Abyssus abyssum invocat von genek ================================================================================ Kapitel 1: Abyssus abyssum invocat ---------------------------------- „…folglich werden wir das Ganze routinemäßig angehen, wenn keine Einwände von Ihrer Seite erfolgen sollten. Ahm, Richter Petrov?“ Yuri schreckte auf. Ihm wurde plötzlich peinlich bewusst, dass er mitten in der Ausführung seines Gegenübers gedanklich völlig abgeschaltet hatte, und schlimmer noch, offenbar die ganze Zeit über meditativ in der Teetasse vor sich gerührt hatte. Er räusperte sich, verschränkte die Hände auf dem Tisch vor sich, um sie an weiteren unterbewussten Leerlaufhandlungen zu hindern, und sah den Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches fest an, bemüht, einen unzweifelhaft autoritären Eindruck zu machen. „Natürlich. Ich kann mich schließlich nicht um jeden Ihrer Schritte kümmern, also übernehmen Sie das eigenständig“, erklärte er kühl. Er konnte sehen, wie der Mann unter seinem eisigen Blick zusammenschrumpfte, ein „Entschuldigen Sie bitte die Störung“ murmelte, und sich hastig aus dem Büro zurückzog. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, seufzte Yuri auf und rieb sich mit den Handballen über die müden, brennenden Augen, wie immer darauf bedacht, sein Make-up nicht zu verschmieren. Das würde gerade noch fehlen, sollte er durch eine so winzige Unachtsamkeit seine sorgsam gewahrte Identität preisgeben. Einen Moment lang verharrte er in dieser Position, die Augen geschlossen, erlaubte sich einige Sekunden Entspannung, ehe er sich wieder zusammenriss und eine der Gerichtsakten vom noch-zu-bearbeiten-Stapel nahm. Er ärgerte sich über sich selbst, über seinen Körper, der nun deutlich an seine Grenzen stieß und nicht mit seinem immer wachen und ewig tobenden Geist mithalten konnte. An der Universität hatte er sich doch auch mehrere Nächte in Folge mit Lernen um die Ohren schlagen können, und war am nächsten Tag trotzdem ungemindert aufmerksam gewesen, und jetzt reichten schon zwei Tage ohne Schlaf und er musste damit kämpfen, nicht am Schreibtisch einzunicken. „Man wird eben nicht jünger“, murmelte er bitter. Nicht, dass er sich je jung gefühlt hätte. Vielleicht damals, als Kind, bevor alles so furchtbar schief gelaufen war. Er konnte sich nicht erinnern. Er schalt sich selbst, sich gefälligst auf die Akten vor sich zu konzentrieren, als er merkte, dass dieser Gedanke die Stimmen in seinem Hinterkopf bedrohlich anfachte. Sein Arbeitspensum musste erledigt werden, er durfte sich durch nichts davon abbringen lassen, ermahnte er sich. Der Tag gehörte der Arbeit, die Nacht gehörte Thanatos. Der rationale Teil seines Verstandes, der Teil, der ihn zu dem ungeheuer erfolgreichen Staatsanwalt und Richter gemacht hatte, der jeden Fall sofort analysieren und jeden noch so geschickten Täuschungsversuch seitens Zeugen oder Angeklagten umgehend durchschauen konnte, dieser Teil sagte ihm regelmäßig, dass er wirklich, wirklich am Ende war. Auf einer rationalen Ebene war er sich im Klaren darüber, dass es nicht normal war, verstorbene Personen zu sehen, ihren Befehlen zu folgen und mit ihnen zu diskutieren. Auf einer rationalen Ebene war sich Yuri Petrov durchaus bewusst, dass er einen wirklich schwerwiegenden psychischen Knacks hatte. Auf einer rationalen Ebene hatte er distanziert analysiert, dass er unter zwanghaften Neurosen, einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und paranoider Schizophrenie litt und sich eigentlich sofort selbst einweisen sollte. Auf irrationaler Ebene hatte er sich deswegen schlicht Lunatic getauft und begonnen, die erhaltenen Befehle in die Tat umzusetzen. Yuri ertappte sich dabei, dass er denselben Satz nun schon zum dritten Male las. Zu seiner Verteidigung musste eingeräumt werden, dass selbiger Satz sich über fünf Zeilen erstreckte und im verkünsteltsten Juristenjargon geschrieben war, dessen der Verfasser mächtig war, aber es war ein weiteres Indiz dafür, dass er schlichtweg am Limit war. Er stand also widerwillig auf, trat an das jalousieverhangene Fenster und sah durch die Lamellen hinaus. Er sah einige markante Gebäude Sternbilds, sah die Werbeflächen blinken, sah diese ganze oberflächliche und dekadente Szenerie und wandte sich angewidert wieder ab. Diese Welt war nicht die seine, dachte er düster. In diesem Moment entschied sich ein Teil dieser Welt, die so gar nicht die seine war, abrupt und ohne anzuklopfen in sein Büro zu platzen. „Ah, Entschuldigung, aber Lloyds schickt mich. Hätten Sie mal ’ne Minute?“ Einen kurzen Augenblick starrte Yuri den Eindringling nur leer an, während er überlegte, ob es überhaupt einen Sinn machen würde, seine Manieren zu korrigieren, und wenn ja, bei welchem Mangel er anfangen sollte. Schließlich beschloss er seinen Nerven zuliebe, es gleich ganz sein zu lassen. Bei diesem Mann waren in dieser Hinsicht schlichtweg Hopfen und Malz verloren. „Lassen Sie mich einfach mal raten: Sie haben mal wieder in ihrem unangebrachten Übereifer das Eigentum eines Bürgers in Schutt und Asche gelegt“, meinte er so nur kühl und nahm seufzend wieder Platz. Soviel zu einer kurzen Pause, dachte er müde. Kotetsu Kaburagi lächelte schuldbewusst und ließ sich völlig unaufgefordert in den Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches fallen. „Es ist für die gute Sache gewesen“, versicherte er dann aufrichtig und sah Yuri aus ernsten, großen Augen an. „Ist es das bei Ihnen nicht immer?“, fragte Yuri gedehnt, während er aus einer der Schubladen in der Schreibtischkonsole einen Hefter zu Tage förderte, der in Großbuchstaben mit „WILD TIGER/KABURAGI, KOTETSU – DAMAGE REPORTS“ beschriftet war. Der Hefter hatte mittlerweile schon eine beachtliche Dicke erreicht, und war der einzige eines Heros, der niemals weiter weg als in einer Schreibtischschublade lag – denn Yuri musste ihn sowieso fast täglich aktualisieren. Er blätterte ihn kurz durch, mehr zur Show als dass er tatsächlich hätte überprüfen müssen, wie viele Vorfälle in letzter Zeit zusammen gekommen waren, ehe er ihn mit einem Seufzen über die blank geputzte und spiegelnde Tischplatte zu Kaburagi hinüber schob. „Bereits vier Anzeigen in den letzten drei Wochen, zwei Verfahren wurden außergerichtlich durch Mr Lloyds bereits beigelegt, bei den anderen beiden könnten Sie einen Vergleich anstreben“, erklärte er dann sachlich und fixierte Kaburagi so eindringlich wie es ihm in seinem momentanen Zustand irgendwie möglich war. Er wollte seine Ruhe, und dafür musste diese Sache hier schnellstmöglich geklärt werden. Seine sonst so erfolgreiche Einschüchterungsstrategie zog allerdings zu seiner Frustration überhaupt nicht. Kaburagi pfiff anerkennend und wog den Hefter in einer Hand, ehe er entschuldigend meinte: „Ich mache Ihnen ganz schön viel Arbeit, Richter, nicht wahr? Entschuldigung dafür.“ Er kratzte sich verlegen lächelnd im Nacken. Unwillkürlich fühlte Yuri seine Mundwinkel zucken, nur für den Bruchteil einer Sekunde und dankenswerterweise völlig unbemerkt von Kaburagi. Dieser Mann hatte ja keine Ahnung, wie viel Arbeit er ihm tatsächlich gemacht hatte. Bis zum heutigen Tage schmerzte ihn seine Schulter, er konnte nicht mehr auf der linken Seite liegen und er war zu allem Überfluss jetzt im Schultergelenk wetterfühlig. Und das alles nur, weil er Kaburagi geholfen hatte. Er hatte sie damals nur selbst so gut es eben ging verarzten können, da er bei einem Krankenhausbesuch in einige Erklärungsnot gekommen wäre. Jemand, der wie er selbst in der Öffentlichkeit keine Sportart ausübte, geschweige denn Kampfsport, da wären Fragen gestellt worden, Fragen, die gefährlich waren. Viel mehr als der physische Schmerz beschäftigte ihn aber immer noch die Frage, warum er das alles überhaupt auf sich genommen hatte. Thanatos befahl ihm, Sünder zu bestrafen, sie ihrem gerechten Urteil zuzuführen, ihre verkommenen Existenzen auszulöschen – nicht, gescheiterte Heroes zu retten. Und gerade weil er diesen Mann gerettet hatte, war er nicht in der Lage gewesen, die wahren Übeltäter sofort zu vernichten. Und das Schlimmste war, er konnte Kaburagi noch nicht einmal die Schuld dafür geben. „Ich hatte in der Tat gehofft, dass Sie nach Ihrem Abstieg in die zweite Liga weniger Kollateralschäden verursachen würden“, antwortete er stattdessen, und ließ es sich nicht nehmen, etwas Sarkasmus in seinen Ton einfließen zu lassen. Es war allgemein bekannt, dass „Abstieg in die zweite Liga“ ein erkanntes Synonym für „Wild Tigers Verlust seiner NEXT-Kräfte“ war. Doch Kaburagi tat ihm nicht den Gefallen, empört auf die Provokation anzuspringen. „Ah, also ehrlich gesagt hat keiner der neuen Vorfälle etwas mit meinen Kräften zu tun gehabt“, erklärte er unerklärlicherweise gut gelaunt, „vielmehr mit generellem Pech. Ob ich meine Hundred Power einsetze oder nicht, letztlich bleibt das Ergebnis dasselbe.“ „Sie werden also auch ohne Ihre Kräfte weiterleben können?“ Die Frage war über seine Lippen gekommen, ohne, dass er sie hatte formulieren wollen. Yuri hielt irritiert inne. Was hatte er da soeben getan? Er hatte ein Gebiet betreten, das absolut tabu war, dem er sich auch nicht nähern wollte. Und mehr noch, seine Frage hatte besorgt geklungen. Er machte sich Sorgen um Kaburagi. Er machte sich Sorgen um dessen Tochter. Er machte sich Sorgen, Sorgen, dass es alles von vorn beginnen würde. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, die Gedanken und Stimmen dröhnten in seinem Kopf. „Natürlich.“ Es dauerte einen Moment, bis diese nüchterne Aussage zu ihm durchgedrungen war. Kaburagi sah ihn unvermindert gut gelaunt an, und so sehr er es auch versuchte, er fand keinen Hinweis darauf, dass der Mann ihn belog. „Tatsächlich?“ Seine Stimme klang seltsam belegt, er fühlte sich völlig ermattet. Er wusste selbst nicht, warum er sich so in Panik hatte versetzen lassen. Hatte er wirklich erwartet, dass Kaburagi, dieser herzensgute, dumme Altruist so werden könnte wie sein Vater? Und selbst wenn – was sollte es ihn kümmern? „Tatsächlich.“ Kaburagi lehnte sich über den Schreibtisch nach vorne, eigentlich schon zu nah für Yuris Geschmack, aber persönlicher Raum war eins der Konzepte, die Wild Tiger nicht kannte, und blickte ihn aus funkelnden Augen fest an. „Es ist ja nicht so, als wären es diese Kräfte, die einen automatisch zum Hero machen.“ Yuri hob fragend die Augenbrauen. „Nicht?“ „Nein“, Kaburagi schüttelte entschieden den Kopf, „es sind die Absichten, die man vertritt.“ „Sie sind ein Idealist“, antwortete Yuri trocken. Es überraschte ihn nicht, diese angestaubte Sicht der Dinge von Wild Tiger zu hören. „Nicht mehr, als andere auch“, Kaburagi zuckte mit den Schultern, und plötzlich legte sich ein nachdenklicher Zug über sein Gesicht. „Maverick hat sich ebenfalls für einen Helden gehalten. Er hat an seine Sache geglaubt. Er war überzeugt, das Richtige getan zu haben.“ Yuri lächelte zynisch. „Idealismus verblendet. Glaubt man an die eigene Sache, so wird man blind für alles um sich herum. Wird dieser Glaube erschüttert-“ er brach ab. „Sie scheinen Idealismus zu verabscheuen“, stellte Kaburagi fest und musterte ihn erstaunt, „dabei hätte ich gedacht, dass Sie als Richter ebenso an Ihre Sache glauben würden, wie ich an meine.“ Yuri dachte einen Moment lang über seine Antwort nach. „Ich bin ein Idealist, Kaburagi. Vielleicht ein noch größerer als Sie selbst. Aber ich weiß, dass es mich verletzlich macht und bemühe mich, diesen Nachteil durch Vorsicht auszugleichen.“ Der zweite Teil war eine Lüge. Er hatte keinerlei Vorsicht walten lassen, als er Kaburagi gerettet hatte. Auf einer rationalen Ebene war ihm deutlich bewusst, dass allein dieses Gespräch jetzt Irrsinn war, er sollte ihn einfach das Formular ausfüllen lassen und ihn dann rauswerfen. Auf irrationaler Ebene wollte er jetzt eine Antwort, die er sein ganzes bisheriges Leben vergeblich gesucht hatte. „Wenn Sie all Ihre Kräfte verloren haben, was wird dann aus Ihnen?“ Ein Trinker? Ein Schläger? Ein Mörder? Kaburagi tat etwas völlig Unpassendes, wie eigentlich immer. Er brach lauthals in Gelächter aus, ehe er sich mühevoll wieder fasste und Yuri mit einem warmen Funkeln in den Augen musterte. „Sie machen sich ja direkt Sorgen um mich, dass ist sehr nett von Ihnen. Aber glauben Sie mir, egal was auch passiert, ich bleibe ein Hero bis zum Schluss. Und wenn ich es nur bin, wenn ich zu Hause meiner Mutter beim Unkrautjäten helfe oder meine Tochter zur Hero-Akademie bringe, dann ist das in Ordnung. Ich will den Menschen helfen, egal wie.“ Yuri stand abrupt auf und trat ans Fenster, drehte Kaburagi den Rücken zu. Er wollte nicht, dass er seinen Gesichtsausdruck sah, der irgendwo zwischen einem erleichterten Fast-Lächeln, völliger Ungläubigkeit, Genervtheit ob dieser lächerlichen Naivität und etwas, das er selbst nicht definierten konnte lag. Er blendete das spöttische Wispern der Stimmen aus und sprach Richtung Fenster. „Sie nehmen sich da eine ganze Menge vor. Einen solchen Schritt abwärts völlig gelassen zu nehmen erfordert Größe. Oder Dummheit.“ Er wandte sich um und sah, dass Kaburagi nun breit grinste. „Wurde mir beides schon attestiert. Ich werde es jedenfalls überstehen, vorausgesetzt, ich werde nicht vorher wegen Vandalismus eingebuchtet.“ Er tippte demonstrativ auf den Hefter vor sich. Yuri trat wortlos zurück an den Schreibtisch, suchte ein passendes Formular aus der Aktenablage und reichte es Kaburagi. „So, und jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie gehen würden. Ich habe im Gegensatz zu Ihnen noch etwas zu arbeiten“, erklärte er dann kühl. Kaburagi bedankte sich mit einem Nicken und verließ das Büro. In der Tür winkte er noch einmal freundlich, ehe er ganz verschwunden war. Yuri fuhr sich in einer erschöpften Geste mit beiden Händen durch die langen Haare. Obwohl er gerade eine nicht unbeträchtliche Menge seiner kostbaren Zeit sinnlos vergeudet hatte, fühlte er sich auf unerklärliche Weise plötzlich besser. Die Stimmen waren gedämpfter, der Zwang, den gewisperten Aufrufen Folge zu leisten, war geringer. Vielleicht sollte er diese Nacht einfach einmal schlafen. Sünder töten konnte er auch morgen. Auf rationaler Ebene erklärte er sich diesen Effekt mit dem Umstand, dass die kurze Ablenkung wie eine Art Ruhepause gewesen war. Auf irrationaler Ebene war er auf eine merkwürdige Weise glücklich, glücklich zu wissen, dass alles mit seinem Tod irgendwann enden würde, der ewige Teufelskreis aus Verzweiflung und Hass sich nicht wiederholen würde. Würde er sich andere Emotionen außer Hass und Bitterkeit zugestehen, würde er sich für Kaburagi freuen, für seinen unerschütterlichen Lebensmut und seinen Glauben an das Gute in der Welt, das war ihm bewusst. Und er beschloss, was auch immer geschehen sollte, er würde Wild Tiger nicht töten, selbst wenn Thanatos es ihm befehlen sollte. Denn dieses bisschen angestaubter Heldenmut, dieser kleine Rest des Erbes seines einst ruhmreichen Vaters, es sollte nicht verschwinden, nicht ausgelöscht werden von einer kaputten Existenz wie ihm selbst. Vielleicht war das letztlich überhaupt der größte Unterschied zwischen ihnen beiden, die Tatsache, dass Kaburagi völlig überzeugt von seinen Handlungen war und nur das tat, was er persönlich für richtig hielt, während Yuri nach den Doktrinen eines anderen lebte. Die Zeit würde zeigen, welche Gerechtigkeit, welches Heldendasein siegen würde. Und auf irrationaler Ebene hoffte Yuri in diesem kurzen Moment, dass es nicht er sein würde. ---Finis--- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)