Word Forward von mystique (Sherlock/John (Sherlock BBC)) ================================================================================ Act X ----- Act X     Der Polizist war wahrscheinlich so alt wie John und taxierte ihn einige Sekunden lang. Sein Blick blieb kurz an Johns bandagierten Hand hängen, eher er ihm mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen gab, dass er ihm folgen sollte.   Sie passierten eine Reihe leer stehende Zellen und schließlich eine, in der ganz offensichtlich jemand seinen Rausch absaß, wenn man dem Gemurmel und den Flüchen trauen konnte. Vor der letzten Tür auf der linken Seite blieben sie stehen.   „Eine ganz schöne Nervensäge“, knurrte der Beamte und griff nach seinem Schlüsselbund. „Er kann froh sein, dass er nur eine Stunde bekommen hat und nicht den ganzen Tag.“   John sagte nichts, obwohl er dem Mann innerlich zustimmte. Eine Stunde war nachsichtig gewesen.   Die Tür schwang auf und John seufzte. Sherlock lag auf der Liege in der Ecke, die Hände in seiner klassischen Denkhaltung unter seinem Kinn und starrte an die Decke. Er drehte den Kopf in Johns Richtung und lächelte süffisant. „Das ganze fing gerade an, langweilig zu werden.“   John schüttelte den Kopf. „Du bist unmöglich.“   Wie Sherlock Holmes nun einmal war, konnte er selbst diese Redewendung nicht auf sich sitzen lassen. „Was für eine fahrlässige Wortwahl, John.“   „Halt die Klappe und steh auf.“ In Johns Stimme lag keine echte Schärfe, er konnte nicht einmal so tun, als wäre er wirklich wütend.   Sherlock warf einen letzten Blick an die Decke und rappelte sich auf. Dann rauschte er an dem Polizisten und John vorbei. „Ich brauche mein Handy und meinen Mantel.“   John zuckte entschuldigend die Schultern, doch der Polizist winkte ab. „Er ist nicht der Schlimmste, den ich schon hier hatte.“   Wenn Sie wüssten, dachte John und verkniff sich ein Lächeln. Er folgte dem Polizisten zurück zu dessen Schreibtisch im Wartebereich und nahm dankend Sherlocks Habseligkeiten entgegen.   Der Detektiv lief draußen auf und ab und wirbelte herum, als die Tür aufschwang. John entging nicht, wie vorsichtig Sherlock war, während er ihm den Mantel abnahm. Er wusste, dass John noch immer zwischendurch Probleme mit seiner Schulter hatte und auch wenn er nie etwas dazu sagte, so zeigte es sich doch in kleinen Gesten, wie dieser.   Nicht, dass Sherlock öfter danke sagte. Das hätte John nun wirklich Sorgen gemacht.   Nachdem Sherlock den Mantel angezogen und seinen Schal gerichtet hatte, reichte John ihm sein Telefon. „War das wirklich nötig?“, fragte er stirnrunzelnd.   Sherlocks Blick ruhte auf dem Display seines Telefons. „Der Richter war ein Idiot, genauso wie der Staatsanwalt. Hat die falschen Fragen gestellt. Ich dachte, dafür durchlaufen sie eine langjährige Ausbildung. Du hättest bessere Fragen gestellt, John.“   „Ja, klar, danke.“   „Du weiß, wie ich das meine.“ Sherlock sah ihn direkt an. „Privatdetektiv hat er mich genannt. Er hätte genauso gut Schnüffler sagen können.“ Er verdrehte die Augen und wandte sich ab. „Privatdetektiv. Ich bin Consulting Detective.“   „Sicher doch. Trotzdem hättest du auf den Richter hören sollen, was immer er auch gesagt hat.“ Als John nach seiner Aussage den Gerichtssaal verlassen hatte, hatte ein Beamter ihm mitgeteilt, dass Sherlock eine Stunde Arrest bekommen hatte wegen Missachtung des Gerichts. John kannte die Einzelheiten nicht, aber er hatte Sherlock heute morgen mehrfach daran erinnert, sich zu zügeln. Mehrfach. Nachdrücklich.   Ach, was machte er sich hier etwas vor. Als ob Sherlock ihm zugehört hatte.   „Der Richter ist ein Idiot“, wiederholte Sherlock und John stieß ihm mit einem gezischten „Nicht so laut!“ den Ellbogen seines gesunden Arms in die Seite.   Sherlock sah ihn empört an und John beschloss, es darauf beruhen zu lassen. „Wir sollten nachsehen, ob -“   „Die Jury ist noch nicht fertig.“   „Wie -“ Sherlock murmelte etwas, das stark nach „offenkundig“ klang und John schluckte die Frage. Stattdessen folgte er Sherlock schweigend bis vor den Gerichtssaal. Dort tummelten sich bereits einige Wartende, die vermutlich gerade von der Toilette zurückgekehrt waren.   John suchte sich einen Platz in der Ecke und setzte sich. Durch den Krankenhausaufenthalt war sein Körper noch immer nicht ganz auf der Höhe. Außerdem hatte er noch keine wirkliche Möglichkeit gehabt, seine eigene Aussage zu verarbeiten.   Er öffnete die Augen, als Sherlock sich neben ihn setzte, viel dichter als normalerweise notwendig. John lächelte und neigte den Kopf, sich darüber im Klaren, dass dies Sherlock Art war, ihn zu beruhigen.   Wie gesagt, es waren die kleinen Gesten, die John schätzte.   John dachte an den Moment zurück, in dem er Moran im Gerichtssaal gegenüber gestanden hatte. Nicht direkt, getrennt durch einige Bänke und Meter, aber er hatte dem Mann zum ersten Mal seit dem Angriff in die Augen gesehen und den Blick nicht abgewendet.   Du hast nicht gewonnen, Moran.   Sebastian Morans selbstgefälliges Grinsen hatte er mit starrer Miene erwidert, während der Staatsanwalt John die bereits geübten Fragen gestellt hatte. (Ist dies der Mann, der Sie angerufen und erpresst hat? Was hat er getan, als sie das Zimmer betreten haben? Hat er gesagt, dass er vorhabe, Sie und Sherlock Holmes zu töten? Sagen Sie den Geschworenen bitte, welche Verletzungen Sie von dem Übergriff davongetragen haben.)   John war müde. Er hatte sich tagelang mental auf die Anhörung vorbereitet und es war nicht so schlimm gewesen wie befürchtet. Er konnte froh sein, dass seine und Sherlocks Aussagen die letzten vor dem Schlussplädoyer gewesen waren. Vorgestern hatte Lestrade bezüglich der vier vermissten und tot aufgefundenen Männer, die eine „Anspielung“ auf John Watson dargestellt hatten, seine Aussage abgegeben. Auch die Forensiker vom Scotland Yard hatten ihre Ergebnisse präsentiert, die eindeutig Moran als Täter identifizierten.   Gestern hatte Sebastian Moran selbst ausgesagt. John war nicht da gewesen und hatte auch nicht vor, die Aussage nachträglich zu lesen.   Das alles war auslaugend. Und auch wenn Sherlock so tat, als würde es ihn nicht berühren, bemerkte John doch die Seitenblicke. Sherlock hatte Johns Aussage nicht gehört, hatte er doch als zweiter Zeuge darauf warten müssen, dass er aufgerufen wurde, aber er war Sherlock Holmes und wusste alles.   Oder zumindest das Meiste.   „Wenn das hier vorbei ist, brauche ich Urlaub“, sagte John irgendwann und hörte Sherlock neben sich schnaufen.   „Vielleicht hat Lestrade einen neuen Fall.“   „Nicht deine Auffassung von Urlaub. Nein, richtiger Urlaub, ohne Mordfälle, Angriffe und Chaos. Einfach mal ein paar Tage ...“ Seine Worte verebbten irgendwo auf dem Weg, als er den Kopf drehte und Sherlocks fassungslosem Blick begegnete.   John lachte leise. „Du hast recht. Ich hab wohl nicht nachgedacht.“   Drei Tage ohne einen Fall und irgendwelche Beschäftigung für Sherlock – das wäre die Hölle, kein Urlaub.   „Was hältst du von einem Abend auf dem Sofa?“, schlug er stattdessen vor.   „Du hattest die letzten Wochen nur Abende auf dem Sofa, John.“   Seit John vor drei Wochen nach einem sechstägigen Aufenthalt aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er die Wohnung nur selten verlassen. Die ersten Tage hatten Sherlock und Mrs Hudson ihn keine Aufgaben übernehmen lassen, weder das Einkaufen, noch das Aufräumen. Erst als John seine Schulter nicht mehr mit der Schlinge hatte schonen müssen, hatte man ihm mehr Freiraum zugestanden. In zwei Wochen würde der Gips entfernt und durch eine stabile Bandage ersetzt werden.   In seiner jetzigen Verfassung konnte John keine Verdächtigen durch Londons Hintergassen jagen.Dabei wollte er doch genau das. Eine bessere Therapie gab es für ihn nicht.   „Wie wäre es dann mit Essen gehen, um Morans Verurteilung zu feiern?“, fragte er.   „Lestrade hat eine Feier angedeutet.“   „Hm.“ John überlegte einen Moment. „Und du würdest wahnsinnig gerne hingehen?“   Sherlock warf ihm einen Ersthaft-John?-Blick zu und befasste sich dann wieder mit seinem Telefon. John beobachtete ihn einige Sekunden lang dabei, dann siegte die Neugier.   „Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?“   „Ich lösche Moriartys und Morans Nachrichten.“   „Was?“   „Du hast mich gehört. Ich werde es ganz sicher nicht wiederholen.“   „Du…? Warum jetzt?“   „Der Fall ist abgeschlossen.“   Genau genommen war er es noch nicht. Es gab noch kein offizielles Urteil. Und genau das machte John stutzig. Sherlock würde für gewöhnlich penibel auf den Moment warten, bis es amtlich war, er würde es nicht vorziehen, das war Sherlock.   John legte seine gesunde Hand auf Sherlocks Arm. „Was hat er gesagt?“   „Irrelevant. Nach allem, was er getan hat, wird er lebenslänglich bekommen.“   „Sherlock.“ John festigte den Druck seiner Hand, bis Sherlock das Handy sinken ließ. „Es gibt ein Protokoll der Verhandlung und ich werde es lesen, wenn du es mir nicht sagst.“   „Dazu hättest du keine Berechtigung, du bist kein Polizist.“   „Ich würde Lestrade fragen. Ich hab ein Stein bei ihm im Brett.“   John sah Sherlock einmal kontrolliert ein und ausatmen. „Er sagte, ich sei wie Moriarty. Nur auf der falschen Seite.“   „Und du glaubst das?“   „Nein.“   „Also war da mehr?“   „Als man mich nach draußen führte, rief er mir etwas hinterher. Du hättest mich töten sollen, als du die Chance dazu hattet, Holmes.“   „Filmreif, wirklich.“   „John.“   „Sherlock, Moran steht alleine da. Ohne Moriarty funktioniert sein Verbrechernetzwerk nicht mehr. Er ist vor der Öffentlichkeit bloß gestellt, alle seine ehemaligen Komplizen werden sich von ihm distanzieren. Sie werden sich vermutlich einen neuen Anführer suchen.“ Hoffentlich niemanden, der so fixiert auf Sherlock war wie Moriarty oder Moran.   Sherlock hatte damit begonnen, weitere Nachrichten zu löschen. John sah sie förmlich verschwinden.   Ich habe eine Überraschung für dich - Nachricht gelöscht -   Wie wohl Johnnys Gehirn aussieht, wenn es über den Asphalt verteilt ist. Was meinst du, Sherlock? Hat das künstlerischen Wert? Es wäre sicher unbezahlbar, findest du nicht auch? - Nachricht gelöscht -   Mir ist langweilig. Lust, zu Spielen? xoxo [style type="b"old]- Nachricht gelöscht -   „Der Fall ist abgeschlossen“, sagte Sherlock ohne John anzusehen.     ~*~     Die Jury brauchte insgesamt eine Stunde und sieben Minuten. Dann erklärte sie Moran des fünffachen Mordes, versuchter Entführung, doppelt versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung für schuldig. Das Urteil: lebenslänglich. Wie Sherlock gesagt hatte.   Sie verließen das Gerichtsgebäude durch einen Seitenausgang, um den Reportern auszuweichen, die unbedingt ein Interview von dem „heldenhaften Detektivteam“ haben wollten.     ~*~     „Das war‘s“, sagte John am nächsten Tag und ließ die Zeitung sinken.   Polizistenmörder verurteilt! Scotland Yard feiert Ermittlungserfolg   Dass der Fall so schnell in die Wege geleitet worden war, war wohl auf Mycrofts Einflüsse zurück zu führen. Moran musste noch im Bewusstsein der Londoner Bürger sein, damit sie nach seiner Verurteilung den Erfolg der Polizei richtig würdigen konnten. Einfache Politik.   John faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Wohnzimmertisch.   „Es ist vorbei.“   Sherlock stand am Fenster und spielte Violine. Er reagierte nicht, aber es klang beinahe so, als mache seine Musik einen kurzen Sprung.   John lächelte und lauschte.     ~*~     „Vielleicht wäre es besser, wenn ich diesen Fall allein bearbeite“, sagte Sherlock eine Woche danach. Lestrade stand im Wohnzimmer der Baker Street und hatte unruhig die Hände in seinen Hosentaschen vergraben.   Auf dem Wohnzimmertisch vor Sherlock lagen Akten mit Bildern von Tatorten und Informationen über zwei vermisste Männer.   John stand am Kleiderharken und drehte sich langsam mit der Jacke in der Hand zu Sherlock um, der ihn mit seinem Blick zu durchbohren schien.   John wählte seine Worte bewusst und sorgsam. „Das will ich nie wieder von dir hören.“   Sherlock sah zur Seite und Lestrade machte den Eindruck, als wäre er überall lieber als hier.     -*-     „Wir müssen reden“, sagte John zwei Wochen nach Morans Verurteilung zu Sherlock, der auf dem Sofa lag und ihm den Rücken zudrehte. John war gerade vom Arzt zurück gekommen, der ihm den Gips entfernt und ihm eine Adresse für seine künftige Therapie aufgeschrieben hatte.   Die Fenster im Wohnzimmer waren weit geöffnet, dennoch konnte John die letzten Spuren vom Zigarettenqualm riechen. Bevor er etwas zu Harsches sagte, ging er in die Küche und setzte Wasser auf. Als er mit zwei Tassen Tee aus der Küche zurückkehrte, war Sherlock verschwunden und sein Mantel hing nicht mehr am Haken.     ~*~     Sherlock blieb zwei Tage weg. John war außer sich vor Wut und zerbrach drei Reagenzgläser und einen Erlenmeyerkolben. Dann ging er los und kaufte drei neue Reagenzgläser und einen Erlenmeyerkolben. Bei seiner Rückkehr war das Appartement noch immer verlassen.   Er legte die Tüten auf den Küchentisch und schlief später auf Sherlocks Bett ein.     ~*~     John kannte viele Arten von Albträumen.   Da waren die, in denen er rannte. Er rannte und suchte etwas, aber er wusste nicht, was es war. Es fehlte ihm - Gott, es fehlte im so sehr! -  doch er konnte es nicht benennen. Er bekam kaum Luft, so sehr vermisste er esihnsie, aber er musste weitersuchen. Denn wenn er es nicht tat, dann ... dann ...   Es gab die Albträume, in welchen er wieder in der Schule, Universität oder im Ausbildungslager war und scheiterte. Auf jede erdenkliche Art und Weise. Er vermasselte Prüfungen, Examen, Tests. Manchmal trug er dabei keine Hosen, manchmal fand er einfach keinen Stift.   In wieder anderen Albträumen, war er zurück am Pool. Er trug die Semtex-Weste - mal war sie echt, mal nicht. Abhängig davon wurde er am Ende des Traumes in Fetzen gerissen oder überlebte, aber immer (immer jedesverdammteMal) sah er vorher Sherlock sterben. Es blieb nicht bei den roten Laserpunkten auf seiner Stirn, denn einer der Scharfschützen drückte jedesverdammteMal ab. John konnte nichts weiter tun als zusehen und darauf hoffen, dass dieses Mal - bitte, Gott, lass es dieses Mal sein - die Weste echt war und ihn mitnahm. Damit er nicht gezwungen war, länger auf die leblose Gestalt vor sich zu sehen.   Dann gab es die Träume von Afghanistan. Es war nie John der starb, immer sah er Kameraden fallen und entweder erreichte er sie nicht rechtzeitig oder er hatte sein Medikit vergessen. Manchmal vergaß er auch einfach die medizinischen Sofortmaßnahmen.   Es gab auch abstraktere Afghanistanträume. Dann meinte er, die Stimmen von verstorbenen Soldaten zu hören, die seinen Namen riefen und mit kalten, blutverschmierten Händen nach ihm griffen.   Was Albträume anging, war John ein lebhafter Träumer, der das Erlebte meist akustisch an die Außenwelt vermittelte. Es bedeutete ganz einfach, dass er schrie. In manchen Nächten wachte er mit einem Schrei auf, in anderen schrie und stöhnte er minutenlang, eher er aufwachte. (Zumindest hatte Sherlock ihm das so gesagt.)   John bewegte sich außerdem viel, wenn er träumte. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Einmal war er in drei Metern Entfernung zu seinem Bett aus einem Kriegstraum aufgewacht und vor etwa zwei Monaten hatte er Sherlock in einer Angriffskombination aus seiner Ausbildung von den Füßen gerissen, als dieser ihn mitten in der Nacht für einen neuen Fall plötzlich geweckt hatte.   John hatte gelernt, mit alldem umzugehen. Die Träume waren eine Belastung, ganz klar, aber er wusste, dass er im Alltag die Möglichkeit hatte und Fähigkeiten besaß, um sich und Sherlock zu verteidigen. Es war der neu gefundene Sinn, der ihm half. Selbst wenn er ihn in seinen Träumen nicht spürte, gab er ihm in dem Augenblick nach einem brutalen, unvermittelten Erwachen den nötigen Anker, um wieder ein Gefühl für seine Umwelt zu bekommen.   Es war schlimmer gewesen, bevor er Sherlock kennen gelernt hatte, soviel war sicher. Seit   dem Zwischenfällen mit Moriarty und Moran hatte John allerdings auch wieder mit häufigeren Albträumen zu kämpfen.   Es gab jedoch noch eine weitere Art von Traum. Eine, vor der ihn noch nicht einmal ein neuentdeckter Sinn ihn bewahren konnte. Denn diese Art von Albraum war ganz anders als der Rest.   Es war still. Es gab keine Schüsse, keine Schreie, keine Explosion. Nichts. Und er konnte nichts sehen. Alles um ihn herum war tiefschwarz. Was den nächsten Teil dieser Albträumen so unerträglich machte: Das Fühlen.   Es war, als würde er langsam ersticken. Seine Eingeweide zogen sich zusammen und er schnappte nach Luft. Unfähig zu atmen, sich zu bewegen oder zu schreien, konnte er nur warten, bis es endlich vorbei war. Bitte, Gott, lass mich sterben.   Wann immer er diese Art von Traum hatte, wachte er genauso auf, wie er eingeschlafen war. Dann schlug er die Augen auf und schnappte nach Luft. Einmal, zweimal, dreißig Mal. Ein Zittern würde nach und nach von seinem Körper Besitz ergreifen, bis er sich schließlich auf die Seite drehte und die Decke enger um sich zog.   Diese Art von Traum hasste John. Mehr als jeden anderen. Mehr als alle zusammen. Denn sie machten ihn so unendlich hilflos.   Heute war so eine Nacht.   John erlebte alles auf die gleiche Art und Weise. Er bekam keine Luft und hoffte, flehte, dass der Tod rasch kam, doch es schien sich Stunden, Tage, eine Ewigkeit, hinzuziehen. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, versuchte sich zu befreien, aber er hatte keine Kontrolle über seinen Körper. Seine Lungen brannten, seine Brust stand in Flammen. Luft Luft. Oder den Tod. Irgendetwas.   Er schlug die Augen auf und blickte an die Decke von Sherlocks Schlafzimmer. Im nächsten Moment begann er zu atmen. Tränen der Anstrengung brannten in seinen Augenwinkeln, und irgendwo zwischen siebzehn und achtzehn verschluckte er sich und begann zu husten. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und presste das Gesicht gegen seine Knie. Kein Anker. Kein Anker.   Bis zu dem Moment, in dem ein Paar Arme sich um seinen Körper legten und John langsam entwirrten. „Das menschliche Skelett besteht aus 212 Knochen“, murmelte Sherlock dicht an seinem Ohr, während er John zu sich zog und mit unermüdlicher Geduld aus seiner Starre befreite. „Jede Hand besitzt 27. Die Finger haben jeweils drei Knochen. Sie heißen Phalanx distalis, Phalanx media und Phalanx proximalis.“   John schloss die Augen und ließ Sherlocks Stimme auf sich wirken.   „Daran schließen die Mittelhandknochen an. Ossa metacarpalie eins bis fünf. Die Handwurzel besteht aus insgesamt acht Knochen.“ Sherlock schwieg und John atmete zitternd ein.   „Wie heißen sie?“, flüsterte er, obwohl er die Antwort kannte, sie als Student auswendig gelernt hatte. Aber darum ging es jetzt nicht. Er spürte, wie Lippen über seinen Nacken geisterten.   „Os scaphoideum, Os lunatum, Os pisiforme, Os triquentrum ...“   John schlief ein, während Sherlock ihm auch noch die 26 Knochen des menschlichen Fußes aufzählte.     ~*~     Am nächsten Morgen wachte John allein auf. Er starrte an die Decke über sich und versuchte herauszufinden, ob Sherlocks Anwesenheit nur ein weiterer Traum gewesen war.   Die folgende Nacht machte er nicht einmal mehr den Versuch, in seinem eigenen Zimmer einzuschlafen, sondern legte sich gleich in Sherlocks Bett. Er hatte wieder Albträume, doch die Erinnerung an warmen Atem an seinem Ohr und einen Körper dicht neben seinem ließ ihn danach wieder einschlafen.     ~*~     Drei Wochen nach Morans Verurteilung begann John mit der Therapie für seinen Hand und seinen Finger. Der behandelnde Physiotherapeut zeigte sich zuversichtlich, dass John mindestens 70% seiner Mobilität und Flexibilität zurückbekommen würde.   „Sie werden Schmerzen haben, Doktor Watson“, hatte er mit John mit ernster Miene erklärt. „Die Knochen sind gut zusammengewachsen und die Beugesehnenverletzung in Ihrem Finger ist sofort behandelt worden.“ An dieser Stelle hatte er sich vorgebeugt. „Aber die Kombination der Verletzungen wird Ihnen in Zukunft vielleicht immer Schmerzen bereiten.“   John hatte genickt und kommentarlos die ersten Übungen über sich ergehen lassen. Es war ihm schwer gefallen, den tennisballgroßen Schaumstoffball fest in der Hand zu halten, mehrfach war er ihm aus dem schwachen Griff gerutscht. Jeder Misserfolg ließ eine eigene kleine Narbe zurück, aber John hatte die Zähne zusammengebissen und es wieder versucht.   Jetzt, zurück in der Baker Street, ließ er sich mit einem Seufzen in seinen Sessel fallen. Seine Hand tat weh und zitterte. Sie war die Beanspruchung nicht mehr gewohnt. Auch mental fühlte John sich ausgelaugt. Sherlock und er hatten die letzten Tage kaum noch miteinander geredet, wenn der Detektiv denn überhaupt mal in der Baker Street war. Seit Johns Entlassung aus dem Krankenhaus schienen Sherlock und er sich in einem Vakuum zu bewegen, als hätte ihr Gespräch an Johns Krankenbett überhaupt nicht stattgefunden.   Über kurz oder lang würde etwas reißen und John hatte die nicht gerade vage Vermutung, dass es sein Geduldsfaden sein würde.   Er hörte Schritte auf der Treppe, drehte sich jedoch nicht um, als er die Tür zum Appartement aufgehen hörte. Sekundenlang sagte niemand etwas. John knickte schließlich als Erster ein. „Hat Lestrade keinen Fall mehr für dich?“   Einen Moment Pause, dann: „Er hat mich nach Hause geschickt.“   John schnaubte und stand auf. Er brauchte jetzt einen Tee. „Irgendwann hat auch er genug davon, ständig von dir verbessert zu werden.“   „Er ist der Ansicht, das wir reden sollen.“   John blieb auf halber Strecke zur Küche stehen. „Ach?“ Als Sherlock schwieg, fragte er: „Und was denkst du? Sollten wir reden?“   „John.“   Er war froh, dass Sherlock sein Gesicht nicht sehen konnte. Obwohl seine übermäßig gerade Haltung und die angespannte Nackenmuskulatur wohl Indizien genug für seine hochkommende Wut waren.   „Nein, Sherlock. Ich habe versucht, mit dir zu reden und du bist mir ausgewichen. Für dich gibt es offensichtlich nichts mehr zu besprechen. Verdammt nochmal“, knurrte er frustriert, „es ist ja nicht so, dass ich mir dir ein Beziehungsgespräch bei Kaffee und Kuchen führen will, weil ich nicht weiß, wo ich bei dir stehe. Aber es geht so nicht weiter.“   Sherlock bewegte sich hinter ihm und John warf einen Blick über seine Schulter. Sherlock hatte einen Schritt auf ihn zugemacht, blieb aber unter Johns erzürntem Blick augenblicklich stehen. Sein Gesicht war ausdruckslos. „Das heißt dann also“, begann er.   „Dass ich Tacheles reden muss“, verkündete in John im gleichen Moment, in dem Sherlock „Dass du ausziehst“ sagte. Perplex drehte sich John ganz zu ihm um.   „Was hast du gesagt?“ Sherlocks Gesichtsausdruck blieb verschlossen und er hatte die Lippen fest aufeinander gepresst. John schluckte. „Du denkst, ich verlasse-“   „Die Baker Street“, sagte Sherlock.   „Dich“, entwich es John. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen und er dachte nicht einmal mehr nach, bevor er die letzte Distanz zwischen sich und Sherlock überbrückte. Dennoch behielt er die Arme dicht an seinem Körper und wagte es nicht, sie auszustrecken. Sherlock sah aus, als würde er unter einer einzigen Berührung auseinander fallen. John rang nach Worten. „Du dummer… dummer Mann.“   Sherlock hatte ihn provoziert. Die letzten Tage, die er weg geblieben war und seine offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber Johns Versuchen, mit ihm zu reden waren kalkulierte Provokation gewesen. Weil er noch immer mit seiner Angst nicht klar kam. Sherlock Holmes war es nicht gewöhnt, etwas zu befürchten. Wie konnte jemand mit so viel Verstand nur so blind sein, dass er das Offensichtliche nicht erkannte?   Jetzt lächelte Sherlock, aber es war ein böses, zynisches Lächeln, das etwas Heißes in John anstachelte. „Denkst du ernsthaft, dass ich dich einfach so fallen lasse?“   „Rein logisch betrachtet-“   „Logisch?“, wiederholte John verärgert.   Er war noch nie gut darin gewesen, über seine Gefühle zu reden. Er war Engländer, hier trank man seinen Tee und gab sich mit einem Nicken zu verstehen, dass man einander mochte. Aber in diesem Moment war jedes Unwohlsein irrelevant, denn John stand hier vor einem Mann, dem auf ihn gerichtete Zuneigung ein Fremdwort war. Welche Ironie, dass eben dieser Mann wie ein Planet Leute in seine Umlaufbahn zog, nur um sie durch seine natürliche Anziehungskraft mühelos dort kreisen zu lassen, auch wenn er alles andere als einfach war. Mrs Hudson, Lestrade, Molly. John.   „Mit dir zusammenzuleben ist anstrengend und ich kann nicht immer mit dir mithalten, aber es ist auch absolut brillant. Ich will keinen Tag wieder so leben wie zu der Zeit, bevor ich dich kennen gelernt habe. Ich will mit dir Verbrecher durch irgendwelche Hinterhöfe verfolgen, ich will, dass du mir erklärst, wie du zu deinen Deduktionen kommst, ich will an Tatorten stehen und dir dabei zusehen, wie du den Tathergang mühelos rekonstruierst. Ich will, dass man auf mich schießt, mich mit dem Messer bedroht oder versucht, mich zu verprügelt, wenn das bedeutet, dass wir ein Team sind.   Ich will deine Freundschaft, Sherlock, denn du bist mein bester Freund. Und ich will dein Partner sein, bei deiner Arbeit und außerhalb. Wir werden uns auf die Nerven gehen, ich werde dir manchmal langweilig und dumm vorkommen und du wirst dich wie ein soziopatisches Arschloch benehmen, aber das ist verdammt nochmal das, was wir offenbar brauchen.“   Die Unsicherheit war von Sherlocks Gesicht verschwunden, stattdessen hatten seine Augen einen intensiven Ausdruck bekommen. Sein Blick bohrte sich in Johns.   „Ich will keine Sonderbehandlung“, sagte John mit Nachdruck. „Ich will nicht zurückgehalten werden, weil du mir den Stress nicht zutraust. Ich will nicht, dass du mich ausschließt.“ Und weil Sherlock immer noch nicht vollkommen überzeugt wirkte, fügte John lauter hinzu: „Und ich werde auf keinen Fall ausziehen!“   Sherlock atmete aus, als hätte er die Luft angehalten. Nach einer langen Pause sagte er: „Ich schätze, ich bin der eine Entschuldigung schuldig.“   Johns Mundwinkel zuckten. „Du schuldest mir mehr als eine Entschuldigung, Sherlock. Du schuldest mir eine ganze Wagenladung Entschuldigungen, aber warum ersparen wir uns nicht das ganze Hin und Her, wo du doch ohnehin weißt, wie meine Antwort ist: Ich verzeihe dir.“   Sherlock öffnete den Mund, doch er sagte nichts. Mit zunehmendem Erstaunen stellte John fest, dass er ihn sprachlos gemacht hatte. Plötzlich spürte er eine Berührung an seiner verletzten Hand. Sherlock legte vorsichtig die Finger um sein Handgelenk und verharrte dort einige Momente konzentriert. Dann entwich ihm ein leises „oh“ und ein ungläubiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, bis es seine Augen erreichte.   John sah auf ihre Hände runter und dann wieder hoch in Sherlocks Gesicht. „Und jetzt lass uns bitte die letzten Wochen vergessen, in denen du vor mir weggelaufen bist, und tun so, als ob ich gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden wäre und du mich in unserer Wohnung willkommen heißt. Hallo Sherlock.“   „Hallo John.“ Sherlocks Finger glitten über Johns Handrücken bis zur Narbe am Zeigefinger. „Willkommen Zuhause.“   Und weil die ganze Situation so verquer war, Sherlock noch immer Johns Hand hielt und sie sich in die Augen sahen wie zwei verknallte Teenager, mussten sie schließlich lachen. Irgendwann verklang das Lachen und wurde ersetzt von abgehacktem Atem.   Als Miss Hudson ein paar Minuten später mit einem Tablett voll Sandwiches die Treppe hochkam, machte sie mit einem Kichern auf dem Absatz wieder kehrt. Bevor sie ganz um die Ecke verschwand, warf sie noch einen letzten verzückten Blick zurück und nahm sich vor, Miss Turner bald wieder zu besuchen, um ihr voller Stolz von ihrem eigenen Pärchen in der 221B Baker Street zu berichten.     [tbc] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)