Sensation von NejiTen-Schreiber ([NejiTen]-Adventskalender 2o11) ================================================================================ Kapitel 8: 8. Dezember | Past & Present (Teil I) ------------------------------------------------ ~Present – 1881 Mai Harrogate~ An einem Spätnachmittag im Juni fuhr die Kutsche aus London in den Kurort Harrogate ein. Die Passagiere die ausstiegen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Zum einen war dort eine dreiköpfige Familie. Die Eltern hatten sichtlich Mühe ihren aktiven Jungen im Zaum zu halten. Das ältere Ehepaar hingegen wirkte vollkommen ruhig, als sie langsam aus der Kutsche ausstiegen. Als letztes trat Lady Tenten Ama, Baroness Cartwright heraus. Sie galt als erfolgreiche Chaperone für Debütantinnen und stellte sich als solche niemals in den Mittelpunkt. Daher war ihre Garderobe in einem unauffälligen braun gehalten. Ihr volles schokobraunes Haar wurde unter einer Schute versteckt. Ihre Kleidung ließ sie eher wie vierzig, denn ihrem eigentlichen Alter - sechsundzwanzig – aussehen. Die Lady sah sich gelangweilt um. Sie kannte diesen Ort bereits. Harrogate galt als beliebtester Kurort und war somit ein geeigneter Treffpunkt für junge Menschen, die sich zu verloben gedachten. Auch in diesem Jahr brachte die Arbeit Lady Tenten nach Harrogate. Ein verzweifelter Vater hatte sie gebeten seine Tochter zu vermählen. Die Dame war zwar finanziell gut abgesichert, galt jedoch als schwieriger Fall. Glücklicherweise hatte Tenten Erfahrung mit schwierigen Fällen. Daher war sie recht optimistisch, dass es ihr auch dieses Mal gelingen würde die junge Frau erfolgreich zu vermählen und zuvor vor Dummheiten zu bewahren. Die junge Dame würde erst am nächsten Tag eintreffen, sodass Tenten ein wenig Zeit hatte sich einzugewöhnen. Die frische Luft tief einatmend schritt sie auf ihr Hotel zu. Was sie nicht bemerkte war der Mann, der sie beobachtete. ~*~ Das Varietétheater bot für junge, heiratswillige Menschen eine günstige Gelegenheit sich umzusehen und gesehen zu werden. Daher hielt Tenten es für durchaus angemessen mit ihrem neuen Schützling eine solche Vorstellung zu besuchen. Zudem liebte Tenten das Varieté. Einst – Tenten kam es wie eine Ewigkeit vor – hatte sie selber auf der Bühne gestanden und artistische Nummern mit Waffen vorgeführt. Doch das war lange her und es war zu schmerzlich sich an diese Zeit zu erinnern. Daher versuchte sich Tenten einzig und allein auf die junge Frau neben ihr zu konzentrieren und auf diese aufzupassen. Und das war bei weitem kein leichtes Unterfangen. Ihr Vater hatte nicht untertrieben, als er sie als „schwierig“ betitelte. Kasumi war ziemlich unerzogen und blickte zudem ziemlich griesgrämig drein. Des Weiteren war sie keinesfalls als Schönheit zu bezeichnen, was es nicht leicht machen würde einen geeigneten Ehemann zu finden. Allerdings waren ihre Eltern sehr vermögend, was ihr einziger Vorteil war. Auf diesen würde Tenten wohl aufbauen müssen. Während Kasumi gierig die Atmosphäre in sich einsaugte und versuchte so viele Männer wie möglich zu bestaunen, sah Tenten sich eher gelangweilt um. Sie war schon bei zu vielen Vorstellungen gewesen, um sich von der Atmosphäre und den Menschenmengen beeindrucken zu lassen. Sie ging nicht weg um gesehen zu werden – im Gegenteil. Sie hielt sich eher zurück und war liebe stumme Zuschauerin. Das war nicht immer so gewesen, aber ihr Job brachte es nunmal mit sich, sich unauffällig zu verhalten. Die Aufmerksamkeit sollte einzig und allein auf den jungen Frauen liegen und nicht auf ihr, auch wenn Tenten eine durchaus attraktive Frau war, wenn sie sich die Mühe machen würde sich zurecht zu machen. So aber ging sie in ihrer schlichten Kleidung unter und wurde kaum beachtet, was ihr wiederrum die Möglichkeit gab die anderen Leute zu beobachten. Einige Gesichter kannte Tenten bereits und sie versuchte potentielle Heiratskandidaten für Kasumi zu entdecken. Sie hatte im Laufe ihrer Arbeitszeit eine ziemlich gute Menschenkenntnis entwickelt, die es ihr erlaubte junge Männer zu erkennen, die auf der Suche nach einer guten Partie waren. Wichtig war natürlich das diese Männer zu ihren Schützlingen passen. Keinesfalls käme ein armer Arbeiter in Betracht – das wäre nicht schicklich und wurde von den Eltern nicht gewünscht. Es sollte eine gute Partie gefunden werden, die möglichst in den gleichen Kreisen verkehrte. Tenten hatte gerade zwei potentielle Kandidaten im Blick, als das Licht im Saal gedimmt wurde. Und als der Vorhang geöffnet wurde, wurde Tenten in der Zeit zurück versetzt. ~Past – London Juli 1868~ „Tenten, dieses einfache Messerwerfen ist doch einfach und kann inzwischen jeder. Wie wäre es, wenn du das mal rückwärts versuchst? Wir müssen den Zuschauern etwas Neues bieten!“ „Ich kann es versuchen.“ „Du bekommst das schon hin. Du bist die Beste, ich weiß das. Sonst hätte ich dich nicht hier.“ Tenten nickte. Ihr war durchaus bewusst, dass sie ersetzbar war. Wenn sie nicht eine spektakuläre Show liefern würde, würde sie ausgetauscht werden. So einfach war das. Doch sie durfte nicht gehen, denn das hier war ihr einziges Zuhause. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte sie sich alleine durchkämpfen müssen. Zunächst hatte sie kleine Kunststücke auf der Straße aufgeführt und so ein wenig verdient. Doch auf der Straße zu leben war ein hartes Los, besonders in diesen Zeiten. Man wurde verachtet, wenn man auf der Straße lebte. Dabei waren ihre Eltern zu Beginn gar nicht arm gewesen. Doch die große Überbevölkerung in London hatte sie in den Ruin getrieben. Sie hatten einfach keine Arbeit mehr finden können und gehörten von da an zur Unterschicht, die in den Londoner Slums lebte. Dieses Leben hatte zuerst ihrer Mutter und dann ihrem Vater alles gekostet – auch das Leben selbst. Doch Tenten hatte leben wollen und sich durchgekämpft. Und nun war sie hier im Varieté. Die anderen Schauspieler und Artisten waren zu ihrer Familie geworden – die einzige, die sie noch hatte. Aber sie musste dafür arbeiten diese Familie behalten zu dürfen. Also musste sie üben. Doch leider gab es wenige Freiwillige, die sie bei ihren Nummern unterstützen wollten. Wer wollte schon gerne als Zielscheibe dienen? Vor allem bei einer Frau, der man grundsätzlich weniger zutraute? Tenten hatte sehr unter diesen Vorurteilen zu leiden. Doch sie tat alles, um den Skeptikern das Gegenteil zu beweisen. Also übte sie zunächst alleine und malte sich eine Person auf. Dann stellte sie sich mit dem Rücken zur Wand – in der Hand ihre Messer. Dann warf sie diese abwechselnd von links und von rechts. Sie brauchte einige Zeit bis diese Übung einwandfrei klappte. Sie übte diese Nummer schließlich mehrere Tage hintereinander, bis sie sich sicher genug fühlte es mit einer Person aufzuführen. Doch auch jetzt wollte sich niemand melden. ~Present~ Tenten erlaubte es sich selten an ihre Zeit im Varieté zurückzudenken. Auch wenn es trotz der harten Anforderungen eine schöne Zeit gewesen war. Dennoch galt sie zu dieser Zeit als unehrenhaft. Welche Dame hantierte denn schon mit Messern? Doch zu dieser Zeit hatte Tenten auch keine Dame sein wollen. Sie hatte einfach keine Geduld dafür. Sie war nicht eine dieser Frauen die sich damit begnügten den Haushalt zu führen, zu lesen und auf dem Klavier Tonleitern zu spielen. Dafür war sie einfach nicht gemacht. Sie wollte keine Dame sein, aber sie sehnte sich nach einem wahren Zuhause. Wahrscheinlich hatte sie deshalb auch versucht etwas zu sein, was sie nicht war. ~Past – Bath August 1874~ „Tenten, bitte richte den Tee im grünen Salon um punkt fünf Uhr an.“ „Jawohl, Sir.“ Ihr Ehegatte liebte es, wenn sie ihn mit diesem Namen ansprach und war daher friedfertiger gestimmt. „Und ich meine punkt fünf Uhr! Und keine Minute später, verstanden?“ „Jawohl, Sir.“ Manchmal kam sie sich mehr wie eine Dienerin vor, als seine Ehefrau. Doch sie wusste, sie hatte ihm zu gehorchen. Ansonsten konnte ihr Gatte ziemlich ausfallend werden. Und das war das Letzte, was sie wollte. Sie war stets bemüht sich nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu handeln. Er erinnerte sie auch stets daran, dass sie dankbar sein sollte, dass er sie geheiratet hatte. Schließlich gehörte sie nicht zu den Kreisen, in denen er sich sonst bewegte und er war in Verruf geraten, dass er eine ehemalige Artistin geheiratet hatte. Es wurde viel spekuliert, wie Tenten es geschafft hatte sich diesen wohlhabenden Mann zu angeln. Dabei wusste Tenten es selber nicht so genau. ~Present~ Kasumis Gähnen riss Tenten in die Gegenwart zurück. Schnell warf Tenten ihrem Schützling einen strafenden Blick zu. „Was?“, fragte diese nur scharf nach. „Diese Vorstellung ist langweilig! Es passiert ja gar nichts. Ach, wären wir doch eher im Park spazieren gegangen, dort hätte ich mich wenigstens unterhalten können.“ „Sie werden tun, was ich für angemessen halte. Wir können später immer noch in den Park gehen. Aber nun sein sie still. Es ist unhöflich während der Vorstellung zu reden.“ „Das ist für mich nicht von Bedeutung.“ „Das ist es sehr wohl! Für sie gelten dieselben Regeln.“ „Nein, gewiss nicht.“ Störrisch verschränkte die junge Frau die Arme vor der Brust. „Sie benehmen sie eher wie ein störrisches Kind, denn eine junge Dame. Daran werden wir arbeiten müssen!“ Daraufhin drehte Kasumi nur den Kopf weg, doch Tenten war es recht, solange sie endlich schwieg. Einige der anderen Besucher hatten sich schon zu ihnen umgedreht. Nun gab die momentane Schweigsamkeit Tenten die Möglichkeit wieder in ihre Vergangenheit abzudriften – zu dem Zeitpunkt, als sie ihren Gatten das erste Mal gesehen hatte. ~Past – London März 1873~ „Tenten, da ist ein Mann, der dich gerne sprechen möchte.“ „Ein Mann? War er in der Vorstellung?“ „Ja, er möchte mit dir reden – Gott weiß warum. Bitte achte auf deine Aussprache. Er scheint vermögend zu sein. Bitte blamiere uns nicht.“ „Natürlich nicht.“ Was wurde nur immer von ihr gedacht? Das sie keinerlei Anstand besaß? Dabei war sie sehr wohl in der Lage höflich zu sein und sich zivilisiert zu benehmen. Doch leider schien das niemand wahrzunehmen. Folgsam ging sie in den Eingang der „Music Hall“*1 und sah sich sogleich mit einem stattlichen Mann konfrontiert. Er war gut 1,85 m groß und wirkte kräftig. Dennoch war seine Kleidung eher gediegen und wirkte teuer. Beinahe augenblicklich fühlte Tenten sich eingeschüchtert. Doch sie straffte ihre Schultern und knickste vor dem fremden Mann. „Mylord.“ „Ah, du bist also in der Lage gutes Benehmen zu zeigen, sehr schön. Sag mir deinen Namen, Kind.“ „Tenten.“ Der fremde Mann zog eine Augenbraue hoch. „Ich missbillige derart kurze Antworten. Du wirst mir in vollständigen Sätzen antworten und mich mit Sir anreden, verstanden?“ „Jawohl, Sir.“ „Schön. Also Tenten, möchtest du gerne das Artistenleben beenden?“ „Bitte?“, fragte Tenten entsetzt nach, korrigierte sich aber schnell, als sie seinen Gesichtsausdruck sah: „Ähm, wie bitte, Sir?“ „Du lernst also schnell, das gefällt mir.“ Er strich mit einer Hand seinen Mantel glatt, der eigentlich keiner Glättung bedurfte. „Ich habe dir eine simple Frage gestellt, beantworte sie.“ Sie überlegte einen Moment, um nichts Falsches zu antworten. „Ich bin sehr dankbar für das Leben, was mir hier geboten wird.“ „Das beantwortet nicht meine Frage. Möchtest du für immer im Varité bleiben.“ „Nicht unbedingt, Sir“, antwortete sie vorsichtig. „Gut. Dann bist du sicherlich bereit an dir zu arbeiten.“ „Ich bin die Arbeit an mir und meinen Fähigkeiten gewohnt, Sir.“ „Ja, im Umgang mit Waffen. Aber von nun an wirst du andere Fertigkeiten erlernen. Du wirst lernen eine Lady zu sein und dich als solche zu benehmen.“ „Warum?“ Wieder erntete sie ein verärgertes Stirnrunzeln und sie korrigierte erneut: „Wieso sollte ich das tun, Sir?“ „Weil du von nun an Lady Cartwright sein wirst.“ „Aber wie soll das möglich sein, Sir?“ „Indem du meine Ehefrau wirst.“ ~Present~ Ihr Gatte hatte ihr nie erklärt, warum er sie geheiratet hatte. Tenten vermutete, dass es daran lag, dass sie einfach noch sehr jung gewesen war und damit leicht lenkbar. Zudem würde sie keine Nachfragen stellen, da sie mit den Regeln der Oberschicht nicht vertraut war und im Grunde nicht gewusst hatte, was sich schickte und was nicht. Des Weiteren war sie durch ihre Artistenlaufbahn sehr gelenkig gewesen. Und ihr Gatte hatte gewisse… Fähigkeiten erwartet. Jetzt, im Nachhinein schalt Tenten sich als Närrin, dass sie ihn je geheiratet hatte. Denn sie hatte ihn nicht gekannt. Sie war einfach auf seinen Vorschlag – oder vielmehr Forderung – eingegangen ohne zu wissen, welches Schicksal ihr blühte. Sie hatte sich einfach nach einem festen Zuhause gesehnt, welches ihr Gatte ihr bieten konnte. Und im Endeffekt verdankte Tenten ihre derzeitige Stellung ihm. Doch sie fühlte keine Dankbarkeit mehr ihm gegenüber. Den einzigen Gefallen, den er ihr je getan hatte, war es zu sterben. Das mochte grausam klingen, doch Tenten hätte es nicht mehr lange mit ihrem Ehemann ausgehalten und das aus vielerlei Gründen. ~Past – Barth Juni 1875~ „Sir, würden sie mich gerne in den Park begleiten?“ „Nein. Du weißt genau, dass die frische Luft mir nicht bekommt.“ „Aber Sir…“ „Schweig still!“, brauste ihr Ehegatte auf. „Ich habe genug davon, dass du mich ständig störst. Du wirst in dein Zimmer gehen und ich möchte dich in den nächsten zwei Wochen nicht sehen.“ „Aber Sir…“ „KEINE WIEDERWORTE!“ Nun schrie er und Tenten zuckte zusammen. Wann war aus ihr eine solch verängstigte Frau geworden? „Und nun gehe in dein Zimmer und komme nicht mehr heraus, es sei denn es wird dir befohlen!“ ~Past – Barth September 1875~ „Wohin gehen sie, Sir?“ „Weg.“ „Kann ich sie begleiten?“ „Nein.“ „Aber warum denn nicht, Sir?“ „Stell mir keine Fragen! Du beginnst mir auf die Nerven zu fallen! Ich werde nun eine Frau besuchen und du wirst hier warten.“ „Ich würde sie gerne bei ihrem Besuch begleiten.“ „Das glaube ich nicht, denn ich werde mit ihr tun, was ich mit dir nicht kann.“ „Wie bitte, Sir?“ „Du hast mich schon verstanden. Und ich bin mir sicher, dass du mir nicht zusehen möchtest, wie ich mein Vergnügen finde nicht wahr?“ So langsam begann Tenten zu verstehen. Gedemütigt senkte sie den Kopf. „Erwarte mich nicht vor morgen früh.“ Und schon war er zur Tür hinaus. ~Present~ Erst nach seinem Tod hatte Tenten herausgefunden, dass ihr Gatte sie angelogen hatte. Er war zu keinen Frauen gegangen, denn er fand ausschließlich bei jungen Männern sein Vergnügen. Doch das war nicht weniger demütigend. Es war sogar noch beschämender. Doch es war wohl ein weiterer Grund, warum er sich sie als Frau ausgesucht hatte. Jeder würde denken – und dachte eigentlich noch immer – das ihr Mann sie – eine junge, gelenkige Frau – vor allen Dingen für das Ehebett ausgesucht hatte. Es war die perfekte Täuschung, denn in Wahrheit hatte Tenten noch nie bei einem Mann gelegen. Und sie war auch nicht darauf aus dies jemals zu tun. Einst hätte sie es sich noch vorstellen können es zu tun. Doch das war lange her… ~Past – London Oktober 1868~ „Warum – warum – warum?!“ Bei jedem ‚warum‘ warf Tenten ein Messer in Richtung Zielscheibe. „Warum nur will niemand mit mir trainieren?!“ Frustriert wie sie war warf Tenten noch ein Messer mit voller Kraft auf die Scheibe. „Vielleicht bist du nicht gut genug.“ Ruckartig schwang Tenten herum und sah einen jungen Mann an der Tür stehen. Sie konnte ihn nicht ganz erkennen, weil er im Dunklen stand. „Wer bist du? Und wie kommst du hier herein?“ „Beides ist nicht von Bedeutung.“ „Oh, und was ist dann von Bedeutung?“, fragte sie schnippisch nach. „Das du nun einen Trainingspartner gefunden hast.“ Misstrauisch kniff sie ihre Augenbrauen zusammen. „Wen?“ „Mich.“ „Warum?“ „Das scheint dein Lieblingswort zu sein. Ich denke einfach, wir würden uns gut ergänzen.“ „Inwiefern?“ „Wir können beide miteinander trainieren.“ „Bist du auch ein Artist?“, fragte Tenten verdattert nach. Der junge Mann lachte trocken. „Nein. Aber ich übe mich in der Meditation.“ „Medi- was? Ist das eine neue Kunstfertigkeit? „So in der Art. Es ist eine Fertigkeit des Geistes.“ „Des Geistes? Und wie soll mir das weiterhelfen?“ „Ganz einfach. Während ich meditiere, darfst du deine Messer auf mich werfen.“ „Aber ich brauche einen stillen Gegenpart, der sich nicht bewegt.“ „Ich werde mich nicht bewegen. Das ist der Sinn der Meditation. Ich werde meinen Geist und nicht meinen Körper trainieren.“ „Und wozu brauchst du dann mich?“ „Eigentlich brauchst du eher mich“, wurde in leicht spöttischen Tonfall geäußert. „Aber um meine Kraft der Meditation zu schärfen schadet es nicht, wenn ich zeitgleich mit einer Situation konfrontiert werde, wo Messer auf mich geworfen werden.“ „Das verstehe ich nicht“, gab Tenten zu. „Das brauchst du auch nicht. Es reicht, wenn ich es verstehe.“ „Du bist ziemlich eingebildet!“, warf Tenten ihm vor. Darauf antwortete er ersteinmal nichts. Als sich das Schweigen ausdehnte, wurde Tenten etwas unwohl zumute. Hatte sie ihn nun verärgert? Vielleicht war er ihre einzige Möglichkeit einen Partner zu finden. Und sie verschreckte ihn. Sie beeilte sich etwas zu sagen: „Aber das macht mir nichts aus, solange du bereit bist mit mir zu trainieren.“ „Das bin ich.“ Erleichtert atmete Tenten aus. „Nun, dann komm einen Schritt ins Licht, damit ich dich besser sehen kann.“ ~Present~ Und er war ins Licht getreten. Sie erinnerte sich noch genau an diesen Moment, wo sie ihn das erste Mal vollständig erblickt hatte. Er war einfach ein Prachtbild von einem Mann gewesen. Langes, gepflegtes, braunes Haar, welches zu einem Zopf zusammengebunden war. Ein spitz zulaufendes Gesicht, welches Augen von einer Farbe und Tiefe besaßen, wie Tenten es bis dahin – und auch bis zu diesem Zeitpunkt – nicht gesehen hatte. Sein Körper war muskulös, obwohl er zunächst behauptet hatte lediglich seinen Geist trainieren zu wollen. Sein Körper hatte verraten, dass er beides trainierte. Sie hatte immer noch ein genaues Abbild von ihm im Kopf, welches einfach nicht verschwinden wollte, auch wenn sie es versuchte. Sie hatte die schönste Zeit ihres Lebens mit ihm verbracht. Und es war schmerzlich an diese Zeit zurückzudenken und zu wissen, dass sie für immer vorbei war. ~Past – London Januar 1870~ „Ach komm schon, Neji! Lassen wir es für heute gut sein. Ich kann nicht mehr!“ „Die Nummer ist noch nicht perfekt.“ „Warum muss denn immer alles perfekt sein?“ „Weil es dann am besten ist und es keine Fehler mehr gibt.“ „Sind Fehler denn so schlecht?“ „Natürlich sind sie das, Tenten. Ein Fehler von dir und du hast mich aufgespießt.“ Tenten grinste. „Schon, aber das habe ich noch nie getan. Und das wäre ein großer Fehler. Aber ganz kleine Fehler sind doch erlaubt.“ „Nein.“ „Aber die Welt ist doch auch nicht perfekt. Warum sollten es dann wir sein?“ Tenten liebte es mit Neji zu diskutieren und ihn herauszufordern. Er war ziemlich intelligent, weswegen es eine Herausforderung war ihn in einer Diskussion zu schlagen. Und Tenten liebte Herausforderungen. Neji seufzte nur. „Willst du dich wirklich jetzt auf so eine grundsätzliche Diskussion einlassen? Wir sollten lieber trainieren. Du bist zu langsam.“ Nun schmollte Tenten. „Bin ich nicht! Niemand ist im Messerwurf so schnell wie ich.“ „Aber wenn du nicht trainierst, werden dich die anderen einholen.“ „Ich habe aber schon trainiert.“ Nun wurde Tenten trotzig. „Nicht genug!“, war Nejis strenger Kommentar. Er war immer streng zu ihr. Wobei sich sein Verhalten in dem Jahr, wo sie sich kannten, schon geändert hatte. Am Anfang hatte er fast gar nicht mit ihr gesprochen. Außer ein paar einsilbigen Antworten war nichts von ihm gekommen. Das hatte sich aber glücklicherweise geändert. Dennoch konnte er – wenn er wollte – zu dem ‚alten‘ Neji zurückkehren. So wie in diesem Moment, wo er sich weigerte weiter zu diskutieren und die Lage einfach ausschwieg, bis Tenten schließlich nachgab. Das tat sie eigentlich immer und sie fragte sich, wann sie einmal ein Duell gewinnen konnte. ~Present~ Sie hatte in einer Diskussion nie eine wirkliche Chance gegen Neji gehabt. Er hatte immer noch ein Ass im Ärmel gehabt und schien ihr ständig einen Schritt voraus zu sein. Doch das hatte ihr nicht wirklich etwas ausgemacht, denn seine Perfektion hatte sie noch mehr angespornt.Manchmal war sie aber auch etwas über das Ziel hinausgeschossen. Neji hatte sie dann jedoch immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. ~Past – London November 1871~ „Nein Tenten, das wirst du nicht tun. Du bist noch nicht bereit dafür.“ „Doch, bin ich wohl!“ „Nein. Und ich werde nicht dafür herhalten. Ich bin doch nicht lebensmüde.“ „Komm schon – ich dachte du vertraust mir.“ „Das tue ich auch, aber nur ohne Augenbinde.“ „Ich weiß, dass ich es schaffe.“ „Und was ist, wenn nicht?“ „Dann kannst du immer noch ausweichen.“ „Das ist aber nicht Sinn und Zweck der Sache.“ „Lass es uns doch wenigstens probieren!“ Neji seufzte. „Wie wäre es mit einem Kompromiss?“ „Ich will aber…“ „Nun höre mir erst einmal zu. Du wirst zunächst nur eines deiner Augen bedecken und dann werfen. Das ist zunächst einmal schwierig genug. Wenn du diesen Schritt fehlerfrei schaffst, übst du mit dem anderen Auge. Und wenn du wiederrum dieses Ziel geschafft hast, dann darfst du komplett blind deine Messer in meine Richtung werfen – in Ordnung?“ Tenten grinste ihn an. „In Ordnung. Das ist eine gute Idee. Lass und sofort damit anfangen!“ ~Present~ Sie hatten einander wirklich gut getan. Mit der Zeit waren ihre Gefühle jedoch über die Freundschaftlichen hinausgegangen. Sie hatte begonnen für ihn zu schwärmen. Doch Neji schien diese Schwärmerei nie wahrzunehmen, oder er ignorierte sie. Tenten tendierte zum Zweiten. Immer wieder hatte sie versucht mit dezenten Hinweisen darauf hinzudeuten, doch nie war er darauf eingegangen. Erst als sie etwas gehört hatte, was sie zutiefst erschüttert hatte, hatte sie die Initiative ergriffen. ~Past – London Januar 1873~ „Was ist heute los mit dir, Neji? Sonst bist du nie unkonzentriert!“ „Ich bin nicht unkonzentriert!“ „Doch, heute schon. Also, was ist los?“ „Es ist gar nichts. Außerdem betrifft es nur mich, das hat mit dir nichts zu tun.“ Sie fühlte sich verletzt und äußerte das sofort: „Ich dachte wir wären Freunde. Und als solche sagt man dem anderen eigentlich was einen bedrückt.“ „Es ist aber nicht wichtig!“ Er wurde lauter. Normalerweise erhob Neji nie seine Stimme, egal wie hitzig sie mit ihm diskutierte. „Anscheinend aber doch, wenn es dich so bedrückt. Wieso willst du es mir nicht sagen?“ Neji schwieg, also griff Tenten zu einer anderen Waffe. „Wir sind Partner, Neji. Wir müssen uns aufeinander verlassen können. Und ich dachte das könnten wir auch. Aber wenn du etwas zurückhältst, was dich belastet, dann wirkt sich das auch auf unsere Arbeit aus.“ „Es macht keinen Unterschied, ob ich es dir erzähle oder nicht. Das macht mein Problem nicht geringer.“ „Aber vielleicht kann ich dir helfen.“ „Mir kann niemand helfen.“ „Komm schon, Neji! Stell dich nicht so an!“ Wieder Stille. Tenten wollte es nun eigentlich aufgeben, bis es auf einmal aus ihm herausbrach: „Ich soll meine Cousine heiraten! Bist du nun zufrieden?“ Nun war es Tenten, die entsetzt schwieg. Damit hatte sie nicht gerechnet. Die Welt stürzte für sie ein. Jene Welt, in der sie sich schon ausgemalt hatte, wie Neji um ihre Hand anhalten würde und sie in ein kleines, bescheidenes Heim ziehen würden. „Aber… aber…das ist… ist…du…“ „Ich habe dich noch nie so um Worte ringen hören, Tenten“, sagte Neji spöttisch. „Wie kannst du darüber spotten?“ „Galgenhumor“, antwortete Neji trocken. „Aber du bist ein Mann! Du darfst dir deine Frau frei wählen!“ „Ich welcher Welt lebst du, Tenten? Auch ein Mann nicht immer frei wählen, wenn er von der Familie gezwungen wird.“ Tenten schwieg betroffen. Sie wollte es einfach nicht glauben. Sie wusste nichts über Nejis Familie, er hatte nie darüber gesprochen. Und sie hatte nicht nachgefragt, weil sie meistens ihn entscheiden ließ, was er ihr mitteilen wollte und was nicht. Doch nun hätte sie gerne gewusst, was das für eine Familie war, die ihn dazu zwang seine Cousine zu heiraten. Es konnte auf keinen Fall eine herzliche Familie sein, denn diese hätte seine Wahl berücksichtigt und ihm nicht vorgegeben, wen er zu heiraten hatte. Und dann noch seine Cousine. Sie wusste, dass dieses des Öfteren vorkam, doch nun selber damit konfrontiert zu werden hatte etwas Schockierendes. Und dann noch Neji – das durfte nicht sein. „Nein! Das geht nicht!“ „Ach, und warum sollte es nicht gehen, Tenten? Zwangsheiraten sind doch nichts Ungewöhnliches.“ „Das weiß ich, aber warum ausgerechnet du?“ „Ich scheine nichts Besonderes zu sein“, antwortete er mit grimmigem Gesichtsausdruck. „Doch, das bist du! Für mich bist du das!“ „Es ist nett von dir das zu sagen, Tenten. Aber es ist nicht notwendig.“ „Natürlich ist es das, weil es die Wahrheit ist.“ Neji sah sie misstrauisch an. Sein ganzer Blick drückte aus, dass er ihr nicht glaubte. Und das äußerte er auch nun: „Du brauchst mir keinen Honig um den Mund schmieren, Tenten. Anscheinend war ich zu selbstbewusst und arrogant. Ich bin nicht so wichtig wie gedacht. Ich bin nur eine Puppe, die…“ Und in diesem Moment küsste Tenten ihn. Zwar nicht auf den Mund – so viel hatte sie sich doch nicht zugetraut – aber auf die Wange. Doch für Neji war die Auswirkung dennoch enorm. Er verstummte abrupt, die Augen weit aufgerissen. Der Kuss ist ein liebenswerter Trick der Natur, ein Gespräch zu unterbrechen, wenn Worte überflüssig werden.*2 ~Present~ Tenten dachte mit einem weinenden und einem lächelnden Auge an diesen Moment zurück. Lächelnd, weil sie Neji zuvor noch nie so fassungslos gesehen hatte. Weinend, weil sie ihn danach nie wieder gesehen hatte. Ob es an dem Kuss gelegen hatte wusste sie nicht. Sicher war nur, dass er am nächsten Tag nicht mehr aufgetaucht war. Und auch die Tage danach war er nicht erschienen, was Tenten beinahe in den Abgrund getrieben hatte. Sie hatte sich selbst verflucht. Einerseits weil sie so leichtsinnig gewesen war ihn zu küssen, andererseits weil sie ihn nie gefragt hatte wo er lebte. Sie hatte ihn einfach nie zu etwas drängen wollen. Doch hätte sie es getan, hätte sie zu ihm gehen können und ihn zur Rede stellen können. Hätte es nur die winzigste Möglichkeit gegeben es herauszufinden, hätte sie diese sofort genutzt. Doch sie wusste ja noch nicht einmal seinen Nachnamen. Und niemand in ihrer Umgebung hatte ihn gekannt und hätte ihr sagen können, wo er zu finden war. Also war sie eine Zeitlang in ihrer Verzweiflung ertrunken. Ihre Vorstellungen wurden schlechter. Einerseits weil sie sich schlecht fühlte, andererseits weil sie nun keinen Partner mehr hatte, der ihr assistierte. Sie hatte auf jemanden anderen ausweichen müssen, der jedoch nie Nejis Rolle hatte einnehmen können. Neji hatte ihre Übungen immer stoisch ertragen und war nie zusammengezuckt, wenn ein Messer direkt neben seinem Kopf an die Wand eingeschlagen war. Ihr neuer Assistent – sie hatte ihn nie Partner nennen können – hatte jedoch eindeutig Angst gehabt, was der Nummer nicht gerade gut tat. Zu ihrer Verzweiflung kamen damit noch die Ängste hinzu ausgetauscht zu werden, denn sie konnte ganz eindeutig nicht mehr ihre Leistungen von zuvor erbringen. Von daher war das Eheangebot was sie erhalten hatte ihr als idealer Ausweg vorgekommen. Sie wusste nicht, ob sie das Angebot je angenommen hätte, wäre Neji noch da gewesen. Wahrscheinlich nicht. Aber sie konnte Neji nicht für ihren Fehler verantwortlich machen. Sie hatte ihre eigene Entscheidung getroffen. Auf schmerzliche Art und Weise hatte sie dann feststellen müssen, dass diese Entscheidung ein Fehler gewesen war. Und am besten dachte sie auch gar nicht daran zurück. Ihr war auch nicht klar, warum sie gerade in diesem Moment in ihre Vergangenheit zurückgekehrt war. Vielleicht lag es an der Varietévorstellung die ihre Sehnsüchte hervorgerufen hatte. Doch nun wo die Vorstellung zu Ende war, wollte sie auch ihren Gedanken an die Vergangenheit zu Ende bringen. Es brachte ihr schließlich nichts daran zurückzudenken, denn sie würde nichts ändern können. Alles was sie tun konnte war nach vorne zu gucken und ihre Fehler nicht zu wiederholen. Mit diesem positiven Gedanken erhob sie sich von ihrem Platz und zog Kasumi mit sich. Das war ihre Zukunft - die Arbeit als Chaperone. Nur darauf und auf nichts anderes sollte sie sich nun konzentrieren. Dieser Gedankengang war durchaus vorbildlich, wurde jedoch in dem Moment verdrängt, als sich plötzlich eine Person in ihr Gesichtsfeld schob. Tenten stockte mitten in der Bewegung. Und wieder rasten ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück, denn sie kannte diese Person: langes, gepflegtes, braunes Haar, welches zu einem Zopf zusammengebunden war; ein spitz zulaufendes Gesicht; Augen von unglaublicher Farbe und Tiefe und ein muskulöser Körper – Neji. ~*~*~*~*~ *1 Im britischen Sprachgebrauch spricht man nicht von Varieté, sondern von einer Music Hall. Da der Begriff aber die Vorgabe war, habe ich wenn es geht den anderen begriff verwendet. *2 Zitat von Ingrid Bergman So ihr Lieben hier ist Ende. Wer darüber frustriert ist, den kann ich beruhigen. Es wird einen zweiten Teil in diesem Kalender geben. Dieser Teil wird dann vorrangig in der Gegenwart spielen, aber auch wieder Teile aus der Vergangenheit enthalten. Dieses Mal aber eher aus Nejis Sicht berichtet. Ich hoffe doch, ihr seid gespannt darauf, weil euch schon dieser Teil gefallen hat ;) Also – man liest sich hoffentlich wieder am 15. Dezember. LG Arashi Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)