Word Forward von mystique (Sherlock/John (Sherlock BBC)) ================================================================================ Act I ----- Es war eine Sache, an Nikolaus durch Londons verregnete Gassen zu rennen und sich den letzten intakten Pullover, den man besaß (und der darüber hinaus ein Geschenk von Harry gewesen war, aber das war eine andere Geschichte, verbunden mit Johns Geburtstag, Hysterie und eindeutig zu altem Gebäck) an einer Feuerleiter einzureißen. Es war etwas Anderes, den vierten Advent stundenlang auf Anweisung zusammengekauert in einem Wandschrank zu verbringen, um einen Verdächtigen zu beschatten, während Sherlock am anderen Ende der Stadt im Appartement saß und sich genau diesen Moment aussuchte, um eine SMS zu schicken (Wenn du schon unterwegs bist, wir brauchen noch frische Milch. SH). Woraufhin die eigene Tarnung aufflog und die Klage wegen Hausfriedensbruch lediglich durch einen verzweifelten Anruf bei Lestrade und viel gutes Zureden verhindert werden konnte. Es war etwas völlig Anderes, am Morgen des vierundzwanzigsten den Kühlschrank zu öffnen und keinen abgetrennten Kopf (wenn es doch nur so wäre, wenn es doch nur so wäre!), sondern drei Paar Augen und (John hätte sich gewünscht, er würde es nicht wissen, doch durch seine medizinische Ausbildung war sein Auge - und das war eine ganz und gar nicht angebrachte Wortwahl - unglücklicherweise geschult) zwei akkurat zerteilte Lungen direkt neben der leeren Tüte Milch zu finden. „Warum hast du nicht gesagt, dass wir Milch brauchen?“, fragte er über die Schulter und erhielt keine Antwort. Stattdessen spürt er, wie das Handy in seiner Hosentasche vibriert. Wir brauchen frische Milch. SH „Hast den Text eigentlich in deinen Vorlagen gespeichert?“ Hör auf zu reden. Es stört beim Denken. SH John war schlau genug, nicht die Notwenigkeit der Signatur zu hinterfragen, wo ihm doch bereits sein eigenes Telefon anzeigt, dass die Nachricht von Sherlock stammte. Ein einziges Mal hatte er den Fehler begangen und es würde ihm nicht wieder passieren. „Wie viele Nikotinpflaster benutzt du gerade? Gestern Abend waren es drei. Noch einmal so viele sind nicht gesund, Sherlock.“ Mit einem Schaudern schloss er den Kühlschrank, fest entschlossen, auf das Frühstück zu verzichten. Ein Tee war wichtiger. Mehr als drei. Es ist ein Vier-Pflaster-Problem. SH „Verdammt, Sherlock. Zu viel Nikotin verlangsamt das Denken ab einem gewissen Punkt!“ John stellte den Teekessel nachdrücklicher als erforderlich auf den Ofen. „Außerdem ist es auf Dauer nicht gut für deinen Körper.“ Eine Pause. „Tee?“, fragte er in die Stille der Wohnung. Ein Summen. Tee ist langweilig. SH Er sollte am besten Milch kaufen. Jetzt sofort. Und Sherlock einfach ignorieren. Genauso wie Sherlock es umgekehrt tun würde. John wunderte sich, dass Sherlock überhaupt auf seine Fragen reagierte und ein (zugegeben skurrilen) Dialog zuließ. Wenn du Milch kaufst, bring Bleichmittel mit. SH Ob er fragen sollte, wofür Sherlock Bleichmittel brauchte? John schüttelte den Kopf und schaltete den Herd ab. Er durchquerte das Wohnzimmer (vorbei an Sherlock auf dem Sofa, mit dem Rücken zum Rest des Zimmers) und streifte sich die Jacke über. „Ich bin kurz weg.“ Keine Antwort. Nicht einmal eine SMS. Schulterzuckend zog er die Tür hinter sich zu. Auf dem Flur unten begegnete er Miss Hudson, die ihm einen dampfenden Teller mit Gebäck anbot. Er lehnte dankend ab, schlug ihr jedoch vor, stattdessen Sherlock zu fragen. Vielleicht konnte sie ihn aus seiner Apathie reißen. Draußen war es grau und kalt. London zeigte sich von seiner besten Seite und hielt sich mit dem Regen zurück. Überall zerrissen grelle Lichter die Umgebung, Weihnachtsmusik erklang aus geöffneten Fenstern und nur halb geschlossenen Ladentüren. Der Tesco-Markt war einige Minuten Fußweg entfernt, doch John ging diese Strecke gern. Er winkte einer Kamera an der Kreuzung zu (in der Gewissheit, dass Mycrofts wachsames Auge sie nie aus dem Blick ließ) und überquerte die Straße. Schließlich am Tesco angekommen, bereute er seinen kurzfristigen Entschluss sofort. Er hätte wissen sollen, dass der Morgen von Weihnachten ein ganz schlechter Zeitpunkt war, um spontan einzukaufen. Entschuldigungen murmelnd drängte er sich an den Menschen vorbei und erreichte schließlich außer Atem die Milch. Nach weiteren sieben Minuten musste er erkennen, dass es kein Bleichmittel gab. Ausgerechnet. Er griff nach seinem Telefon. Wie wichtig ist das Bleichmittel? Gerinnungszeit bei Blut: 5-9 Minuten. Unter örtlichen Umständen siebeneinhalb. Teppich stellt idealen Testuntergrund dar. Bleichmittel ist optional, John. SH John las die SMS genau dreimal. Dann antwortete er: Du hast Blut auf unseren Teppich geschüttet?! Wie immer übersiehst du das Wesentliche, John. Warum habe ich es nicht schon viel früher getan? Es ist ganz eindeutig, dass an dem Tatort in Sutton die Blutspur - Der Text ging noch weiter und endete ohne Zweifel mit einer brillanten Schlussfolgerung und Sherlocks Signatur, doch John war bereits wieder dabei, hektisch eine Antwort zu tippen. Woher hast du das Blut? Vom Barts? Hast du es von Molly? Sherlock, ist wirklich Blut auf unserem Wohnzimmerboden? Und in deinem Schlafzimmer. Der Teppich dort ist von anderer Zusammensetzung. SH Blind streckte er die Hand aus. Glücklicherweise griff sie nicht ins Leere und er konnte seine Haltung bei den Dosensuppen stabilisieren. Ironischerweise stand er direkt bei der Tomatensuppe. Vielleicht sollte er Sherlock eine mitbringen. Er ließ sie stehen und stellte sich an die Schlange für die Kasse. Zehn Minuten später reichte ihm die Verkäuferin angestrengt lächelnd sein Wechselgeld und den Bon. „Frohe Weihnachte, Mister.“ John nickte, und drehte sich um. Normalerweise hätte er ihr ebenfalls ein Lächeln geschenkt, allerdings dachte er fieberhaft darüber nach, wo er heute noch Bleichmittel herbekommen sollte. Der nächste Tesco war drei U-Bahnstationen entfernt. Ein gewagtes Unterfangen an Weihnachten. Dann sah er vor seinem inneren Auge das Wohnzimmer und sein Schlafzimmer - jeweils mit schmückenden roten Flecken - und jeder Zweifel war beseitig. Er festigte den Griff um die Tesco-Tüte und steuerte die nächste U-Bahnstation an. Er brauchte eine dreiviertelstunde, um dem Untergrund zu entkommen und sein Puls musste doppelt so schnell schlagen, wie gesund für ihn war. Es war ein reines Selbstmordkommando, heute U-Bahn zu fahren! Auch dieser Tesco war überfüllt. Als befürchteten die Menschen, über die Feiertage würde eine spontane Hungersnot sie heimsuchen und zuvor das Aufstocken sämtlicher Vorräte zur primären Notwendigkeit machen. Wieder drängte John sich an Personen vorbei, die nicht minder gehetzt wirkten. Er wettete allerdings, dass keiner von ihnen Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden hatte. Oder auf dem Schlafzimmerboden. Überhaupt irgendwo, wo Blut ohne Zweifel nicht hingehörte. Und wieder gab es kein Bleichmittel. Als wollte man ihm beweisen, dass Blut an Weihnachten zu beseitigen ein gängiger Brauch war, der Bleichmittel zu einer gefragten Ware machte. „Entschuldigung“, sprach er eine Mitarbeiterin an, die den Eindruck erweckte, als habe sie sich an ihm vorbeiducken wollen. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, bestärkte seine Vermutung. „Ja bitte?“ „Ich brauche Bleichmittel.“ Ein Blick in das Regal an ihm vorbei. „Das ist leider nicht mehr erhältlich. Nach den Feiertagen bekommen wir wieder neue Lieferungen.“ „Haben Sie es denn nicht auf Lager?“ Seine Hosentasche vibrierte. Er ignorierte es. „Es tut mir leid, aber wenn es nicht in der Auslage ist, dann haben wir es auch nicht mehr.“ Ihr Blick war unstetig. Sie hatte es eilig, aber John bezweifelte, dass sie den Ernst seiner Lage verstehen würde. Immerhin hatte sie keine Blutflecken auf dem Teppich oder einen hochfunktionierenden Soziopathen im Wohnzimmer! „Wüssten Sie denn, was man alternativ verwenden könnte?“ „Es tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Fragen Sie doch meinen Kollegen.“ John machte den Fehler, mit dem Blick ihrer ausgestreckten Hand zu folgen. Tatsächlich stand einige Gänge weiter ein Mann, umringt von Kunden, die verschiedenste Produkte in Händen hielten und auf ihn einredeten. Als John wieder zurück sah, stand die Verkäuferin nicht mehr neben ihm. Er war für gewöhnlich eine geduldige Person, doch allmählich spürte er seine Gelassenheit bröckeln. Er entsperrte sein Telefon und las die Nachricht. Bleichmittel ist nicht mehr optional, sondern erforderlich. Sofa nicht geeignet als Testobjekt. SH Ein fassungsloses Lachen war alles, was John dem entgegnen konnte. ∼*∼ Um kurz vor eins verließ er den dritten Supermarkt ohne Erfolg. Stattdessen hatte er einen Packung Waschmittel, Seife und Fleckenentferner gekauft, die nun dafür sorgten, dass ihm die Griffe der Plastiktüten in die Hände schnitten. Seufzend straffte er die Haltung, ignorierte das stärker werdende Ziehen in seiner Schulter und überquerte den Parkplatz. Die nächste U-Bahnstation war glücklicherweise um die Ecke. Kurz vor der Kreuzung stieß er mit einer älteren Frau zusammen, die eine Tüte mit Pfandflaschen bei sich trug. Er entschuldigte sich und sie zog murrend weiter. Ein Wagen kam neben ihm zum Stehen. John hatte bereits damit gerechnet und war nicht überrascht, als die hintere Tür von innen geöffnet wurde. Sich seinem Schicksal ergebend, platzierte er die Taschen im Fußraum und stieg ein. Es war nicht Anthea die ihn begrüßte, sondern Mycroft persönlich. Damit hatte John nicht gerechnet. „Was beschert mir das Vergnügen?“ Abwesend rieb er sein Bein. „Dr. Watson.“ Mycroft nickte ihm zu. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, beugte er sich vor. Er ließ seinen Blick über die Einkaufstüten schweifen, als gehörten sie ihm. „Wie ich sehe, ist mein Bruder auch an Weihnachten nicht untätig. Ich nehme an, es geht um ein Experiment.“ Du hast ja keine Ahnung, dachte John und sagte: „Worum geht es?“ Er hoffte, dass was-immer-es-war keine USB-Sticks beinhaltete. Oder geheime Regierungsinformationen. Noch viel weniger geheime Regierungsunterlagen auf USB-Sticks. Nicht nach dem letzten Mal. Er wollte nicht wieder in einer Jacke mit Semtex enden. Keine schöne Art, den Abend zu verbringen. Mycroft griff in die Innentasche seines Anzugs und reichte John einen Umschlag. Er gab mit einem Nicken zu verstehen, ihn zu öffnen. John zog eine förmliche Karte hervor. Sekundenlang sprach niemand, dann ließ er sie sinken und betrachtete den älteren Holmes mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Belustigung. „Ein Ball?“ „Ein Dinner. Weihnachtsball ist lediglich der offizielle Titel.“ „Und wer wird alles kommen? Die Queen? Elton John?“ Erschreckend war, dass es John noch nicht einmal überraschen würde, sollte Mycroft seine Frage bejahen. Viel mehr überraschte ihn dann jedoch die ernüchternde Antwort: „Es ist ein Familienessen.“ „Klingt nach einer großen Familie.“ „Genau genommen geht es nur um uns und Mummy.“ „Oh.“ Oje. „Soll das heißen, ihr nennt es einen Weihnachtsball und verschickt Einladungskarten für eine Veranstaltung, an der nur drei Personen teilnehmen?“ „Fünf.“ „Das ändert natürlich alles.“ Mycroft zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Meine Frau und ich werden da sein. Mummy ist die Gastgeberin und Sherlock wird selbstverständlich erwartet. Ebenso Sie, Doktor Watson.“ Er musste sich verhört haben. „Wie bitte?“ „Dieser Einladungskarte ist nicht für Sherlock bestimmt“, fuhr Mycroft fort. „Er hat seine längst erhalten und ehrlich gesagt hatte ich angenommen, Sie seien bereits in Kenntnis gesetzt worden. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, sah ich es als meine Verpflichtung, dieses Missverhältnis zu korrigieren.“ John öffnete den Mund, fand jedoch keine Worte. Mycroft kommentierte es nicht. Stattdessen hielt er auf einmal ein Notizbuch in Händen. „Laut meinen Informationen haben Sie keine unmittelbaren Pläne am sechsundzwanzigsten. Dem Dinner sollte demnach nichts im Weg stehen.“ Er klappte das Buch zu und lächelte John an. „Ich schlage vor, Sie erinnern Sherlock an das Versprechen, das er Mummy gegeben hat. Ich weiß, dass er alles Mögliche unternehmen wird, um der Festlichkeit fern zu bleiben. Letztendlich wird er scheitern. So, wie jedes Jahr.“ Der Wagen hielt. „Es macht keinen Sinn, Sie einige Straßen vorher abzusetzen. Mein Bruder wird zweifellos längst von unserem Gespräch wissen. Grüßen Sie ihn von mir. Wir sehen uns übermorgen.“ Als John schließlich vor 221B Baker Street stand und die schwarze Limousine um die nächste Ecke bog, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht verabschiedet hatte. Wenigstens hatte er an die Einkaufstüten gedacht. Noch immer in einem Zustand zwischen Verwirrung und Sprachlosigkeit, schloss er die Tür auf und betrat das Haus. Erklomm die Stufen und stellte fest, dass die Tür zum Appartement offen stand. Die Wohnung war leer. Abgesehen von dem pfannengroßen Blutfleck auf dem Teppich und dem unwesentlich kleineren auf dem Sofa. In der Küche lag eine Blutkonserve in der Spüle. Ein Blick auf das Etikett verriet John, dass es sich um Schweineblut handelte. Es war ein schwacher Trost. Es wäre das mindeste, wenn DU die Flecken entfernen würdest, schrieb er Sherlock, während er die Einkäufe sortierte und die Milch in den Kühlschrank stellte. Die leere Verpackung landete im Müll. Langweilig. Verfolge wichtige Spur. Schick mit bitte die Adresse von dem Zettel in deiner rechten Jackentasche. SH „Was zum -“, murmelte John und gab einen frustrierten Laut von sich, als er ein Stück Papier in seiner Tasche ertastete. Fadestreet 12A, Beddington. Kannst du mir wenigstens sagen, ob es den Teppich wert war? Er legte das Handy auf den Küchentisch. Als er Minuten später, nachdem die Putzmittel bereits mit sämtlichem Utensil neben dem Blutfleck aufgereiht waren, wieder auf den Bildschirm sah, hatte Sherlock noch immer nicht geantwortet. „Großartig.“ Er krempelte seine Ärmel hoch und zog sich Handschuhe an. Dann begab er sich an das unmögliche Unterfangen. Es stellte sich heraus, dass Blut sich nur geringfügig mit flüssigem Waschmittel und Fleckenreiniger entfernen ließ. Tatsächlich war der Fleck nachher beinahe um die Hälfte größer als zuvor. Und John wagte sich gar nicht erst an das Sofa. Entsetzt fiel ihm ein, dass Sherlock in der SMS von seinem Schlafzimmer geschrieben hatte. Mit schnellen Schritten eilte er die Treppe nach oben und gab einen Laut zwischen Wimmern und Fluchen von sich, als er das Desaster erblickte. „Verdammt, Sherlock!“ Nicht einer, sondern gleich drei Flecken zierten den Boden unmittelbar vor seinem Bett. Je länger John darauf starrte, desto eher glichen sie einer Fratze, die ihn hämisch angrinste. Vielleicht lag es an den Dämpfen der Reinigungsmittel. Vielleicht lag es daran, dass er diesen Vormittag ganze dreieinhalb Stunden durch London geeilt war, auf der Suche nach Bleichmittel für Blutflecken. Vielleicht war Weihnachten Schuld daran. Jedenfalls drehte John sich auf dem Absatz um, kehrte ins Wohnzimmer zurück und streifte sich die Handschuhe ab. Er öffnete die zweitoberste Schublade rechts in der Küche und griff nach dem Cutter. Und machte sich wirklich an die Arbeit. ∼*∼ Er musste eingenickt sein. Als er wieder zu sich kam, saß er auf dem Boden im Wohnzimmer und lehnte mit dem Rücken am Sofa. Vor ihm klaffte ein Loch im Teppichboden. Das Stück mit dem Blutfleck lag auf seinen ausgestreckten Beinen. In der Küche vibrierte sein Telefon. Ächzend richtete er sich auf und legte schließlich das Stück Teppich auf den Tisch. Verdächtiger hat wie vermutet an besagtem Abend den Pub aufgesucht. In Begleitung. Hat sich auch heute wieder mit ihr getroffen. Lestrade ist informiert. SH Wusstest du, dass unter dem Teppich Parkett ist? Nicht schwer zu ermitteln. Geräusch der Schritte, sowie Bewegung des Bodens bei Belastung lässt auf Belag zwischen Teppich und Beton schließen. Außerdem ist die Decke eineinhalb Zentimeter tiefer als im Badezimmer, in welchem die Fliesen direkt auf dem Beton liegen. Keine anspruchsvolle Deduktion, John. SH Jedenfalls ist Parkett unter dem Teppich. Wir sollten ihn ganz entfernen. Ganz? SH Derzeit ist ein Loch im Teppich. Mag zwar unter genauerer Betrachtung ansprechend aussehen, könnte sich jedoch auf lange Sicht als Stolperfalle entpuppen. Du scheiterst nicht daran, nicht zu beeindrucken, John. Kehre zur Baker Street zurück. Betrachtung des Lochs ermöglicht genaue Untersuchung der Wirkung des Blutes auf den unmittelbaren Untergrund. Das hatte ich bisher nicht berücksichtigt. Heute Abend Essen bei Angelo? SH Und nach all den Strapazen, schafften es diese Zeilen von Sherlock, dass die Anstrengung nicht mehr ganz so penetrant in seinen Knochen wütete. Ein Lächeln zerrte an seinen Mundwinkeln. Klingt gut. Soll ich die Flecken im Schlafzimmer auch herausschneiden? John hörte, wie unten die Tür aufschwang, dann erklangen Schritte auf den Stufen und wenige Momente später wehte Sherlock mit aufbauschendem Mantel in den Raum und nahm ihm im Vorbeigehen den Cutter aus der Hand. „Praktische Durchführung ist für valide Daten erforderlich.“ Dann war er aus Johns Blickfeld verschwunden und er hörte ihn oben durch das Schlafzimmer schreiten. Er schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Stuhl neben sich. Das waren die ersten Worte, die Sherlock seit zwei Tagen verbal mit ihm gewechselt hatte. Wieder summte sein Handy. Tee. SH „Verwöhntes Balg“, murmelte John, doch in seiner Stimme lag keine Schärfe. ∼*∼ Der Weihnachtsmorgen kam und ging. John war überrascht, wie heimisch es sich mit Sherlock anfühlte. Sie sahen gemeinsam fern und Sherlock echauffierte sich über darüber, wie keiner bisher erkennen konnte, dass die Moderatorin der Weihnachtssendung nicht nur seit gestern von ihrem Freund getrennt war, sondern auch noch den Familienhund in der bald folgenden Scheidung für sich beanspruchte und darüber hinaus seit zwei Wochen wieder regelmäßig rauchte - was wohl einer der Gründe für die Trennung war (neben den Geldproblemen und dem Stimmungskiller namens Stress). John verkniff sich ein überaus peinliches ,Phantastisch!‘ (an Tatorten war es vielleicht angemessen, doch im Wohnzimmer von 221B Baker Street erschien es ihm überaus deplatziert) und nötigte Sherlock dazu, gemeinsam mit ihm den ersten James Bond anzusehen (was gab es weihnachtlicheres!). Die Stimmung hielt solange, bis Sherlocks Handy vibrierte und eine Nachricht von Lestrade ankündigte. John hatte geahnt, dass über Weihnachten keine Ruhe einkehren würde - vielmehr wunderte es ihn, dass die Pause so lange angehalten hatte - und zum offensichtliche Entzücken Sherlocks bat man um seine Hilfe. John wusste, dass sein Mitbewohner dem weihnachtlichen Frohsinn wohl nie näher kommen würde, als durch einen komplizierten Mord. Also streiften sie sich die Jacken über, riefen ein Taxi und fuhren quer durch London, nur um schließlich im Lagerraum eines Spielzeugladens zu stehen, in dem eine offene Spielzeugkiste mit einer Leiche stand. Sherlock beugte sich tief über die Kiste, dann griff er in seine Jackentasche und betrachtete den Haaransatz des Toten durch seine Lupe. „Gefärbt, aber nicht so, dass man es auf den ersten Blick sieht. Die Farbe ist frisch, keine grauen Ansätze, nicht einmal minimal. Zeitpunkt des Todes?“ Lestrade warf Anderson einen auffordernden Blick zu, doch noch ehe dieser den Mund für eine widerwillige Antwort öffnen konnte, sprach Sherlock weiter: „8-12 Stunden, danke Anderson, aber ich bevorzuge den Anblick Ihres Hinterkopfes doch mehr als den Ihres Gesichts.“ Der Inspektor verdrehte die Augen, während John versuchte, unauffällig den Raum zu verlassen, bevor Anderson jegliche Fassung verlor. Er schaffte es bis kurz vor die Tür. „John“ - ein ausgestreckter Arm in seiner Richtung - „Telefon.“ Ernsthaft?, dachte John. Hier? Von allen Momenten, in denen Sherlock seine legendäre Faulheit zur Schau stellen konnte, musste es vor Lestrade und seiner Einheit sein? „Innen oder außen?“ Er sah, wie sich Sherlocks Mundwinkel hoben, während er mit behandschuhten Händen die Krawatte des Opfers inspizierte. „Innen.“ Natürlich innen. John trat näher an ihn heran und griff in Sherlocks Mantelinnentasche. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Inspektor und Sergeants vielsagende Blicke wechselten. Großartig. „Hier.“ Sherlock nahm es ihm kommentarlos ab und begann, mit einer Hand zu tippen, während seine andere mit dem Kragen beschäftigt war. Nach einigen Minuten richtete er sich auf. Lestrade gab Donnovan zu verstehen, dass sie die nächsten Worte mitschreiben sollte. „Der Mann ist Mitte dreißig, wohlhabend, jedoch nicht seinem Aussehen entsprechend. Er verkehrt in Kreisen, die nicht im Verhältnis zu seinem Einkommen stehen - seine Haare sind akkurat geschnitten, die Farbe ist erst kürzlich erneuert worden, um Ansätze zu verhindern. Jedoch ist sie nicht allzu teuer, etwa 35 Pfund die Packung, gewöhnlich wären in den Kreisen 70 bis 100. Seine Finger sind manikürt, die Schuhe sauber. Der Anzug ist jedoch nicht maßgeschneidert und auch die Armbanduhr erscheint teuerer, als sie tatsächlich ist. Ähnlich verhält es sich mit der Krawattennadel. Er ist unverheiratet - kürzlich geschieden - und führte derzeit keine Beziehung. Die Exfrau fällt als Verdächtige heraus, denn um einen Mann seiner Statur nach dem Mord in diese Kiste zu schaffen, ist eine erhebliche Menge Kraft erforderlich. Und da er zierliche Frauen bevorzugte, passt seine Exfrau nicht in dieses Profil. Nun zum Bruder der Frau, der sich Geld von ihm geliehen hat und es ihm noch immer schuldet. Es geht um keine geringe Menge, aber warum so lange darauf warten, es zurück zu fordern, wo die Scheidung doch bereits zwei Monate zurückliegt? Es muss an dem Neffen liegen.“ Auf einmal hielt Sherlock die Brieftasche des Mannes in der Hand. „Es war für ihn. Er hätte das Geld nie zurückverlangt. Somit fällt auch der Schwager als Verdächtiger weg. Ebenso die Kollegen.“ „Wieso die Kollegen?“, fragt Anderson und Sherlock schenkte ihm einen Blick, der John einen kalten Schauer über den Rücken jagte. „Normalerweise würde ich diese sinnlose Frage übergehen. Da ich jedoch mit nichts Anderem gerechnet habe, im Anbetracht der Tatsache, dass Weihnachten das kollektive Weltverständnis auf eine rosa Zuckerwattenebene reduziert, werde ich es auch für Anderson erklären.“ Sherlock musste gute Laune haben. „Seine Kollegen mochte ihn nicht wirklich und es beruhte auf Gegenseitigkeit. Er gab viel auf sein Äußeres und hielt wenig von Unpünktlichkeit, Unorganisiertheit und Inkompetenz. Anderson wäre demnach genau in sein Feinbild gefallen, aber wer könnte es dem Mann verübeln? Dennoch war der Mörder niemand, den er kannte.“ „Und wie kommst du darauf?“, fragte Lestrade und trat neben ihn. „Bitte. Es ist doch offensichtlich.“ Ein Blick in die Runde. Keine Antwort. „Weihnachten“, spuckte Sherlock, als wäre es eine Krankheit. „Macht alle noch unzugänglicher als ohnehin schon. Senkt die Aufnahmefähigkeit durch Reizüberflutung. John.“ Darauf hatte er gewartet und bereits seit Minuten überlegt, wie Sherlock zu seinen Schlussfolgerungen kam. Den ersten hatte er folgen können, die Geschichte mit den Arbeitskollegen war ihm schleierhaft. Aber das war jetzt nicht die Frage. Auch er beugte sich vor und betrachtete den Toten. Der Saum seiner Hose war nass und besprenkelt mit Flecken. „Er ist gerannt“, sagte John und Sherlocks Gesichtszüge erhellten sich. „Er hat versucht, seinem Mörder zu entkommen. Hätte er ihn gekannt, wäre er nicht weggelaufen. Denn er kannte niemanden, von dem so viel Gefahr ausgeht, dass er nicht vor ihm fürchten muss?“ Der letzte Teil war etwas geraten, doch offensichtlich war es gut genug, denn Sherlock nickte zufrieden. „Genau. Natürlich hast du das offensichtlichste übersehen - nämlich dass die Schuhe sauber sind, obwohl er gerannt ist. Wieso? Weil der Mörder sie gereinigt hat. Um seine Fingerabdrücke zu entfernen. Um das Opfer in diese Kiste zu bringen, machte er nämlich den Fehler, ihn bei den Schuhen zu packen. Stümperhaft.“ Sherlock kehrte der Kiste den Rücken. „Er wird wieder morden. Vielleicht hat er es schon bereits. Vermutlich in einem Umkreis von einer Meile. Und er hat einen Fußabdruck hinterlassen.“ John lauschte den nächsten Schlussfolgerungen gebannt und konnte nicht verhindern, dass ihm ein „Brillant“ entwich, doch das selbstzufriedene Lächeln Sherlocks minderte das nicht - im Gegenteil. Es war ein mittlerweile eingeübter Ablauf. Sherlock würde den Fall lösen, John würde ihm bewundernde Anerkennung zollen. Lestrade würde erleichtert, gleichzeitig jedoch auch frustriert sein, nicht selbst auf die Lösung gekommen zu sein. Unterm Strich würde Anderson zweimal die Beherrschung verlieren und Donnovan Sherlock viermal Freak nennen. Routine. Überlebenswichtig für Sherlock. Und John würde feststellen, dass sein eigenes Wohlbefinden mittlerweile geradezu untrennbar mit Sherlocks verbunden war. ∼*∼ „Wann wolltest du es mir sagen?“ „Dieses Experiment ist geradezu lächerlich ungefährlich, John. Im schlimmsten Fall haben wir einen verbrannten Fleck auf dem Tisch. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei sechs Prozent.“ John hatte die Arme verschränkt und beobachtete Sherlock. Er kauerte auf einem Hocker, vor ihm stand ein Bunsenbrenner auf dem Tisch, und er balancierte mithilfe einer Klammer ein Reagenzglas mit brodelndem Inhalt. Wenigstens hatte er sich die Mühe gemacht, eine Schutzbrille aufzusetzen. Doch das war nicht Johns derzeitiges Problem. „Sherlock.“ Er erhielt keine Antwort. „Sherlock.“ Lediglich ein genervtes Abwinken wurde ihm zuteil. Besser als nichts, aber noch immer nicht ausreichend. Er beugte sich vor und pustete den Bunsenbrenner aus. Das sicherte ihm Sherlocks uneingeschränkte Aufmerksamkeit. „Dir ist bewusst, dass das Experiment ruiniert ist. Der Tisch war nie in akuter Gefahr, John.“ Er begnügte sich damit, zu starren. Sherlocks Augen analysierten zunächst sein Gesicht, dann seine Haltung. Sein Mund öffnete sich zu einem erkennenden: „Oh.“ Er nahm die Schutzbrille ab und warf sie achtlos auf den Tisch. „Hier geht es nicht um das Mobiliar.“ „Sehr gute Beobachtung.“ „Du bist gereizt. Wir haben noch Milch im Kühlschrank, auch habe ich gegen keine der von dir auferlegten sogenannten Hausregeln verbrochen. Es geht hier also um eine zwischenmenschliche Thematik.“ John hörte Sherlock schweigend zu. „Mycroft hat vor zwei Tagen mit dir gesprochen. Heute ist der sechsundzwanzigste. Zweifellos hat er dich auf den weihnachtlichen Ritus meiner Familie hingewiesen und dich zum Dinner eingeladen.“ „Und?“ „Und du hast darauf gewartet, dass ich mich dazu äußere? Wirklich, John, du solltest mittlerweile genug Informationen gesammelt haben, um zu wissen, dass ich nicht intendiere, am Dinner teilzunehmen.“ „Du wirst hingehen“, erwiderte John. „Weil du deiner Mutter dein Wort gegeben hast.“ Ein scharfer Zug erschien um Sherlocks Mundwinkel. John fuhr fort: „Es geht hier nicht darum, ob du teilnimmst. Ich will wissen, warum meine Anwesenheit erwartet wird. Und warum du ganz offensichtlich versäumt hast, mich darüber aufzuklären.“ „Ist es nicht offenkundig, John?“ „Nein.“ Etwas an Sherlocks Haltung änderte sich. Sie verlor kaum merklich an Sicherheit und wirkte plötzlich defensiv. „Du bist der erste Mitbewohner, der länger als drei Monate geblieben ist. Darüber hinaus bist du Teil meiner Arbeit.“ Und dieses Geständnis traf John wie ein Schlag in die Magengrube. Mit einem überraschten Laut ließ er sich auf den Stuhl neben sich fallen. „Wiederhol das.“ „Ist das denn nicht offensichtlich?“ Nun mischte sich deutliche Ungeduld in Sherlocks Stimme. John fuhr sich durch die Haare und lehnte sich auf seine Unterarme, während er sich vorbeugte. „Nein, Sherlock, ist es nicht. Bitte erklär mir, wann ich von einem Mitbewohner zu einem Teil deiner Arbeit geworden bin. Mir ist bewusst, dass ich dir hin und wieder behilflich bin - wahrscheinlich mehr, als deine vorherigen Mitbewohner, aber das ist es auch schon.“ „Behilflich? Du befragst Zeugen, wenn ich es dir auftrage. Du reist quer durch London, um mein Telefon von der Küche ins Wohnzimmer zu bringen. Letzte Woche hast du eine Schicht im Krankenhaus unterbrochen, um bei Molly die Laborergebnisse abzuholen. Du verfolgst flüchtende Täter. Du hast einen Taxifahrer für mich erschossen. Du hast deine Sicherheit für meine aufs Spiel gesetzt, um Moriartys Scharfschützen von mir abzulenken.“ „Oh“, entwich es John, dem all die Dinge vorher nie in diesem Ausmaß bewusst gewesen waren. Und wieder „Oh!“ als ihm die Bedeutung immer klarer wurde. „Du suchst die Gefahr. Afghanistan hat dir etwas über dich gezeigt, das dir vorher nicht bewusst war. Du bist zurückgekehrt und hast etwas vermisst. Nachdem wir uns getroffen hatten, war dir klar, dass ich dir das bieten kann, was du sonst nicht mehr bekommen würdest. Es ist so offensichtlich, dass selbst du es nicht länger übersehen kannst.“ „Worauf willst du hinaus?“ Seine linkes Bein hatte begonnen, im immer schneller werdenden Takt auf und ab zu wippen. Seine Hände waren vollkommen ruhig. Sherlocks Augen schienen ihn zu durchbohren und in dem Moment, in dem John dachte, er hielte den analysierenden Blick nicht länger aus, sprang Sherlock regelrecht von seinem Stuhl auf. Er riss theatralisch die Arme in die Höhe. „Streite dich nie mit einem Dummkopf. Es könnte sein, dass die Zuschauer den Unterschied nicht erkennen.“ Dann hatte er die Küche verlassen und John hörte, wie die Tür zu seinem Schlafzimmer hinter ihm zuschlug. Damit war er allein mit seinen verwirrenden Gedanken und den Worten, die Sherlock zurück gelassen hatte. Sein Telefon vibrierte. Ein Fahrer wird euch in zwei Stunden abholen. Abendgarderobe wird auch von Sherlock erwartet. Erinnern Sie ihn auch an das Weihnachtsgeschenk für Mummy. Mycroft Holmes John vergrub das Gesicht in den Händen und ließ die gnadenlosen Umstände des Schicksal auf sich einwirken. Eine unverständliche Erwartungshaltung von Mycroft, Sherlocks kryptische Andeutungen zwischen den Zeilen und Johns langfristig ungesunde Fixierung auf Sherlock, die er bis zu diesem Moment erfolgreich hatte ignorieren können. Was sollte ihn jetzt noch überraschen? ∼*∼ Er hätte es besser wissen sollen, als das Schicksal offen herauszufordern. Zwei Stunden später stand er im Anzug vor Sherlocks noch immer verschlossener Tür und haderte mit sich, ob er klopfen oder einfach den Raum stürmen sollte. Es war ein langes Hin und Her gewesen, bis er sich überhaupt dazu entschlossen hatte, der Einladung tatsächlich nachzukommen. (Ein Teil von ihm hatte wohl nur aus Sorge zugestimmt, Mycroft könnte eine SAS-Einheit losschicken, um ihn zu orten und hinterher zu bringen, sollte er den Versuch unternehmen, sich an diesem Abend in einem Pub abzusetzen.) Einen passenden Anzug zu finden war insofern leicht gewesen, als dass er bereits in seinem Schrank gehangen hatte. Mycrofts Einflussgebiet machte wohl auch vor John Garderobe keinen Halt. Der Gedanke war äußerst beunruhigend. John verfluchte seine gute Erziehung und klopfte. Er erhielt keine Antwort, was ihn nicht wirklich überraschte. Es klingelte. Fluchend griff John in seine Tasche und tippte eine Nachricht auf seinem Telefon. Zeit zu fahren, Sherlock. Hör auf zu schmollen. Alleine der Umstand, dass er Sherlock texten musste, obwohl sie nicht mehr als eine Tür trennte, war absolut lächerlich. Ich ,schmolle‘ nicht. Und das Geschenk, dass du für Mummy ausgesucht hast, wird nicht im mindesten ihren Ansprüchen gerecht. SH „Woher-“, setzte John reflexartig an, schloss jedoch augenblicklich den Mund, als es erneut klingelte. Natürlich wusste Sherlock, dass John, im Versuch künftiger Etikette gerecht zu werden, an der nächsten Tankstelle einen Blumenstrauss gekauft hatte. Und ihm war klar, wie sinnlos das gewesen war, aber mit leeren Händen vor Sherlocks Mutter zu stehen war ihm irgendwie schlimmer vorgekommen. Schritte auf der Treppe holten ihn in die Gegenwart zurück. Misses Hudson klopfte höflich an den Rahmen der offenen Tür zum Appartement. „Unten ist ein Gentlemen, der euch abholen will. Oh, Doktor Watson!“ Ein Ausdruck der Verzückung erschien auf ihren Zügen und sie eilte auf ihn zu. „Dieser Anzug steht Ihnen wirklich außerordentlich gut. Nein wirklich, ein wahrer Kavalier.“ Sie zwinkerte ihm zu, dann hob sie die Stimme. „Sherlock, sieh ihn dir nur an.“ „Misses Hudson“, setzte John beschwichtigend an, doch die Tür zu Sherlocks Zimmer wurde aufgerissen, noch eher sie warnen konnte, dass es ein ganz schlechter Zeitpunkt für derartige Kommentare war. Sherlock im Anzug war kein neuer Anblick. Sherlock in einem zweifellos maßgeschneiderten Armani-Anzug mit weißem Hemd ließ John einige Sekunden zu lang starren. Das selbstgefällige Lächeln des Consulting Detectiv machte die Situation nicht weniger unangenehm. „Misses Hudson, erwarten Sie uns heute nicht allzu früh zurück.“ „Oh, ein Weihnachtsessen? Zu zweit?“ Sie lächelte wissend. „Lasst es euch gut gehen, Jungs.“ John hatte keine Zeit, ihr zu widersprechen, da scheuchte sie sie bereits liebevoll die Treppe hinunter. „Keine Zeit zu verlieren. Der Abend ist noch jung und ihr wollt doch sicher so viel wie möglich davon genießen.“ Sie winkte ihnen hinterher und schloss erst die Tür, als sie in den Wangen mit verdunkelten Scheiben eingestiegen waren. John hatte diese Art der Behandlung noch nie leiden können. Eine Limousine, ein Chauffeur. Verdunkelte Scheiben. Die Illusion von Wichtigkeit. Er hätte lieber ein Taxi genommen. Er rieb sich die Hände an der Anzughose und bemerkte erst jetzt, dass er den Blumenstrauß vergessen hatte. Soviel zum Thema ,Nicht mit leeren Händen vor Sherlocks Mutter stehen‘. Er hob den Blick und realisierte, dass Sherlock ihm direkt gegenüber saß und ihn beobachtete. Er schluckte und setzte sich etwas gerader hin. „Was?“ „Sie erwartet kein Präsent von dir. Du bist ihr Gast.“ „Es geht mir nicht um die Erwartung.“ Das war eine glatte Lüge. Aus irgendeinem Grund hatte John eine geradezu unsinnige Angst davor, einen falschen ersten Eindruck zu machen. Dabei gab es keinen Grund dafür, sie beeindrucken zu wollen. Er würde sie wohl kaum oft wieder sehen. „Natürlich.“ Dieses Mal lag eindeutiger Sarkasmus in Sherlocks Stimme. John knurrte. „Was ist dein Problem?“ Sherlock beugte sich vor. „Mein ,Problem‘, John, ist, dass du das Offensichtliche nicht siehst.“ „Dass du wieder eine deiner Launen hast?“ „Von Anderson erwarte ich diese Ignoranz, aber nicht von dir.“ Diese Worte machten ihn nur noch wütender. „Hör auf, in Rätseln zu sprechen! Wenn du so ein großartiger Beobachter und Ermittler bist, dann sag du mir doch, was ich übersehe!“ Sherlock betrachtete ihn lange Sekunden. Schnaubend wandte er schließlich den Blick ab. „Langweilig. Ich hatte gehofft, Mummy jemandem mit mehr Scharfsinn vorstellen zu können.“ John spürte, wie ihm sämtliche Luft entwich. Jetzt zitterten seine Hände. „Anhalten“, sagte er, zunächst leise, dann mit gehobener Stimme und energischer, als keine Reaktion folgte. „Anhalten!“ Der Fahrer warf ihm einen verwunderten Blick im Rückspiegel zu, setzte jedoch den Blinker und fuhr auf eine Bushaltestelle. Sherlock blinzelte irritiert, während John sich abschnallte und die Tür öffnete. Dann war er draußen an der kühlen frischen Luft und fühlte sich schlagartig um ein mehrfaches besser. Er schlug die Tür hinter sich zu und entfernte sich vom Wagen. Nach einigen Metern hörte er, wie die Tür sich wieder öffnete. „John?“ Er drehte sich nicht um. „John?“ Er hatte Sherlock überrascht. Das sollte ihm Genugtuung verschaffen, doch es frustrierte ihn tatsächlich noch mehr, denn es machte die ganze Situation um ein vielfaches komplizierter. Er blieb stehen und hörte, wie Sherlock ihm folgte. „Damit ein klar ist“, sagte John und beobachtete, wie sein Atem bei den niedrigen Temperaturen sichtbar wurde. „Ich folge dir nicht blind, egal, wie du mich behandelst. Ich fahre mit der Bahn quer durch London, um dir dein Telefon zu reichen, dass fünf Meter entfernt auf dem Küchentisch liegt, weil du ein Genie bist, das Mörder überführt und dir hin und wieder Faulheit in anderen Bereichen erlauben darfst. Ich unterbreche Schichten im Krankenhaus, um Botengänge zu erledigen, weil ich die Arbeit zwar mag, sie mich aber nicht erfüllt und weil es mir das Gefühl gibt, Teil des Falles zu sein. Ich erkläre mich immer wieder zu haarsträubenden Überführungsplänen bereit, weil es, egal, wie wahnsinnig oder halsbrecherisch sie sind, letztendlich immer noch deine Pläne sind und weil ich für den Kampf ausgebildet wurde.“ Er ballte die Fäuste und lockerte sie wieder. Spürte, wie die Kälte seine Beine hinaufkroch und erinnerte sich daran, dass er in all der Eile auch seine Jacke in der Baker Street vergessen hatte. „Und ich bin bereit, mich zwischen dich und Moriartys Scharfschützen, seine Lakaien oder von mir aus eine ganze Armee zu stellen, weil du trotz all deiner sozialen Rücksichtslosigkeit, den übellaunischen Phasen, dem Violinenspiel mitten in der Nacht und deiner selbstdiagnostizierten Soziopathie immer ein brillanter Mann bleiben wirst, der das Richtigstellen der Verhältnisse von Gut und Böse über sein eigenes Wohl ordnet.“ Er wirbelte herum. „Ich lasse mich von dir korrigieren und bevormunden. Ich toleriere es, wenn du mich über lange Zeit ignorierst oder mir nur einen geringen Teil Aufmerksamkeit zukommen lässt. Aber ich bin kein verdammtes Experiment, dass du deiner Mutter zum Beeindrucken präsentierst und an dem du augenblicklich das Interesse verlierst, sobald es nicht deinen Erwartungen gerecht wird!“ Er merkte erst, wie sehr diese Annahme schmerzte, nachdem er sie ausgesprochen hatte. Er wollte das nicht sein. Wollte nicht Sherlocks Beweis für seine Mutter repräsentieren, dass er sozial kompatibel war. „John, ich ...“ Sherlocks Gesicht war blank, ohne jeglichen Ausdruck. Doch während er nach Worten suchte, erschien etwas auf seinen Zügen, dass John zunächst irritierte und dann immer mehr verwirrte. Es sah beinahe aus, wie Unsicherheit. „Ich hatte es ... das war nicht so gemeint.“ „Wie war es dann gemeint? Was wolltest du sagen? Sherlock, ich bin nicht du. Ich kann zwischen den Zeilen lesen und ich kann den meisten deiner Schlussfolgerungen folgen, aber ich kann dir nicht in den Kopf sehen. Ich weiß nicht zu jedem Zeitpunkt, was du denkst.“ „Du ordnest es.“ „Was?“ „Du ordnest die Gedanken.“ Sherlock sah ihn direkt an und John konnte den Blick nicht abwenden. „Sie überhäufen sich. Wenn ich etwas sehe, gibt es unendliche Variationen und Möglichkeiten. Konsequenzen, Schlussfolgerungen, Deduktionen. Doch ohne Struktur bringen sie gar nichts. Ich habe gelernt, sie zu filtern, aber manchmal ist es zuviel. Die Violine hilft und Heroin hat früher für einige Momente für Ruhe gesorgt, aber dann bin ich dir begegnet und ...“ John hielt den Atem an. „Du machst es erträglicher. Wenn ich dir meine Erkenntnisse darlege, fungiert das Gespräch wie ein neuer Filter, der es nicht nur ordnet, sondern der mit mir interagiert. Du reagierst und machst mich auf Dinge aufmerksam, die zwar offensichtlich sind, jedoch bei genauerer Betrachtung eine völlig andere Bedeutung bekommen können. Du bist ein Teil meiner Arbeit John, kein Experiment. Niemals ein Experiment.“ „Was bedeutet es, ein Teil deiner Arbeit zu sein, Sherlock?“, fragte John leise und machte einen Schritt auf ihn zu. „Dass ich solange geduldet werde, wie es zweckmäßig ist? Dass ich eine nützliche Erweiterung bin? Ich erwarte keine Sonderbehandlung. Kein Anfassen mit Samthandschuhen.“ Wenn Sherlock überhaupt zu etwas Ähnlichem in der Lage war. „Was bin ich für dich, Sherlock?“ „Ein T-“ „Nein“, fiel John ihm energisch ins Wort. „Wer bin ich für dich?“ Und Sherlock kämpfte mit dem Wort. Er öffnete den Mund, seine Augen fixierten erst das Bushaltestellenschild hinter John, dann seine Krawatte. Schließlich trafen sich ihre Blicke wieder und Sherlock sagte: „Mein Freund.“ Die Anspannung wich aus Johns Haltung. Er lächelte. „Genau. Selbst der große Sherlock Holmes hat Freunde. Nicht nur Erzfeinde.“ Er überspielte die Erleichterung, die ihn bei Sherlocks Worten erfüllt hatte. Ebenso wie den Umstand, dass seine Knie einen Moment lang vor Sorge, Sherlock würde sich umdrehen und gehen, weich geworden waren. Sherlock hatte John bereits oft als seinen Freund vorgestellt. Doch das war stets in Gegenwart anderer gewesen, so als habe er beweisen wollen, dass er selbst zu solchen banalen sozialen Bindungen imstande war. Doch nie hatten Sherlock und er wirklich darüber gesprochen, wie sie zueinander standen. Mitbewohner. Kollegen. Partner. Freunde? Oder nur eine Zweckgemeinschaft unter dem Mantel der Freundschaft? „Du bist erleichtert“, sagte Sherlock, als John mit ihm auf einer Höhe war. Er musterte ihn aufmerksam. „Du hast befürchtet, ich würde das Konstrukt der Freundschaft nur als Fassade für Außenstehende benutzen.“ „Nicht ganz“, antwortete John und fühlte sich auf einmal wie der letzte Idiot. Sherlock hatte sich ihm mehr geöffnet als den meisten Menschen um ihn herum. Selbst Mycroft hatte erstaunt darüber gezeigt, wie viel Vertrauen Sherlock in John setzte, nachdem klar war, wie loyal John Sherlock bereits nach kürzester Zeit war. Sherlock gab John Aufgaben, die er niemandem vom Scotland Yard zutraute (obwohl sie dafür ausgebildet worden waren). Oft waren Sherlocks Handeln egoistisch, doch es gab Momente, in denen er innehielt und Johns Perspektive berücksichtigte - etwas, das er vorher bei niemand getan hatte. John hatte Sherlock eben einzig und allein an seinem eigenen Verständnis von Freundschaft gemessen. Gemessen an Sherlocks Verständnis konnte John sich verdammt glücklich schätzen, denn ihm wurde mehr zuteil, als allen anderen. „Tut mir leid“, murmelte er und wich Sherlocks Blick aus. „Ich habe ... das muss der Stress ... Ich weiß nicht, was mir mir los ist. Diese ganze ... Szene hier war unangebracht. Vergiss es einfach, okay?“ Als ob Sherlock Holmes je etwas vergessen würde. John konnte sich glücklich schätzen, wenn Sherlock ihn nach diesem Zwischenfall überhaupt wieder in das Appartement ließ. Eine Hand legte sich um seinen Oberarm und er sah auf. „Faszinierend“, murmelte Sherlock und John verspürte das befremdliche Bedürfnis, sich vor zu beugen. Dann ließ Sherlock ihn abrupt los. Er kehrte zum Wagen zurück und gab John mit einer unmissverständlichen Handbewegung zu verstehen, ihm zu folgen. „Mummy hält wenig von Unpünktlichkeit.“ „Oh ... okay.“ Während John die Tür hinter sich zuzog, kam er zu dem Schluss, dass sie das wohl schrägste Duo in der Geschichte abgeben mussten. [tbc] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)