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Word Forward

Sherlock/John (Sherlock BBC)
von

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Act IX

Act IX
 

Routine hatte etwas Beruhigendes. In Afghanistan hatte John direkt nach dem Aufstehen sein Feldbett gemacht und seine Waffe gereinigt. Noch vor dem Frühstück hatte er alle Einzelteile benannt und verinnerlicht. Jeden Morgen. Siebeneinhalb Monate lang.
 

Die Routine gab ihm einen Anker. Damit sein Verstand sich auf etwas anderes konzentrierte als darauf, dass jeder Morgen dort vielleicht der letzte sein konnte, weil die Patrouille in einen Hinterhalt geraten oder der Transporter über eine Mine in der Straße fahren konnte. Ganz abgesehen davon, dass John für den Extremfall lebte - ihn brauchte um zu funktionieren - gab es doch nichts Schlimmeres, als einen Kameraden sterben zu sehen. Dafür der Anker. Dafür die Routine.
 

In der Baker Street mit Sherlock verhielt John sich im Grunde genauso. Unmittelbar nach dem Aufstehen machte er sein Bett und prüfte seine Waffe. Nur nahm er sie nicht mehr jeden Tag auseinander. Jeden vierten, wenn er ehrlich zu sich war, aber er rechtfertigte es damit, dass er mit Sherlock nie wissen konnte, wann er sie wieder brauchte. Eine weitere Routine, die dazu gekommen war, war der Tee. 
 

John liebte seinen Tee. Und er schätzte die Routine. 
 

Er befand sich zwar nicht mehr im Kriegseinsatz, doch Routine erfüllte ihren Zweck auch (oder womöglich sogar gerade) dann, wenn man sich mit Sherlock Holmes eine Wohnung teilte. Sie war es, die John nicht mehr die Beherrschung verlieren ließ, wenn er im Kühlschrank menschliche Körperteile fand. Oder im oberen rechten Küchenschrank ein Glas mit Hühnerbeinen entdeckte. (Ein Experiment, natürlich, aber warum hatte John dann den Eindruck, dass Sherlock jene Dinge immer erst brauchte, nachdem John über sie gestolpert war?)
 

Das Problem an Routine? John war nicht der Einzige, der sie praktizierte. Krankenhäuser lebten von Routine. Sie verkörperten Routine. 
 

John verabscheute sie.
 

~*~
 

Er war geduldig geblieben, als der Chefarzt diesen Morgen zu ihm gekommen war und ihm den Zustand seiner Hand dargelegt hatte.
 

„Die Operation ist erfolgreich verlaufen, Dr. Watson. Die nächsten zwei Wochen müssen sie den Finger unbedingt ruhig halten, danach können Sie beginnen, ihn langsam wieder zu bewegen. Physiotherapie mit speziellen Übungen wird es Ihnen ermöglichen, ihn beinahe so gut wie vorher einzusetzen.“ 
 

Beinahe. Besser als gar nicht.
 

Und er hatte es erduldet, als die Krankenschwester Silvia ihn bei seiner ersten Mahlzeit gefüttert hatte. Mit einer Hand fixiert und dem anderen Arm in einer Schlinge, um das Schultergelenk zu schonen, war er unmöglich dazu in der Lage gewesen, allein zu essen. Er war dankbar dafür gewesen, dass Silvia ihn in ein Gespräch über sein Medizinstudium am Barts verwickelt hatte, um ihn von seiner Verlegenheit abzulenken. Stille hätte es nur schlimmer gemacht.
 

Dann wieder Warten. John wartete - das konnte er am besten.
 

Das Warten selbst war nicht das Problem. Es war die Umgebung. Er hörte den Betrieb vor seinem Zimmer, die Schwestern und Ärzte, Zimmerkontrollen – Routine. Überall Routine.
 

Er musste aufs Klo, brauchte Hilfe. Schaffte es gerade, den Knopf für die Schwester zu drücken. Nicht einmal zehn Sekunden vergingen, da öffnete sich die Tür und Silvia lächelte ihn warm an. „Nur keine Sorge, Dr. Watson“ (Dr. Watson nannten sie ihn alle. Nicht John. Dr. Watson.) „Das kriegen wir schon hin. Das ist alles Routine.“ (  )
 

Routine. Er befand sich keine vierundzwanzig Stunden im Krankenhaus und hielt es bereits nicht mehr aus.
 

John wartete weiter. Schlief. Das Narkosemittel der Operation war noch nicht ganz aus seinem System. Wenn er die Augen aufschlug, war er einige Sekunden lang orientierungslos. Dann erinnerte er sich und drängte die Gedanken beiseite. Wartete stattdessen lieber.
 

Nachmittag. Ein kurzer Besuch von Silvia. „Einen Tee, Dr. Watson? Brauchen Sie noch Schmerzmittel? Rufen Sie mich bitte, sobald etwas ist.“
 

Lächeln. Verneinen. Bedanken. Warten.
 

Ein privates Krankenhaus. Mycrofts Handschrift. Als ob John Wert darauf legte, dass er auf einem Bett mit teuren Laken lag und frische Blumen auf der Fensterbank standen. Dass der Fernseher einen flachen Bildschirm hatte und dass alle dreißig Minuten (wie ein Uhrwerk, Routine, Routine) jemand nach ihm sah und fragte, ob er etwas brauchte.
 

Sie würden es ihm nicht geben können. Was er wirklich brauchte.
 

Sei still, John. Denk nicht daran. Warte.
 

Abendessen. Die gleiche peinliche Prozedur wie beim Mittagessen. („Sie werden sehen, in ein paar Tagen brauchen Sie mich nicht mehr, Dr. Watson. Sobald die Reizung Ihres Schultergelenks abgeklungen ist, müssen Sie die Schlinge nicht mehr tragen.“)
 

Ruhe kehrte auf den Fluren ein. Rasche Schritte wurden kürzer und langsamer. Türen schlossen sich leiser als vorher. Ein abendlicher Check. Routine.
 

John nahm die letzte Dosis Antibiotika und Schmerztabletten für den Tag. Schloss die Augen und hieß den Schlaf willkommen.
 

„Worauf kann der große Sherlock Holmes wohl eher verzichten? Auf seine rechte Kniescheibe oder die linke Schulter?“ Ein Schuss. Stille. Dann Atem. Eine Person. Nur eine Person. „Planänderung, Watson. Du kannst kommen und ihn abholen.“

Nein. Neinneinnein!

Sherlock!

Er schlug die Augen auf. Sein Körper bäumte sich für einen Moment auf und erinnerte sich dann daran, dass keine akute Gefahr herrschte. Schmerz schoss durch seine Schulter und ging über in ein stetiges Pochen, synchron zu seinem Herzschlag.
 

Ein Blick auf die Uhr verriet John, dass es noch viel zu früh war, um wach zu sein. Nicht einmal auf die Seite drehen konnte er sich. Er fixierte die Decke und begann, sich die Einzelteile seiner Waffe vor Augen zu rufen. Setzte sie zusammen und nahm sie anschließend wieder auseinander.
 

Nach Stunden musste er wieder eingeschlafen sein. Als er aufwachte, war er nicht allein.
 

Mycroft saß neben seinem Bett in einem Besuchersessel. John war sich nicht sicher, ob der Sessel schon gestern dort gestanden hatte. Er konnte sich sogar vorstellen, dass er eigens für Mycroft Holmes dorthin gestellt worden war.
 

John tastete nach der Fernbedienung für sein Bett und ließ das Kopfteil hochfahren, bis er aufrecht saß und erst dann schenkte er dem älteren Holmes seine Aufmerksamkeit. 
 

Sekunden-, vielleicht auch minutenlang sprach keiner von ihnen. John sah es nicht ein, als erster das Wort zu ergreifen. Mycroft schien ihn mit seinem Blick systematisch zu analysieren und mit einer leichten Veränderung seiner Haltung zu einem Ergebnis gekommen zu sein. „Ich war so frei, Ihre Krankenakte zu lesen.“
 

John wusste nicht, welche Reaktion von ihm erwartet wurde. Er konnte nicht behaupten, dass er sonderlich überrascht war. 
 

„Und ich habe mit dem Chefarzt gesprochen. Sollte der Heilungsprozess weiterhin so gut vorangehen, können Sie das Krankenhaus Ende der Woche verlassen.“
 

John reagierte mit keiner Geste und Mycroft schien dies als Einladung zu sehen, fortzufahren: „Um die Finanzierung Ihres Aufenthalts müssen Sie sich keine Gedanken machen. In der Zwischenzeit wurde auch Ihr Appartement aufgeräumt und gereinigt.“
 

Einen Moment lang fürchtete John, sich übergeben zu müssen. (Das Bild des Blutflecks hatte sich vor seinen Augen manifestiert.) Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.
 

Mycroft wartete darauf, dass er etwas sagte.
 

John gab sich geschlagen, denn die Schmerzen in seiner Schulter hatten in den letzten Minuten immer weiter zugenommen. Die nächste Dosis Schmerzmittel war fällig. Er hatte keine Lust darauf, auf Mycroft zu warten.
 

„Wo ist er?“
 

Mycroft Holmes war nicht nur der große Bruder von Sherlock Holmes, er war auch Großbritanniens gottverdammte inoffizielle Regierung. Dennoch schien ihm die Frage, diese drei einfachen Worte, mehr Unbehagen zu bereiten, als ein Sicherheitsleck der Stufe Vier im Verteidigungssystem.
 

„Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich und erfüllte somit Johns Befürchtungen. 
 

Die Enttäuschung, die sich in seinen Gliedern ausbreitete wie Blei bekämpfte er nicht. Er lag ohnehin schon auf dem Rücken, was sollte ihm also noch passieren?
 

„Und Moran?“
 

„In Gewahrsam. Er wird kein Problem mehr darstellen.“
 

Wenigstens etwas. Frag ihn, drängte es ihn unterdessen und John versuchte, den nagenden Gedanken zu unterdrücken. Frag ihn, verdammt nochmal, frag ihn einfach!

Es machte doch keinen Sinn. 
 

John fragte trotzdem.
 

„Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“
 

„Nachdem man Sie wegbrachte. Nachdem Moran sichergestellt war, hatte ich viele Dinge zu klären. Gespräche. Bürokratie. Ich ließ meinen Bruder am Tatort zurück.“ John konnte genau hören, wie bitter Mycroft dieses Wort schmecken musste. Tatort. Der Ort, an dem Moran beinahe Sherlock umgebracht hätte. „Seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Er scheint die Überwachung zu umgehen.“
 

Also konnte Big Brother doch nicht alles sehen. 
 

„Okay.“
 

Für John war das Gespräch damit beendet. Mycroft sah das ganz offensichtlich anders. Er verschränkte seine Hände und beugte sich vor. „Dr. Watson. John.“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause. „Ich bin über das, was gestern passiert ist, informiert. Ich weiß, was Sie für Sherlock getan haben.“
 

John ertrug Mycrofts Blick nicht länger und sah zur Seite. Er bereute nicht, was er getan hatte. Gott, er bereute keine Sekunde davon. Aber Dank von Mycroft Holmes zu erhalten war nicht nur gruselig, es war beängstigend. Und John war ohnehin schon viel zu aufgewühlt, um auch noch damit konfrontiert zu werden.
 

„Ich will Sie nicht länger behelligen, John.“ Vornamensbasis. Mycroft war mit ihm offiziell auf Vornamensbasis. Wie schon gesagt: beängstigend. „Aber eines sollten Sie wissen.“ Er stand auf und griff nach dem Regenschirm, der, wie John in diesem Moment bemerkte, die ganze Zeit am Sessel gelehnt hatte. „Er hätte das gleiche für Sie getan.“
 

War Mycroft sentimental geworden? Diese Worte sollten John wohl trösten.
 

Wenn er wüsste. Sie fraßen John Stück für Stück weiter auf.
 

-*-
 

Der nächste Besucher war Lestrade, einen Tag später. Er klopfte an die halbgeöffnete Tür, während Silvia gerade die Reste des Mittagessens auf ein Tablett räumte. Sie nickte Lestrade lächelnd zu, dann verließ sie mit einem letzten, warmen Blick auf John den Raum.
 

John mochte Silvia. Zwar waren die Worte, die sie miteinander wechselten, nicht mehr als Smalltalk, aber genau das brauchte er. Zerstreuung. Ablenkung von der Routine. Außerdem kommentierte sie nicht weiter, dass er nach wie vor Hilfe beim Essen brauchte.
 

„Sie sehen gut aus“, sagte Lestrade und sein Blick wanderte durch das Zimmer. „Nett. Mycroft Holmes?“
 

John kam nicht umhin, zu schmunzeln. „Offensichtlich, was?“
 

Etwas von der Anspannung wich aus Lestrades Haltung. Er deutete auf den Sessel, der seit Mycrofts Besuch von niemandem angerührt worden war. (Was wohl bedeutete, dass der ältere Holmes es sich vorbehielt, wieder zu kommen.) John zuckte mit der gesunden Schulter. „Nur zu.“
 

Lestrade zog seinen Mantel aus und legte ihn über die Lehne, dann setzte er sich. „Ich hätte ja etwas mitgebracht, aber ich dachte, Sie sind nicht so der Typ für Blumen und der Tee aus dem Yard wäre auch mehr eine Zumutung gewesen, daher ...“ Er präsentierte seine leeren Hände. „Sehen Sie sich einfach eingeladen, wenn wir nach Ihrer Entlassung in einen Pub gehen.“ (süüüß!)
 

John hob die Brauen. „Tun wir das?“
 

Lestrade lächelte grimmig. „Moriarty ist aus der Welt und Moran sehr bald hinter Schloss und Riegel. Ich behaupte, das ist ein Grund zum Feiern. Meine Vorgesetzten haben heute Morgen inoffiziell angestoßen“, fügte er hinzu und schnaubte. „Tun so, als wäre es ihr Verdienst gewesen. Die Verhandlungen mit Mycroft Holmes laufen noch. Das Scotland Yard würde sich Morans Festnahme nur zu gerne auf die eigenen Fahnen schreiben.“
 

„Beamtenpolitik.“
 

„Wem sagen Sie das? Aber genug davon. Wie geht es Ihrer Hand?“ 
 

„Den Umständen entsprechend. Der Chirurg hat gute Arbeit geleistet und es werden wohl keine bleibenden Schäden zurückbleiben. Aber die Immobilität nervt“, gestand er schließlich. „Und das Krankenhaus. Eigentlich will ich nur zurück in die Baker Street.“
 

Der Inspektor nickte. Die Stille, die sich nun zwischen ihnen ausbreitete, war nicht unangenehm, aber John hatte das Gefühl, Lestrade wollte noch etwas sagen und brachte es nur noch nicht ganz über sich. 
 

„Lestrade“, begann er, wurde jedoch von einer Handbewegung des anderen Mannes unterbrochen. 
 

„Greg.“
 

„Bitte?“
 

„Wie lange kennen wir uns jetzt?“
 

„Ähm ... etwa vier Monate?“
 

„Ein viertel Jahr. Lange genug, um uns beim Vornamen zu nennen, finden Sie nicht auch?“
 

„Oh. Gut. Greg. Das Gleiche gilt natürlich auch umgekehrt.“
 

„Okay.“ Der Inspektor strich sich abwesend durch die Haare. „Also, John. Weswegen ich auch hier bin ... ich wollte mich entschuldigen.“
 

„Wofür?“
 

Lestrade Hände bewegten sich unruhig. „Wofür?“, wiederholte er und schüttelte ungläubig den Kopf. „John, ich war bei euch, bevor Moran euch verschleppt hat. Ich ... ich bin da gewesen und war so wütend auf Sherlock, dabei hat er mich bewusst provoziert, nicht wahr? Oh, ich war so aufgebracht und es ist mir erst eine Stunde später klar geworden, dass ich vorgeführt worden war. Und dann habe ich einen Anruf von Mycroft Holmes‘ Assistentin erhalten, die mir mitteilte, dass man Moran in einem Appartement gefasst hätte, in dem er euch festgehalten hatte. Dass man dich ins Krankenhaus bringen musste, weil er dir beinahe einen Finger abgeschnitten hatte.“
 

Johns Herzschlag hatte sich bei den Worten beschleunigt. Den ganzen Nachmittag noch einmal aus der Sicht einer anderen Person erzählt zu bekommen, war zwar nicht ganz so schlimm, wie sich daran zu erinnern, aber dennoch genug. 
 

„Das wäre nicht passiert, wenn ich darauf bestanden hätte, dass ihr mit aufs Revier kommt.  Und das hätte ich, wenn ich nicht so sauer gewesen wäre.“ Lestrades Gesicht war eine Maske der Schuld. „Und das tut mir leid.“
 

Eine Welle von Empathie erfasste John. Das Scotland Yard konnte ja so ungemein froh darüber sein, einen Inspektor wie Lestrade zu haben. 
 

„Es ist nicht deine Schuld“, sagte er schließlich und fühlte sich in diesem Moment so verdammt hilfsbedürftig. Er konnte Lestrade noch nicht einmal auf die Schulter klopfen, um ihm zu zeigen, dass er es ernst meinte. Stattdessen musste er versuchen, es in Worte zu fassen. „Die Situation war ... unglücklich. Aber alles, was passiert ist, nachdem du gegangen warst, wäre so oder so geschehen. Nichts davon werde ich dir zum Vorwurf machen. Und Sherlock auch nicht“, fügte er hinzu, weil er wusste, dass Lestrade diesen Zuspruch brauchte (und es war egal, wie wütend ihn die alleinige Nennung des Namens machte).
 

„Danke. Das ... ist gut. Trotzdem hätte ich euch mitnehmen sollen.“
 

„Moran wäre früher oder später zu uns gekommen.“
 

Plötzlich wurde John etwas ganz anderes bewusst. Lestrade hatte kein einziges Mal danach gefragt, wo Sherlock war. Und das war verdächtig, denn bei Johns letztem Krankenhausbesuch (zwei Monate vorher, nachdem er in eine unschöne Prügelei verwickelt worden war, als er für Sherlock einen Verdächtigen hatte ablenken sollen) war Sherlock die ganze Zeit nicht von Johns Seite gewichen. 

Dass Sherlock jetzt nicht hier war hätte Lestrade verwundern müssen. Es sei denn, er wusste, dass Sherlock sich nicht einmal in der Nähe des Krankenhauses befand. Der Gedanke musste ihm anzusehen gewesen sein. Lestrade setzte sich etwas aufrechter hin. 
 

„Hat er dich geschickt?“, fragte John und seine Stimme zitterte. „Um zu sehen, wie es mir geht? Dass ich noch lebe. Dass ich meinen Zeigefinger noch habe? Weil er er es nicht über sich bringt, Mycroft zu fragen?!“
 

Lestrade hob abwehrend die Hände. „Nur um eines klar zu stellen: Ich war bereits auf dem Weg hierhin. Ich war in der Eingangshalle, als er mir die SMS geschrieben hat.“
 

„Ich will sie sehen.“
 

Kein bitte. Auch nicht wenn möglich. John biss die Kiefer so fest aufeinander, dass sie beinahe ächzten, während Lestrade in die Innentasche seiner Jacke griff und ein paarmal das Menü bediente. Anschließend hielt er John das Display entgegen.
 

Update über Johns Gesundheitszustand erforderlich. SH

„Hast du ihm schon geantwortet?“, fragte John. Lestrade zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf. „Dann schreib ihm, dass es mir großartig geht. Hervorragend.“ John schnaubte und starrte aus dem Fenster. „Einfach nur hervorragend.“
 

„Solltest du es ihm nicht selbst sagen?“, fragte Lestrade und klang dabei so verflucht einfühlsam, als wäre John ein verschrecktes Tier. Er war nicht zerbrechlich! Das hätte doch spätestens das Aufeinandertreffen mit Moran zeigen sollen. Seinem Körper mochte es schon besser gegangen sein, aber er konnte das wegstecken.
 

Was viel schwerer zu ertragen war, war Sherlocks Abwesenheit. Verdammt.
 

„Er hat sich bisher geweigert, eine Aussage zu machen“, eröffnete Lestrade unvermittelt. „Schiebt es auf seinen Bruder. John, ich weiß nicht, was genau vorgestern passiert ist, aber ich kann dir sagen, dass ich Sherlock noch nie so außer sich gesehen habe. Als ich am Tatort eingetroffen bin, hatte Mycroft Holmes‘ Team Moran längst weggebracht und du warst bereits mitten in der OP, wie man mir mitgeteilt hatte. Meine Leute haben den Tatort übernommen, nur Sherlock ...“ Lestrade hob die Schultern. „Er wollte nicht gehen.“
 

John sah ihn nicht an. Er wollte das nicht hören und gleichzeitig doch. Nur eben von Sherlock selbst und nicht von einem dritten. 
 

„Ich musste ihn anschreien, damit er sich von einem Sanitäter untersuchen ließ und selbst dann hat er sich noch geweigert, in ein Krankenhaus zu fahren. Er hat einfach nicht aufgehört zu reden. Die ganze Zeit hat er etwas gemurmelt und mein Team damit beinahe in den Wahnsinn getrieben. Schließlich habe ich ihm ein Taxi gerufen und ihn aus dem Appartement geworfen.“
 

„Und dann?“
 

„Ist er trotzdem geblieben. Und hat zugesehen. Er hat nicht einmal mehr Anderson beschimpft.“
 

Scheiße.
 

„Er stand unter Schock. Es hat ihn nicht einmal gestört, dass sein Hals und seine Kleidung blutig waren.“
 

John schwieg. Nach ein paar Minuten schien Lestrade zu erkennen, dass mit keiner weiteren Reaktion zu rechnen war. Er stand auf und griff nach seiner Jacke. Bevor er sich zum Gehen wandte, zögerte er, dann legte er sein Telefon auf Johns Nachttisch. „Ich hole es morgen wieder ab.“ Und gab John damit gleichzeitig die Aussicht auf einen weiteren Besuch. „Keine Sorge“, fügte er hinzu, als John Anstalten machte, zu protestieren. „Ich habe noch meinen Pager.“
 

John lauschte den sich entfernenden Schritten.
 

-*-
 

Das Problem an allem war, dass John so unglaublich enttäuscht war. Er hatte nicht von Sherlock erwartet, dass er die ganze Zeit bei ihm blieb. Er war nicht so naiv gewesen, anzunehmen, Sherlock würde für ihn alles stehen und liegen lassen.
 

John war nicht dumm. Er hätte nie von Sherlock erwartet, sich zu ändern.
 

Und trotzdem ...
 

Es war gut gewesen. Ihre Situation. Ihre Beziehung (wenn man es denn so nennen konnte). John hatte gedacht, dass sie einen guten Weg gefunden hatten. 
 

Und nun versteckte Sherlock sich vor ihm. Wich ihm aus. Mied ihn. Idiot
 

Warum? Weil er Angst hatte? Weil John ihm gezeigt hatte, wie viel er für ihn aufs Spiel setzen würde?
 

„Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle gewesen.“
 

John ließ sich mit einem Stöhnen zurück in die Kissen sinken. 
 

Oh, Sherlock.
 

-*-
 

Am späten Nachmittag hielt er es nicht mehr aus. 
 

Er drehte sich zur Seite und starrte Lestrades Telefon lange an, dann griff er umständlich mit der freien Hand danach und schnaufte gegen den Schmerz in seiner Schulter. Er navigierte sich umständlich durch die Adressliste des Handys (warum konnte das nicht bei allen Mobiltelefonen gleich sein, sondern benötigte immer modernste Fachkenntnisse?!). 
 

Sherlock Holmes.
 

John sah den Namen lange an. Vierzehn Buchstaben, die sein Leben nach Afghanistan mehr verändert hatten, als die zwanzig Stunden mit seiner Therapeutin.
 

Er schloss die Augen und drückte die grüne Taste. Sein Atem war unnatürlich laut, als er das Telefon ans Ohr hob und dem Wahlton lauschte. Seine Schulter beschwerte sich nur geringfügig über die Bewegung.
 

Beim dritten Klingeln nahm Sherlock ab. „Eine Nachricht hätte gereicht.“ Er klang müde. John schluckte. Sherlock klang müde. „Ging es nicht früher?“
 

Das war eine schlechte Idee gewesen. Sherlocks Stimme allein erstickte sämtlichen Frust und ließ nichts weiter zurück als ein Verlangen nach seiner Gesellschaft. Er fehlte John.
 

„Lestrade.“ Sherlocks Tonfall klang genervt. Johns Griff um das Handy wurde mit jeder Sekunde schwächer. „Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für Scherze.“
 

Ein humorloses Lachen gurgelte in Johns Kehle. Sherlock musste es gehört haben, denn er war auf einmal absolut still. Nicht einmal sein Atmen war mehr zu hören.
 

„John?“
 

Und ebenso plötzlich kehrten sämtliche Gefühle zurück, vermengten sich und wurden zuviel. John legte auf.
 

An der gegenüberliegenden Seite des Raumes sprang die Uhr auf sechs Uhr dreiunddreißig. „Was tue ich hier?“, murmelte John, und dann etwas lauter: „Was tue ich hier?“
 

Zehn Sekunden später begann das Handy in seiner Hand zu vibrieren.
 

Eingehender Anruf: Sherlock Holmes

Es vibrierte einmal. 
 

Zweimal.
 

John Watson wusste nicht, was er tun sollte.
 

Dreimal.
 

Viermal.
 

Er wusste nur, was er wollte.
 

Fünfmal.
 

Wen er wollte.
 

Stille. Sherlock hatte es aufgegeben. Warum schmerzte diese Erkenntnis mehr als alles andere?
 

Plötzlich vibrierte es wieder und Johns Magen machte einen Satz. Noch beim ersten Summen nahm er den Anruf entgegen.
 

„Sherlock.“
 

„John.“
 

Wo bist du gewesen? Ich habe auf dich gewartet, Sherlock. Ich hätte dich gebraucht. Glaubst du, nur dir fällt es schwer, sich daran zu erinnern? Glaubst du, du bist der Einzige? Idiot. Idiot. Denkst du, ich bereue, was ich für dich getan habe? Du bist doch der Ermittler von uns beiden. Du fehlst mir.

Alles, was John sagte, war: „Komm her, Sherlock.“
 

„John ich -“ 
 

„Es ist mir egal, okay? Komm einfach her. Bitte.“
 

Er ließ das Telefon sinken und beendete den Anruf. 
 

Dann wartete er. 
 

-*-
 

Er musste eingenickt sein, denn draußen dämmerte es bereits. Sherlock stand vor seinem Bett und starrte auf ihn herab. Keine Regung in seinem Gesicht ließ erkennen, was er gerade dachte. 
 

Zumindest hatte er seine Kleidung gewechselt. Er trug ein sauberes Hemd ohne Blutflecken und sein Hals war bandagiert. Die Arbeit war jedoch alles andere als ordentlich. Vermutlich hatte Sherlock es auf die Schnelle selbst gemacht. Allein dafür hätte John ihm am liebsten eine verpasst. 
 

„Leichtfertiger Idiot“, murmelte er und musste dennoch lächeln. Sherlock nach all den Stunden endlich zu sehen, richtete etwas in seiner Brust. 
 

„John.“
 

Die Art, wie Sherlock ihn ansprach, ließ John gleichzeitig all die anderen Dinge bemerken: Die geschlagene Haltung seiner Schultern, die noch unnatürlichere Blässe seines Gesichts, die weit offenen, blutunterlaufenen Augen, die Spuren von Blut an seinem Kinn.
 

Einen Moment lang musste er sich fühlen wie Sherlock, denn all diese Beobachtungen verknüpften sich plötzliche geradezu selbstständig zu einem Strang von Schlussfolgerungen: 
 

Hat letzte Nacht nicht geschlafen. Hat seit mehr als achtundvierzig Stunden nichts gegessen. Ist dehydriert. Hat die Verletzung an seinem Hals zwar verbunden, sich jedoch nicht vorher geduscht oder die Wunde gesäubert. Nur oberflächliche Blutspuren wurden entfernt, vermutlich von Mrs Hudson. Hat Schmerzen in der Seite, verlagert sein Gewicht mehr auf den rechten Fuß.
 

Und über all dem die Erkenntnis: Steht noch immer unter Schock. War die ganze Zeit allein. 
 

„Gott“, flüsterte John und richtete sich auf. Er ignorierte den Protest seiner Schulter, denn alles, woran er denken konnte, waren die viel zu glasigen Augen des Detektivs vor sich. „Verdammt, Sherlock. Hast du etwas genommen?“
 

Sherlock blinzelte bei seinen Worten und der seltsame Schimmer aus seinen Augen verschwand. John hätte nicht in Worte fassen können, wie erleichtert er darüber war.
 

„Sei nicht albern. Niemand in London würde mir noch etwas verkaufen, dafür hat Mycroft vor Jahren gesorgt.“
 

„Es wäre nicht das erste Mal, dass Mycroft etwas nicht verhindern kann.“
 

Bei den Worten verdüsterte sich Sherlocks Gesicht und etwas Defensives schlich sich in seine Haltung. (John erinnerte sich an die Bruchstücke des Gesprächs, das er gestern mitbekommen hatte, kurz bevor man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte.)
 

„Nein, nicht das erste Mal.“ Er schwieg, dann brach es geradezu aus ihm heraus: „Was hast du dir dabei gedacht, John?! Nein, vermutlich hast du gar nichts gedacht! Jeder vernünftige Mensch hätte überlegt, ehe er in eine Wohnung mit einem bewaffneten, kaltblütigen Mörder gerannt wäre. ,Blind ins Verderben‘, diese Redewendung kann man auf dich zurückführen.“ 

Er begann mit langen Schritten vor dem Bett auf und ab zu laufen. „So viele Faktoren, die du ignoriert hast. Ich dachte, du bist ein Soldat, hat man euch nicht beigebracht, wie man sich in Krisensituationen verhält? Oder legte eure Ausbildung die systematische Ausblendung jeglicher Vernunft nahe?“
 

Sherlock musste all das loswerden. John konnte sich nur vorstellen, was die Rädchen von seinem Verstand in den letzten Stunden alles an Arbeit hatten verrichten müssen. Und auch Sherlocks Körper musste kurz vor dem Kollaps stehen. 
 

Der Consulting Detective fuhr in seinen Ausführungen fort, als wäre atmen optional: „Nur weil er mich als Geisel hatte, war das für dich kein Freifahrschein für unüberlegtes Handeln, John. Wozu besitzt du ein Handy? Moran hätte mich so schnell nicht umgebracht, er hätte es hinausgezögert. Sein Anruf sollte dich nur aus der Reserve locken, er hätte mich nicht gleich umgebracht, wenn du es nicht in der vorgegebenen Zeit geschafft hättest! Hast du nicht gemerkt, dass er bluffte? Es (Er) hätte sich Zeit mit mir genommen, selbst, wenn du nicht freiwillig zu ihm gekommen wärest!“
 

„Sherlock.“
 

„Was hättest du getan, wenn ihm die ausgekugelte Schulter nicht gereicht hätte? Wenn er begonnen hätte, dir systematisch jeden Knochen im Körper zu brechen? Oder wenn er dir wirklich jeden einzelnen Finger abgeschnitten hätte? Hast du ernsthaft geglaubt, er würde mich dafür gehen lassen?“ Sherlock wirbelte zu ihm herum. Und dieses Mal zeigte sich auf seinem Gesicht all die Verwirrung und Wut, die sich in ihm angestaut hatten. „Erklär es mir, denn ich denke seit neunundvierzigeinhalb Stunden darüber nach und verstehe es nicht, John.“
 

Oh, es musste Sherlock wahnsinnig machen, die Antwort nicht selbst zu finden. Es rieb ihn auf und er hatte John die ganze Zeit gemieden, weil er ihm nicht entgegentreten wollte, ehe er es verstanden hatte. Sherlock Holmes hasste ungelöste Rätsel. 
 

John machte eine rasche Kopfbewegung. „Komm her.“
 

In diesem Moment wirkte Sherlock Holmes wie ein unkontrollierbarer Tornado. „Ich glaube nicht“, entgegnete er und baute sich vor John auf. „Nach all dem, was deine Krankenakte sagt, bist du für nichts von dem, was ich im Moment mit dir tun will, in annähernd körperlicher Verfassung.“
 

Ein heißer Schauer fuhr Johns Rücken hinab. Er schüttelte den Kopf, denn Sherlock hatte Recht. Dafür war weder der richtige Zeitpunkt, noch der angebrachte Ort. 
 

„Dann verschieben wir das auf einen anderen Tag. Komm trotzdem her.“
 

Sherlock näherte sich wie ein nervöses Tier. „Und?“
 

„Setz dich.“
 

Der Detektiv verengte die Augen. „Nein.“ Er wirbelte herum und marschierte zurück in die Mitte des Raumes. „Wenn hier jemand Forderungen stellt, dann bin ich das.“ John 

hörte ihm kaum zu, denn er hatte bemerkt, dass Sherlocks Bewegungen abgehackter waren als vorher. Sein Körper hatte angefangen, sich gegen die Dauerbelastung zu wehren.
 

John knurrte, warf die Decke beiseite und hatte das Bett verlassen, als Sherlocks Beine unter dem Detektiv nachgaben. Er schlang den unverletzten Arm um Sherlocks Hüfte, darauf bedacht, nichts mit seiner fixierten Hand zu berühren. Dann stützte er siebzig Kilo schlaffen Consulting Detective.
 

„Oh“, sagte Sherlock leise und mit echter Überraschung.
 

John schnaufte, teils vor Anstrengung, teils vor grimmiger Belustigung. „Verstehst du jetzt, warum du dich setzen solltest?“
 

John manövrierte sie zurück zu seinem Bett und setzte Sherlock darauf ab. Dann umrundete er das Bett und legte sich wieder hin. Ihm war schwindelig. Er schloss die Augen gegen das sich drehende Zimmer und konzentrierte sich darauf, seine Atmung zu beruhigen. 
 

Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn. „Du bist noch zu schwach, um das Bett zu verlassen. Aber du hast kein Fieber.“
 

„Ausgezeichnet ermittelt, Holmes.“
 

John spürte warmen Atem auf seinem Gesicht und Sherlocks Stirn berührte seine. „Da sind zu viele Gedanken, John. Alle drehen sich um dich und ich kann sie nicht abstellen.“
 

John lehnte sich zurück und musste Sherlock nicht einmal mit sich ziehen. Er presste sein Gesicht in Johns Halsbeuge und atmete gegen seinen Nacken. „Das ist absolut irrational.“
 

„Angst ist nie rational, Sherlock.“
 

„Angst.“ Sherlock schwieg lange und sagte schließlich: „Angst ist lästig. Mein Körper betrügt mich und meine Gedanken gehorchen mir nicht.“
 

„Willkommen in meiner Welt.“
 

„Normalerweise kann ich mich immer von Emotionen distanzieren. Arbeit bleibt Arbeit.“
 

„Und bekanntlich bist du mit ihr verheiratet.“
 

Sherlock schnaufte gegen Johns erwärmte Haut. „Offenkundig.“
 

„Weiß sie, dass du sie betrügst?“ Sherlocks Hand an seinem Kiefer ließ John verstummen. 
 

„Genug mit der Metapher.“ Sherlock dirigierte Johns Gesicht so, dass er ihn problemlos küssen konnte.
 

„Es ist normal, Angst zu haben“, sagte John später, als es draußen dunkel wurde. Bisher hatte niemand sie gestört, keine Schwester hatte vorbeigesehen und John ahnte - nein, wusste -  dass er Mycroft dafür zu danken hatte. Zuvorkommender Schnösel. 
 

Sherlock reagierte nicht, aber er atmete nicht flach genug, um schon zu schlafen. John lauschte dem Geräusch einige Sekunden, dann fuhr er fort: „Du musst einfach lernen, damit zu leben.“
 

„Lästig.“
 

„Was wäre die Alternative?“
 

Er hatte den ganzen Tag Zeit gehabt, um sich die Frage zu stellen. Und er würde es Sherlock noch nicht einmal verübeln können, wenn dieser eine Beziehung ablehnen würde. Sherlock war nicht der Typ, sich mit jemandem ,nieder zu lassen‘ und den gemütlichen Alltag einer Partnerschaft zu leben.
 

„John, ich kann förmlich hören, wie sich die Räder in deinem Kopf drehen. Hör auf damit, es stört.“
 

„Was ist die Alternative, Sherlock?“ Wenn Sherlock tatsächlich vorhatte, das hier zu beenden, noch bevor es richtig begonnen hatte, dann musste John es jetzt hören. Vielleicht steckte er noch nicht tief genug drin, um mit einer Freundschaft allein leben zu können. Verdammt, er sprach hier von Sherlock Holmes. John wäre mehr als in der Lage, die Freundschaft zu akzeptieren, wenn er nicht gezwungen war, zu dem Zustand zurück zu kehren, in dem er unmittelbar nach Afghanistan gelebt hatte.
 

„Es gibt keine Alternative“, behauptete Sherlock und richtete sich auf. Er sah noch immer müde und mitgenommen aus, aber etwas von der altbekannten Schärfe war in seinen Blick zurückgekehrt. Er musterte John und schien etwas in seinem Gesicht zu lesen.
 

„Du denkst, du hättest ihn gefunden: Den Plan-B, sollte ich dir jetzt in aller Logik darlegen, welche Gründe gegen eine Beziehung sprechen. Denkst du, es ist so einfach, John? Zurück zum Ausgangspunkt und so tun, als wäre all das zwischen uns nicht passiert? Oh, wie hat er das gewusst?“, imitierte er Johns Stimme und - genau genommen - auch dessen Gedanken in jenem Moment. „Einfache Observation. Es entsteht eine Falte auf deiner Stirn, wenn du angestrengt nachdenkst und das passiert eigentlich nur, wenn es um mich geht.“ Er lächelte selbstgefällig. 
 

„Und jetzt werde ich dir erklären, warum dein Plan nicht aufgeht: Weil ich es nicht will. Als Freund hast du meinen Geist stimuliert, mich an Tatorten Dinge wahrnehmen lassen, die ich sonst erst später gesehen habe. Was könnte ich noch alles sehen, wenn ich dich als Partner habe?“
 

„Also bin ich nur ein Hilfsmittel, mit dem zu zufällig auch schläfst?“, fragte John schmunzelnd, aber Sherlock stieg nicht mit ein.
 

„Nicht zufällig“, erwiderte er und richtete sich ganz auf. „Du bist Teil meiner Arbeit, John. Und Teil von allem anderen. Daran ist nichts mehr optional.“
 

„Und da will mir noch jemand sagen, du hättest keinen Sinn für Romantik.“
 

„Es sind Tatsachen. Romantisierung ist nichts weiter als ein Euphemismus deinerseits.“
 

„Wenn du das sagst.“ Einige Sekunden lang beobachtete er das Gesicht des verrückten, einzigartigen Detektivs, dann wurde er ernst und er spürte, wie das Lächeln seine Lippen losließ. „Mach das bitte nicht noch einmal, Sherlock.“
 

„Was?“
 

Sherlock Holmes war vieles, aber nicht schwer von Begriff. „Du weißt genau, was ich meine. Du hast versucht, dich von mir zu distanzieren, als dir klar geworden ist, was eine Beziehung alles bedeutet. Mit dir befreundet zu sein, ist alles andere als ungefährlich. Mit dir zusammen zu sein, wäre-“
 

„Verrückt?“, murmelte Sherlock und obwohl er sich gut unter Kontrolle hatte, entging John der bittere Tonfall nicht.
 

„Ein bisschen.“ Er stieß Sherlock mit dem gesunden Ellbogen an, bis dieser seinem Blick wieder begegnete und ließ ihn mit einem Lächeln wissen, dass es nichts Negatives war. Was hatten die Leute Sherlock in seinem Leben wohl noch alles an den Kopf geworfen?
 

Freak. Weirdo. Psychopath.

Es war nicht so, dass Sherlock es den anderen Menschen leicht machte. Er war ehrlich, schmerzhaft direkt und Zurückhaltung war für ihn ein Fremdwort. Sherlock legte keinen Wert auf Taktgefühl, er sprach das Offensichtliche aus, auch wenn es andere blamierte oder bloßstellte. 
 

Es war nur natürlich, dass darauf nicht nur mit Bewunderung für seine erstaunliche Auffassungsgabe reagiert wurde. 
 

Was die wenigsten sahen, das waren Sherlocks menschliche, liebenswürdige (und leicht schräge) Seiten. Aber es gab für den Detektiv auch gar keinen triftigen Grund dafür, diese Seite anderen zu zeigen, das verstand John. Mrs Hudson bekam sie hin und wieder zu sehen (auch wenn Sherlock es im Nachhinein bestreiten oder durch einen scharfen Kommentar ausgleichen würde) und auch Lestrade hatte Sherlock schon anders kennen gelernt.
 

Letztendlich war Sherlock Holmes genauso wenig perfekt wie jeder andere Mensch. Er hatte seine Fehler, seine Macken und es war nicht immer leicht, sein Freund zu sein. Wie schwer würde es dann werden, Sherlocks Partner zu sein?
 

John hatte ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Sherlock wartete darauf, dass er noch etwas sagte. 
 

„Ich bin in Afghanistan einmarschiert, das war ziemlich verrückt. Dagegen ist das hier nichts für mich.“
 

Sherlocks Mundwinkel zuckten und John zog ihn zu sich, presste die Lippen gegen seine Schläfe. „Es ist okay, wenn du mich mal ignorierst, aber vergiss einfach nicht, dass ich warte. Denn ich habe auf dich gewartet, Sherlock.“
 

„Ich weiß.“
 

„Natürlich weißt du das“, murrte John. Sherlock wüsste es nur dann nicht, wenn John ein Teil des Sonnensystems wäre. „Und es war verdammt langweilig hier.“
 

Viel länger würden sie wohl nicht ungestört bleiben. Irgendwann würde eine Schwester kommen müssen, um nach John zu sehen und um den Verband zu wechseln. 
 

„Wir müssen noch über gestern reden“, bemerkte er schließlich, denn auch wenn für den Moment die Situation okay war, im Großen und Ganzen war noch nicht alles geklärt. 
 

Sherlock richtete sich auf. „Worüber müssen wir noch reden? Ich habe dir gesagt, was ich von deinem heldenhaften Rettungsversuch halte.“ Sein Blick gewann etwas von der Distanz zurück, die er am Anfang ihres Gesprächs gehabt hatte. „Du warst verantwortungslos, John. Ich hatte Moran nicht zu mir gelockt, nur damit du dich ihm freiwillig als weiteres Druckmittel präsentierst.“
 

„Druckmittel für was? Er hatte dich schon, Sherlock! War dir nicht klar, dass er Rache für Moriartys Tod nehmen würde? Und sag mir nicht, dass es dein Plan war, dich von ihm fassen zu lassen.“
 

Sherlock schwieg und John starrte ihn sprachlos an. Nach ein paar Sekunden räusperte er sich. „Willst du mir damit sagen, dass du dich freiwillig hast entführen lassen?“
 

„Bin ich je unfreiwillig entführt worden?“, entgegnete Sherlock bissig und John schüttelte fassungslos den Kopf.
 

„Du hast- das war alles-?“, er rang nach Worten, während ihm Blut ins Gesicht schoss und dann platzte es aus ihm heraus: „Du Vollidiot!“
 

Sherlocks Augenbrauen wanderten in die Höhe, während John begann, Sherlock in bildhafter Sprache darzulegen, wie absolut bescheuert er war und dass man so eine vollkommen absurde Idee nicht einmal einen Plan schimpfen durfte.
 

Als John Luft holen und für kurze Zeit schweigen musste, blinzelte Sherlock sichtlich irritiert. Bevor er jedoch selbst etwas sagen konnte, hatte John wieder genug Atem und knurrte: „Du solltest den Raum verlassen.“
 

Sherlock war bereits blass, doch es schien noch genug Blut in seinem Gesicht zu Zirkulieren, um zu sehen, wie es ihm entwich. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und stammelte - ja, er stammelte: „J-john, das-“
 

„Du sollst nicht gehen“, präzisierte dieser und verfluchte seine Verletzungen dafür, dass er sich nicht mit der Hand über das Gesicht streichen konnte. „Du sollst mich nur ein paar Minuten allein lassen, bevor ich etwas Unüberlegtes tue.“
 

Sherlock rührte sich nicht. John gab ihm weitere drei Sekunden, bevor er in schärferem Tonfall hinzufügte: „Jetzt, Sherlock. Fünf Minuten. Bitte.“
 

Der Detektiv erhob sich vom Bett und warf einen letzten Blick zurück auf John, dann verließ er langsam das Zimmer. Ehe er die Tür hinter sich zuzog, rief John ihm hinterher: „Und wehe, du haust jetzt ab, verstanden?“
 

Sherlock warf einen letzten Blick über die Schulter und John wusste nicht, ob er es sich einbildete, aber er hörte keinen Widerspruch. John musste wohl seinen Soldatentonfall benutzt haben. Vielleicht hätte ihm das in der Vergangenheit schon früher mit Sherlocks Launen geholfen.
 

Die Ablenkung hielt jedoch nicht lange an und John musste sich wieder damit auseinandersetzen, dass Sherlock Holmes nicht nur absolut leichtsinnig war, sondern darüber hinaus noch immer selbstzerstörerische Tendenzen besaß. Das war nichts Neues für John, aber im Fall von Moran konnte man geradezu von selbstmörderischen Tendenzen reden. Er wollte sich nicht ausmalen, was Moran Sherlock alles angetan hätte, wenn er nur die Zeit dafür gehabt hätte und wenn John nicht unüberlegt gehandelt hätte.
 

Was ihn zum nächsten Punkt brachte: Wenn Sherlock sich absichtlich hatte entführen lassen, dann musste das Teil eines Plans gewesen sein. Sherlocks Mobiltelefon in der Baker Street mit der Aufnahme seines Dialogs mit Moran war ein Indiz dafür. Aber was genau war der Plan gewesen?
 

John war versucht, den Detektiv (der aller Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar vor der Tür lauerte, darauf wartend, dass die fünf Minuten verstrichen) wieder hereinzurufen, aber die Antwort traf ihn genau in diesem Moment. Das fehlende Puzzleteil: Mycroft. Natürlich
 

Lestrades Mobiltelefon lag auf Johns Nachttisch und er tastete vorsichtig danach. John konnte sich nicht sicher sein, aber er hegte schon länger die Vermutung, dass Lestrade und Mycroft miteinander in Kontakt standen. Wenn Mycroft John im Auge behielt und regelmäßig das Gespräch mit ihm suchte, dann war es bei Lestrade bestimmt nicht anders. 
 

John schmunzelte, als er in Lestrades Adressbuch eindeutig auf Mycrofts Nummer stieß, eingetragen unter dem Namen: Big Brother. Der Inspektor besaß Humor und die angebrachte Diskretion. 
 

John drückte die Anruf-Taste und wartete. Es klingelte genau einmal.
 

„John“, antwortete Mycroft ohne weitere Begrüßung. Er hätte sich nicht darüber gewundert, hätte er nicht mit Lestrades Handy angerufen.
 

„Woher-“
 

John.“ Und der Tonfall war mehr Antwort, als jede Erklärung, denn er bedeutete ,Ich bitte Sie, wenn ich Ihnen das erklären muss, dann können wir das Gespräch gleich wieder beenden‘.
 

John beließ es dabei. Da Mycroft ihn beim Vornamen nannte und John ihn bereits ohne Konsequenzen geduzt hatte, beschloss er, es dabei zu belassen.
 

„Du warst in Sherlocks Plan eingeweiht, nicht wahr? War es das, was er meinte, als er in der Nacht von dem Gefallen sprach?“
 

„Ich nehme an, mein Bruder hat sein Versteckspiel beendet?“
 

„Mehr oder weniger.“ Johns Blick verharrte auf der geschlossenen Tür. „Jetzt zu dem Gefallen.“
 

„Ich gebe zu, ich hatte gehofft, Sie hätten das nicht gehört“, erwiderte Mycroft abschätzig. „Dieses Gespräch ist nicht notwendig, John. Es ist alles geklärt.“
 

John lachte leise. „Ich war vielleicht etwas abgelenkt, aber es hätte schon einen Schlag auf den Kopf gebraucht, um eure brüderliche Liebelei nicht mitzubekommen.“ Er konnte sich Mycrofts freudlosen Gesichtsausdruck in diesem Moment nur allzu gut vorstellen. „Und das Gespräch ist absolut notwendig. Was hatte Sherlock vor und wieso ist es so spektakulär schief gelaufen?“
 

„Seien wir realistisch. Was immer mein Bruder vorhatte, mag nicht den geplanten Verlauf genommen haben, aber letztendlich-“
 

„Oh nein, ganz bestimmt nicht, Mycroft. Sherlock hat mich bis vorhin ignoriert, er ist mir aus dem Weg gegangen. Und selbst als er mir gegenüber stand, ist er meinen Fragen ausgewichen, bevor er mit der Wahrheit rausgerückt ist. Er weiß jetzt, wie ich zu seinem Plan stehe, ich habe ihn verdammt nochmal vor die Tür geschickt. Worum ging es bei dem Plan? Warum ist er schief gegangen?“
 

„Wegen Ihnen, John.“
 

„Was?“
 

Mycroft seufzte. „Natürlich hatte ich Leute, die auf den richtigen Augenblick gewartet haben, um zu intervenieren. Unglücklicherweise ist die Situation verkompliziert worden. Ihr Einmischen hat ein direktes Eingreifen unmöglich gemacht.“
 

„Wieso? Ich konnte Moran ablenken, ihr hättet jeden Moment die Wohnung stürmen können.“
 

„Das war irrelevant.“
 

„Wieso?“
 

„Denken Sie, ich ließ Sie und Sherlock nicht überwachen, nach dem Zwischenfall mit Moriarty? Der einzige Grund, warum ich zuließ, dass Moran meinen Bruder mitnahm - neben Sherlocks einzigartigen Sturheit hinsichtlich der Befolgung seines Plans - war der, dass es bisher keine nachweisbare Verbindung zwischen Moriarty und Moran gegeben hat. Beide haben sämtliche Beweise entweder gelöscht oder bewusst vermieden, für den Fall, dass einer von ihnen festgenommen oder getötet würde.“
 

Das war viel zu verarbeiten, es brachte die ganze Sache aber noch nicht auf den Punkt. „Weiter“, forderte John.
 

„Der Plan meines Bruders war, so lange in Morans Gewalt zu bleiben, bis dieser sich durch seine Worte oder Taten“, bei diesem Wort wurde Mycrofts Tonfall säuerlich, „verraten hätte. Das Telefonat, welches er mit Ihnen führte, lieferte bereits genug Beweise und zusammen mit der Audiodatei auf Sherlocks Telefon hätte es genügt, um Moran von jedem Richter der Welt verurteilen zu lassen. Alles, was wir noch brauchten, war die Entführung als absolute Belastung.“
 

Jetzt verstand John auch, warum Mycroft Moran nicht sofort überführt hatte. Moran hatte Polizisten ermordet, es war notwendig, dass sein Prozess öffentlich verlief, weil sonst die Medien und die Bevölkerung die Methoden ihrer Regierung und die Kompetenz des Scotland Yards hinterfragen würden. 
 

Mycroft fuhr fort: „Ein Eliteteam war in Alarmbereitschaft, um Sherlock aus der Wohnung zu holen, aber da waren Sie, John. Ihr Alleingang war unerwartet und plötzlich hatte mein Team die Wahl zwischen zwei Ultra-Priorities mit geringer Überlebenschance oder einer Ultra-Proiority plus Kollateralschaden.“
 

Ob Mycroft gerade genüsslich seinen Tee trank, während er John diese kleine Geschichte erzählte?
 

„Die Situation wurde zunehmend verfahren. Meine Männer hätten eingreifen und einen von Ihnen retten können. Vielleicht auch Sie beide, wenn sie es geschafft hätten, Moran vorher auszuschalten. Das Risiko konnte ich nicht eingehen, darüber hinaus brauchten wir Moran lebend.“
 

„Also habt ihr abgewartet.“
 

„Eine eher politische Reaktion, aber ja. Und wie sich zeigte, taten wir gut daran. Ich bedauere die physischen Blessuren, die Sie erleiden mussten, John, aber die Alternativen wären bei weitem unangenehmer für alle Beteiligten gewesen.“
 

„Das weiß ich zu schätzen“, entgegnete John nüchtern.
 

„Ah, wie es scheint, verliert mein Bruder die Geduld.“ John warf einen Blick zur Tür und Mycroft antwortete, noch bevor er eine Frage stellen konnte. „Er hat mir eine SMS geschrieben und ich möchte seine genauen Worte nicht wiedergeben, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass seine Geduldsspanne nie die längste gewesen ist.“
 

„Telefonierst du nicht gerade mit mir?“
 

„Er schrieb mir auf meinem anderen Mobiltelefon.“
 

John fragte nicht einmal mehr, weswegen Mycroft mehrere Telefone besaß, denn er war sich sicher, die einzige Reaktion darauf wäre sein Name in dem ,Ich-bitte-Sie‘-Tonfall gewesen.
 

„Ich muss gestehen, es überrascht mich, dass er nach sechs Minuten noch immer vor Ihrer Tür wartet.“
 

John ließ die Hand mit dem Handy einen Moment lang sinken, um die Uhrzeit zu prüfen und stellte fest, dass Mycroft recht hatte. „Es war wohl mein Tonfall.“
 

„Nun, wo das geklärt wäre, sollten Sie ihn wohl wieder hereinrufen. Er wird langsam etwas lästig.“ Wenn Mycroft es so ausdrückte, dann schickte Sherlock ihm kontinuierliche Beschimpfungen. „Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Genesung, John.“
 

Damit war die Verbindung beendet. John schnaubte und legte das Telefon zurück auf den Nachttisch, dann hob er die Stimme und rief: „Du kannst aufhören, ihn zu beleidigen und wieder reinkommen.“
 

Er erhielt zunächst keine verbale Reaktion, schließlich aber schwang die Tür auf und Sherlock stapfte zurück in den Raum. „Das war absolut überflüssig. Ich hätte dir alles genau erklären können, es gab keinen Grund, Mycroft anzurufen!“ Seine Augen versprühten Kränkung und unterdrückte Wut.
 

John winkte Sherlock näher, welcher sich nur widerwillig neben ihm auf die Bettkante setzte. „Sherlock, du bist übermüdet und höchstwahrscheinlich dehydriert. Du magst ein Genie sein, aber ehrlich gesagt stehst du noch immer unter Schock - auch wenn du gerade keine Schockdecke trägst. Außerdem brauchte ich die fünf Minuten.“
 

„Es waren sieben“, murrte der Detektiv und verschränkte die Arme.
 

John lächelte müde. „Dann eben sieben. Mycroft hat es mir ohne Umschweife erklärt. Eigentlich hätte er das schon heute Morgen tun können, aber er ist Mycroft und seine Wege sind unergründlich.“ 
 

Sherlock murmelte etwas in seinen nichtvorhandenen Bart. 
 

„Hättest du es mir von allein gesagt?“, fragte John provozierend und richtete sich etwas weiter auf. „Du konntest vor einer Woche nicht einmal zugeben, dass Moriarty dich mit SMS gequält hat, wie wolltest du mir dann erklären, dass du Mycroft darum gebeten hast, mich zu beschützen?“
 

Sherlock Kopf schnellte in die Höhe und er fixierte John. „Das hat er dir nicht gesagt.“
 

„Oh, gelauscht hast du auch noch, als du warten solltest?“ John neigte den Kopf, aber Sherlock wollte nichts davon wissen.
 

„Mycroft hat dir nichts davon gesagt. Du kannst das nicht von ihm wissen, John.“
 

„Ja und nein.“ Als Sherlock nicht reagierte, fuhr er fort. „Ich habe es geschlussfolgert. Überrascht? Ich schätze, das hast du mir nicht zugetraut.“ Er schüttelte den Kopf. „Du hast ihn um einen Gefallen gebeten. Das waren deine Worte. Einen Gefallen, den er nicht hatte einhalten können. Dabei waren wir beide am Leben, du warst sogar verhältnismäßig unverletzt.“
 

Sherlocks Brauen zogen sich zusammen und seine Lippen waren aufeinander gepresst. John wandte den Blick nicht ab und lächelte grimmig.
 

„Denkst du, ich kann Mycroft nicht einschätzen? Er mag mich dafür schätzen, dass ich Moriarty umgebracht habe, aber ich bin nicht so naiv und glaube, er würde von sich aus zögern, wenn es darum geht, dich zu schützen, nur weil es mich gefährden würde. Du bist sein Bruder. Ich bin dein Freund, mehr nicht. Der einzige Grund, weswegen Mycroft seinen Männern nicht den Befehl gegeben hat, dich da raus zu holen, war der Gefallen.“
 

„Du solltest nicht schon wieder verletzt werden“, sagte Sherlock leise. John schluckte gegen den plötzlichen Klumpen in seinem Hals, denn diese Worte von Sherlock Holmes, selbsternannten hochfunktionierenden Soziopathen, zu hören, war einfach nur ...
 

„Verdammt.“ John hob die fixierte Hand und wischte sich mit dem Ärmel seines Krankenhaushemdes über die Augen. Er würde hier jetzt nicht sentimental werden!
 

„Und am Ende hättest du beinahe einen Finger verloren, soviel zu Mycrofts Wort“, zischte Sherlock.
 

„Er hat es versucht.“
 

„Er hat es nicht geschafft, John! Immer wieder sagt er mir, ich soll ihm vertrauen und wenn ich ihn um eine Sache bitte, wenn ich ihn um etwas bitte, dann versagt er. Wie soll ich ihm glauben?!“
 

John griff nach Sherlocks Hand und drückte sie. „Wir sind beide am Leben. Weder Moriarty noch Moran konnten das ändern. Mycroft hat sein Bestes getan und ich bin sicher, dass wir ohne ihn jetzt deutlich mehr Probleme hätten.“
 

„Alles Ausreden.“ Etwas von der Schärfe war aus Sherlocks Stimme gewichen. John Berührung schien ihn ein wenig zu erden.
 

„Vielleicht“, stimmte John ihm zu und spürte etwas von sich abfallen. „Danke.“
 

Sherlock blinzelte. „Wofür?“
 

„Dafür, dass du dich um mich kümmerst.“
 

Sherlock verdrehte die Augen. „Gefühle, John.“
 

„Schrecklich, nicht wahr?“, fragte dieser glucksend und entlockte dem Detektiv damit das erste, ehrliche Lächeln an diesem Abend.
 

„Sie sind unkontrollierbar und ablenkend. Aber vielleicht nicht ganz so gefährlich, wie ich angenommen habe.“ Er machte eine kurze Pause. „Du hast mich vor die Tür geschickt.“
 

„Sag bloß, das war dein erstes Mal? Hat dich noch niemand irgendwo rausgeworfen?“
 

„Oh, sie haben es versucht, aber bisher hat es niemand geschafft.“
 

„Nicht einmal Lestrade?“
 

„Das zählt nicht.“
 

Natürlich.“
 

„Tatortverbot ist etwas anderes als rausgeworfen zu werden.“
 

„Wenn du das sagst.“
 

Sherlocks Hand erwiderte den Druck. Als Silvia wenig später an die Tür klopfte und erklärte, dass es Zeit wurde, Johns Verbände zu wechseln und dass der gute Doktor Watson seine Ruhe braucht, um zu genesen, widersprach Sherlock nicht, sondern setzte sich in den Sessel neben Johns Bett, als ob ihm der Platz gehörte und ließ John keinen Moment aus den Augen. 
 

John starrte an die Decke, um nicht die Wunde an seinem Finger ansehen zu müssen, während Silvia sie mit fachmännischer Miene säuberte und einen frischen Verband anlegte. 
 

Er wandte sich Sherlock zu. Dieser hatte die Handflächen aneinander gepresst, während er Silvias Handgriffe genauestens beobachtete. Einen Moment lang sah er etwas Rohes, Schmerzerfülltes in Sherlocks Blick, dann war es wieder verschwunden.
 

John lehnte sich zurück in die Kissen und schloss die Augen.
 

Es ging ihnen beiden noch nicht gut. Aber sie waren auf dem Weg dorthin und das reichte ihm.
 

[tbc]



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