bist der Einzige? Idiot. Idiot. Denkst du, ich bereue, was ich für dich getan habe? Du bist doch der Ermittler von uns beiden. Du fehlst mir.

Alles, was John sagte, war: „Komm her, Sherlock.“
 

„John ich -“ 
 

„Es ist mir egal, okay? Komm einfach her. Bitte.“
 

Er ließ das Telefon sinken und beendete den Anruf. 
 

Dann wartete er. 
 

-*-
 

Er musste eingenickt sein, denn draußen dämmerte es bereits. Sherlock stand vor seinem Bett und starrte auf ihn herab. Keine Regung in seinem Gesicht ließ erkennen, was er gerade dachte. 
 

Zumindest hatte er seine Kleidung gewechselt. Er trug ein sauberes Hemd ohne Blutflecken und sein Hals war bandagiert. Die Arbeit war jedoch alles andere als ordentlich. Vermutlich hatte Sherlock es auf die Schnelle selbst gemacht. Allein dafür hätte John ihm am liebsten eine verpasst. 
 

„Leichtfertiger Idiot“, murmelte er und musste dennoch lächeln. Sherlock nach all den Stunden endlich zu sehen, richtete etwas in seiner Brust. 
 

„John.“
 

Die Art, wie Sherlock ihn ansprach, ließ John gleichzeitig all die anderen Dinge bemerken: Die geschlagene Haltung seiner Schultern, die noch unnatürlichere Blässe seines Gesichts, die weit offenen, blutunterlaufenen Augen, die Spuren von Blut an seinem Kinn.
 

Einen Moment lang musste er sich fühlen wie Sherlock, denn all diese Beobachtungen verknüpften sich plötzliche geradezu selbstständig zu einem Strang von Schlussfolgerungen: 
 

Hat letzte Nacht nicht geschlafen. Hat seit mehr als achtundvierzig Stunden nichts gegessen. Ist dehydriert. Hat die Verletzung an seinem Hals zwar verbunden, sich jedoch nicht vorher geduscht oder die Wunde gesäubert. Nur oberflächliche Blutspuren wurden entfernt, vermutlich von Mrs Hudson. Hat Schmerzen in der Seite, verlagert sein Gewicht mehr auf den rechten Fuß.
 

Und über all dem die Erkenntnis: Steht noch immer unter Schock. War die ganze Zeit allein. 
 

„Gott“, flüsterte John und richtete sich auf. Er ignorierte den Protest seiner Schulter, denn alles, woran er denken konnte, waren die viel zu glasigen Augen des Detektivs vor sich. „Verdammt, Sherlock. Hast du etwas genommen?“
 

Sherlock blinzelte bei seinen Worten und der seltsame Schimmer aus seinen Augen verschwand. John hätte nicht in Worte fassen können, wie erleichtert er darüber war.
 

„Sei nicht albern. Niemand in London würde mir noch etwas verkaufen, dafür hat Mycroft vor Jahren gesorgt.“
 

„Es wäre nicht das erste Mal, dass Mycroft etwas nicht verhindern kann.“
 

Bei den Worten verdüsterte sich Sherlocks Gesicht und etwas Defensives schlich sich in seine Haltung. (John erinnerte sich an die Bruchstücke des Gesprächs, das er gestern mitbekommen hatte, kurz bevor man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte.)
 

„Nein, nicht das erste Mal.“ Er schwieg, dann brach es geradezu aus ihm heraus: „Was hast du dir dabei gedacht, John?! Nein, vermutlich hast du gar nichts gedacht! Jeder vernünftige Mensch hätte überlegt, ehe er in eine Wohnung mit einem bewaffneten, kaltblütigen Mörder gerannt wäre. ,Blind ins Verderben‘, diese Redewendung kann man auf dich zurückführen.“ 

Er begann mit langen Schritten vor dem Bett auf und ab zu laufen. „So viele Faktoren, die du ignoriert hast. Ich dachte, du bist ein Soldat, hat man euch nicht beigebracht, wie man sich in Krisensituationen verhält? Oder legte eure Ausbildung die systematische Ausblendung jeglicher Vernunft nahe?“
 

Sherlock musste all das loswerden. John konnte sich nur vorstellen, was die Rädchen von seinem Verstand in den letzten Stunden alles an Arbeit hatten verrichten müssen. Und auch Sherlocks Körper musste kurz vor dem Kollaps stehen. 
 

Der Consulting Detective fuhr in seinen Ausführungen fort, als wäre atmen optional: „Nur weil er mich als Geisel hatte, war das für dich kein Freifahrschein für unüberlegtes Handeln, John. Wozu besitzt du ein Handy? Moran hätte mich so schnell nicht umgebracht, er hätte es hinausgezögert. Sein Anruf sollte dich nur aus der Reserve locken, er hätte mich nicht gleich umgebracht, wenn du es nicht in der vorgegebenen Zeit geschafft hättest! Hast du nicht gemerkt, dass er bluffte? Es (Er) hätte sich Zeit mit mir genommen, selbst, wenn du nicht freiwillig zu ihm gekommen wärest!“
 

„Sherlock.“
 

„Was hättest du getan, wenn ihm die ausgekugelte Schulter nicht gereicht hätte? Wenn er begonnen hätte, dir systematisch jeden Knochen im Körper zu brechen? Oder wenn er dir wirklich jeden einzelnen Finger abgeschnitten hätte? Hast du ernsthaft geglaubt, er würde mich dafür gehen lassen?“ Sherlock wirbelte zu ihm herum. Und dieses Mal zeigte sich auf seinem Gesicht all die Verwirrung und Wut, die sich in ihm angestaut hatten. „Erklär es mir, denn ich denke seit neunundvierzigeinhalb Stunden darüber nach und verstehe es nicht, John.“
 

Oh, es musste Sherlock wahnsinnig machen, die Antwort nicht selbst zu finden. Es rieb ihn auf und er hatte John die ganze Zeit gemieden, weil er ihm nicht entgegentreten wollte, ehe er es verstanden hatte. Sherlock Holmes hasste ungelöste Rätsel. 
 

John machte eine rasche Kopfbewegung. „Komm her.“
 

In diesem Moment wirkte Sherlock Holmes wie ein unkontrollierbarer Tornado. „Ich glaube nicht“, entgegnete er und baute sich vor John auf. „Nach all dem, was deine Krankenakte sagt, bist du für nichts von dem, was ich im Moment mit dir tun will, in annähernd körperlicher Verfassung.“
 

Ein heißer Schauer fuhr Johns Rücken hinab. Er schüttelte den Kopf, denn Sherlock hatte Recht. Dafür war weder der richtige Zeitpunkt, noch der angebrachte Ort. 
 

„Dann verschieben wir das auf einen anderen Tag. Komm trotzdem her.“
 

Sherlock näherte sich wie ein nervöses Tier. „Und?“
 

„Setz dich.“
 

Der Detektiv verengte die Augen. „Nein.“ Er wirbelte herum und marschierte zurück in die Mitte des Raumes. „Wenn hier jemand Forderungen stellt, dann bin ich das.“ John 

hörte ihm kaum zu, denn er hatte bemerkt, dass Sherlocks Bewegungen abgehackter waren als vorher. Sein Körper hatte angefangen, sich gegen die Dauerbelastung zu wehren.
 

John knurrte, warf die Decke beiseite und hatte das Bett verlassen, als Sherlocks Beine unter dem Detektiv nachgaben. Er schlang den unverletzten Arm um Sherlocks Hüfte, darauf bedacht, nichts mit seiner fixierten Hand zu berühren. Dann stützte er siebzig Kilo schlaffen Consulting Detective.
 

„Oh“, sagte Sherlock leise und mit echter Überraschung.
 

John schnaufte, teils vor Anstrengung, teils vor grimmiger Belustigung. „Verstehst du jetzt, warum du dich setzen solltest?“
 

John manövrierte sie zurück zu seinem Bett und setzte Sherlock darauf ab. Dann umrundete er das Bett und legte sich wieder hin. Ihm war schwindelig. Er schloss die Augen gegen das sich drehende Zimmer und konzentrierte sich darauf, seine Atmung zu beruhigen. 
 

Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn. „Du bist noch zu schwach, um das Bett zu verlassen. Aber du hast kein Fieber.“
 

„Ausgezeichnet ermittelt, Holmes.“
 

John spürte warmen Atem auf seinem Gesicht und Sherlocks Stirn berührte seine. „Da sind zu viele Gedanken, John. Alle drehen sich um dich und ich kann sie nicht abstellen.“
 

John lehnte sich zurück und musste Sherlock nicht einmal mit sich ziehen. Er presste sein Gesicht in Johns Halsbeuge und atmete gegen seinen Nacken. „Das ist absolut irrational.“
 

„Angst ist nie rational, Sherlock.“
 

„Angst.“ Sherlock schwieg lange und sagte schließlich: „Angst ist lästig. Mein Körper betrügt mich und meine Gedanken gehorchen mir nicht.“
 

„Willkommen in meiner Welt.“
 

„Normalerweise kann ich mich immer von Emotionen distanzieren. Arbeit bleibt Arbeit.“
 

„Und bekanntlich bist du mit ihr verheiratet.“
 

Sherlock schnaufte gegen Johns erwärmte Haut. „Offenkundig.“
 

„Weiß sie, dass du sie betrügst?“ Sherlocks Hand an seinem Kiefer ließ John verstummen. 
 

„Genug mit der Metapher.“ Sherlock dirigierte Johns Gesicht so, dass er ihn problemlos küssen konnte.
 

„Es ist normal, Angst zu haben“, sagte John später, als es draußen dunkel wurde. Bisher hatte niemand sie gestört, keine Schwester hatte vorbeigesehen und John ahnte - nein, wusste -  dass er Mycroft dafür zu danken hatte. Zuvorkommender Schnösel. 
 

Sherlock reagierte nicht, aber er atmete nicht flach genug, um schon zu schlafen. John lauschte dem Geräusch einige Sekunden, dann fuhr er fort: „Du musst einfach lernen, damit zu leben.“
 

„Lästig.“
 

„Was wäre die Alternative?“
 

Er hatte den ganzen Tag Zeit gehabt, um sich die Frage zu stellen. Und er würde es Sherlock noch nicht einmal verübeln können, wenn dieser eine Beziehung ablehnen würde. Sherlock war nicht der Typ, sich mit jemandem ,nieder zu lassen‘ und den gemütlichen Alltag einer Partnerschaft zu leben.
 

„John, ich kann förmlich hören, wie sich die Räder in deinem Kopf drehen. Hör auf damit, es stört.“
 

„Was ist die Alternative, Sherlock?“ Wenn Sherlock tatsächlich vorhatte, das hier zu beenden, noch bevor es richtig begonnen hatte, dann musste John es jetzt hören. Vielleicht steckte er noch nicht tief genug drin, um mit einer Freundschaft allein leben zu können. Verdammt, er sprach hier von Sherlock Holmes. John wäre mehr als in der Lage, die Freundschaft zu akzeptieren, wenn er nicht gezwungen war, zu dem Zustand zurück zu kehren, in dem er unmittelbar nach Afghanistan gelebt hatte.
 

„Es gibt keine Alternative“, behauptete Sherlock und richtete sich auf. Er sah noch immer müde und mitgenommen aus, aber etwas von der altbekannten Schärfe war in seinen Blick zurückgekehrt. Er musterte John und schien etwas in seinem Gesicht zu lesen.
 

„Du denkst, du hättest ihn gefunden: Den Plan-B, sollte ich dir jetzt in aller Logik darlegen, welche Gründe gegen eine Beziehung sprechen. Denkst du, es ist so einfach, John? Zurück zum Ausgangspunkt und so tun, als wäre all das zwischen uns nicht passiert? Oh, wie hat er das gewusst?“, imitierte er Johns Stimme und - genau genommen - auch dessen Gedanken in jenem Moment. „Einfache Observation. Es entsteht eine Falte auf deiner Stirn, wenn du angestrengt nachdenkst und das passiert eigentlich nur, wenn es um mich geht.“ Er lächelte selbstgefällig. 
 

„Und jetzt werde ich dir erklären, warum dein Plan nicht aufgeht: Weil ich es nicht will. Als Freund hast du meinen Geist stimuliert, mich an Tatorten Dinge wahrnehmen lassen, die ich sonst erst später gesehen habe. Was könnte ich noch alles sehen, wenn ich dich als Partner habe?“
 

„Also bin ich nur ein Hilfsmittel, mit dem zu zufällig auch schläfst?“, fragte John schmunzelnd, aber Sherlock stieg nicht mit ein.
 

„Nicht zufällig“, erwiderte er und richtete sich ganz auf. „Du bist Teil meiner Arbeit, John. Und Teil von allem anderen. Daran ist nichts mehr optional.“
 

„Und da will mir noch jemand sagen, du hättest keinen Sinn für Romantik.“
 

„Es sind Tatsachen. Romantisierung ist nichts weiter als ein Euphemismus deinerseits.“
 

„Wenn du das sagst.“ Einige Sekunden lang beobachtete er das Gesicht des verrückten, einzigartigen Detektivs, dann wurde er ernst und er spürte, wie das Lächeln seine Lippen losließ. „Mach das bitte nicht noch einmal, Sherlock.“
 

„Was?“
 

Sherlock Holmes war vieles, aber nicht schwer von Begriff. „Du weißt genau, was ich meine. Du hast versucht, dich von mir zu distanzieren, als dir klar geworden ist, was eine Beziehung alles bedeutet. Mit dir befreundet zu sein, ist alles andere als ungefährlich. Mit dir zusammen zu sein, wäre-“
 

„Verrückt?“, murmelte Sherlock und obwohl er sich gut unter Kontrolle hatte, entging John der bittere Tonfall nicht.
 

„Ein bisschen.“ Er stieß Sherlock mit dem gesunden Ellbogen an, bis dieser seinem Blick wieder begegnete und ließ ihn mit einem Lächeln wissen, dass es nichts Negatives war. Was hatten die Leute Sherlock in seinem Leben wohl noch alles an den Kopf geworfen?
 

Freak. Weirdo. Psychopath.

Es war nicht so, dass Sherlock es den anderen Menschen leicht machte. Er war ehrlich, schmerzhaft direkt und Zurückhaltung war für ihn ein Fremdwort. Sherlock legte keinen Wert auf Taktgefühl, er sprach das Offensichtliche aus, auch wenn es andere blamierte oder bloßstellte. 
 

Es war nur natürlich, dass darauf nicht nur mit Bewunderung für seine erstaunliche Auffassungsgabe reagiert wurde. 
 

Was die wenigsten sahen, das waren Sherlocks menschliche, liebenswürdige (und leicht schräge) Seiten. Aber es gab für den Detektiv auch gar keinen triftigen Grund dafür, diese Seite anderen zu zeigen, das verstand John. Mrs Hudson bekam sie hin und wieder zu sehen (auch wenn Sherlock es im Nachhinein bestreiten oder durch einen scharfen Kommentar ausgleichen würde) und auch Lestrade hatte Sherlock schon anders kennen gelernt.
 

Letztendlich war Sherlock Holmes genauso wenig perfekt wie jeder andere Mensch. Er hatte seine Fehler, seine Macken und es war nicht immer leicht, sein Freund zu sein. Wie schwer würde es dann werden, Sherlocks Partner zu sein?
 

John hatte ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Sherlock wartete darauf, dass er noch etwas sagte. 
 

„Ich bin in Afghanistan einmarschiert, das war ziemlich verrückt. Dagegen ist das hier nichts für mich.“
 

Sherlocks Mundwinkel zuckten und John zog ihn zu sich, presste die Lippen gegen seine Schläfe. „Es ist okay, wenn du mich mal ignorierst, aber vergiss einfach nicht, dass ich warte. Denn ich habe auf dich gewartet, Sherlock.“
 

„Ich weiß.“
 

„Natürlich weißt du das“, murrte John. Sherlock wüsste es nur dann nicht, wenn John ein Teil des Sonnensystems wäre. „Und es war verdammt langweilig hier.“
 

Viel länger würden sie wohl nicht ungestört bleiben. Irgendwann würde eine Schwester kommen müssen, um nach John zu sehen und um den Verband zu wechseln. 
 

„Wir müssen noch über gestern reden“, bemerkte er schließlich, denn auch wenn für den Moment die Situation okay war, im Großen und Ganzen war noch nicht alles geklärt. 
 

Sherlock richtete sich auf. „Worüber müssen wir noch reden? Ich habe dir gesagt, was ich von deinem heldenhaften Rettungsversuch halte.“ Sein Blick gewann etwas von der Distanz zurück, die er am Anfang ihres Gesprächs gehabt hatte. „Du warst verantwortungslos, John. Ich hatte Moran nicht zu mir gelockt, nur damit du dich ihm freiwillig als weiteres Druckmittel präsentierst.“
 

„Druckmittel für was? Er hatte dich schon, Sherlock! War dir nicht klar, dass er Rache für Moriartys Tod nehmen würde? Und sag mir nicht, dass es dein Plan war, dich von ihm fassen zu lassen.“
 

Sherlock schwieg und John starrte ihn sprachlos an. Nach ein paar Sekunden räusperte er sich. „Willst du mir damit sagen, dass du dich freiwillig hast entführen lassen?“
 

„Bin ich je unfreiwillig entführt worden?“, entgegnete Sherlock bissig und John schüttelte fassungslos den Kopf.
 

„Du hast- das war alles-?“, er rang nach Worten, während ihm Blut ins Gesicht schoss und dann platzte es aus ihm heraus: „Du Vollidiot!“
 

Sherlocks Augenbrauen wanderten in die Höhe, während John begann, Sherlock in bildhafter Sprache darzulegen, wie absolut bescheuert er war und dass man so eine vollkommen absurde Idee nicht einmal einen Plan schimpfen durfte.
 

Als John Luft holen und für kurze Zeit schweigen musste, blinzelte Sherlock sichtlich irritiert. Bevor er jedoch selbst etwas sagen konnte, hatte John wieder genug Atem und knurrte: „Du solltest den Raum verlassen.“
 

Sherlock war bereits blass, doch es schien noch genug Blut in seinem Gesicht zu Zirkulieren, um zu sehen, wie es ihm entwich. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und stammelte - ja, er stammelte: „J-john, das-“
 

„Du sollst nicht gehen“, präzisierte dieser und verfluchte seine Verletzungen dafür, dass er sich nicht mit der Hand über das Gesicht streichen konnte. „Du sollst mich nur ein paar Minuten allein lassen, bevor ich etwas Unüberlegtes tue.“
 

Sherlock rührte sich nicht. John gab ihm weitere drei Sekunden, bevor er in schärferem Tonfall hinzufügte: „Jetzt, Sherlock. Fünf Minuten. Bitte.“
 

Der Detektiv erhob sich vom Bett und warf einen letzten Blick zurück auf John, dann verließ er langsam das Zimmer. Ehe er die Tür hinter sich zuzog, rief John ihm hinterher: „Und wehe, du haust jetzt ab, verstanden?“
 

Sherlock warf einen letzten Blick über die Schulter und John wusste nicht, ob er es sich einbildete, aber er hörte keinen Widerspruch. John musste wohl seinen Soldatentonfall benutzt haben. Vielleicht hätte ihm das in der Vergangenheit schon früher mit Sherlocks Launen geholfen.
 

Die Ablenkung hielt jedoch nicht lange an und John musste sich wieder damit auseinandersetzen, dass Sherlock Holmes nicht nur absolut leichtsinnig war, sondern darüber hinaus noch immer selbstzerstörerische Tendenzen besaß. Das war nichts Neues für John, aber im Fall von Moran konnte man geradezu von selbstmörderischen Tendenzen reden. Er wollte sich nicht ausmalen, was Moran Sherlock alles angetan hätte, wenn er nur die Zeit dafür gehabt hätte und wenn John nicht unüberlegt gehandelt hätte.
 

Was ihn zum nächsten Punkt brachte: Wenn Sherlock sich absichtlich hatte entführen lassen, dann musste das Teil eines Plans gewesen sein. Sherlocks Mobiltelefon in der Baker Street mit der Aufnahme seines Dialogs mit Moran war ein Indiz dafür. Aber was genau war der Plan gewesen?
 

John war versucht, den Detektiv (der aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar vor der Tür lauerte, darauf wartend, dass die fünf Minuten verstrichen) wieder hereinzurufen, aber die Antwort traf ihn genau in diesem Moment. Das fehlende Puzzleteil: Mycroft. Natürlich
 

Lestrades Mobiltelefon lag auf Johns Nachttisch und er tastete vorsichtig danach. John konnte sich nicht sicher sein, aber er hegte schon länger die Vermutung, dass Lestrade und Mycroft miteinander in Kontakt standen. Wenn Mycroft John im Auge behielt und regelmäßig das Gespräch mit ihm suchte, dann war es bei Lestrade bestimmt nicht anders. 
 

John schmunzelte, als er in Lestrades Adressbuch eindeutig auf Mycrofts Nummer stieß, eingetragen unter dem Namen: Big Brother. Der Inspektor besaß Humor und die angebrachte Diskretion. 
 

John drückte die Anruf-Taste und wartete. Es klingelte genau einmal.
 

„John“, antwortete Mycroft ohne weitere Begrüßung. Er hätte sich nicht darüber gewundert, hätte er nicht mit Lestrades Handy angerufen.
 

„Woher-“
 

John.“ Und der Tonfall war mehr Antwort, als jede Erklärung, denn er bedeutete ,Ich bitte Sie, wenn ich Ihnen das erklären muss, dann können wir das Gespräch gleich wieder beenden‘.
 

John beließ es dabei. Da Mycroft ihn beim Vornamen nannte und John ihn bereits ohne Konsequenzen geduzt hatte, beschloss er, es dabei zu belassen.
 

„Du warst in Sherlocks Plan eingeweiht, nicht wahr? War es das, was er meinte, als er in der Nacht von dem Gefallen sprach?“
 

„Ich nehme an, mein Bruder hat sein Versteckspiel beendet?“
 

„Mehr oder weniger.“ Johns Blick verharrte auf der geschlossenen Tür. „Jetzt zu dem Gefallen.“
 

„Ich gebe zu, ich hatte gehofft, Sie hätten das nicht gehört“, erwiderte Mycroft abschätzig. „Dieses Gespräch ist nicht notwendig, John. Es ist alles geklärt.“
 

John lachte leise. „Ich war vielleicht etwas abgelenkt, aber es hätte schon einen Schlag auf den Kopf gebraucht, um eure brüderliche Liebelei nicht mitzubekommen.“ Er konnte sich Mycrofts freudlosen Gesichtsausdruck in diesem Moment nur allzu gut vorstellen. „Und das Gespräch ist absolut notwendig. Was hatte Sherlock vor und wieso ist es so spektakulär schief gelaufen?“
 

„Seien wir realistisch. Was immer mein Bruder vorhatte, mag nicht den geplanten Verlauf genommen haben, aber letztendlich-“
 

„Oh nein, ganz bestimmt nicht, Mycroft. Sherlock hat mich bis vorhin ignoriert, er ist mir aus dem Weg gegangen. Und selbst als er mir gegenüber stand, ist er meinen Fragen ausgewichen, bevor er mit der Wahrheit rausgerückt ist. Er weiß jetzt, wie ich zu seinem Plan stehe, ich habe ihn verdammt nochmal vor die Tür geschickt. Worum ging es bei dem Plan? Warum ist er schief gegangen?“
 

„Wegen Ihnen, John.“
 

„Was?“
 

Mycroft seufzte. „Natürlich hatte ich Leute, die auf den richtigen Augenblick gewartet haben, um zu intervenieren. Unglücklicherweise ist die Situation verkompliziert worden. Ihr Einmischen hat ein direktes Eingreifen unmöglich gemacht.“
 

„Wieso? Ich konnte Moran ablenken, ihr hättet jeden Moment die Wohnung stürmen können.“
 

„Das war irrelevant.“
 

„Wieso?“
 

„Denken Sie, ich ließ Sie und Sherlock nicht überwachen, nach dem Zwischenfall mit Moriarty? Der einzige Grund, warum ich zuließ, dass Moran meinen Bruder mitnahm - neben Sherlocks einzigartigen Sturheit hinsichtlich der Befolgung seines Plans - war der, dass es bisher keine nachweisbare Verbindung zwischen Moriarty und Moran gegeben hat. Beide haben sämtliche Beweise entweder gelöscht oder bewusst vermieden, für den Fall, dass einer von ihnen festgenommen oder getötet würde.“
 

Das war viel zu verarbeiten, es brachte die ganze Sache aber noch nicht auf den Punkt. „Weiter“, forderte John.
 

„Der Plan meines Bruders war, so lange in Morans Gewalt zu bleiben, bis dieser sich durch seine Worte oder Taten“, bei diesem Wort wurde Mycrofts Tonfall säuerlich, „verraten hätte. Das Telefonat, welches er mit Ihnen führte, lieferte bereits genug Beweise und zusammen mit der Audiodatei auf Sherlocks Telefon hätte es genügt, um Moran von jedem Richter der Welt verurteilen zu lassen. Alles, was wir noch brauchten, war die Entführung als absolute Belastung.“
 

Jetzt verstand John auch, warum Mycroft Moran nicht sofort überführt hatte. Moran hatte Polizisten ermordet, es war notwendig, dass sein Prozess öffentlich verlief, weil sonst die Medien und die Bevölkerung die Methoden ihrer Regierung und die Kompetenz des Scotland Yards hinterfragen würden. 
 

Mycroft fuhr fort: „Ein Eliteteam war in Alarmbereitschaft, um Sherlock aus der Wohnung zu holen, aber da waren Sie, John. Ihr Alleingang war unerwartet und plötzlich hatte mein Team die Wahl zwischen zwei Ultra-Priorities mit geringer Überlebenschance oder einer Ultra-Proiority plus Kollateralschaden.“
 

Ob Mycroft gerade genüsslich seinen Tee trank, während er John diese kleine Geschichte erzählte?
 

„Die Situation wurde zunehmend verfahren. Meine Männer hätten eingreifen und einen von Ihnen retten können. Vielleicht auch Sie beide, wenn sie es geschafft hätten, Moran vorher auszuschalten. Das Risiko konnte ich nicht eingehen, darüber hinaus brauchten wir Moran lebend.“
 

„Also habt ihr abgewartet.“
 

„Eine eher politische Reaktion, aber ja. Und wie sich zeigte, taten wir gut daran. Ich bedauere die physischen Blessuren, die Sie erleiden mussten, John, aber die Alternativen wären bei weitem unangenehmer für alle Beteiligten gewesen.“
 

„Das weiß ich zu schätzen“, entgegnete John nüchtern.
 

„Ah, wie es scheint, verliert mein Bruder die Geduld.“ John warf einen Blick zur Tür und Mycroft antwortete, noch bevor er eine Frage stellen konnte. „Er hat mir eine SMS geschrieben und ich möchte seine genauen Worte nicht wiedergeben, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass seine Geduldsspanne nie die längste gewesen ist.“
 

„Telefonierst du nicht gerade mit mir?“
 

„Er schrieb mir auf meinem anderen Mobiltelefon.“
 

John fragte nicht einmal mehr, weswegen Mycroft mehrere Telefone besaß, denn er war sich sicher, die einzige Reaktion darauf wäre sein Name in dem ,Ich-bitte-Sie‘-Tonfall gewesen.
 

„Ich muss gestehen, es überrascht mich, dass er nach sechs Minuten noch immer vor Ihrer Tür wartet.“
 

John ließ die Hand mit dem Handy einen Moment lang sinken, um die Uhrzeit zu prüfen und stellte fest, dass Mycroft recht hatte. „Es war wohl mein Tonfall.“
 

„Nun, wo das geklärt wäre, sollten Sie ihn wohl wieder hereinrufen. Er wird langsam etwas lästig.“ Wenn Mycroft es so ausdrückte, dann schickte Sherlock ihm kontinuierliche Beschimpfungen. „Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Genesung, John.“
 

Damit war die Verbindung beendet. John schnaubte und legte das Telefon zurück auf den Nachttisch, dann hob er die Stimme und rief: „Du kannst aufhören, ihn zu beleidigen und wieder reinkommen.“
 

Er erhielt zunächst keine verbale Reaktion, schließlich aber schwang die Tür auf und Sherlock stapfte zurück in den Raum. „Das war absolut überflüssig. Ich hätte dir alles genau erklären können, es gab keinen Grund, Mycroft anzurufen!“ Seine Augen versprühten Kränkung und unterdrückte Wut.
 

John winkte Sherlock näher, welcher sich nur widerwillig neben ihm auf die Bettkante setzte. „Sherlock, du bist übermüdet und höchstwahrscheinlich dehydriert. Du magst ein Genie sein, aber ehrlich gesagt stehst du noch immer unter Schock - auch wenn du gerade keine Schockdecke trägst. Außerdem brauchte ich die fünf Minuten.“
 

„Es waren sieben“, murrte der Detektiv und verschränkte die Arme.
 

John lächelte müde. „Dann eben sieben. Mycroft hat es mir ohne Umschweife erklärt. Eigentlich hätte er das schon heute Morgen tun können, aber er ist Mycroft und seine Wege sind unergründlich.“ 
 

Sherlock murmelte etwas in seinen nichtvorhandenen Bart. 
 

„Hättest du es mir von allein gesagt?“, fragte John provozierend und richtete sich etwas weiter auf. „Du konntest vor einer Woche nicht einmal zugeben, dass Moriarty dich mit SMS gequält hat, wie wolltest du mir dann erklären, dass du Mycroft darum gebeten hast, mich zu beschützen?“
 

Sherlock Kopf schnellte in die Höhe und er fixierte John. „Das hat er dir nicht gesagt.“
 

„Oh, gelauscht hast du auch noch, als du warten solltest?“ John neigte den Kopf, aber Sherlock wollte nichts davon wissen.
 

„Mycroft hat dir nichts davon gesagt. Du kannst das nicht von ihm wissen, John.“
 

„Ja und nein.“ Als Sherlock nicht reagierte, fuhr er fort. „Ich habe es geschlussfolgert. Überrascht? Ich schätze, das hast du mir nicht zugetraut.“ Er schüttelte den Kopf. „Du hast ihn um einen Gefallen gebeten. Das waren deine Worte. Einen Gefallen, den er nicht hatte einhalten können. Dabei waren wir beide am Leben, du warst sogar verhältnismäßig unverletzt.“
 

Sherlocks Brauen zogen sich zusammen und seine Lippen waren aufeinander gepresst. John wandte den Blick nicht ab und lächelte grimmig.
 

„Denkst du, ich kann Mycroft nicht einschätzen? Er mag mich dafür schätzen, dass ich Moriarty umgebracht habe, aber ich bin nicht so naiv und glaube, er würde von sich aus zögern, wenn es darum geht, dich zu schützen, nur weil es mich gefährden würde. Du bist sein Bruder. Ich bin dein Freund, mehr nicht. Der einzige Grund, weswegen Mycroft seinen Männern nicht den Befehl gegeben hat, dich da raus zu holen, war der Gefallen.“
 

„Du solltest nicht schon wieder verletzt werden“, sagte Sherlock leise. John schluckte gegen den plötzlichen Klumpen in seinem Hals, denn diese Worte von Sherlock Holmes, selbsternannten hochfunktionierenden Soziopathen, zu hören, war einfach nur ...
 

„Verdammt.“ John hob die fixierte Hand und wischte sich mit dem Ärmel seines Krankenhaushemdes über die Augen. Er würde hier jetzt nicht sentimental werden!
 

„Und am Ende hättest du beinahe einen Finger verloren, soviel zu Mycrofts Wort“, zischte Sherlock.
 

„Er hat es versucht.“
 

„Er hat es nicht geschafft, John! Immer wieder sagt er mir, ich soll ihm vertrauen und wenn ich ihn um eine Sache bitte, wenn ich ihn um etwas bitte, dann versagt er. Wie soll ich ihm glauben?!“
 

John griff nach Sherlocks Hand und drückte sie. „Wir sind beide am Leben. Weder Moriarty noch Moran konnten das ändern. Mycroft hat sein Bestes getan und ich bin sicher, dass wir ohne ihn jetzt deutlich mehr Probleme hätten.“
 

„Alles Ausreden.“ Etwas von der Schärfe war aus Sherlocks Stimme gewichen. John Berührung schien ihn ein wenig zu erden.
 

„Vielleicht“, stimmte John ihm zu und spürte etwas von sich abfallen. „Danke.“
 

Sherlock blinzelte. „Wofür?“
 

„Dafür, dass du dich um mich kümmerst.“
 

Sherlock verdrehte die Augen. „Gefühle, John.“
 

„Schrecklich, nicht wahr?“, fragte dieser glucksend und entlockte dem Detektiv damit das erste, ehrliche Lächeln an diesem Abend.
 

„Sie sind unkontrollierbar und ablenkend. Aber vielleicht nicht ganz so gefährlich, wie ich angenommen habe.“ Er machte eine kurze Pause. „Du hast mich vor die Tür geschickt.“
 

„Sag bloß, das war dein erstes Mal? Hat dich noch niemand irgendwo rausgeworfen?“
 

„Oh, sie haben es versucht, aber bisher hat es niemand geschafft.“
 

„Nicht einmal Lestrade?“
 

„Das zählt nicht.“
 

Natürlich.“
 

„Tatortverbot ist etwas anderes als rausgeworfen zu werden.“
 

„Wenn du das sagst.“
 

Sherlocks Hand erwiderte den Druck. Als Silvia wenig später an die Tür klopfte und erklärte, dass es Zeit wurde, Johns Verbände zu wechseln und dass der gute Doktor Watson seine Ruhe braucht, um zu genesen, widersprach Sherlock nicht, sondern setzte sich in den Sessel neben Johns Bett, als ob ihm der Platz gehörte und ließ John keinen Moment aus den Augen. 
 

John starrte an die Decke, um nicht die Wunde an seinem Finger ansehen zu müssen, während Silvia sie mit fachmännischer Miene säuberte und einen frischen Verband anlegte. 
 

Er wandte sich Sherlock zu. Dieser hatte die Handflächen aneinander gepresst, während er Silvias Handgriffe genauestens beobachtete. Einen Moment lang sah er etwas Rohes, Schmerzerfülltes in Sherlocks Blick, dann war es wieder verschwunden.
 

John lehnte sich zurück in die Kissen und schloss die Augen.
 

Es ging ihnen beiden noch nicht gut. Aber sie waren auf dem Weg dorthin und das reichte ihm.
 

[tbc]

Act X

Act X

 

 

Der Polizist war wahrscheinlich so alt wie John und taxierte ihn einige Sekunden lang. Sein Blick blieb kurz an Johns bandagierten Hand hängen, eher er ihm mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen gab, dass er ihm folgen sollte.

 

Sie passierten eine Reihe leer stehende Zellen und schließlich eine, in der ganz offensichtlich jemand seinen Rausch absaß, wenn man dem Gemurmel und den Flüchen trauen konnte. Vor der letzten Tür auf der linken Seite blieben sie stehen.

 

„Eine ganz schöne Nervensäge“, knurrte der Beamte und griff nach seinem Schlüsselbund. „Er kann froh sein, dass er nur eine Stunde bekommen hat und nicht den ganzen Tag.“

 

John sagte nichts, obwohl er dem Mann innerlich zustimmte. Eine Stunde war nachsichtig gewesen.

 

Die Tür schwang auf und John seufzte. Sherlock lag auf der Liege in der Ecke, die Hände in seiner klassischen Denkhaltung unter seinem Kinn und starrte an die Decke. Er drehte den Kopf in Johns Richtung und lächelte süffisant. „Das ganze fing gerade an, langweilig zu werden.“

 

John schüttelte den Kopf. „Du bist unmöglich.“

 

Wie Sherlock Holmes nun einmal war, konnte er selbst diese Redewendung nicht auf sich sitzen lassen. „Was für eine fahrlässige Wortwahl, John.“

 

„Halt die Klappe und steh auf.“ In Johns Stimme lag keine echte Schärfe, er konnte nicht einmal so tun, als wäre er wirklich wütend.

 

Sherlock warf einen letzten Blick an die Decke und rappelte sich auf. Dann rauschte er an dem Polizisten und John vorbei. „Ich brauche mein Handy und meinen Mantel.“

 

John zuckte entschuldigend die Schultern, doch der Polizist winkte ab. „Er ist nicht der Schlimmste, den ich schon hier hatte.“

 

Wenn Sie wüssten, dachte John und verkniff sich ein Lächeln. Er folgte dem Polizisten zurück zu dessen Schreibtisch im Wartebereich und nahm dankend Sherlocks Habseligkeiten entgegen.

 

Der Detektiv lief draußen auf und ab und wirbelte herum, als die Tür aufschwang. John entging nicht, wie vorsichtig Sherlock war, während er ihm den Mantel abnahm. Er wusste, dass John noch immer zwischendurch Probleme mit seiner Schulter hatte und auch wenn er nie etwas dazu sagte, so zeigte es sich doch in kleinen Gesten, wie dieser.

 

Nicht, dass Sherlock öfter danke sagte. Das hätte John nun wirklich Sorgen gemacht.

 

Nachdem Sherlock den Mantel angezogen und seinen Schal gerichtet hatte, reichte John ihm sein Telefon. „War das wirklich nötig?“, fragte er stirnrunzelnd.

 

Sherlocks Blick ruhte auf dem Display seines Telefons. „Der Richter war ein Idiot, genauso wie der Staatsanwalt. Hat die falschen Fragen gestellt. Ich dachte, dafür durchlaufen sie eine langjährige Ausbildung. Du hättest bessere Fragen gestellt, John.“

 

„Ja, klar, danke.“

 

„Du weiß, wie ich das meine.“ Sherlock sah ihn direkt an. „Privatdetektiv hat er mich genannt. Er hätte genauso gut Schnüffler sagen können.“ Er verdrehte die Augen und wandte sich ab. „Privatdetektiv. Ich bin Consulting Detective.“

 

„Sicher doch. Trotzdem hättest du auf den Richter hören sollen, was immer er auch gesagt hat.“ Als John nach seiner Aussage den Gerichtssaal verlassen hatte, hatte ein Beamter ihm mitgeteilt, dass Sherlock eine Stunde Arrest bekommen hatte wegen Missachtung des Gerichts. John kannte die Einzelheiten nicht, aber er hatte Sherlock heute morgen mehrfach daran erinnert, sich zu zügeln. Mehrfach. Nachdrücklich.

 

Ach, was machte er sich hier etwas vor. Als ob Sherlock ihm zugehört hatte.

 

„Der Richter ist ein Idiot“, wiederholte Sherlock und John stieß ihm mit einem gezischten „Nicht so laut!“ den Ellbogen seines gesunden Arms in die Seite.

 

Sherlock sah ihn empört an und John beschloss, es darauf beruhen zu lassen. „Wir sollten nachsehen, ob -“

 

„Die Jury ist noch nicht fertig.“

 

„Wie -“ Sherlock murmelte etwas, das stark nach „offenkundig“ klang und John schluckte die Frage. Stattdessen folgte er Sherlock schweigend bis vor den Gerichtssaal. Dort tummelten sich bereits einige Wartende, die vermutlich gerade von der Toilette zurückgekehrt waren.

 

John suchte sich einen Platz in der Ecke und setzte sich. Durch den Krankenhausaufenthalt war sein Körper noch immer nicht ganz auf der Höhe. Außerdem hatte er noch keine wirkliche Möglichkeit gehabt, seine eigene Aussage zu verarbeiten.

 

Er öffnete die Augen, als Sherlock sich neben ihn setzte, viel dichter als normalerweise notwendig. John lächelte und neigte den Kopf, sich darüber im Klaren, dass dies Sherlock Art war, ihn zu beruhigen.

 

Wie gesagt, es waren die kleinen Gesten, die John schätzte.

 

John dachte an den Moment zurück, in dem er Moran im Gerichtssaal gegenüber gestanden hatte. Nicht direkt, getrennt durch einige Bänke und Meter, aber er hatte dem Mann zum ersten Mal seit dem Angriff in die Augen gesehen und den Blick nicht abgewendet.

 

Du hast nicht gewonnen, Moran.

 

Sebastian Morans selbstgefälliges Grinsen hatte er mit starrer Miene erwidert, während der Staatsanwalt John die bereits geübten Fragen gestellt hatte. (Ist dies der Mann, der Sie angerufen und erpresst hat? Was hat er getan, als sie das Zimmer betreten haben? Hat er gesagt, dass er vorhabe, Sie und Sherlock Holmes zu töten? Sagen Sie den Geschworenen bitte, welche Verletzungen Sie von dem Übergriff davongetragen haben.)

 

John war müde. Er hatte sich tagelang mental auf die Anhörung vorbereitet und es war nicht so schlimm gewesen wie befürchtet. Er konnte froh sein, dass seine und Sherlocks Aussagen die letzten vor dem Schlussplädoyer gewesen waren. Vorgestern hatte Lestrade bezüglich der vier vermissten und tot aufgefundenen Männer, die eine „Anspielung“ auf John Watson dargestellt hatten, seine Aussage abgegeben. Auch die Forensiker vom Scotland Yard hatten ihre Ergebnisse präsentiert, die eindeutig Moran als Täter identifizierten.

 

Gestern hatte Sebastian Moran selbst ausgesagt. John war nicht da gewesen und hatte auch nicht vor, die Aussage nachträglich zu lesen.

 

Das alles war auslaugend. Und auch wenn Sherlock so tat, als würde es ihn nicht berühren, bemerkte John doch die Seitenblicke. Sherlock hatte Johns Aussage nicht gehört, hatte er doch als zweiter Zeuge darauf warten müssen, dass er aufgerufen wurde, aber er war Sherlock Holmes und wusste alles.

 

Oder zumindest das Meiste.

 

„Wenn das hier vorbei ist, brauche ich Urlaub“, sagte John irgendwann und hörte Sherlock neben sich schnaufen.

 

„Vielleicht hat Lestrade einen neuen Fall.“

 

„Nicht deine Auffassung von Urlaub. Nein, richtiger Urlaub, ohne Mordfälle, Angriffe und Chaos. Einfach mal ein paar Tage ...“ Seine Worte verebbten irgendwo auf dem Weg, als er den Kopf drehte und Sherlocks fassungslosem Blick begegnete.

 

John lachte leise. „Du hast recht. Ich hab wohl nicht nachgedacht.“

 

Drei Tage ohne einen Fall und irgendwelche Beschäftigung für Sherlock – das wäre die Hölle, kein Urlaub.

 

„Was hältst du von einem Abend auf dem Sofa?“, schlug er stattdessen vor.

 

„Du hattest die letzten Wochen nur Abende auf dem Sofa, John.“

 

Seit John vor drei Wochen nach einem sechstägigen Aufenthalt aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er die Wohnung nur selten verlassen. Die ersten Tage hatten Sherlock und Mrs Hudson ihn keine Aufgaben übernehmen lassen, weder das Einkaufen, noch das Aufräumen. Erst als John seine Schulter nicht mehr mit der Schlinge hatte schonen müssen, hatte man ihm mehr Freiraum zugestanden. In zwei Wochen würde der Gips entfernt und durch eine stabile Bandage ersetzt werden.

 

In seiner jetzigen Verfassung konnte John keine Verdächtigen durch Londons Hintergassen jagen.Dabei wollte er doch genau das. Eine bessere Therapie gab es für ihn nicht.

 

„Wie wäre es dann mit Essen gehen, um Morans Verurteilung zu feiern?“, fragte er.

 

„Lestrade hat eine Feier angedeutet.“

 

„Hm.“ John überlegte einen Moment. „Und du würdest wahnsinnig gerne hingehen?“

 

Sherlock warf ihm einen Ersthaft-John?-Blick zu und befasste sich dann wieder mit seinem Telefon. John beobachtete ihn einige Sekunden lang dabei, dann siegte die Neugier.

 

„Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?“

 

„Ich lösche Moriartys und Morans Nachrichten.“

 

„Was?“

 

„Du hast mich gehört. Ich werde es ganz sicher nicht wiederholen.“

 

„Du…? Warum jetzt?“

 

„Der Fall ist abgeschlossen.“

 

Genau genommen war er es noch nicht. Es gab noch kein offizielles Urteil. Und genau das machte John stutzig. Sherlock würde für gewöhnlich penibel auf den Moment warten, bis es amtlich war, er würde es nicht vorziehen, das war Sherlock.

 

John legte seine gesunde Hand auf Sherlocks Arm. „Was hat er gesagt?“

 

„Irrelevant. Nach allem, was er getan hat, wird er lebenslänglich bekommen.“

 

„Sherlock.“ John festigte den Druck seiner Hand, bis Sherlock das Handy sinken ließ. „Es gibt ein Protokoll der Verhandlung und ich werde es lesen, wenn du es mir nicht sagst.“

 

„Dazu hättest du keine Berechtigung, du bist kein Polizist.“

 

„Ich würde Lestrade fragen. Ich hab ein Stein bei ihm im Brett.“

 

John sah Sherlock einmal kontrolliert ein und ausatmen. „Er sagte, ich sei wie Moriarty. Nur auf der falschen Seite.“

 

„Und du glaubst das?“

 

„Nein.“

 

„Also war da mehr?“

 

„Als man mich nach draußen führte, rief er mir etwas hinterher. Du hättest mich töten sollen, als du die Chance dazu hattet, Holmes.

 

„Filmreif, wirklich.“

 

„John.“

 

„Sherlock, Moran steht alleine da. Ohne Moriarty funktioniert sein Verbrechernetzwerk nicht mehr. Er ist vor der Öffentlichkeit bloß gestellt, alle seine ehemaligen Komplizen werden sich von ihm distanzieren. Sie werden sich vermutlich einen neuen Anführer suchen.“ Hoffentlich niemanden, der so fixiert auf Sherlock war wie Moriarty oder Moran.

 

Sherlock hatte damit begonnen, weitere Nachrichten zu löschen. John sah sie förmlich verschwinden.

 

Ich habe eine Überraschung für dich <3

- Nachricht gelöscht -

 

Wie wohl Johnnys Gehirn aussieht, wenn es über den Asphalt verteilt ist. Was meinst du, Sherlock? Hat das künstlerischen Wert? Es wäre sicher unbezahlbar, findest du nicht auch?

- Nachricht gelöscht -

 

Mir ist langweilig. Lust, zu Spielen? xoxo

[style type="b"old]- Nachricht gelöscht -

 

„Der Fall ist abgeschlossen“, sagte Sherlock ohne John anzusehen.

 

 

~*~

 

 

Die Jury brauchte insgesamt eine Stunde und sieben Minuten. Dann erklärte sie Moran des fünffachen Mordes, versuchter Entführung, doppelt versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung für schuldig. Das Urteil: lebenslänglich. Wie Sherlock gesagt hatte.

 

Sie verließen das Gerichtsgebäude durch einen Seitenausgang, um den Reportern auszuweichen, die unbedingt ein Interview von dem „heldenhaften Detektivteam“ haben wollten.

 

 

~*~

 

 

„Das war‘s“, sagte John am nächsten Tag und ließ die Zeitung sinken.

 

Polizistenmörder verurteilt! Scotland Yard feiert Ermittlungserfolg

 

Dass der Fall so schnell in die Wege geleitet worden war, war wohl auf Mycrofts Einflüsse zurück zu führen. Moran musste noch im Bewusstsein der Londoner Bürger sein, damit sie nach seiner Verurteilung den Erfolg der Polizei richtig würdigen konnten. Einfache Politik.

 

John faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Wohnzimmertisch.

 

„Es ist vorbei.“

 

Sherlock stand am Fenster und spielte Violine. Er reagierte nicht, aber es klang beinahe so, als mache seine Musik einen kurzen Sprung.

 

John lächelte und lauschte.

 

 

~*~

 

 

„Vielleicht wäre es besser, wenn ich diesen Fall allein bearbeite“, sagte Sherlock eine Woche danach. Lestrade stand im Wohnzimmer der Baker Street und hatte unruhig die Hände in seinen Hosentaschen vergraben.

 

Auf dem Wohnzimmertisch vor Sherlock lagen Akten mit Bildern von Tatorten und Informationen über zwei vermisste Männer.

 

John stand am Kleiderharken und drehte sich langsam mit der Jacke in der Hand zu Sherlock um, der ihn mit seinem Blick zu durchbohren schien.

 

John wählte seine Worte bewusst und sorgsam. „Das will ich nie wieder von dir hören.“

 

Sherlock sah zur Seite und Lestrade machte den Eindruck, als wäre er überall lieber als hier.

 

 

-*-

 

 

„Wir müssen reden“, sagte John zwei Wochen nach Morans Verurteilung zu Sherlock, der auf dem Sofa lag und ihm den Rücken zudrehte. John war gerade vom Arzt zurück gekommen, der ihm den Gips entfernt und ihm eine Adresse für seine künftige Therapie aufgeschrieben hatte.

 

Die Fenster im Wohnzimmer waren weit geöffnet, dennoch konnte John die letzten Spuren vom Zigarettenqualm riechen. Bevor er etwas zu Harsches sagte, ging er in die Küche und setzte Wasser auf. Als er mit zwei Tassen Tee aus der Küche zurückkehrte, war Sherlock verschwunden und sein Mantel hing nicht mehr am Haken.

 

 

~*~

 

 

Sherlock blieb zwei Tage weg. John war außer sich vor Wut und zerbrach drei Reagenzgläser und einen Erlenmeyerkolben. Dann ging er los und kaufte drei neue Reagenzgläser und einen Erlenmeyerkolben. Bei seiner Rückkehr war das Appartement noch immer verlassen.

 

Er legte die Tüten auf den Küchentisch und schlief später auf Sherlocks Bett ein.

 

 

~*~

 

 

John kannte viele Arten von Albträumen.

 

Da waren die, in denen er rannte. Er rannte und suchte etwas, aber er wusste nicht, was es war. Es fehlte ihm - Gott, es fehlte im so sehr! -  doch er konnte es nicht benennen. Er bekam kaum Luft, so sehr vermisste er esihnsie, aber er musste weitersuchen. Denn wenn er es nicht tat, dann ... dann ...

 

Es gab die Albträume, in welchen er wieder in der Schule, Universität oder im Ausbildungslager war und scheiterte. Auf jede erdenkliche Art und Weise. Er vermasselte Prüfungen, Examen, Tests. Manchmal trug er dabei keine Hosen, manchmal fand er einfach keinen Stift.

 

In wieder anderen Albträumen, war er zurück am Pool. Er trug die Semtex-Weste - mal war sie echt, mal nicht. Abhängig davon wurde er am Ende des Traumes in Fetzen gerissen oder überlebte, aber immer (immer jedesverdammteMal) sah er vorher Sherlock sterben. Es blieb nicht bei den roten Laserpunkten auf seiner Stirn, denn einer der Scharfschützen drückte jedesverdammteMal ab. John konnte nichts weiter tun als zusehen und darauf hoffen, dass dieses Mal - bitte, Gott, lass es dieses Mal sein - die Weste echt war und ihn mitnahm. Damit er nicht gezwungen war, länger auf die leblose Gestalt vor sich zu sehen.

 

Dann gab es die Träume von Afghanistan. Es war nie John der starb, immer sah er Kameraden fallen und entweder erreichte er sie nicht rechtzeitig oder er hatte sein Medikit vergessen. Manchmal vergaß er auch einfach die medizinischen Sofortmaßnahmen.

 

Es gab auch abstraktere Afghanistanträume. Dann meinte er, die Stimmen von verstorbenen Soldaten zu hören, die seinen Namen riefen und mit kalten, blutverschmierten Händen nach ihm griffen.

 

Was Albträume anging, war John ein lebhafter Träumer, der das Erlebte meist akustisch an die Außenwelt vermittelte. Es bedeutete ganz einfach, dass er schrie. In manchen Nächten wachte er mit einem Schrei auf, in anderen schrie und stöhnte er minutenlang, eher er aufwachte. (Zumindest hatte Sherlock ihm das so gesagt.)

 

John bewegte sich außerdem viel, wenn er träumte. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Einmal war er in drei Metern Entfernung zu seinem Bett aus einem Kriegstraum aufgewacht und vor etwa zwei Monaten hatte er Sherlock in einer Angriffskombination aus seiner Ausbildung von den Füßen gerissen, als dieser ihn mitten in der Nacht für einen neuen Fall plötzlich geweckt hatte.

 

John hatte gelernt, mit alldem umzugehen. Die Träume waren eine Belastung, ganz klar, aber er wusste, dass er im Alltag die Möglichkeit hatte und Fähigkeiten besaß, um sich und Sherlock zu verteidigen. Es war der neu gefundene Sinn, der ihm half. Selbst wenn er ihn in seinen Träumen nicht spürte, gab er ihm in dem Augenblick nach einem brutalen, unvermittelten Erwachen den nötigen Anker, um wieder ein Gefühl für seine Umwelt zu bekommen.

 

Es war schlimmer gewesen, bevor er Sherlock kennen gelernt hatte, soviel war sicher. Seit   dem Zwischenfällen mit Moriarty und Moran hatte John allerdings auch wieder mit häufigeren Albträumen zu kämpfen.

 

Es gab jedoch noch eine weitere Art von Traum. Eine, vor der ihn noch nicht einmal ein neuentdeckter Sinn ihn bewahren konnte. Denn diese Art von Albraum war ganz anders als der Rest.

 

Es war still. Es gab keine Schüsse, keine Schreie, keine Explosion. Nichts. Und er konnte nichts sehen. Alles um ihn herum war tiefschwarz. Was den nächsten Teil dieser Albträumen so unerträglich machte: Das Fühlen.

 

Es war, als würde er langsam ersticken. Seine Eingeweide zogen sich zusammen und er schnappte nach Luft. Unfähig zu atmen, sich zu bewegen oder zu schreien, konnte er nur warten, bis es endlich vorbei war. Bitte, Gott, lass mich sterben.

 

Wann immer er diese Art von Traum hatte, wachte er genauso auf, wie er eingeschlafen war. Dann schlug er die Augen auf und schnappte nach Luft. Einmal, zweimal, dreißig Mal. Ein Zittern würde nach und nach von seinem Körper Besitz ergreifen, bis er sich schließlich auf die Seite drehte und die Decke enger um sich zog.

 

Diese Art von Traum hasste John. Mehr als jeden anderen. Mehr als alle zusammen. Denn sie machten ihn so unendlich hilflos.

 

Heute war so eine Nacht.

 

John erlebte alles auf die gleiche Art und Weise. Er bekam keine Luft und hoffte, flehte, dass der Tod rasch kam, doch es schien sich Stunden, Tage, eine Ewigkeit, hinzuziehen. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, versuchte sich zu befreien, aber er hatte keine Kontrolle über seinen Körper. Seine Lungen brannten, seine Brust stand in Flammen. Luft Luft. Oder den Tod. Irgendetwas.

 

Er schlug die Augen auf und blickte an die Decke von Sherlocks Schlafzimmer. Im nächsten Moment begann er zu atmen. Tränen der Anstrengung brannten in seinen Augenwinkeln, und irgendwo zwischen siebzehn und achtzehn verschluckte er sich und begann zu husten. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und presste das Gesicht gegen seine Knie. Kein Anker. Kein Anker.

 

Bis zu dem Moment, in dem ein Paar Arme sich um seinen Körper legten und John langsam entwirrten. „Das menschliche Skelett besteht aus 212 Knochen“, murmelte Sherlock dicht an seinem Ohr, während er John zu sich zog und mit unermüdlicher Geduld aus seiner Starre befreite. „Jede Hand besitzt 27. Die Finger haben jeweils drei Knochen. Sie heißen Phalanx distalis, Phalanx media und Phalanx proximalis.“

 

John schloss die Augen und ließ Sherlocks Stimme auf sich wirken.

 

„Daran schließen die Mittelhandknochen an. Ossa metacarpalie eins bis fünf. Die Handwurzel besteht aus insgesamt acht Knochen.“ Sherlock schwieg und John atmete zitternd ein.

 

„Wie heißen sie?“, flüsterte er, obwohl er die Antwort kannte, sie als Student auswendig gelernt hatte. Aber darum ging es jetzt nicht. Er spürte, wie Lippen über seinen Nacken geisterten.

 

„Os scaphoideum, Os lunatum, Os pisiforme, Os triquentrum ...“

 

John schlief ein, während Sherlock ihm auch noch die 26 Knochen des menschlichen Fußes aufzählte.

 

 

~*~

 

 

Am nächsten Morgen wachte John allein auf. Er starrte an die Decke über sich und versuchte herauszufinden, ob Sherlocks Anwesenheit nur ein weiterer Traum gewesen war.

 

Die folgende Nacht machte er nicht einmal mehr den Versuch, in seinem eigenen Zimmer einzuschlafen, sondern legte sich gleich in Sherlocks Bett. Er hatte wieder Albträume, doch die Erinnerung an warmen Atem an seinem Ohr und einen Körper dicht neben seinem ließ ihn danach wieder einschlafen.

 

 

~*~

 

 

Drei Wochen nach Morans Verurteilung begann John mit der Therapie für seinen Hand und seinen Finger. Der behandelnde Physiotherapeut zeigte sich zuversichtlich, dass John mindestens 70% seiner Mobilität und Flexibilität zurückbekommen würde.

 

„Sie werden Schmerzen haben, Doktor Watson“, hatte er mit John mit ernster Miene erklärt. „Die Knochen sind gut zusammengewachsen und die Beugesehnenverletzung in Ihrem Finger ist sofort behandelt worden.“ An dieser Stelle hatte er sich vorgebeugt. „Aber die Kombination der Verletzungen wird Ihnen in Zukunft vielleicht immer Schmerzen bereiten.“

 

John hatte genickt und kommentarlos die ersten Übungen über sich ergehen lassen. Es war ihm schwer gefallen, den tennisballgroßen Schaumstoffball fest in der Hand zu halten, mehrfach war er ihm aus dem schwachen Griff gerutscht. Jeder Misserfolg ließ eine eigene kleine Narbe zurück, aber John hatte die Zähne zusammengebissen und es wieder versucht.

 

Jetzt, zurück in der Baker Street, ließ er sich mit einem Seufzen in seinen Sessel fallen. Seine Hand tat weh und zitterte. Sie war die Beanspruchung nicht mehr gewohnt. Auch mental fühlte John sich ausgelaugt. Sherlock und er hatten die letzten Tage kaum noch miteinander geredet, wenn der Detektiv denn überhaupt mal in der Baker Street war. Seit Johns Entlassung aus dem Krankenhaus schienen Sherlock und er sich in einem Vakuum zu bewegen, als hätte ihr Gespräch an Johns Krankenbett überhaupt nicht stattgefunden.

 

Über kurz oder lang würde etwas reißen und John hatte die nicht gerade vage Vermutung, dass es sein Geduldsfaden sein würde.

 

Er hörte Schritte auf der Treppe, drehte sich jedoch nicht um, als er die Tür zum Appartement aufgehen hörte. Sekundenlang sagte niemand etwas. John knickte schließlich als Erster ein. „Hat Lestrade keinen Fall mehr für dich?“

 

Einen Moment Pause, dann: „Er hat mich nach Hause geschickt.“

 

John schnaubte und stand auf. Er brauchte jetzt einen Tee. „Irgendwann hat auch er genug davon, ständig von dir verbessert zu werden.“

 

„Er ist der Ansicht, das wir reden sollen.“

 

John blieb auf halber Strecke zur Küche stehen. „Ach?“ Als Sherlock schwieg, fragte er: „Und was denkst du? Sollten wir reden?“

 

„John.“

 

Er war froh, dass Sherlock sein Gesicht nicht sehen konnte. Obwohl seine übermäßig gerade Haltung und die angespannte Nackenmuskulatur wohl Indizien genug für seine hochkommende Wut waren.

 

„Nein, Sherlock. Ich habe versucht, mit dir zu reden und du bist mir ausgewichen. Für dich gibt es offensichtlich nichts mehr zu besprechen. Verdammt nochmal“, knurrte er frustriert, „es ist ja nicht so, dass ich mir dir ein Beziehungsgespräch bei Kaffee und Kuchen führen will, weil ich nicht weiß, wo ich bei dir stehe. Aber es geht so nicht weiter.“

 

Sherlock bewegte sich hinter ihm und John warf einen Blick über seine Schulter. Sherlock hatte einen Schritt auf ihn zugemacht, blieb aber unter Johns erzürntem Blick augenblicklich stehen. Sein Gesicht war ausdruckslos. „Das heißt dann also“, begann er.

 

„Dass ich Tacheles reden muss“, verkündete in John im gleichen Moment, in dem Sherlock „Dass du ausziehst“ sagte. Perplex drehte sich John ganz zu ihm um.

 

„Was hast du gesagt?“ Sherlocks Gesichtsausdruck blieb verschlossen und er hatte die Lippen fest aufeinander gepresst. John schluckte. „Du denkst, ich verlasse-“

 

„Die Baker Street“, sagte Sherlock.

 

Dich“, entwich es John. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen und er dachte nicht einmal mehr nach, bevor er die letzte Distanz zwischen sich und Sherlock überbrückte. Dennoch behielt er die Arme dicht an seinem Körper und wagte es nicht, sie auszustrecken. Sherlock sah aus, als würde er unter einer einzigen Berührung auseinander fallen. John rang nach Worten. „Du dummer… dummer Mann.“

 

Sherlock hatte ihn provoziert. Die letzten Tage, die er weg geblieben war und seine offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber Johns Versuchen, mit ihm zu reden waren kalkulierte Provokation gewesen. Weil er noch immer mit seiner Angst nicht klar kam. Sherlock Holmes war es nicht gewöhnt, etwas zu befürchten. Wie konnte jemand mit so viel Verstand nur so blind sein, dass er das Offensichtliche nicht erkannte?

 

Jetzt lächelte Sherlock, aber es war ein böses, zynisches Lächeln, das etwas Heißes in John anstachelte. „Denkst du ernsthaft, dass ich dich einfach so fallen lasse?“

 

„Rein logisch betrachtet-“

 

„Logisch?“, wiederholte John verärgert.

 

Er war noch nie gut darin gewesen, über seine Gefühle zu reden. Er war Engländer, hier trank man seinen Tee und gab sich mit einem Nicken zu verstehen, dass man einander mochte. Aber in diesem Moment war jedes Unwohlsein irrelevant, denn John stand hier vor einem Mann, dem auf ihn gerichtete Zuneigung ein Fremdwort war. Welche Ironie, dass eben dieser Mann wie ein Planet Leute in seine Umlaufbahn zog, nur um sie durch seine natürliche Anziehungskraft mühelos dort kreisen zu lassen, auch wenn er alles andere als einfach war. Mrs Hudson, Lestrade, Molly. John.

 

„Mit dir zusammenzuleben ist anstrengend und ich kann nicht immer mit dir mithalten, aber es ist auch absolut brillant. Ich will keinen Tag wieder so leben wie zu der Zeit, bevor ich dich kennen gelernt habe. Ich will mit dir Verbrecher durch irgendwelche Hinterhöfe verfolgen, ich will, dass du mir erklärst, wie du zu deinen Deduktionen kommst, ich will an Tatorten stehen und dir dabei zusehen, wie du den Tathergang mühelos rekonstruierst. Ich will, dass man auf mich schießt, mich mit dem Messer bedroht oder versucht, mich zu verprügelt, wenn das bedeutet, dass wir ein Team sind.

 

Ich will deine Freundschaft, Sherlock, denn du bist mein bester Freund. Und ich will dein Partner sein, bei deiner Arbeit und außerhalb. Wir werden uns auf die Nerven gehen, ich werde dir manchmal langweilig und dumm vorkommen und du wirst dich wie ein soziopatisches Arschloch benehmen, aber das ist verdammt nochmal das, was wir offenbar brauchen.“

 

Die Unsicherheit war von Sherlocks Gesicht verschwunden, stattdessen hatten seine Augen einen intensiven Ausdruck bekommen. Sein Blick bohrte sich in Johns.

 

„Ich will keine Sonderbehandlung“, sagte John mit Nachdruck. „Ich will nicht zurückgehalten werden, weil du mir den Stress nicht zutraust. Ich will nicht, dass du mich ausschließt.“ Und weil Sherlock immer noch nicht vollkommen überzeugt wirkte, fügte John lauter hinzu: „Und ich werde auf keinen Fall ausziehen!“

 

Sherlock atmete aus, als hätte er die Luft angehalten. Nach einer langen Pause sagte er: „Ich schätze, ich bin der eine Entschuldigung schuldig.“

 

Johns Mundwinkel zuckten. „Du schuldest mir mehr als eine Entschuldigung, Sherlock. Du schuldest mir eine ganze Wagenladung Entschuldigungen, aber warum ersparen wir uns nicht das ganze Hin und Her, wo du doch ohnehin weißt, wie meine Antwort ist: Ich verzeihe dir.“

 

Sherlock öffnete den Mund, doch er sagte nichts. Mit zunehmendem Erstaunen stellte John fest, dass er ihn sprachlos gemacht hatte. Plötzlich spürte er eine Berührung an seiner verletzten Hand. Sherlock legte vorsichtig die Finger um sein Handgelenk und verharrte dort einige Momente konzentriert. Dann entwich ihm ein leises „oh“ und ein ungläubiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, bis es seine Augen erreichte.

 

John sah auf ihre Hände runter und dann wieder hoch in Sherlocks Gesicht. „Und jetzt lass uns bitte die letzten Wochen vergessen, in denen du vor mir weggelaufen bist, und tun so, als ob ich gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden wäre und du mich in unserer Wohnung willkommen heißt. Hallo Sherlock.“

 

„Hallo John.“ Sherlocks Finger glitten über Johns Handrücken bis zur Narbe am Zeigefinger. „Willkommen Zuhause.“

 

Und weil die ganze Situation so verquer war, Sherlock noch immer Johns Hand hielt und sie sich in die Augen sahen wie zwei verknallte Teenager, mussten sie schließlich lachen. Irgendwann verklang das Lachen und wurde ersetzt von abgehacktem Atem.

 

Als Miss Hudson ein paar Minuten später mit einem Tablett voll Sandwiches die Treppe hochkam, machte sie mit einem Kichern auf dem Absatz wieder kehrt. Bevor sie ganz um die Ecke verschwand, warf sie noch einen letzten verzückten Blick zurück und nahm sich vor, Miss Turner bald wieder zu besuchen, um ihr voller Stolz von ihrem eigenen Pärchen in der 221B Baker Street zu berichten.

 

 

[tbc]



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Kommentare zu dieser Fanfic (45)
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Von:  Yukichan696
2014-08-03T19:34:35+00:00 03.08.2014 21:34
Dein ff ist der Wahnsinn!! Das ist einfach nur genial! Du bringst die Personen perfekt rüber und konstruierst die Momente genau wie ich es mag! Ich habe alle Kapitel durchgesuchtet, so gefesselt von der Story *-* ich hoffe du schreibst schnell weiter O.O bitte! möchte unbedingt noch mehr lesen! Ich kann gar nicht mehr warten :D
Ganz lieben Gruß ^-^b
Von:  MrsMischief
2014-08-02T19:42:06+00:00 02.08.2014 21:42
Ich mag dein ff total, ich habe sie immer mal wieder über mein handy gelesen und finde sie sehr interessant.
Du bringst die charaktere echt gut rüber, ich hoffe es kommt mehr ^^
Von:  KyOs_DiE
2014-07-29T16:17:51+00:00 29.07.2014 18:17
Ich habe jetzt in den letzten Tagen, immer wenn ich Zeit hatte, mein Handy hervor genommen und diese Fanfic gelesen. Und ich muss sagen: Ich bin begeistert!
Die Charaktere sind alle so real, so gut vorstellbar. Die Dialoge könnten passender nicht sein.
Ich konnte quasi Moriarty reden hören und gestikulieren sehen. Und nicht nur ihn.

Alles in allem ist es eine tolle Fanfiction und ich bin gespannt, wie es weiter geht :)

LG
Von:  DasIch
2014-01-09T13:15:47+00:00 09.01.2014 14:15
Diese ff ist der Wahnsinn und nicht nur die Story sondern auch das ganze zwischenmenschliche!! Großartig! Ich freu mich schon auf ein neues kapitel
Von:  shikakid
2013-12-30T23:41:17+00:00 31.12.2013 00:41
ich war noch nie gut konstruktive Kritik zu geben, ich kann nur sagen, dass ich echt total überwältigt bin. die charaktere sind so ic und der fall und mycroft...wow..ich hoffe sehr,dass es weitergeht,egal wie lange es dauert,diese story hat das gleiche suchtpotenzial wie d. serie

Von:  DevilsDaughter
2013-11-03T13:34:06+00:00 03.11.2013 14:34
Hey =) hab diese ff jetzt schon etwas laenger bei meinen favs bin aber erst gestern und heute zum lesen gekommen :o
Ich muss sagen, dass ich wirklich begeistert bin wie gut du die einzelnen charakter triffst! Ich liebe die art wiebdu dinge beschreibst und deine ideen sind genauso toll!
Eine ff auf wirklich hohem niveau!

Lg, Devil
Von:  Becka
2013-10-19T09:36:24+00:00 19.10.2013 11:36
Gute Story!Hab sie gestern endeckt und konnte nicht aufhören bis ich alle kap. durch hatte!^^
Freue mich auf die nächsten.
LG Becka
Von:  Mau-Mau
2013-08-03T21:25:46+00:00 03.08.2013 23:25
Große Klasse und super Spannend.
Außerdem finde ich die Dialoge, die du schreibst sehr schön, die Wortwahl und Ausdrucksweise der einzelnen Personen erscheint mir immer sehr passend.
Von:  YuriUsagi
2013-07-30T14:53:31+00:00 30.07.2013 16:53
Wow! Das war echt ein super Kapitel. Ich fand noch mehr Spannung hätte man überhaupt nicht aufbauen können! Die Aufopferung die sich beide entgegen bringen ist wirklich gut beschrieben und ich fand es gut, dass John praktisch in Moran einen ebenbürtigen Gegner gefunden hat. Jeder hat sozusagen mit seinen eigenen Waffen gekämpft und man könnte fast schon sagen, dass Moran als Johns Erzfeind genauso passend ist wie Jim M. für Sherlock: Genie vs. Genie, Soldat vs. Soldat. Das Battle der Sidekicks, oder so^^
Echt großes Kompliment!
Von:  Nara-san
2013-07-30T11:17:40+00:00 30.07.2013 13:17
O^O Armer John! Und wo ist Sherlock! Jetzt sind doch alle bösen gefasst, dann kann er sich auch ins Krankenhaus bewegen!


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