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Word Forward

Sherlock/John (Sherlock BBC)
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung: Gewalt und Blut. Leute mit schwachen Nerven sollten es sich vielleicht zweimal überlegen, in diesem Kapitel werden Menschen verletzt. Komplett anzeigen

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Act VIII

Act VIII
 

Noch am gleichen Abend erhielten sie Besuch von Lestrade. Sein Gesichtsausdruck war ernst und eine ungewohnte Schwere lag in seinem Gang. Er lehnte den Tee ab und setzte sich auch nicht. Stattdessen vergrub er die Hände in seinem Wintermantel und zog die Schultern hoch.

„Ein Polizist wurde vor einer halben Stunde erschossen.“

John öffnete den Mund, doch Lestrade kam ihm zuvor: „Nicht aus meiner Einheit. Streifendienst. Eine Seitenstraße bei Norbury. Die Mordwaffe war ein Scharfschützengewehr.“

„Moran.“

Lestrade sah müde aus. John fragte sich, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. „Ein Schuss aus großer Distanz direkt in den Kopf. Unmittelbarer Tod. Der Polizist war 24, hat dieses Jahr erst die Polizeiakademie abgeschlossen. Noch ein verdammtes Kind.“ Er strich sich durch die Haare.

„Moran langweilt sich“, sagte Sherlock vom Sofa aus. Er stand auf und trat ans Fenster. John war froh, dass er mittlerweile eine Hose und ein Hemd trug. Das Bettlaken hätte der Situation etwas von ihrer Ernsthaftigkeit genommen. „Er ist es leid, zu warten. Scotland Yard ist ihm zu langsam und ich habe bis auf ein paar Treffen mit Informanten noch nicht aktiv nach ihm gesucht.“

„Langeweile?“, wiederholte Lestrade und verzog den Mund. „Dieser Bastard.“

„Er wird weitere Unbeteiligte ermorden.“ Sherlock drehte sich zu ihnen um. „Wenn daraufhin noch immer keine Reaktion erfolgt, wird er die Beherrschung verlieren. Sobald er diesen Zustand erreicht, ist er unberechenbar.“

„Das ist er jetzt nicht?“

Sherlock schnaubte. „Ich bitte Sie, Lestrade.“ Das Ausbleiben einer Erwiderung schien ihn zu frustrieren. „Sehen Sie es denn nicht? All die letzten Morde, die er verübt hat, waren kein spontaner Kontrollverlust. Das waren kaltblütige, strukturierte Tötungen. Exekutionen. Moran ist ein Kontrollfanatiker mit einer kurzen Geduldsspanne. Solange er sich innerhalb seiner Konditionsgrenzen bewegt, ist er ein berechenbarer Killer. Wird seine Ausdauer überschritten, steigt der Kollateralschaden exponentiell.“

„Warum suchen wir ihn dann nicht schon längst?“, fragte John, der sich mittlerweile dafür schämte, den letzten Tag so sinnlos verbracht zu haben, während Menschen starben.

„Weil das direkt in seine Hand spielen würde. Denkst du, er beobachtet uns nicht?“

„Was ist mit Mycroft?“

„Mycroft ist nur so nützlich wie seine Männer. Sie geben gute Zielscheiben ab, so wie ganz Scotland Yard.“

Niemand sagte etwas. Lestrade wirkte, als könne er sich nur mit Mühe beherrschen. Sherlock suchte Johns Blick. „Nicht gut?“

John hatte die Lippen geschürzt und schüttelte den Kopf. „Unangebracht.“

„Es liegt nur daran, dass ihr es nicht seht!“, protestierte Sherlock und warf die Hände in die Luft. Lestrade ballte die Fäuste.

Was, Sherlock?“

„Das ist ein Spiel für ihn! Er sieht die Menschen als Teil seines Plans, sie sind ihm gleichgültig. Es kümmert ihn nicht, ob sie leben oder sterben. Bisher hat er Moriartys Befehle ausgeführt, aber nun, wo Moriarty tot ist, gibt es keine Kraft mehr, die Moran zurückhält.“

„Moriarty hat Moran zurückgehalten?“, echote Lestrade ungläubig.

„Jim Moriarty lieferte Sebastian Moran die Zerstreuung, die er nach seiner unehrenhaften Entlassung suchte. Wäre er nicht gewesen, hätte nichts Moran davon abgehalten, seine Waffe zu nehmen und mitten auf dem Picadilly Circus, im Regens Park oder wo-auch-immer ein Massaker anzurichten, bevor er von der Polizei erschossen worden wäre.“

„Sollen wir Moriarty dafür jetzt dankbar sein?“

„Darum geht es nicht.“

„Worum geht es dann, Sherlock?“, fragte Lestrade. Seine Stimme bebte vor Ungeduld. „Wir haben vier Leichen und einen toten Polizisten. Meine Vorgesetzten wollen den Mörder in Gewahrsam wissen. Allein dass ich jetzt hier bin, verstößt gegen sämtliche Vorschriften. Wenn Sie mir nicht helfen können, sagen Sie es mir und ich gehe.“

„Ihr hört mir einfach nicht zu! Ich habe es euch eben präsentiert. Die einzige Möglichkeit, Moran aufzuhalten. Wie schafft es euer Verstand nur, in dem Tempo zu arbeiten?“ Er schüttelte den Kopf. „Suicide by Cop.“

„Suicide by Cop? Sollen wir weitere Polizisten riskieren?“

„Keine Polizisten.“ John dämmerte, worauf Sherlock hinaus wollte. „Ich brauche eine Polizeiuniform.“

„Zwei“, fügte John hinzu und ignorierte Sherlocks entrüsteten Blick.

Lestrade blickte zwischen ihnen hin und her und lachte erschöpft. „Ganz langsam. Wollt ihr mir ...“ Er unterbrach sich und richtete sich an Sherlock. „Wollen Sie mir damit sagen, dass ich Ihnen eine Polizeiuniform überlassen soll?“

„Und eine Dienstwaffe.“

„Damit Sie was machen kannst?“

„Moran erschießen. Offenkundig.“

Lestrade suchte Johns Blick, als bräuchte er Bestätigung. John konnte nicht mehr tun, als mit den Schultern zu zucken. „Seine Worte. Er meint es ernst.“

„Ich fange gar nicht davon an, wie illegal das alles ist“, begann Lestrade fassungslos und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „Mal ganz abgesehen davon, dass Sie von mir verlangen, einen Mord zu autorisieren. Während gegen John noch ermittelt wird.“

„Kein Mord“, widersprach Sherlock und verdrehte die Augen. „Suicide by Cop.“

Mord, Sherlock. Sie sind keinPolizist.“

Sherlock sagte einige Sekunden lang gar nichts. „Innerhalb der nächsten Stunde wird ein weiterer Polizist sterben. Keine Streife, sondern ein höherer Beamter.“

Der Inspektor schien mit sich zu ringen und kam schließlich zu einem Entschluss. „Nein, Sherlock. Das kann ich nicht verantworten. Keine Uniform und keine Waffe.“

„Es sind Ihre Männer“, erwiderte Sherlock und wandte sich ab. Lestrade starrte auf seinen Rücken, bevor er sich wortlos umdrehte und das Appartement verließ. Sekunden später fiel die Tür unten zu.

„Was bezweckst du damit, Sherlock?“, fragte John und trat neben ihn. Sie beobachteten, wie Lestrade Donovan, welche unten gewartet hatte, etwas sagte und einstieg. Das Blaulicht ging an und sie fuhren los. „Du hast ihn bewusst provoziert.“

„Aufmerksam, John. Wann hast du es gemerkt?“

„Du dachtest, Lestrade würde deinen Plan durchschauen, als ich eine zweite Uniform verlangt habe.“

„Fordert man zu viel, wird er misstrauisch.“

„Nicht in diesem Fall.“ John sah Sherlock direkt an. „Er weiß, dass ich es erst meine. Ich würde dich nicht allein gehen lassen.“

„Du bist verletzt.“

„Verletzt, aber nicht nutzlos. Vergiss nicht, dass du es bei Moran mit einem ausgebildeten Soldaten zu tun hast.“

„Hm.“

„Was hast du jetzt vor?“

„Wir warten.“

„Was ist mit dem Polizist, der in der nächsten Stunde sterben wird?“

„Das ist nicht unser Problem.“

Ein heißes Stück Eisen legte sich in Johns Magen. „Sherlock!“

„Es ist die Aufgabe der Polizei, ihre Männer zu beschützen, John. Ich kann nicht sagen, wo Moran sein wird, ehe ich nicht die letzte Information habe, die ich brauche.“

„Vielleicht können wir es beschleunigen? Nenn mir den Informanten und wir suchen ihn sofort.“ John ging zum Schreibtisch und griff nach Stift und Zettel. Sherlock beobachtete ihn dabei. Sein Mund war zu einer unzufriedenen Linie verzogen.

„John.“


„Nein, Sherlock. Da draußen sterben Unschuldige, während wir warten und nichts tun. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Moran rechtzeitig zu finden und -“

„Und was? Willst du ihm direkt vor die Waffe laufen und es ihm noch leichter machen?“ Sherlocks Stimme war voller Herablassung. „Willst du ihm die Arbeit abnehmen, zu uns zu kommen, und dich ihm schlachtwillig präsentieren?“

„Besser, als nichts zu tun“, knurrte John, dessen Wut mit jedem weiteren Satz von Sherlock zunahm. „Besser als hier zu stehen und so zu tun, alles zu durchschauen und jedem überlegen zu sein.“

Sherlock verengte die Augen. „Wie herrlich muss es sein. So wenig zu wissen und dennoch zu glauben, alles zu verstehen.“

John ließ den Stift fallen. „Ich kümmere mich einfach, Sherlock.“

„Dumm.“ Sherlock trat an ihn heran und griff von hinten in Johns Haare, zog seinen Kopf in den Nacken, sodass er gezwungen war, zu Sherlock hochzusehen. Mit seiner freien Hand strich er John über die Kehle. „Und naiv. Wieso habe ich das nur übersehen? Ich dachte, diese Diskussion hätten wir hinter uns.“

John biss sich auf die Lippen und riss sich los. Wie gerne er Sherlock in diesem Moment einen mit der Faust verpasst hätte, um wieder Vernunft in sein Verhalten zu bringen. Seine Hand war vollkommen ruhig, John kannte die Anzeichen. Er musste hier raus. 
Ohne Sherlock eines weiteren Blickes zu würdigen stürmte er an ihm vorbei zur Tür.

„Wenn du es nicht tust, dann suche ich eben nach Moran.“

„Tu das. Richte ihm meine Grüße aus, wenn du ihn findest.“ Seine Stimme war voller Hohn und John schlug die Tür lauter als notwendig hinter sich zu.

Am Fuß der Treppe wartete Mrs Hudson. Sie trug ihr feinstes Kleid und schien ausgehen zu wollen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und musterte ihn besorgt.

John schloss für einen Moment die Augen, um nicht vor Wut zu schreien. Mrs Hudson war die allerletzte Person, die seinen Zorn verdient hatte.

„Nur eine Meinungsverschiedenheit.“

„Oje.“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm und lächelte fürsorglich. „Wollen Sie einen Tee und darüber reden?“

„Ist schon gut. Sie wollen ausgehen?“

„Oh.“ Sie blickte an sich hinab und errötete. „Nun Lionel aus dem Laden hat mich zu einem Essen eingeladen. Aus heiterem Himmel, können Sie sich das vorstellen? Ich meine, es ist nicht so, dass es keine Anzeichen gab, aber er war bisher immer so schüchtern, verstehen Sie? Ich rechnete kaum noch damit. Ich komme auf meine alten Tage viel zu selten aus dem Haus.“

Er lächelte und hoffte, dass es nicht ganz so verzerrt aussah. „Das ist schön, Mrs Hudson. Genießen Sie Ihren Abend. Ich brauche nur ein wenig frische Luft“, fügte er angesichts ihres besorgten Blickes hinzu.

Er verabschiedete sich und verließ das Haus. Er drehte sich nicht noch einmal um, als er nach rechts bog.

Je länger er lief, desto bewusster wurde ihm, dass er nicht wusste, wohin. Er kannte einige Anlaufstellen von Sherlock, aber er war sich sicher, dass spezielle Informanten gemeint waren, denen er noch nie zuvor begegnet war. Wie sollte er wissen, wo man sie fand?

Nachdem er fünfzehn Minuten planlos umhergelaufen war, blieb er stehen. Er stand vor einem Laden für Versicherungen. An der nächsten Straßenecke in zwanzig Metern Entfernung sah er, wie eine Kamera sich auf ihn richtete.

Irgendetwas störte John.

Er setzte sich langsam wieder in Bewegung und wurde das nagende Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben. Wusste er vielleicht schon, wo er Moran fand?

Er brauchte weitere fünf Minuten, bevor die Erkenntnis sich wie eine Schlinge um seinen Hals legte.

Denkst du, er beobachtet uns nicht?, hörte er Sherlock sagen und direkt danach: Ich dachte, diese Diskussion hätten wir hinter uns.

Er erinnerte sich an Mrs Hudsons Worte: Aus heiterem Himmel, können Sie sich das vorstellen?

Gleich darauf an sich selbst: Er weiß, dass ich es ernst meine. Ich würde dich nicht allein gehen lassen.

Sein Gang verlor an Sicherheit und John blieb stehen. Einige Passanten auf der anderen Straßenseite starrten ihn irritiert an, als er fluchte und auf dem Absatz kehrt machte. Er hatte es schon wieder getan! „Verdammt, Sherlock!“ Er rannte los.

John war außer Atem, als er zurück in die Baker Street bog. Er machte jedoch nicht Halt, um Luft zu holen, sondern joggte quer über die Straße.

Die Vorhänge zum Wohnzimmer waren zugezogen. Sein Magen zog sich zusammen. Als er die Wohnung verlassen hatte, waren sie definitiv noch offen gewesen.

Es war klar, dass es Moran - sollte er tatsächlich bei Sherlock in der Wohnung sein - Johns Ankunft nicht entgehen würde. Er versuchte dennoch, so leise wie möglich zu sein, als er die Tür zu Nummer 221B aufschloss. Auf jedes Geräusch bedacht, schloss er sie wieder hinter sich.

Von oben waren weder Schritte noch Stimmen zu hören. Wenn er sich leise verhielt, dann könnte er in Mrs Hudsons Wohnung und eines ihrer Küchenmesser als Waffe verwenden. Doch ihre Tür war ein Risiko, da John sie oft genug knarren gehört hatte.

Noch immer war von oben nichts zu hören.

Er wusste, dass Adrenalin durch seinen Körper pulsierte. Als Arzt kannte er die Begleiterscheinungen: Verbesserte Sicht, optimiertes Hörvermögen. Als ehemaliger Soldat und mit Sherlock als Partner und Freund war Adrenalin nicht fremd. Er begrüßte es, doch die Erkenntnis, zu welcher er in diesen Sekunden kam, war alles andere als erfreulich.

Es schien, als wäre niemand im Haus.

Er wusste, dass seine Tarnung auffliegen würde, sobald er begann, die Stufen zu erklimmen. Es war zwar möglich, das Knarren der vierten und siebten zu vermeiden, wenn er etwa die Hälfte seines Gewichts auf das Geländer umlenkte, aber die neunte (Komma) zehnte und elfte Stufe stellten das eigentliche Problem dar, da sie bei John immer knarrten. Und seine Beine waren nicht lang genug, um alle drei zu überspringen, ohne weiteren Lärm zu verursachen.

Sämtliche Überlegungen wurden unterbrochen, als oben im Appartement ein Handy zu klingeln begann. Die Melodie erfüllte den Flur und noch immer vernahm er kein weiteres Lebenszeichen.

Er fasste einen Entschluss und nahm zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen schlug er die Tür zur Wohnung auf und stürmte in ein verlassenes Appartement.

Das Handy klingelte noch immer, aber John nahm es gar nicht wahr. Sein Blick war auf einen Blutfleck geheftet, der sich vor ihm auf dem Teppich ausbreitete.
 

~*~
 

Ruhe. Ruhe, John. Konzentrier dich.

Er zwang sich dazu, gleichmäßig weiter zu atmen und ignorierte die Stimme, die immerzu Sherlocks Namen wiederholte. Hysterie war jetzt unangebracht. Er musste funktionieren und dafür musste er klar denken, verdammt!

„Es kann ein Trick sein“, murmelte er und beugte sich vor. Strich mit dem Zeigefinger über den eingeweichten Teppich und betrachtete die Verfärbung seiner Fingerkuppe. Er hatte die Wohnung vor einer halben Stunde verlassen. Das Blut war noch warm. Keine zehn Minuten alt.

Zehn Minuten.

Wenn ich es nur eher erkannt hätte! Er trat den Gedanken beiseite und begann, den Raum zu untersuchen. Keine Einschusslöcher in der Wand oder im Boden. Auch nicht in den Möbeln, soweit er das sehen konnte. Darüber hinaus keine Spur einer Patronenhülse. Entweder stammte das Blut nicht von einer Schussverletzung oder die Kugel war nicht durchgegangen und -

Einen Moment lang drohte die Panik übermächtig zu werden. Genauso schnell hatte John sich wieder unter Kontrolle und entkrampfte seine Hände, die sich zu Fäusten geballt hatten.

Einer Eingebung folgend kehrte er in die Küche zurück und fand Sherlocks Handy neben dem hinteren Tischbein auf dem Boden. Neue Kratzer zierten das Display. Es mochte durch oder nach einem Kampf dorthin gefallen sein, aber abgesehen davon waren kaum Kampfspuren im Appartement. Ein Sessel war verrückt worden, Bücher lagen um das Sofa herum auf dem Boden, Scherben waren neben der Tür verteilt und - John schluckte - der fürchterliche Blutfleck von der Größe einer Faust verfärbte den Teppich.

Er registrierte, dass seine Hand zitterte, während er das Handy entsperrte. Offenbar zeichnete es noch den Ton auf. John beendete die Aufnahme und atmete konzentriert ein und aus, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Sherlock, dieser sture Dickkopf. Das war seine Nachricht an John. Natürlich war er auch im Angesicht von Moran rational geblieben.

Er begann, die Aufzeichnung abzuspielen.

Ein Knall und Schaben. Sherlock hatte das Telefon dorthin geworfen, wo John es gefunden hatte. Als Nächstes hörte er schwere Schritte. Armeestiefel. Er kannte den Klang und das Gefühl der Schuhe an den eigenen Füßen.

„Moran. Drei Minuten später als erwartet.“

„Holmes.“ Zum ersten Mal hörte er Sebastian Morans Stimme. Sie brannte sich ihm ins Gedächtnis und John richtete alle Wut, allen Ärger auf diese Stimme und diesen Mann. „Kein kluger Zug, den Doktor weg zu schicken.“

„Oh, es war ein äußerst durchdachter Zug. Aber ich erwarte nicht, dass du meinen Gedankengängen folgen kannst.“

„So arrogant.“ Das Klicken einer entsicherten Waffe war John so vertraut, wie der eigene Herzschlag. „Bin gespannt, wie du dich aus dieser Situation herausredest.“

Herausreden.“

„Ja, Holmes. So, wie du es immer tust. Darin bist du doch unschlagbar. Reden. Ermitteln. Erkennen.“ Ein abfälliger Laut. „Versuch es.“

Wieder waren Schritte zu hören. John zweifelte keinen Moment daran, dass Sherlock sich Moran genähert hatte. Er kannte den Consulting Detective gut genug, um zu wissen, dass dieser sich durch eine auf ihn gerichtete Waffe nicht aus der Ruhe bringen ließ.

„Maximal dreieinhalb Stunden Schlaf innerhalb der letzten vier Tage. Kein permanenter Aufenthaltsort. Spuren von Kalk und Schotter an den Stiefeln, dazu Reste von Bauschutt und Kies, wie man ihn an der Themse findet. Ein Blick genügt und ich kann aufzählen, wo du innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden gewesen bist.“ Eine kurze Pause, schließlich fügte Sherlock mit einem selbstzufriedenen Ton hinzu: „Und, was du gegessen hast.“

„Beeindruckend.“ Morans Stimme sagte das genaue Gegenteil. „Und so vorhersehbar.“ Sherlock schwieg.

„Dachtest du, Jim hätte mir nicht von dir erzählt, Sherlock Holmes? Davon, dass du es nicht lassen kannst, zu prahlen? Der Welt zu beweisen, wie schlau und überlegen du doch bist? Du kannst mich nicht überraschen.“

„Tatsächlich?“ Johns Nackenhaare stellten sich auf. Er kannte den Tonfall. Er bedeutete, dass Sherlock im Begriff war, etwas außerordentlich Riskantes zu tun. „Auch nicht, wenn ich dir sage, dass deine Fixierung auf Jim Moriarty obsessive Züge hat. Dass du seit seinem Tod das Gefühl hast, herumzuirren, ohne Aufgabe und Zweck. Dass du dich langweilst.“

Morans Stimme verlor etwas von ihrer Fassung. „Denkst du, es wäre so leicht?“ „Oh, ich weiß es, Moran.“

Dann hörte er einen Knall und ein Scheppern. Johns Blick wanderte zu den verteilten Büchern am Fenster und den Scherben neben der Tür. Sherlock hatte den Stapel umgeworfen, um Moran zu irritieren und danach mit der Vase aus dem Piccadilly-Penny- Fall nach ihm geworfen.

John rechnete mit dem Schuss, der Kugel, die ihm vielleicht alles nehmen würde, aber sie blieb aus. Stattdessen hörte er das Keuchen beider Männer, ein Knurren und das Schaben von im Kampf verrückten Möbeln. Anschließend ein dumpfer Aufprall und Stille.

John hielt den Atem an.
Er hörte Sherlock stöhnen und atmete zitternd aus.
Morans Stimme war etwas außer Atem, aber viel zu gefasst. „Guter Versuch, Holmes.“

Ein gedämpftes Geräusch wurde begleitet von Sherlock Husten. Vermutlich hatte Moran ihm in die Seite getreten. Mistkerl.

„Aber so vorhersehbar. Und sieh nur, was du mit dem Teppich gemacht hast. Was glaubst du, wird Watson sagen, wenn er das sieht?“

„Lass...ihn da raus. Wehe, du -“, knurrte Sherlock und seine Worte verloren sich in einem schmerzerfüllten Laut, als Moran wieder zugetreten haben musste. Johns Wut war zu einem heißen Klumpen in seinem Magen geworden.

Du hast genug geredet. Halt den Mund.“ Lange Sekunden hörte er nichts.
„Steh auf. Na los! Hoch mit dir, Holmes.“

Schleifen und Kratzen über den Boden. Die Tür ging auf und fiel mit einem Knall wieder zu. John hörte gedämpfte Schritte auf der Treppe, die immer leiser wurden. Irgendwann war es still.

Er ließ das Telefon sinken. Beinahe hätte er es gegen die Wand geworfen, aber Sherlock hätte das nicht gut geheißen. Er erwartete von John, dass er sich rational verhielt.

Rational. Er hätte lachen können. Als ob er noch irgendwie rational denken konnte, solange Moran Sherlock in seiner Gewalt hatte! Nachdem Sherlock John weggeschickt und offensichtlich auf Moran gewartet hatte. Was hatte er sich dabei gedacht?! Dass Moran sich mit Worten entwaffnen ließ?

In diesem Moment begann wieder die Melodie von vorher zu spielen. Sie stammte nicht von Sherlocks Handy.

John sah sich um und nach einigen Sekunden entdeckte er sein eigenes Telefon auf ihrem Couchtisch. Kalte Erkenntnis breitete sich in ihm aus, während er Sherlocks Mobiltelefon sinken ließ und langsam näher trat. Diese Melodie hatte er nie eingestellt. Er griff nach dem Handy und nahm den Anruf entgegen.

Alles, was er im ersten Moment hörte, war rasselnder, abgehackter Atem. John brauchte nicht mehr.

So musste es sich anfühlen, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und die Realität mit brutaler Gewalt zuschlug.

Sherlock.

„John.“

Der gleiche Mann, den er noch vor einigen Stunden im Schlafzimmer geküsst hatte. Der gleiche Mann, der ihm gesagt hatte, er würde sich nicht ändern. Der gleiche Mann, dessen Kopf für Stunden auf Johns Schoß geruht hatte, während er immer wieder nach seiner gesunden Hand getastet und Johns Puls gezählt hatte.

„Sherlock“, antwortete er und seine Stimme war geradezu erschreckend ruhig. Automatik. Um nicht die Kontrolle zu verlieren, war er wieder zum Soldat John Watson geworden.

Ein Luftholen am anderen Ende der Leitung. Es klang nach mindestens geprellten Rippen. Möglicherweise angebrochen. Hoffentlich nicht gebrochen.

Wie, fragte der unkontrollierbare Teil seines Verstandes, den John einfach nicht ausblenden konnte, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wie kann das sein? Ich war nur eine halbe Stunde weg.

„John Watson, ich sage das jetzt nur ein einziges Mal.“ Sherlocks Stimme hatte gezittert, als er kurz vor seinem Höhepunkt Johns Namen ausgesprochen hatte. Jetzt war sie unnatürlich gleichmäßig. John wusste, dass er Schmerzen haben musste. „Also sperr deine Ohren auf, denn es wird das letzte Mal sein, dass du von deinem heißgeliebten Ermittler hörst.“

Er stieß langsam den angehaltenen Atem aus. Eine Botschaft von Moran also.

„Ihr hättet euch nicht einmischen dürfen“, zitierte Sherlock. „Ihr hättet Jims Warnung ernst nehmen sollen. Ein Meisterverbrecher, der seinen Gegner nicht beim ersten Mal ausschaltet - was bedeutet das?“ Er machte eine Pause und John fragte sich, ob Moran es ihm so aufgetragen hatte oder ob dies Sherlocks Versuch war, etwas Dramatik in die schlecht gewählten Worte zu bringen. „Dass er es nicht versucht hat.“

John kannte diesen Satz. Etwas Ähnliches hatte General Shan zu ihm gesagt, kurz nachdem sie den Abzug der ungeladenen Waffe betätigt hatte.

„Ihr habt einen Fehler gemacht. Ihr dachtet, ihr könntet schlauer sein als Jim. Ihr dachtet, ihr könntet ihn überlisten. Aber da liegt ihr falsch. Ihr werdet nie an ihn heranreichen.“ Wieder eine Pause, die in diesem Fall nichts mit der Dramatik zu tun hatte. John hatte ganz genau gehört, dass Sherlocks Stimme mit den letzten Worten einen beinahe schon gereizten Ton angenommen hatte.

Sherlock holte Luft. John wusste, was das bedeutete, noch ehe er wieder sprach: „Wirklich? Dieser Vergleich scheint mir etwas übertrieben.“ Die Worte waren eindeutig nicht an John gerichtet, welcher sich auf die Lippen bis, um nicht zu stöhnen. Sherlock und seine Klappe!

Ein dumpfer Laut erklang durch die Lautsprecher, dicht gefolgt von einem Keuchen. John hielt das Handy mittlerweile so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte das Geräusch oft genug gehört, um es wieder zu erkennen. Es entstand, wenn man jemanden mit dem Lauf einer Waffe gegen den Kopf schlug.

Als Sherlock weiter sprach, war sein Atem etwas unregelmäßiger als vorher. Doch in seiner Stimme lag ein trotziger Unwille. „Moriarty ist ein Gott unter den Menschen. Er schafft, was andere nicht wagen. Er wagt, was andere nicht denken. Und nun ist er tot und Sherlock Holmes wird dafür büßen.“ Er schwieg. John konnte ihn bloß noch atmen hören. Er klammerte sich an dieses Geräusch, denn es bedeutete, dass er lebte.

Sherlock, versprich mir eins: Hör nicht damit auf.

„Wozu der Anruf?“, fragte John, als Sherlocks Atem nicht mehr genug war.

„Gute Frage“, stimmte Sherlock zu und sein Augenverdrehen war geradezu hörbar. „Ganz davon abgesehen, dass es unnötig theatralisch -“

Wieder ein dumpfer Laut, dieses Mal begleitet von einem Schnappen nach Luft und Husten. Moran hatte Sherlock die Waffe zwischen die Rippen gestoßen.

Dreckschwein.
„Wozu der Anruf?“, wiederholte John und zwang seine Stimme zur Ruhe. Es brachte

nichts, wenn er fluchte. Oder schrie. Oder um Sherlocks Leben bettelte.

Bitte, Gott, lass ihn leben.

„Eine letzte Großzügigkeit, Doktor Watson.“ Endlich sprach Moran selbst. „Warum sich die Mühe machen, Moran?“


„Weil es Jim gefallen hätte.“

Ah. Auch über den Tod hinaus kontrollierte Moriarty Morans sämtliches Handeln. Mit dem Telefon am Ohr im Wohnzimmer der Baker Street kam John zu einer ganz simplen Erkenntnis: Es gab nur eine Möglichkeit, Sherlock zu retten. Er musste Morans Aggression auf etwas anderes lenken.

Jemand anderen.


„Jim ist tot“, bemerkte er.

Moran schwieg. John hörte Sherlock nach Luft ringen. Der Schlag musste seine ohnehin verletzten Rippen getroffen haben.

„Dass er tot ist, heißt nicht, dass sein Plan nicht weiter existiert.“ Aus Morans Tonlage ließ sich bisher noch kein Ärger heraushören. Für Johns Geschmack wirkte er viel zu beherrscht.

„Welcher Plan?“, fragte er, um Zeit zu schinden und Moran aus der Reserve zu locken.

„Stell dich nicht dümmer als du bist, Watson. Er hat es dir gesagt.“

„Bevor ich ihn erschossen habe, nehme ich an?“

Da war es. Ein kurzer Sprung in Morans Atmung. Seine nächsten Worte enthielten eine deutliche Schärfe. „Jims Plan war euch überlegen.“

John schnaubte. „Dein Jim war ein kranker Psychopath. Er hatte Spaß daran, Menschen zu töten oder von dir töten zu lassen. Das hat nichts mit einem Plan zu tun. Das ist nur kranke Phantasie.“

„Sei still!“, befahl Moran und John schluckte den Klumpen Sorge, der ihn daran erinnerte, dass sein Vorhaben auch nach hinten losgehen konnte, sobald Moran beschloss, seine jetzige Wut direkt an Sherlock auszulassen.

„Ich könnte es dir beschreiben, Moran“, sprach er darum weiter und senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. Als er keine Antwort erhielt, wusste er, dass er Morans volle Aufmerksamkeit hatte. „Wie er gestorben ist. Wie das Leben aus seinen Augen wich. Wie sein Blut sich über den Betonboden ausbreitete. Tot war er wie jeder andere Tote.“ Er zischte das nächste Wort regelrecht: „Gewöhnlich.“

Halt die Klappe!“ Morans Stimme war doppelt so laut wie zuvor.

„Im Tod sind wir alle gleich, das müsstest doch gerade du wissen. Und Jim macht da keine Ausnahme. Sein Blut war genauso rot wie das von all den Soldaten, die ich in Afghanistan gesehen habe. Und sein Gesicht.“ John ignorierte die Bilder, die seine eigenen Worte wieder hochbrachten. Verdrängte die Angst. „Du hättest es sehen müssen. Diese Überraschung. Er hat es nicht kommen sehen. Nach all den großen Worten, hat ein einfacher Ex-Soldat ihn kalt erwischt. Schon irgendwie lächerlich oder?“

„Oh, dafür wirst du büßen, Watson.“ Er hörte das Klicken einer entsicherten Waffe. „Worauf kann der große Sherlock Holmes wohl eher verzichten? Auf seine rechte Kniescheibe oder die linke Schulter?“

John begann zu zittern und er schloss die Augen gegen eine grausame Welle von Übelkeit. Schließlich öffnete er den Mund und erwiderte mit einer Gleichgültigkeit, die er nicht besaß: „Irrelevant. Er braucht nur seinen Kopf.“

Ein Schuss durch einen Schalldämpfer.

Durch Johns Körper ging ein Ruck, doch der befürchtete Schrei blieb aus. Stattdessen erklang nun wieder Morans Stimme aus dem Lautsprecher und flüsterte ihm direkt ins Ohr: „Du solltest sein Gesicht jetzt sehen, Watson. So überrascht.“ Moran fütterte John seine eigenen Worte. „Er dachte, ich würde Ernst machen. Tut einen auf beherrscht und gleichgültig, aber es braucht nicht viel, um die Angst in seinen Augen zu erkennen. Was für ein brillanter Kopf, unser Holmes.“

Moran beherrschte sein Handwerk. Er wartete nur darauf, dass John seine Karten zeigte. Wie vor zwei Monaten am Pool. Er lauerte darauf, wie eine Schlange. John machte sich nichts vor. Moran wusste, dass er John am meisten schaden konnte, wenn er Sherlock verletzte. Alles, was Sherlock jetzt noch vor Moran schützte, war dessen Wut auf John und das Verlangen, John nicht nur indirekt, sondern physisch zu verletzen.

Aber das reichte noch nicht. Moran musste noch viel wütender werden. So wütend, dass er John bereitwillig zu sich rufen würde. Das war ein Willenskampf. Und es war von grundlegender Wichtigkeit, dass Moran nicht erkannte, was John vorhatte.

„Noch am gleichen Tag, als ich Sherlock kennen gelernt habe, erschoss ich einen Mann, der ihn bedrohte“, begann John zu erzählen. „Und ich habe Jim eine Kugel ins Herz gegeben, nachdem er ankündigte, Sherlocks Herz zu verbrennen. Was glaubst du, werde ich jemandem antun, der vorsätzlich auf Sherlock schießt?“ Er hörte Morans Atmung durch die Leitung. „Glaub mir, Moran, Jim Moriarty ist noch glimpflich davon gekommen.“

„Oh, Watson“, knurrte Sebastian Moran und John hörte, wie er die Waffe auf einen Tisch oder eine andere Oberfläche ablegte. „Ich bin froh, dass du das gesagt hast. Nein, ganz ehrlich, dadurch machst du es dir und mir so viel leichter.“

Johns Puls beschleunigte sich.

„Ich will dir in die Augen sehen, wenn ich dir jegliche Lebensgrundlage nehme.“

„Wie pathetisch“, murmelte Sherlock und John hätte ihn am liebsten angeschrien, denn er machte die ganze verdammte Situation nicht einfacher!

John überkam blankes Grauen, als ein abgehacktes Würgen erklang. Moran schien sich vom Telefon abgewandt zu haben, denn John hörte seine Stimme jetzt viel leiser und offensichtlich direkt an Sherlock gerichtet: „Noch ein Wort, Holmes, und ich schwöre, du wirst deine Zunge bald in den Händen halten.“

„Ist das ... eine Drohung?“ Sherlocks Stimme war gepresst und John stellte ich vor, wie Moran eine Hand gegen seine Kehle presste und langsam zudrückte. Kalte, mörderische Wut breitete sich in seinen Eingeweiden aus.

„Nein, das verspreche ich dir.“

„Hat dir das auch Moriarty beigebracht?“, fragte John und hoffte, dass seine Worte nicht zu sehr nach Ablenkungsmannöver schrien. „So gestelzt zu reden? Du scheinst ja ein wirklich wissbegieriger Schüler gewesen zu sein.“

„John...“ Sherlocks Stimme war nur noch ein atemloses Keuchen.

„Schnauze, Holmes!“, fauchte Moran.

Als ob Sherlock sich je den Mund verbieten lassen würde. Nicht einmal John hatte das je geschafft. „Yoricks ... Trittbrett, John.“ Ein Husten.

„Du sollst still sein!“

Die Verbindung wurde unterbrochen. Sämtliche Selbstbeherrschung fiel von John ab. „Nein!“ Er starrte auf das Handy. „Nein! Verdammt, nein! Sherlock!“

Yoricks Trittbrett. Sherlock und er hatten einen Code, der aus mehreren Begriffskombinationen bestand. Dieser Code wuchs ständig um weitere Vokabeln, aber Yoricks Trittbrett war eine der ersten gewesen. Es bedeutete: Nicht einmischen. Abwarten.

Es brachte nichts. Er konnte gar nichts tun, während Moran Sherlock womöglich gerade erwürgte oder sein Versprechen wahrmachte und ihm die Zunge-

John stolperte zum Waschbecken in der Küche und erbrach das kümmerliche Frühstück, das er heute gehabt hatte. Mit zitternder Hand tastete er nach dem Hahn und ließ das Wasser laufen. Sein Kopf war leer. Er spürte nichts.

Plötzlich vibrierte das Handy auf der Arbeitsfläche, wo er es hingeworfen hatte. So schnell hatte er sich noch nie auf ein Mobiltelefon gestürzt.

Eine Nachricht. Nummer unterdrückt.

Schau aus dem Küchenfenster, Watson.

John wischte sich mit dem Handtuch über den Mund, beugte sich vor und schob die Gardine ganz zur Seite. Seine Augen weiteten sich, als er auf der anderen Seite in der dritten Etage des gegenüberliegenden Gebäudes die Gestalt eines Mannes am Fenster erblickte, der ihn direkt ansah und grinste.

Jetzt verstand er, wie Moran es geschafft hatte, Sherlock unter Mycrofts wachsamen Auge aus dem Appartement zu verschleppen. Es bedeutete aber gleichzeitig, dass John die ganze Zeit ein leichtes Ziel für Moran dargestellt hatte.

Erleichterung durchflutete ihn bei dieser Erkenntnis. Der Umstand, dass er noch lebte und nicht durch einen Distanzschuss getötet worden war, machte deutlich, dass es Moran wichtig war, John gegenüber zu stehen, ehe er ihn umbrachte.

Eine weitere Nachricht erhellte das Display.

Du hast drei Minuten. Schaffst du es nicht, ziert Holmes Gehirn die Tapete.

Der Mann am Fenster nickte einmal und wie auf ein Zeichen rannte John Watson los. Aber nicht um sein Leben. Sondern um Sherlocks.
 

~*~
 

Manchmal wünschte er sich, er beherrschte Sherlocks Fähigkeit, mit Handys umzugehen. Dann müsste er sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, ob die blind im Rennen an Mycroft geschriebene Nachricht die Adresse und einen Hilferuf enthielt oder nur aus kryptischen Zeichen bestand.

Doch dafür hatte er jetzt keine Zeit. Auch nicht für einen Plan.

Er nahm zwei Stufen auf einmal, während in seinem Kopf der Timer lief, den Moran ihm gestellt hatte. Es reichte gerade so. Moran hatte ihm keine Hausnummer genannt, aber in der dritten Etage gab es nur zwei Wohnungen und John hatte von ihrem Fenster aus gesehen, dass Moran sich in der linken aufhielt.

Er drückte die Tür auf und trat ein. Seine Begrüßung war eine Faust in den Magen. Stöhnend sackte er in sich zusammen und landete auf der Seite. Dabei begrub er die gebrochene Hand unter seinem Körper und heiße Wellen in seinem Arm gesellten sich zum blendenden Schmerz in seinem Bauch. Er blinzelte dagegen an und erblickte Morans hämisches Grinsen unmittelbar über sich.

„Willkommen, Doktor Watson.“ Moran packte ihn am Oberarm und zog ihn auf die Beine. John versuchte, sich von ihm loszureißen, doch er wurde herum gerissen und mit dem Gesicht voran gegen die Wand neben der Tür gepresst. Morans Körpergewicht hielt ihn bewegungsunfähig. Gleichzeitig verdrehte er Johns rechten Arm so stark, dass er befürchtete, seine Schulter würde jeden Moment aus dem Gelenk springen. Er biss gegen den Schmerz und atmete flach. Die Tapete schabte gegen seine Wange.

„Nur keine Dummheiten“, sagte Moran dicht an seinem Ohr. „Sonst muss ich Maßnahmen ergreifen, ehe der Spaß überhaupt angefangen hat.“

Kaltes Metall schloss sich um Johns gesunde Hand. Der Gips verhinderte, dass Moran beide Hände hinter seinem Rücken fesselte. Er zerrte John durch den Raum zu einer Heizung, anschließend befestigte er das Paar Handschellen an einem der Rohre.

John war somit dazu gezwungen, sich entweder hinzusetzen, oder zu knien. Sein Blick suchte Sherlock, der auf einem Küchenstuhl saß, die Hände auf dem Rücken gefesselt und so weit auf dem Stuhl nach unten gerutscht, dass seine langen, ausgestreckten Beine beinahe allen Platz vor sich einnahmen. Er versuchte damit, den Druck auf seinen Oberkörper zu verringern.

Nach seiner Haltung zu urteilen machten ihm die sechste bis achte Rippe auf der linken Seite zu schaffen. Viel auffälliger war jedoch die Platzwunde an seiner Stirn, die nicht nur sein Gesicht, sondern auch den Kragen seines Hemdes beschmiert hatte und von welcher vermutlich auch der Blutfleck in ihrem Appartement stammte. Keine Stichwunde. Er musste sie sich in ihrem Appartement zugezogen haben, als Moran ihn überwältigt hatte. John hätte beinahe vor Erleichterung gelächelt. Nichts, was sich nicht auskurieren ließ. Dazu im schlimmsten Fall eine leichte Gehirnerschütterung durch Morans Schläge mit dem Pistolenlauf.

Dann traf Johns Blick auf Sherlocks und jedes medizinische Urteil war vergessen. In Sherlocks Augen lag blanker Vorwurf.

Wieso bist du gekommen, John?, schien er ihn zu fragen, dabei war es doch so offensichtlich, dass gerade Sherlock sich die Frage selbst hätte beantworten müssen.

Weil dir nichts passieren darf.

„Genug der Wiedersehensfreude“, unterbrach Moran und trat zwischen ie. „Watson, du bist nur aus einem einzigen Grund hier: So sehr es mir auch Vergnügen bereitet hätte, dich von hier aus durch das Fenster zu erschießen - und wir beide wissen, wie leicht das für mich gewesen wäre - will ich in deinem Blick die Demütigung deiner Niederlage sehen.“

John verengte die Augen und straffte die Schultern. „Lass Sherlock gehen und du kannst mit mir machen, was du willst.“

Morans Grinsen wurde mörderisch. „Ist das so?“

Er entfernte sich von John und stellte sich direkt neben Sherlock, welcher keinen Moment den Blick von John genommen hatte. Er zuckte nicht einmal, als Moran ein Messer aus einer Lederhülle an seinem Stiefel zog und es ihm an die Kehle presste. „Und was bist du jetzt bereit zu tun?“

John wusste, dass die Antwort in seinem Blick lag. Sherlocks Augen weiteten sich.

Moran begann zu lachen. „Ich wünschte, Jim könnte das erleben. Das wäre ganz nach seinem Geschmack.“ Ein berechnender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und als er das nächste Mal sprach, war seine Stimme gänzlich ohne Humor: „Kugel dir die rechte Schulter aus.“

John verstand natürlich, worum es Moran ging. Durch den Gips konnte er Johns rechte Hand nicht fixieren und ein ausgekugeltes Schultergelenkt machte den ganzen Arm nutzlos. Darüber hinaus war es ein Test. John sollte zeigen, wie ernst ihm seine Worte waren.

Er drehte sich mit seinem Oberkörper nach links zu seiner bereits gefesselten Hand, denn er brauchte ihre ganze verbliebene Mobilität, um den Oberarmknochen aus seinem Gelenk zu hebeln. Eigentlich unmöglich mit nur einer Hand. Mit dem notwendigen medizinischen Wissen jedoch durchaus realisierbar. Eine hebelnde, ruckartige Bewegung des Oberarms bei gleichzeitiger Drehung nach außen sollte genügen. Er musste sich konzentrieren, um seine Muskeln dafür so weit zu entspannen, dass er sie dabei nicht verletzte.

Ein Restrisiko blieb. Auch wenn John wusste, was er tat, könnte permanenter Nerven- oder Muskelschaden verursacht werden. Doch in diesem Moment war dies sein geringstes Problem. Fakt war, dass sich ein ausgekugeltes Gelenk immer wieder rückgängig machen ließ. Ein toter Sherlock dagegen nicht.

Er griff nach seinem Arm und sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Moran gab einen warnenden Laut von sich und zog Sherlock an den Haaren zurück. Dieser hatte sich trotz des Messers vorgebeugt. Er schien den Schnitt an seinem Hals nicht einmal zu bemerken. John zwang sich dazu, nicht auf das frische Blut zu achten, dass seinen Nacken hinablief. Oder auf den Mund, der seinen Namen formte.

Er konzentrierte sich darauf, dass der Schnitt nur oberflächlich war, dass Sherlock das alles mit etwas Glück ohne Narben, mit schlimmstenfalls drei Stichen und einem Stützverband um den Brustkorb, überstehen würde. John dachte an all dies, nur daran (Sherlock geht es gut, ihm wird nichts mehr passieren), biss die Zähne aufeinander und hebelte.

Die Schulter sprang mit einem abscheulichen Geräusch aus dem Gelenk und Johns Körper warf sich vor Schmerz und Schock in die entgegengesetzte Richtung. „Fuck“, fluchte er und stieß mit dem Rücken gegen die Heizung, während Schmerz den Rand seines Blickfelds unscharf werden ließ. Einige grausame Momente befürchtete er, das Bewusstsein zu verlieren, dann wurde der Schmerz zu einem schnellen, rhythmischen Pochen und gab ihm einen Anker, an den er sich klammerte. Er atmete schwer durch die Nase, um keinen Laut von sich zu geben. Das Blut hämmerte ihm in den Ohren.

Morans Augen waren glasig und sein Mund leicht geöffnet. Sein Blick wanderte über John und er begann zu lächeln, während er das Messer sinken ließ. Er löste seinen Griff um Sherlocks Schulter und näherte sich John. Unmittelbar vor ihm ging er in die Hocke und musterte ihn aufmerksam. „Wie fühlt es sich an?“, fragte er.

„Beschissen“, knurrte John und starrte entschlossen zurück.

Moran schüttelte den Kopf. „Nein, Watson. Zu wissen, dass du diesen Raum nicht mehr lebend verlassen wirst.“

John leckte sich über die trockenen Lippen. Seine Schulter machte das Denken nicht leichter, aber egal welche Schmerzen er hatte, er würde nicht seine Priorität aus den Augen verlieren.

„Lass Sherlock gehen.“


„Ist es erniedrigend?“


„Lass ihn gehen.“ John verfluchte sich für das 'bitte', das seinen Worten anhaftete.

Moran hob die Hand und presste sie mit einem diabolischen Glimmen in den Augen gegen seine Schulter. John musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu schreien. Stattdessen warf er den Kopf zurück und stieß ihn bewusst gegen die Heizung hinter sich, um sich mit dem neuen Schmerz von dem reißenden Gefühl in seiner Schulter abzulenken.

„Einzelkind, Eltern geschieden.“

Sowohl Moran als auch John richteten ihre Aufmerksamkeit auf Sherlock, der sich auf seinem Stuhl aufgerichtet hatte und sie herablassend musterte. Moran ließ die Hand sinken und legte den Kopf ein Stück in den Nacken, um Sherlock besser zu sehen. „Was hast du gesagt?“

„Der Vater ein Trinker, zunächst nur gelegenheitshalber. Aber aus Gelegenheiten wurden Gewohnheiten und es blieb nie bei der versprochenen letzten Flasche oder? Was wohl der Grund dafür ist, dass deine Mutter ihn verlassen hat. Oh, sie war geduldig, denn das war es, was sie auszeichnete - ihre scheinbar unendliche Geduld. Nur dass sie nicht ganz unendlich war. Zweifellos war es der Whiskey, der ihr jede Hoffnung nahm. Weswegen sie ging.“

„Sherlock“, murmelte John kraftlos. Sei still. Reiz ihn nicht. Siehst du nicht, was ich hier tue? Ist es dir egal?

Moran drehte sich nun ganz zu Sherlock um.

„Du warst fünf, als es passierte. Und er gab ihr die Schuld. Er war so ein nutzloser Mann, im Beruf kaum zu gebrauchen, Durchschnitt, immer nur Durchschnitt. Mittelmaß. Wann wurdest du es leid? Ich nehme an, du warst dreizehn, als dir klar wurde, dass du besser sein wolltest. Mehr. Besonders. Darum bist du Soldat geworden.“

„Sei still“, flüsterte John und schüttelte den Kopf im gleichen Moment, in dem Moran sagte: „Ganz schön mutig.“

Sherlock hatte die Schultern nach vorne geschoben und starrte zu Moran hinauf, der sich unmittelbar vor seinem Stuhl aufgebaut hatte. Seine Stimme war ruhig, so unglaublich ruhig und voller analytischer Brillanz, für die John ihn in diesem Moment zum allerersten Mal verfluchte. „Ein Minderwertigkeitskomplex, der Wunsch sich zu beweisen. Soldat zu sein war eine Ausrede, um Menschen zu jagen und zu beweisen, dass du der wahre Jäger bist. Und was warst du ohne all das? Nichts. Bis Moriarty dich fand und dir einredete, du hättest einen neuen Sinn. Aber soll ich dir etwas sagen, Moran?“ Sherlock beugte sich vor und lächelte kalt. „Jim Moriarty kann niemals deine fehlende Mutter ersetzen.“

Idiot!, dachte John und schluckte ein Stöhnen. Spott macht es nur schlimmer.

Mit einem Grollen holte Moran aus und trat gegen den Stuhl. Dieser kippte hintenüber und John hörte, wie sämtliche Luft aus Sherlocks Lungen wich, als er auf dem Boden aufschlug. Ihm fiel ein, dass Sherlocks Hände noch immer gefesselt waren und dass er vermutlich genau auf ihnen gelandet war. Es blieb ihm kaum Zeit, über die Konsequenzen nachzudenken, da hatte Moran sich bereits auf Sherlock gestürzt und begonnen, ihm die Kehle zuzudrücken. „Du verfluchter Freak!“

„Nein!“, rief John und riss an den Handschellen, die seine linke Hand fixierten. Sämtlicher Schmerz rückte in den Hintergrund und er sah nur noch das paar Hände an dem viel zu dünnen, blutigen Hals. „Lass ihn los! Moran, hör auf!“

Moran hockte über Sherlocks Oberkörper und John konnte sehen, wie Sherlocks Beine unter dem Angriff hin und herschaukelten. Er wehrte sich nicht einmal.

Tränen brannten ihm in den Augen, während er sich mit seinem vollen Körpergewicht gegen die Fesseln stemmte, um etwas zu tun, irgendetwas, ganz egal was, ehe Sherlock ganz-

Moran ließ von ihm ab und richtete sich auf. Der Consulting Detective würgte und schnappte nach Luft. Nie hatte John etwas Schöneres gehört. „Oh, das war gut“, sagte Moran und schüttelte den Kopf. „Du hättest mich beinahe so weit gehabt, Holmes. Aber nur beinahe.“ Sein Kopf schnellte herum und er fixierte John. „Er wollte mich von dir ablenken. Wollte dich beschützen. Herzerwärmend“, spuckte er und trat ein letztes Mal gegen Sherlocks Stuhl. Er drehte sich um und packte im Vorbeigehen das Messer auf dem Tisch.

Spielerisch balancierte es in seiner Hand, während er John musterte. „Ich frage mich, was du noch für ihn tun würdest, Watson. Würdest du einen Finger opfern?“

John war bewusst, dass Moran dieses Spiel noch ewig hinauszögern könnte. Alles hing davon ab, wie lange John es ertrug. Er konnte nur darauf hoffen, dass Moran Sherlock irgendwann gehen ließ oder dass Mycroft seine Nachricht erhalten hatte.

„Würdest du?“, wiederholte Moran seine Frage.

John antwortete nicht, sondern presste seine eingegipste Hand mit der Fläche nach unten vor Moran auf den Boden und spreizte die Finger. Der Gips umfasste seine gesamte Mittelhand, doch seine Finger waren weitgehend frei. Frei genug für Moran, um John mehr als die Hälfte von ihnen zu nehmen.

John.“ Er sah auf und begegnete Sherlocks Blick. Darin lag etwas, das er vorher noch nie so deutlich gesehen hatte. Bevor er es weiter ergründen konnte, kniete Moran sich vor ihn und nahm ihm dadurch den Blick auf Sherlock. An seinem Messer klebte bereits Blut. Sherlocks Blut.

John wusste, dass der nächste Schmerz weitaus schlimmer sein würde als die ausgekugelte Schulter. Er war darauf angewiesen, dass der Schock einsetzte, damit er nicht das Bewusstsein verlor. Außerdem musste die Blutung gestoppt werden, ehe er zu viel verlor. Er konzentrierte sich auf all diese medizinischen Details, um nicht darauf zu achten, wie Moran das Messer langsam senkte und die Klinge gegen den Rücken seines Mittelfsinger presste.

John sah ihm stattdessen direkt in die Augen. Moran prüfte die Position des Messers noch einmal und erwiderte anschließend Johns Blick schadenfroh. Ehe er zu schneiden begann.

Natürlich beendete Moran es nicht mit einem Schnitt. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, aber das hätte ihm kaum Befriedigung verschafft. Die erste Bewegung des Messers durchtrennte die Sehne des Fingerstreckers und dieses Mal biss John sich so fest auf die Zunge, bis er Blut schmeckte. Er machte den Fehler, auf seine Hand hinab zu sehen und der Anblick des Blutes und des Messers, welches zum zweiten Schnitt ansetzte, brachten sein ohnehin instabiles Bewusstsein an die Grenzen seiner Belastbarkeit.

Ein Schwindel erfasste ihn und sein Sichtfeld verschwamm. Schmerz blendete seine Sinne und er meinte, eine Bewegung hinter Moran zu sehen. Dann spürte er den frischen Schmerz eines zweiten, tieferen Schnittes und schrie.

Der Laut hatte seine Kehle kaum verlassen, da wandelte sich die Situation schlagartig. Etwas erfasste Moran und schleuderte ihn zur Seite. John sackte an der Heizung hinab und wurde nur noch von der Fessel an seiner linken Hand aufrecht gehalten. Er blinzelte und erkannte, dass Sherlock Moran mit dem Stuhl niedergeschlagen hatte.

Sherlock.

Moran lag reglos auf dem Boden. Blut strömte aus einer Wunde an seinem Kopf. Blut. John sah auf seine Hand hinab. „Oh.“ Sie war blutverschmiert.

Sherlock fiel vor ihm auf die Knie. „John. Sieh mich an, John.“ Diese Worte waren wie ein Schalter, genauso wie an Silvester.

„Sherlock.“ Er beugte sich vor, bis der Detektiv verstand und einen Arm um seine unverletzte Seite schlang. Mit einer Hand gefesselt und der anderen bewegungsunfähig und blutend am Boden, war es für John unmöglich gewesen, das zu tun. Er vergrub sein Gesicht in Sherlocks Hemd und atmete einfach. Mit einem Klicken sprangen die Handschellen auf. Sherlock hatte sie geknackt.

„Anfängerfehler“, kommentierte er Johns Blick. „Mich auf meinen Händen liegen zu lassen, hat es mir nur leichter gemacht“ Anschließend beugte er sich vor und küsste ihn. In diesem Kuss lag all das, was John vorher in den Blicken gesehen und nicht hatte benennen können.

Angst. Verzweiflung. Erleichterung.

„Schreibst du Mycroft?“, fragte er, nachdem er Sherlocks Hände an seiner Hosentasche registriert hatte, wo er sein Handy verstaut hatte. Er spürte ein Nicken gegen seinen Nacken und Sherlock schlang wieder die Arme um ihn. Behutsame Finger tasteten die Region um seine linke Schulter herum ab. Nach Sekunden oder vielleicht auch Minuten löste er sich von John und befahl ihm, sitzen zu bleiben, während er das Appartement durchsuchte. Im Badezimmer fand er offensichtlich einen Erste-Hilfe-Kasten und kehrte mit seinem Inhalt zurück.

„Was muss ich tun, John?“

Es war klar, dass Sherlock genau wusste, was zu tun war, und dass er Johns Konzentration damit auf eine vertraute Arbeit lenken wollte. Die Wunde an seinem Finger war nicht lebensgefährlich tief, aber sie blutete stark und ein Spezialist müsste die durchtrennte Sehne wieder richten. John gab Sherlock die notwendigen Anweisungen und spürte, wie sämtlicher Schmerz allmählich durch den Schock abebbte. Schließlich war seine Hand notdürftig versorgt und sie konnten nur noch auf Mycroft und seine Männer warten.

Sherlock zog John vorsichtig zu sich und breitete ihn rücklings auf dem Boden aus. Im Anschluss bettete er Johns Kopf auf seine Beine und begann, ihm die einzelnen Knochen des menschlichen Brustkorbes aufzulisten. Dabei nahm er den Blick keinen Moment von Morans regloser Gestalt.

„Wie viele Finger, John?“, fragte Sherlock leise, als der letzte Knochenname gefallen war.

„Hm?“ John blinzelte gegen die Trägheit, die sich in den letzten Minuten immer weiter in ihm ausgebreitet hatte. Nun, wo das Adrenalin seinen Körper verlassen hatte, fühlte er sich schrecklich.

„Wie viele Finger hättest du dir abschneiden lassen?“


John schloss die Augen. „Jeden einzelnen.“
Sherlock schwieg eine lange Zeit.

„Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle gewesen.“

John lächelte und presste die Lippen aufeinander, als der Schmerz mit voller Härte zurückkehrte. Das hieß wohl, dass die Schock-Schonfrist abgelaufen war. Mycroft und seine Leute sollten sich verdammt nochmal beeilen!

„Ich weiß.“


„Ich hoffe, der Schlag hat ihn getötet.“

„Ich auch.“

Es lag sich unglaublich schlecht mit einer ausgekugelten Schulter, musste er feststellen. Er schloss die Augen und seine Haltung verkrampfte sich. Sherlock entging dies natürlich nicht. Er strich mit einer Hand durch Johns Harre. Nicht zärtlich, vielmehr grob, als würde er John aus seinen Gedanken reißen wollen. „Reiß dich zusammen.“ Sherlocks Verständnis von Zärtlichkeit.

„Du hast leicht reden“, knurrte John zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Das habe ich.“ Sherlock blickte auf ihn hinab und selbst durch Schleier aus Schmerz und Erschöpfung sah John die aufrichtigen Emotionen in seinen Augen. Er vergaß beinahe zu fluchen, nachdem Sherlock sich wieder ein Stück vorgebeugt und „Danke, John“ gemurmelt hatte.

Jederzeit wieder, hätte er unter besseren Umständen entgegnet, aber wenn er ehrlich war, wünschte er keinem von ihnen diese Situation jemals wieder und scheiße verdammt, die Schmerzen wurden nicht besser und wo zur Hölle blieb Mycroft?

Sherlock ertrug sein schmerzerfülltes Stöhnen, seine Flüche und ermunterte ihn in allen Verwünschungen, die sich gegen Mycroft richteten. John wusste, dass dies Sherlocks eigene Art war, mit Erleichterung und Dankbarkeit umzugehen und mit der richtigen Dosis Schmerzmittel hätte er es auch besser zu schätzen gewusst. So blieb ihm nicht mehr übrig, als zu hoffen, dass Mycroft Holmes die Güte besaß, seinen Allerwertesten in naher, unmittelbarer Zukunft durch die Tür des Appartements zu befördern. Und dass er Schmerzmittel dabeihatte.

Als das Sondereinsatzteam schließlich die Wohnung stürmte und erneut feststellen musste, zu spät gekommen zu sein und als Mycroft persönlich eintrat, den Regenschirm in der rechten Hand schwingend, driftete John irgendwo zwischen Ohnmacht und Wachsein. Er lauschte Sherlocks forschem Tonfall, ohne die Worte wirklich zu verstehen.

Irgendwann ließ er sich aufrichten und hatte nicht einmal mehr wirklich die Kraft, den Schmerz dieser Bewegung zu artikulieren. Er blinzelte gegen das grelle Licht einer Taschenlampe.

Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr, während jemand begann, seine Schulter abzutasten. Etwas von der Benommenheit lichtete sich.

„Wieso hat das so lange gedauert?“


„- lediglich unverständlichen Inhalt. Ehe ich erkannt habe -“

„Sir, können Sie mich hören?“

Der Tonfall von Sherlocks Stimme hatte sich verändert. Auch die Lautstärke seiner Worte war gestiegen. „Wie konnte das passieren? Ich dachte, du würdest ihn observieren. Nach Silvester ist es doch nicht zu viel verlangt!“

„Sir“, wiederholte die Person neben ihm. „Wie lange ist Ihre Schulter bereits in diesem Zustand?“

„Viel zu lange“, murmelte John. Männer liefen durch das Appartement, zwei fesselten Moran und schleiften ihn aus dem Raum. Wieder andere durchsuchten die angrenzenden Räume. Zur gleichen Zeit lieferten Sherlock und Mycroft Holmes sich eine hitzige Diskussion, als hätten sie vergessen, wo sie ich befanden.

„Was willst du von mir hören?“, fragte Mycroft und John blinzelte gegen die verschwommenen Umrisse an, weil er wusste, dass dieser Dialog relevant war.

„Dass du und deine Männer nutzlos sind, wenn es darauf ankommt. Dass man sich nicht auf euch verlassen kann.“

„Wann hast du dich je auf mich verlassen?“ Mycrofts Stimme war voller Bitterkeit und John wimmelte den Sanitäter für diesen Moment ab, weil er das jetzt nicht verpassen durfte. Das war viel zu wichtig. „Wann bist du je zu mir gekommen, weil du Hilfe brauchtest?“

„Oh, clever Mycroft, wirklich clever. Willst du, dass ich es dir direkt sage, obwohl du die Antwort weißt? Geht es dir um damals? Weil nicht du es warst, der mich gefunden hat, nachdem ich die Überdosis genommen habe? Willst du diesen Streit wirklich hier vom Zaun brechen? Vor deinen Männern?“

„Es geht um keinen Streit, Sherlock. Es ging nie um einen Streit. Es geht darum, dass du meine Hilfe noch nie in Anspruch genommen hast, weil du zu störrisch bist, um zu akzeptieren, dass ich dein älterer Bruder bin und-“

„Und was?!“


„Dich beschützen will.“ Ein Seufzen. „Ist dir das denn nach all den Jahren nicht klar? Muss bei dir alles einen Haken haben?“

„Sir, wir müssen ihr Gelenk wieder einkugeln. Je länger es in diesem Zustand bleibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für bleibende Schäden.“ Die Hände kehrten zu seiner Schulter zurück und John nickte grimmig. Natürlich hatte der Mann Recht. Genau genommen boten Sherlock und Mycroft gerade die ideale Ablenkung von dem kommenden Schmerz.

Der Sanitäter winkte einen der Männer heran und gab ihm den Auftrag, John festzuhalten, während er mit einer Schere seinen Pullover aufschnitt und den Arm freilegte. Er reichte John den Ärmel, welcher ihn sich zwischen die Zähne klemmte. Er kannte das Prozedere, hatte es in der Armee oft genug bei eigenen Leuten vollzogen. Lieber Stoff zwischen den Zähnen, als sich versehentlich die eigene Zunge abzubeißen.

Sherlock wirbelte zu Mycroft herum und starrte ihn wütend an. „Ich habe dich um eine Sache gebeten, Mycroft. Einen Gefallen. Hast du ihn erfüllt?“

Mit einem Ruck, begleitet von einem Übelkeit erregenden Geräusch, wurde das Gelenk wieder in seine Fassung gehoben. John vergrub die Zähne in dem Ärmel seines Pullovers und verschluckte sich an einem Schrei. Das schien Mycroft und Sherlock daran zu erinnern, wo sie sich befanden.

In dem Blick des älteren Holmes lag offenes Bedauern, als er John musterte. „Nein. Das habe ich nicht.“

„Bring John in ein Krankenhaus“, sagte Sherlock, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. „Beweis mir, dass du wenigstens das schaffst.“

John blinzelte einige Tränen beiseite und atmete zitternd ein. Anschließend ließ er sich auf die Beine ziehen. Er suchte Sherlocks Blick. „Bleibst du hier?“

„Ich komme später nach.“ Sherlock wirkte, als wollte er noch etwas sagen, schloss jedoch den Mund.

„Lass dich vorher noch untersuchen“, beharrte John und versuchte zu lächeln. Es musste ihm furchtbar misslingen, wenn Sherlocks Blick ihn nicht täuschte. „Du kannst nicht mit angebrochenen Rippen den Tatort unsicher machen.“

„Sie sind geprellt.“

„Trotzdem.“

„Vielleicht später.“

Mehr konnte Sherlock ihm nicht zugestehen. John verstand das und nickte. Er ließ sich aus der Wohnung nach unten zu einem Krankenwagen begleiten.

Man fuhr ihn nicht in das nächstgelegene Krankenhaus. Mycroft musste seine Finger im Spiel haben, denn die Einrichtung wirkte privat und teuer. John fehlte die Energie, dieser Sonderbehandlung zu widersprechen. Man untersuchte seine Hand und brachte ihn eine halbe Stunde später in den OP. Er erhielt eine örtliche Betäubung und viele optimistische Worte. Man entfernte seinen Gips, um besser an den Finger zu kommen. Anschließend begann der Chirurg damit, die Sehnen wieder zu verbinden und den Schnitt zu nähen. Da John wusste, was Moran mit seinem Messer alles durchtrennt hatte, war ihm klar, wie kompliziert das war. Er hoffte, dass er den Finger später wieder halbwegs bewegen konnte.

Irgendwann verlor er das Gefühl für die Zeit. Sein Verstand driftete ab und er dämmerte vor sich hin. Als er die Augen das nächste Mal öffnete, lag er in einem Zimmer und draußen vor den Fenstern war es hell. Die Uhr an der Wand stand auf zehn. Er war allein.

Also tat John das, was er am besten konnte: Er wartete.

Vergebens, denn Sherlock blieb weg. Den ganzen Tag.
 

[tbc]



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Mau-Mau
2013-08-03T21:25:46+00:00 03.08.2013 23:25
Große Klasse und super Spannend.
Außerdem finde ich die Dialoge, die du schreibst sehr schön, die Wortwahl und Ausdrucksweise der einzelnen Personen erscheint mir immer sehr passend.
Von:  YuriUsagi
2013-07-30T14:53:31+00:00 30.07.2013 16:53
Wow! Das war echt ein super Kapitel. Ich fand noch mehr Spannung hätte man überhaupt nicht aufbauen können! Die Aufopferung die sich beide entgegen bringen ist wirklich gut beschrieben und ich fand es gut, dass John praktisch in Moran einen ebenbürtigen Gegner gefunden hat. Jeder hat sozusagen mit seinen eigenen Waffen gekämpft und man könnte fast schon sagen, dass Moran als Johns Erzfeind genauso passend ist wie Jim M. für Sherlock: Genie vs. Genie, Soldat vs. Soldat. Das Battle der Sidekicks, oder so^^
Echt großes Kompliment!
Von:  Nara-san
2013-07-30T11:17:40+00:00 30.07.2013 13:17
O^O Armer John! Und wo ist Sherlock! Jetzt sind doch alle bösen gefasst, dann kann er sich auch ins Krankenhaus bewegen!


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