Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Prolog: Tornado --------------- Unbändige Zerstörungswut treibt ihn an. Und der Zorn auf die Welt, aus der er kommt. Ungewollt wurde er geboren und ohne Wissen von einem friedlichen Heim. Ziellos irrt er umher, bleibt nie lang an einem Ort, sucht und sucht und sucht und findet niemals, ist rastlos und einsam, so stark auf seinem unaufhaltsamen Weg, der gepflastert ist mit Vernichtung. Und dabei so zerbrechlich. Er wirbelt durch Zeit und Raum und weiß nicht, wohin er gehört und das Unwissen macht ihn wütend, wütender noch als er selbst weiß, zornig auf diejenigen, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist. Nichts kann er berühren, ohne es in Stücke zu zerlegen, was immer er will, zerfällt in tausend Teile, er ist nur Hass und Wut und Zerstörung und kennt Frieden nicht und auch keine Heimat und keinen Halt und keine Pause. Er ruht niemals, er ist verzweifelt auf der Suche nach etwas, das er nicht kennt, nach etwas, das er nicht erkennen kann, selbst wenn er es findet, weil es ihm niemals beigebracht wurde. Er will lernen und nicht mehr zerstören, aber seine Natur sitzt so tief und sie tobt unaufhaltsam, reißt ihn mit sich, auch wenn er nicht will. Er will einen Ort zum Bleiben, er will Stille und Frieden und ein Heim. Stattdessen zerrt er alles mit sich in seiner blinden Wut auf das, was niemand mehr ändern kann. Er sieht die Dinge aus der Ferne und fühlt sich zu ihnen hingezogen, doch sobald er nachgibt und dem Drang folgt, sobald er sich nähert und die Dinge in der Ferne berührt, zerbricht die Welt unter seinen stürmischen Fingern und seiner aufbrausenden Natur und dem Hass, der in ihm wohnt und den er nicht loslassen kann. Der Hass lebt dort in ihm, ganz tief unten und in der Dunkelheit, der Hass kennt das Licht nicht und er will nicht gehen, er gehört zu ihm und wenn er geht, dann wäre es leer. So leer. Er weiß nichts vom Auge des Sturms, in dem es still ist und friedlich. Er sucht jemanden, der nicht zurückweicht und nicht zerbricht unter all der Wut, er sucht denjenigen, der seine zerstörerische Hülle überwindet und sich niederlässt in seinem Mittelpunkt, den er selbst nicht kennt. Er weiß nicht, was er braucht. Er kennt sich selber nicht. Alles, was er weiß, ist, dass er niemals stehen bleiben kann, sonst bricht er auseinander und verliert alles, was er bisher gekannt hat. Er hat Angst vor der Welt, die ihn nicht will und die er nicht kennt. Und am allermeisten hat er Angst vor sich selbst. Kapitel 1: Das neue Heim ------------------------ Es hat tausend lang gedauert, ich weiß. Und es tut mir echt Leid, dass ihr auf das Kapitel so lange warten musstet. Aber die Uni lässt mir nicht wirklich viel Platz fürs Schreiben. Ich weiß auch noch nicht, wann ich Zeit haben werde, das nächste Kapitel zu schreiben, da ich in den nächsten Wochen anfange Schwedisch zu lernen und eine Hausarbeit zu schreiben. Ich hoffe, dass euch das Einstiegskapitel gefällt und bedanke mich an dieser Stelle noch mal für die zahlreichen Kommentare zum Prolog! Viel Freude beim Lesen, ________________________________ Die Tür mit dem kleinen Buntglasfenster scheint mich anzustarren und mit mir zu reden. Sie sagt, dass ich nicht hierher gehöre, dass ich wieder umdrehen und irgendwo anders hingehen soll. Aber es gibt nichts anderes für mich. Ich höre Christians Auto unten an der Straße. Wahrscheinlich wartet er darauf, dass ich klingele und eintrete. Das hier sind sein Haus und seine Familie. Das ist sein Leben. Und ich bin kurz davor hinein zu marschieren. Wie er das wohl findet? Wahrscheinlich nicht besonders gut, wenn man bedenkt, dass er mich nicht leiden kann. Aber gut, ich nehme es ihm nicht übel. Ich kann mich auch nicht besonders gut leiden. Obwohl ich sagen muss, dass es sehr viel besser geworden ist, seit ich mit Anjo befreundet bin. Bei dem Gedanken an Anjo werde ich automatisch ruhiger und ich stelle mir vor, wie er neben mir steht und mich aufmunternd ansieht, damit ich den Mut aufbringe, auf die Klingel zu drücken. Also hebe ich die Hand und drücke auf den kleinen, weißen Knopf. Sofort setzt Hundebellen ein und ich höre, wie Christians Auto davon fährt. Jana hat nicht viel von Franzi erzählt. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass ich mich schlecht fühle, weil sie eine andere Familie gefunden hat. Ich weiß also praktisch nichts über dieses Haus und die Menschen, die darin wohnen. Nur, dass sie Christians Familie sind. Und Janas. Mein Magen krampft sich zusammen, als sich die Tür öffnet und Christians kleine Schwester erscheint. Janas beste Freundin. Franziska. Sie lächelt und geht einen Schritt zur Seite, damit ich eintreten kann. Ich stopfe meine Hände in die Hosentaschen und bleibe etwas verloren im Flur stehen. »Hallo«, sagt Franziska und mustert mich. Sie hat dieselben Augen wie ihr großer Bruder. »Hi«, gebe ich nervös zurück. Wie scheiße es wäre, wenn Janas beste Freundin mich nicht leiden kann. »Du kannst deine Jacke da an die Garderobe hängen«, sagt Franziska und zeigt auf ein paar säuberlich angebrachte Haken an der Wand. Der Eingangsbereich ist groß und hell gefliest, die Möbel sind schlicht und weiter hinten sehe ich eine breite Holztreppe ins obere Stockwerk führen. Es riecht nach Heizungsluft, Zimt und ein bisschen nach Hund. Ich schäle mich aus meiner Jacke und hänge sie an einen der freien Garderobenhaken. Wenn ich bedenke, dass Jana und ich unsere Jacken immer einfach ins Zimmer geworfen haben… ich sollte wahrscheinlich nicht vergleichen. Das hier ist eine ganz andere Welt. Mit Buntglasfenster in der Tür, Hunden und einer Garderobe. Besagte Hunde kommen in diesem Moment durch eine offen stehende Tür rechts von der Treppe. Alle drei sind ziemlich groß und ich frage mich, ob sie sich auf mich stürzen und fressen wollen… aber stattdessen umringen sie mich nur neugierig und schnuppern an meiner ausgeblichenen Jeans. Franziska lächelt etwas breiter. »Das sind Mogli, Renja und Sam«, erklärt sie, zeigt nacheinander auf den Labradormischling, den Golden Retriever und den Husky und krault Renja hinter den Ohren. Ich strecke die Hand nach Sam aus und er bellt begeistert, als ich ihn streichele. Sein Fell ist ausgesprochen flauschig. »Sind wohl keine Wachhunde, was?«, gebe ich trocken zurück und Franziska lacht leise. »Nicht wirklich. Die Rassen eigenen sich aber auch wirklich nicht als Wachhunde. Aber da sie immer bellen, wenn jemand das Haus betritt, und aufs Wort hören, könnten sie sicherlich auch einen Einbrecher vertreiben«, erklärt sie ruhig. Während sie die Hunde streichelt, habe ich kurz die Gelegenheit, sie zu mustern, ohne sie blöd anzustarren. Sie ist etwa genauso groß wie Jana, ihre braunen Haare sind dünn und kinnlang und werden von einem Haarreifen zurückgehalten. Sie trägt einen riesigen Kapuzenpullover, der sicher irgendwann mal Christian gehört hat und eine Pyjamahose mit Katzenmuster. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie die auch schon gestern Nacht an, als wir hier aufgetaucht sind. Franziska strahlt unheimlich viel Ruhe und Freundlichkeit aus. Das erinnert mich an Anjo. Der hat auch dieses weltfreundliche Lächeln, das sich auf ihren Lippen abzeichnet. »Jana ist bei uns im Wohnzimmer, wir gucken Harry Potter«, erklärt sie und richtet sich auf. »Du kannst dich mit dazu setzen, wenn du willst. Wir können dir das Haus später zeigen.« Mein Herz sinkt mir irgendwo in die Gegend meiner Knie und ich nicke etwas benommen. Hastig ziehe ich meine Schuhe aus und folge Franziska zu der Tür, durch die die Hunde gekommen sind. Das Wohnzimmer ist riesig. Der Boden ist mit hellem Parkett ausgelegt, überall liegen verschiedenfarbige, flauschige Teppiche. Eine breite Fensterfront führt hinaus auf eine Terrasse und dann in den Garten. Jetzt sind allerdings die Vorhänge zugezogen und meine Augen haben nicht wirklich Zeit, alles zu begutachten, weil sie unweigerlich von dem Bild angezogen werden, das sich auf dem Sofa abspielt. Christians andere Geschwister hocken halb nebeneinander und halb aufeinander auf einem Zweiersofa und verprügeln sich energisch mit ein paar dunkelroten Kissen. Franziskas Platz ist offensichtlich neben Jana auf der längeren Couch unter einer gemütlichen, braunen Wolldecke. In einem sehr knautschigen Sessel sitzt Christians Oma und strickt an einem Schal. Seine Eltern sitzen am anderen Ende des Sofas, auf dem auch Jana hockt und mich anstrahlt. So ein Strahlen bin ich wirklich nicht von ihr gewöhnt und ich habe unweigerlich das lächerliche Bedürfnis auf die Knie zu gehen und der mir fremden Familie für diesen Gesichtsausdruck zu danken. »Ah, Benjamin«, sagt Frau Sandvoss und lächelt mir zu. Meinen Namen auf diese Art und Weise zu hören, ist komisch. »Setz dich doch, hier ist noch Platz.« Sie klopft zwischen sich und Jana aufs Sofa und Franziska manövriert mich mit sanfter Gewalt an dem hölzernen Couchtisch und ihren zankenden Geschwistern vorbei hinüber zum Sofa. Jana steht auf und umarmt mich. Ich sollte irgendwas sagen. Irgendwas… aber mir fällt nichts ein. Ein ›Danke‹ reicht nicht aus. Es fühlt sich geradezu lächerlich an, ›Danke‹ sagen zu wollen. »Willst du eine Tasse Tee, mein Junge?«, fragt die Oma und sieht über ihre Strickarbeit zu mir hinüber. Ich starre sie an. Ich hab meine Großeltern nie kennen gelernt. »Ähm… Ja?«, sage ich unsicher. Ich will wirklich keine Umstände machen. Jana und Franzi sitzen jetzt wieder gemeinsam unter der Decke und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie eng sie beieinander hocken. Es sieht – genau wie gestern – aus, als wollten sie ineinander kriechen. Es ist mir ein Rätsel, wie Franziska das angestellt hat. »Du kannst mich Margarete nennen«, informiert die Oma mich mit einem mütterlichen Lächeln, während sie ihr Strickzeug beiseitelegt und aufsteht, um mir einen Tee zu organisieren. Ich starre sie an. »Früchtetee? Oder Kamille? Wir haben auch Pfefferminz.« Ich zucke etwas verloren mit den Schultern. »Pfefferminz klingt in Ordnung«, sage ich. Ich trinke sonst nie Tee. Und demnach hab ich auch keine Ahnung, welchen Tee ich mag. Der, den Anjo gestern Nacht mitgebracht hat, war lecker. Ich hab allerdings keine Ahnung, was es für eine Sorte gewesen ist. »Sollen wir Benjamin sagen? Oder ist Benni besser?«, fragt Franziskas Mutter. »Benni«, antworte ich automatisch. Es ist womöglich ein dummer Gedanke, aber den Namen, den meine Eltern mir gegeben haben, will ich nicht. Ich konnte ihn noch nie leiden. »Fein. Benni«, sagt Frau Sandvoss lächelnd. »Brigitte. Und Johannes«, fügt sie hinzu und deutet auf sich und ihren Mann. Ich nicke und fahre mir verlegen durch die Haare. Dann segelt ein Kissen gegen meinen Brustkorb und ein lauter Fluch folgt ihm. »Tim, du Arsch!« Ich betrachte das Kissen und sehe hinüber zu dem raufenden Paar auf dem anderen Sofa. »Wir versuchen hier einen Film zu sehen«, erklärt Herr San–… Johannes mit einem verschmitzten Schmunzeln. Ich hab von dem Film noch nichts mitbekommen. Es gibt so viel zu sehen und ich fühle mich, als stünde ich unter Strom. »Aber Tim ist ein Arsch!« »Eileen ist eine verwöhnte Zicke«, gibt Tim zurück und erntet einen Schlag mit dem Kissen, das Eileen in der Hand hält. »Kommt es noch jemandem so vor, als wäre die Jüngste hier im Raum die erwachsenste von euch?«, erkundigt sich Brigitte amüsiert. Franziska presst die Lippen aufeinander und sieht aus, als würde sie versuchen, nicht zu lachen. »Möchtest du Zucker?« Ich werde aus meinen Beobachtungen gerissen und eine grüne Tasse mit dampfendem Tee wird mir gereicht. »Ja, bitte«, sage ich und es werden zwei Löffel Zucker in die Tasse getan. Dann setzt sich – ich kann es nicht fassen, dass ich sofort von allen das ›Du‹ angeboten bekommen haben – Margarete wieder in ihren Sessel. Nach diesem nett gemeinten Rüffel an Tim und Eileen wird es ruhiger im Wohnzimmer, sodass ich tatsächlich den Ton des Films hören kann. Aber es gibt zu viel zu sehen, als dass ich wirklich darauf achten könnte, was auf der Mattscheibe läuft. Die ganze hintere Wand des Raumes wird von einem Bücherregal verdeckt und eine kleine, hölzerne Leiter kann daran hin und her geschoben werden, um auch an die obersten Reihen heranzukommen. Von hier aus kann ich die Titel nicht erkennen. Die Hunde haben sich nahe der Heizung auf einem der Teppiche zusammen gekuschelt und sehen zufrieden und dösig aus. Genauso wie Jana und Franzi, die sich bei der Hand halten und zwischendurch angesichts der Handlung des Films lächeln oder kichern. Tim sieht aus wie eine etwas jüngere Ausgabe von Christian. Aber er ist schmaler und kleiner, hat kürzere Haare und ein schalkhaftes und albernes Funkeln in den Augen, das seinem großen Bruder fehlt. Auch Eileen und Franziska sehen sich ähnlich, aber man erkennt auf den ersten Blick, dass sie wohl sehr unterschiedlich sein müssen. Eileen trägt ein sehr kurzes Strickkleid und eine gemusterte Strumpfhose. Ihre Augenbrauen sind akkurat gezupft und ihre langen Haare wurden sofort nach der Kissenschlacht wieder in Ordnung gebracht. Johannes ist groß und dünn, trägt eine Lesebrille und ein Holzfällerhemd. Seine Frau erscheint winzig neben ihm, sie hat Lachfalten um den Mund und die Augen und die beiden sehen so unheimlich nach glücklicher Ehe aus, dass ich nicht allzu lange hinschauen kann. Also mustere ich stattdessen das älteste Mitglied des Haushaltes. Margarete hat viele Falten im Gesicht, eine zerzauste Dauerwelle und knorrige, aber ziemliche flinke Hände, die ununterbrochen an dem dunkelblauen Schal stricken, der bereits bis zu ihren Knien reicht. Es ist merkwürdig. Alles. Es ist, als wäre ich nicht da. Oder so, als würde ich dazu gehören und niemanden stören. Es gab keine großartige Einleitungsrede über irgendwelche Zustände, darüber, wie man diese Übergangslösung am schnellsten wieder beenden könnte, darüber, dass ich von jetzt ab hier wohne und diese Familie das alles tut, einfach weil sie nett ist und weil sie helfen will. Es ist ein absurder Gedanke, aber vielleicht war mir seit Anjo irgendwie klar, dass es noch mehr Menschen von dieser Sorte auf der Welt geben muss. Menschen, die gerne helfen und nichts zurück verlangen. Ich bin so falsch in dieser Familienwelt, dass ich überdeutliche jede meiner Bewegungen spüre und sei es nur ein Schlucken. Als würden sie mich beobachten. Aber das tun sie nicht. Wir schauen einen Harry Potter Film und ich sitze mitten drin und niemand benimmt sich, als wäre das irgendwie komisch. Niemand, außer mir selbst. Ich betrachte das Klavier und versuche zu raten, wer aus der Familie spielen kann. Ich beschließe, Jana später zu fragen, wieso sie mir nicht mehr von diesen Leuten erzählt hat, auch wenn ich die Antwort eigentlich weiß. Ob sie bei Franzi im Zimmer wohnt? Wie viele Zimmer dieses riesige Haus überhaupt hat? Der Geruch nach Zimt ist hier im Wohnzimmer noch stärker als im Flur. Es riecht immer noch nach Hund, aber auch nach Tee und ich greife nach der Tasse auf dem Couchtisch und rühre möglichst umsichtig darin herum. Dann nehme ich einen Schluck und verbrenne mir die Zungenspitze. Auf der Mattscheibe tragen zwei alte Leute eine Statue in einen Raum und legen sie auf ein Bett. Ich hab Harry Potter nie gelesen. Ich hatte generell nie wirklich die Ruhe, um irgendwas zu lesen. Was die ›echte‹ Welt angeht, bin ich eine riesige Niete. Ich hab keine Ahnung von aktueller Musik, von Kinofilmen oder Büchern. Alles an Geld, was wir überhaupt je in die Finger bekommen haben, ging für zwei billige Handys drauf, für Klamotten, wenn sie gebraucht wurden und für Essen. In meinem Fall auch öfter mal für Alkohol. Und in Janas Fall für ihre Klarinette, die sie unserer alten Nachbarin für wenig Geld abkaufen durfte, weil die aufgrund von Arthritis nicht mehr spielen konnte. Eine schwarzweiße Katze kommt in den Raum gestrichen und sieht sich suchend um. Wie viele Tiere gibt es in diesem Haus? Ich versuche mich noch einmal an meinem Tee und diesmal bin ich so umsichtig, ein bisschen zu pusten, bevor ich mir noch irgendwas verbrenne. Die Katze kommt zu uns herüber geschlichen und springt mit einem eleganten Satz aufs Sofa. Jetzt sitzt sie direkt neben mir und starrt mich an, als würde sie von mir wissen wollen, wer ich bin und was ich in ihrem Wohnzimmer mache. »Soll ich ihn da weg nehmen?«, fragt Franziska mich. Es wird mir bewusst, dass ich das Tier zurück anstarre. Also ist es ein Kater. »Nein. Schon ok. Er sieht aus, als würde ich ihm seinen Platz wegnehmen«, murmele ich. Der Kater legt den Kopf schief und mustert mich weiterhin. »Wenn’s nach ihm ginge, würde jeder Platz in diesem Haus exklusiv ihm gehören«, erklärt Tim vom anderen Sofa her und wirft dem Kater einen Blick zu. »Das ist deine schlechte Erziehung«, erklärt Eileen. Tim schnaubt. »Dein Teufelsvieh schläft am liebsten auf dem Esstisch. Das ist schlechte Erziehung!« Eileen verdreht die Augen. »Wollen wir uns darauf einigen, dass die einzig gut erzogene Katze in diesem Haushalt Hermine ist?«, wirft Johannes belustigt ein und Tim und Eileen mustern ihren Vater, als hätte er sie hinterrücks verraten. Der Kater erhebt sich und ich denke einen Moment lang, dass er wieder verschwinden will, aber stattdessen steigt er auf meinem Schoß und rollt sich dort zusammen. Ich bin offiziell ein Sitzkissen. »Wie heißt er?«, frage ich. »Sir Mauncelot«, kommt Tims Antwort. Ich sehe ihn an und bin nicht sicher, ob er Witze macht. Tim grinst breit und klopft sich auf die Schulter. »Geiler Name, was? Ist mein Kater. Er brauchte einen möglichst coolen Namen, um–« »Niemand außer dir findet diesen Namen cool«, informiert Eileen ihren Bruder mit einer verächtlichen Handbewegung. Tim schnaubt empört. »Klar findet Benni ihn cool. Du findest ihn cool, oder?«, will Tim wissen. Ich bin eindeutig überfordert. Mit allem. »Ähm…« Eileen lacht spöttisch. »Siehst du, er findet ihn auch lächerlich«, meint sie. »Du hast deine Teufelsbrut Milkyway genannt! Welche Katze wird denn respektiert, wenn sie Milkyway heißt!?«, schießt er zurück und bekommt prompt einen Schlag auf den Oberarm. Das ganze Kissenschlacht-Spektakel geht von vorne los und ich bin mittlerweile immerhin über drei der Katzennamen informiert. Vermutlich sind es noch hundert andere Katzen. Ich nehme noch einen Schluck Tee und beuge mich zu Jana hinüber. »Wie viele Katzen gibt es noch?«, flüstere ich. Jana kichert. »Noch einen Kater. Merlin. Hermine ist Franzis Katze. Merlin war der erste Kater im Haus. Der ist ganz schwarz und schon ein bisschen älter«, flüstert meine Schwester zurück. Ich betrachte den Kater in meinem Schoß und streichele ihm probehalber über den Kopf. Er schließt zufrieden die Augen und fängt an zu schnurren. Sein Fell ist kurz und weich und ich glaube, das ist offiziell das erste Mal, dass ich eine Katze streichele. Wahrscheinlich wird die Zeit in diesem Haushalt voller Premieren sein. Der Rest des Films vergeht mit noch drei weiteren Zankereien zwischen Tim und Eileen. Sir Mauncelot scheint sein neuer Platz auf meinem Schoß zu gefallen, denn er döst zufrieden und hinterlässt Haare auf meiner alten Jeans. Jana hat Mitleid mit mir, nachdem ich meinen Tee ausgetrunken habe und mich nicht bewegen will, um den Kater nicht aufzuwecken. Sie nimmt mir die Tasse ab und stellt sie auf den Tisch. Ich bekomme tatsächlich etwas vom Film mit und stelle fest, dass ich so gut wie nichts verstehe. Immerhin checke ich, dass Harry ein Zauberer ist und seine beste Freundin so heißt wie Franziskas Katze. Wahrscheinlich ist es andersrum. Am Ende liefert Harry sich einen relativ spektakulären Schwertkampf mit einer riesigen Schlange und schenkt einem komischen Gnom eine widerliche Socke, die ich sicherlich nicht haben wollen würde, aber der Gnom freut sich wahnsinnig und schmeißt den blonden Schönling als Dank die Treppe runter. Plötzlich wird mir klar, dass die Dinge womöglich komisch werden, wenn der Film erst mal aus ist. Denn dann müssen sich die anderen tatsächlich damit auseinander setzen, dass ich jetzt hier wohnen soll. Vielleicht kriege ich dann die Hausregeln diktiert. Die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, wie es in einem normalen Haushalt zugeht, ist wahnsinnig erbärmlich. Und dann ist der Film vorbei und Johannes streckt sich ausgiebig. Mein Herz wummert peinlich laut in meinem gefühlt viel zu engen Brustkorb. »Wenn du willst, zeig ich dir das Haus«, bietet Franziska freundlich von der Seite an und ich drehe den Kopf, um in ihre braunen, sanftmütigen Augen zu sehen. Etwas benommen nicke ich und starre dann hinunter auf den schwarzweißen Kater, der keinerlei Anstalten macht, sich zu bewegen. Tim macht kurzen Prozess und hebt das Fellknäuel von mir herunter, was den Kater dazu bewegt, unheimlich empört dreinzublicken und wütend davon zu staksen, nachdem Tim ihn abgesetzt hat. »Ich werde dann jetzt ins Bett gehen. Fühl dich ganz wie zu Hause, Benni«, sagt Brigitte. Mir steckt ein riesiger Kloß im Hals, als ich aufstehe und dabei zusehe, wie die anderen sich ebenfalls erheben. Margarete legt ihr Strickzeug beiseite, Tim und Eileen hauen sich ein letztes Mal die Kissen um die Ohren, bevor Eileen mit einem wütenden Aufschrei aus dem Wohnzimmer fegt und Tim ihr lachend nachsetzt. Brigitte und Johannes wünschen uns Zurückgebliebenen noch eine gute Nacht und sind dann ebenfalls verschwunden. Das bedeutet wohl, dass ich keine Hausregeln mitgeteilt bekomme. Was, wenn ich mich dauernd daneben benehme, weil ich keine Ahnung von familiärem Zusammenleben habe? Vielleicht werfen sie mich dann irgendwann raus. »Morgen können wir dir auch den Garten und die Praxis zeigen«, sagt Franziska und geht mir voran hinüber zur Wohnzimmertür. »Gute Nacht, ihr Lieben«, sagt Margarete noch und ich blicke kurz zurück, dann folge ich Jana und Franzi hinaus in den Eingangsbereich. »Praxis?«, frage ich abwesend und blicke mich noch mal um, dann führt Franzi mich nach rechts und ich stehe in einer ziemlich großen Küche mit einem unglaublichen großen Tisch, um den neun Stühle und ein Kinderstuhl stehen. Alles ist aufgeräumt, bunte Magneten und selbstgemalte Kinderbilder hängen am Kühlschrank, ich sehe in einem Regal vier verschiedene Frühstücksflockensorten und im Fach direkt darüber eine riesige Sammlung von Teetassen. »Das ist die Küche«, sagt Franziska lächelnd und zuckt mit den Schultern, als wollte sie sich für die Überflüssigkeit dieser Information entschuldigen. »Wir haben unsere Getränke dahinten in der Speisekammer, wenn du Hunger hast, kannst du einfach an den Kühlschrank gehen. Die zweite Schublade der Gefriertruhe klemmt ein bisschen… Tierfutter ist auch in der Speisekammer. Oh, und wir wollten dir zum Einzug unbedingt eine eigene Teetasse besorgen, aber wir wussten nicht, ob du überhaupt Tee trinkst. Vielleicht können wir das morgen nachholen.« Mein Kopf kann mit all den neuen Informationen nicht wirklich mithalten. Alles, was mein Gehirn wirklich filtert, ist ›deine eigene Teetasse‹. »Ihr… äh… müsst mir keine Teetasse besorgen«, probiere ich meine Stimme aus. Sie klingt tatsächlich so, als hätte ich sie sehr lange nicht gebraucht. Franziska lächelt und Jana sieht unheimlich zufrieden aus. »Ist Familientradition. Jeder, der zum Haushalt gehört, hat seine eigene Teetasse. Auf Janas Tasse sind Notenschlüssel. Jetzt das Bad?« Ich nicke benommen. Auch das Bad ist riesig und mit Badewanne und Dusche ausgestattet. Und zwei Waschbecken. Wenn ich an das leicht gesprungene Waschbecken in unserem Bad denke… mein Kopf scheint nicht in der Lage zu sein, mit den Vergleichen aufzuhören. Überall sind große Fenster, helle Fußböden und Wände, überall ist es aufgeräumt, aber nicht steril. Und vor allem sind überall persönliche Noten verteilt. Pinnwände, gerahmte Bilder, selbstgebastelte Kleinigkeiten aus Schultagen. Franziska und Jana steigen mir voran die Treppe hinauf. Im Erdgeschoss befinden sich noch das Elternschlafzimmer und auch das Zimmer von Margarete. Der erste Stock gehört den Kindern. Jede Zimmertür ist mit einem Namensschild versehen, an Tims Tür hängt auch noch ein Poster mit Biergläsern, die jeweils die Begriffe ›Optimist‹, ›Pessimist‹, ›Materialist‹ und ›Perfektionist‹ verdeutlichen. Eileens Tür ist mit einem riesigen Poster von ›Sex and the City‹ beklebt und an der letzten Tür, dem Zimmer von Franziska gegenüber – an deren Tür wirklich nur ein Namensschild hängt – sind viele bunte Pappblumen und Schmetterlinge befestigt. Ein kindlich beschriftetes Blatt Papier verkündet den Namen ›Lydia‹ in Großbuchstaben. »Wer ist Lydia?«, frage ich gedämpft. »Das Pflegekind von Franzis Eltern«, flüstert Jana zurück. Dieses Haus scheint ein Hort für heimatlose Tiere und Menschen zu sein. »Sie ist vier und wahnsinnig niedlich!« Jana mochte Kinder schon immer. Bei seltenen Gelegenheiten, wenn wir mal Kinder getroffen haben, hat sie sich gern mit ihnen beschäftigt. Und bei Kindern hat sie auch keine Berührungsängste. Manchmal hab ich versucht mir vorzustellen, wie sie später mal eigene Kinder hat und ich dann Onkel bin. Onkel Benni. Ein dunkles Gefühl in den Tiefen meines Brustkorbs sagt mir, dass ich vermutlich kein besonders guter Onkel wäre. Außerdem durchfährt mich automatisch Panik, wenn ich mir vorstelle, dass Jana irgendwann ganz aus meinem Leben verschwunden sein wird, weil sie eine eigene Familie gegründet hat und ich nur noch zu Geburtstagsfeiern bei ihr vorbeischaue. Ein grässlicher Gedanke. »Möchtest du mein Zimmer auch sehen?«, erkundigt sich Franziska leise und deutet auf die Tür, die nur mit dem schlichten Namensschild versehen ist. Ich nicke automatisch. Wenn Jana auch da drin wohnt, dann will ich es wirklich gern sehen. Wir gehen hinüber zur Tür und Franziska öffnet sie für uns. Die Art und Weise, wie Jana das Zimmer betritt und sich ohne Umstände auf das Bett unter dem Fenster setzt, sagt mir, dass sie sehr oft hier drin war. Natürlich war sie das. Trotzdem vermittelt es ein merkwürdiges und ungewohntes Gefühl von Heimeligkeit, wie sie dort sitzt, lächelt und leicht mit den Beinen wippt. »Jana schläft hier bei mir«, erklärt Franziska und bestätigt meine Vermutung. Ich nicke abwesend und lasse meinen Blick über die zwei großen Fenster schweifen, die von gelben Gardinen verdeckt werden. Darunter steht das breite Bett, neben dem eine Matratze liegt. »Wo ist Christians Zimmer?«, frage ich und sehe einen Berg Notenbücher in einem kleinen Regal, die mir verraten, dass Franziska diejenige ist, die Klavier spielt. Ich mustere Disney-Filme, Harry Potter, ein Poster von Amy MacDonald und eines mit einer Babykatze in einer Hängematte. Helle, zusammenpassende Möbel, freundliche Farben und Janas Klarinette, die auf einem niedrigen Tischchen liegt und aussieht, als würden sie genau dort hingehören. »Chris gehört der Dachboden. Und da kannst du schlafen. Wir haben schon Bettzeug bezogen und so«, antwortet Franziska und deutet zur Tür. Jana erhebt sich und wir gehen zurück in den Flur, hin zu einer sehr schmalen und sehr steilen weiteren Treppe, die noch ein Stockwerk weiter nach oben führt. Ich werde in Christians altem Zimmer leben. Es fühlt sich unwirklich an. Ob er gerade bei Anjo darüber flucht, dass ich seine Familie invadiere? Vielleicht beklagt er sich auch bei Sina, weil Anjo mich gut leiden kann und er es sich mit ihm nicht verscherzen will. Oben angekommen eröffnet sich mir ein riesiger Dachboden mit Balken, die das Dach stützen, schrägen Wänden und hellem Holzboden. Obwohl Christian hier nicht mehr wohnt, habe ich das Gefühl, ihn hier noch herumgeistern zu spüren. Das ist natürlich irgendwie unsinnig. Aber die schlichten Möbel, der ebenso schlichte Fußboden und die vielen Quadratmeter flüstern von dem jungen Mann, der hier sein Leben lang gewohnt hat. Hinten in einer Nische liegen zwei Matratzen aufeinander und frisch bezogenes Bettzeug ist bis auf ein paar wenige andere Dinge das Einzige, was nicht leer und unbewohnt wirkt. »Ist natürlich alles noch nicht so richtig wohnlich«, meint Franziska entschuldigend, so als könnte sie meine Gedanken lesen. »Aber wenn ihr morgen Abend erstmal deine Sachen geholt habt, dann kannst du es dir hier gemütlich machen.« Ich ziehe die Schultern hoch und nicke vage. Ich hab nicht viele Sachen und ganz bestimmt nicht genügend, um dieses Zimmer zu füllen. Dumpf kommt mir der Vergleich von Christians und meinem Leben. Meins ist ein kleines, schäbiges und besitzarmes Zimmer. Seins ist dieser riesige, weite Dachboden. »Ich kann hier oben bei dir schlafen. Die ersten Nächte, wenn du willst«, flüstert Jana leise und mustert mich besorgt. Ich bin ziemlich sicher, dass sie in etwa weiß, wie es gerade in mir aussieht. Sie kennt mich eben einfach am besten. »Schon ok«, murmele ich, obwohl ich sie eigentlich gern in den Arm nehmen und bitten will, hier mit mir zusammen auf diesem Dachboden zu wohnen. Ich hab noch nie ein Zimmer für mich allein gehabt und schon gar nicht so ein großes. »Ok. Ich mach die Tür zu, dann können dich die Katzen nicht wecken«, sagt Franzi. »Schlaf gut!« Ich nicke automatisch. Sehr wahrscheinlich werde ich kein Auge zu tun. Jana umarmt mich und lächelt mir noch einmal zu, dann verschwinden sie und Franziska durch die Tür und die schmale Treppe hinunter. Ich gehe hinüber zu den Matratzen, hocke mich hin, starre einen Augenblick den hellen Fußboden an und dann fange ich an zu heulen. Kapitel 2: Die alte Hölle ------------------------- Hallo ihr Lieben! An dieser Stelle will ich eilends erwählen, dass der Name Sir Mauncelot von meiner lieben Steffi stammt, die hier unbedingt erwähnt werden wollte ;) Ansonsten hab ich dieses Kapitel (bzw. den zweiten Teil) mit Herzklopfen geschrieben, weil ich so mitgefühlt habe. Ich hoffe, dass ich das gut rüberbringen konnte und wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, _____________________ Ich schlafe kaum in dieser ersten Nacht. Wenn ich dann doch mal wegdämmere, träume ich wirres Zeug, das mich wieder aus dem Schlaf reißt. Ein paar panische Herzschläge lang hab ich dann keine Ahnung, wo ich eigentlich bin und ich will das Licht anmachen und nach Jana schauen, aber Jana ist natürlich nicht hier. Sie schläft bei Franziska im Zimmer und träumt hoffentlich angenehmere Dinge als ich. Als es draußen langsam hell wird, fühle ich mich wie gerädert und eine peinliche halbe Stunde lang traue ich mich nicht vom Dachboden hinunter ins Haus. Ich bin froh, dass ich heute nicht in die Schule gehen muss, dass ich den Rest der Woche freigestellt bin und mir nicht auch noch Gedanken um Hausaufgaben und die nahenden Vorabiklausuren machen muss. Dazu hab ich momentan wirklich keinen Kopf. Als ich den Dachboden verlasse, höre ich Stimmen und Schritte im Haus. Der erste Bewohner, der mir entgegen kommt, ist der schwarze Kater, den ich bisher noch nicht gesehen habe. Merlin, hat Jana mir gesagt. Er mustert mich misstrauisch und streicht dann an mir vorbei, hin zu der offenen Zimmertür von Franziska. Wahrscheinlich sind sie und Eileen schon aus dem Haus, weil die Schule anfängt. »Morgen«, sagt Tim gähnend, als ich im Erdgeschoss ankomme. Er trägt lediglich eine Boxershorts und ich frage mich, ob ihm nicht kalt ist, aber er sieht nicht danach aus. Seine Haare stehen wild ab und seine Augen sind winzig klein. Offensichtlich hab ich hier einen Langschläfer vor mir. »Guten Morgen, mein Junge! Möchtest du frühstücken?«, werde ich von Margarete in der Küche begrüßt. Der Tisch ist noch für zwei gedeckt und ich frage mich gerade, wo Jana wohl steckt, als meine Schwester in die Küche kommt. Sie hat ein aufgetürmtes Handtuch auf dem Kopf und war wohl gerade duschen. »Guten Morgen«, sagt sie strahlend und setzt sich auf einen der Stühle, vor denen unbenutztes Geschirr auf dem Tisch steht. »Kann ich ins Bad?«, fragt Tim verschlafen. Jana nickt und Tim verschwindet schlurfend. »Tee, Kaffee, Saft, Milch?«, erkundigt sich Margarete bei mir, während sie durch die Küche wuselt und Frühstücksflocken, Marmelade und Honig von Regalen sammelt und sie vor uns auf den Tisch stellt. »Orangensaft, bitte«, sagt Jana lächelnd und ich nicke zustimmend, ohne wirklich wahrzunehmen, was ich gerade bestellt habe. Margarete stellt einen Teller mit Toasts vor uns auf den Tisch, dann werden mir fünf Marmeladen-Sorten, Nutella, Honig, Käse und eine halbe Fleischwurst vor die Nase gesetzt und ich starre auf die breite Auswahl. Einmal abgesehen davon, dass ich nie zu Hause gefrühstückt habe, hätte es bei uns sicherlich so viel verschiedenen Kram gegeben. Ich greife unsicher nach einer Scheibe Toast und beschließe, Aprikosen-Marmelade auszuprobieren. Margarete räumt geschäftig in der Küche herum. Ich stelle mir vor, wie es wäre, Rentner zu sein und allein zu leben. Nein danke. Da wäre es mir auch lieber, wenn ich tagsüber im Haus meiner Familie ein bisschen was zu tun hätte, als für mich allein Frühstück zu machen und den Rest des Tages in Langeweile zu verbringen. Wie es sich herausstellt, mag ich keine Aprikosen-Marmelade. Trotzdem esse ich das Toast auf, nehme mir ein zweites und belege es mit Käse, um weitere Marmeladen-Experimente zu vermeiden. »Könnt ihr wohl nach dem Frühstück mit den Hunden rausgehen?«, erkundigt sie sich bei uns, während sie benutztes Geschirr in den Geschirrspüler sortiert. »Sicher«, sagt Jana sofort und ich habe kaum Zeit zu nicken. Es ist ein merkwürdiges Gefühl direkt in die Abläufe des Haushaltes integriert zu werden. Aber es ist gut. Dann habe ich was zu tun und ich hab ein bisschen Zeit mit Jana allein. Tim schlurft frisch geduscht in die Küche. »Noch Kaffee da?«, fragt er. Margarete stellt ihm ohne weiteren Kommentar einen Pott mit dampfendem Inhalt hin, als würde sie das jeden Morgen tun. »Bist die Beste, Oma«, nuschelt Tim und riecht zufrieden seufzend an dem Kaffee. Jana kichert leise, während die alte Dame ihrem Enkel ein Kopfschütteln zuteilwerden lässt. »Dein Vater ist zu lasch mit dir, junger Mann. Glaub ja nicht, dass du es dir später leisten kannst, zwei Stunden später zur Arbeit zu kommen, nur weil du nicht aus dem Bett kommst!« Tim brummt zustimmend, aber ich bin mir nicht sicher, ob er den Inhalt ihrer Worte überhaupt wahrgenommen hat. Während Jana und ich nach und nach den Berg Toasts verspeisen, trinkt Tim schweigend seinen Kaffee und Margarete räumt die Küche auf. Ich bin nicht mehr ganz so verkrampft wie gestern Abend, aber immerhin sind momentan auch nicht alle Mitglieder der Familie hier. Mal sehen, wie lange es dauert, bis ich meine Schrecken überwunden hab. Vielleicht gewöhne ich mich nie daran und irgendwann haben diese netten Leute die Schnauze voll, weil ich so undankbar bin. Ich seufze kaum hörbar und leere mein Glas Orangensaft. Sofort wird der leere Teller vor meiner Nase weggeschnappt und Margarete steckt ihn in die Spülmaschine. »Willst du noch duschen gehen?«, fragt Jana. »Danach können wir mit den Hunden raus.« Sie lächelt mich erwartungsvoll an und ich nicke. Ein bisschen frische Luft ist jetzt genau das Richtige. Also gehe ich in dem riesigen Bad duschen und bin sehr bemüht, nirgends irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Als ich frisch geduscht bin und wir in unsere Jacken gehüllt vor der Tür stehen, greift Jana nach den Leinen, die an Haken neben der Tür mit dem Buntglasfenster hängen. Mir wird zum hundertsten Mal bewusst, dass Jana hier bereits zu Hause ist. Sie bewegt sich sicher, sie kennt sich im Haus aus, sie fühlt sich wohl mit den Mitgliedern dieser Familie, die sie alle so behandeln, als hätte sie schon immer dazu gehört. Sie pfeift nach den Hunden, die ihre Stimme kennen und sofort aus dem Wohnzimmer in den Flur gelaufen kommen, um sich aufgeregt schwanzwedelnd von ihr an die Leine nehmen zu lassen. Als Jana sich aufrichtet, starre ich sie an, als wäre sie ein ganz neuer Mensch und ihr ist wohl zumindest ansatzweise klar, was in mir vorgeht, denn sie lächelt schüchtern und fährt sich durch die dunkelblonden Haare. »Es ist nicht schwer, sich hier einzuleben, weißt du? Sie machen es einem so wunderbar leicht«, sagt sie sehr leise und öffnet die Haustür, damit ich hinaus in den großen Garten treten kann. Der Himmel ist grau und mit schweren Wolken verhangen, die früher oder später Regen ankündigen. Es ist kalt und ich ziehe den Kragen meiner Jacke ein wenig höher, bevor ich Jana den Weg hinunter zum Eingangstor folge. Der Garten ist im Sommer sicher besonders beeindruckend, auch wenn ich momentan nur die Hälfte sehen kann. Der Garten reicht fast ganz ums Haus herum und ich frage mich, ob ich jemals jeden Winkel dieses Hauses kennen werde. »Wie war die erste Nacht?«, erkundigt sich Jana bei mir und reicht mir lächelnd die Leine, die zu Renjas Halsband führt. Der Golden Retriever trabt gut gelaunt vor mir her und schnüffelt hier und da an einem Gartenzaun. »Scheiße«, gebe ich zu. Ich will natürlich nicht, dass Jana sich Sorgen macht, aber es bringt auch nichts, die Wahrheit zu verheimlichen. Wir haben so viele Jahre auf engstem Raum miteinander gelebt, dass kein Platz für Lügen war. Sie kennt mich in und auswendig und würde es ohnehin merken, wenn ich nicht ehrlich zu ihr bin. »Tut mir Leid. Als ich das erste Mal bei Franzi übernachtet hab, hab ich auch kein Auge zugetan. Aber sie war total lieb und hat noch ganz lange mit mir geredet«, erzählt Jana und lächelt bei der Erinnerung daran. Ich habe sie selten so viel lächeln sehen. Es ist eigenartig und wunderbar zugleich. Diese Familie ist ein Wunder. Vielleicht sollten ich ihnen doch noch auf Knien danken, dafür, dass sie meine Schwester so glücklich machen, wie ich das nie konnte. »Erzähl ein bisschen von denen«, fordere ich sie auf, als Jana nach links biegt. Die Häuserreihen enden hier und es geht in Richtung Felder. Jana scheint nachzudenken, so als hätte sie tausend Geschichten zu erzählen und wüsste nicht, wo sie anfangen soll. »Johannes ist Tierarzt. Er hat seine Praxis unten im Keller und Tim macht seine Ausbildung zum Tierarzthelfer bei seinem Vater. Weil er so gern lang schläft, darf er morgens später in die Praxis kommen, dafür muss er hinterher alles allein sauber machen. Brigitte ist Psychotherapeutin. Ich weiß nicht genau, was ihr Spezialgebiet ist, weil sie selten über ihre Arbeit redet. Schweigepflicht und so, ist ja klar. Margarete hat früher in der Bank gearbeitet und sie ist wirklich gut in Mathe und so. Hilft Eileen immer bei den Hausaufgaben und so. Tim ist Vegetarier, Eileen will später mal Journalistin werden…« Es ist ein Wirrwarr aus Informationen und kleinen Anekdoten. Ich erfahre die verschiedensten Kleinigkeiten. Jana weiß auch Dinge über Chris, obwohl sie ihn bis vor ein paar Tagen noch nie gesehen hat. Franzi hat aber natürlich eine Menge über ihren großen Bruder erzählt. »Franzi und ich haben Geschichten getauscht, weißt du? Von unseren großen Brüdern. Ich dachte immer, dass Chris schon nach einem ziemlich tollen großen Bruder klingt, aber… naja. Ich würde dich trotzdem nicht tauschen wollen. Franzi hat gelacht und gesagt, dass es gut ist, dass wir beide den besten großen Bruder der Welt haben. Franzi ist der zweittollste Mensch auf der Welt.« Ich werfe Jana einen Blick zu. Sie beobachtet Sam dabei, wie er am Rand des Trampelpfades, auf dem wir uns mittlerweile befinden, ein wenig herum buddelt. »Du weißt schon. Nach dir«, erklärt sie mir. Ich muss lächeln und denke an Anjo. Wenn es danach geht, dann ist Anjo eindeutig der zweittollste Mensch auf der Welt. Nach Jana. »Ich bin froh, dass sie dich so glücklich machen«, meine ich. Janas blaugrüne Augen suchen mein Gesicht ab und sie seufzt leise. »Du kannst nichts dafür, dass wir sowas nie hatten, weißt du? Ich würd nicht ohne dich in diesem neuen Leben sein wollen. Du bist immer noch das Allerwichtigste.« Sie umarmt mich mitten auf dem Feldweg und ich verheddere mich in Renjas Leine, als ich die Umarmung erwidere. Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Natürlich wusste ich eigentlich, dass Jana mich jetzt nicht plötzlich unwichtig findet. Aber es zu hören, tut gut. Vor allem, wo es mir gerade so dreckig geht. »Willst du, dass ich heut Abend mitkomme?«, fragt meine Schwester dann sehr leise und abgesehen davon, dass ich an ihrer Stimme hören kann, wie viel Angst sie davor hätte, zurückzugehen, würde ich es nicht wollen. »Nein, ist schon ok. Ich hab drei gruselige Typen dabei, die mir Kisten schleppen helfen«, sage ich mit einem schiefen Lächeln und sehe, wie Janas Schultern sich vor Erleichterung entspannen. Ein zittriges Kichern entkommt Janas Kehle und sie bückt sich, um die Hunde von den Leinen zu lassen. »Wer kommt noch? Außer Chris, meine ich?«, will sie wissen und wir sehen den Hunden nach, wie sie quer über den leblosen Acker jagen und miteinander spielen. »Chris‘ bester Freund, Felix. So ein gruseliges Lächeln hast du noch nie gesehen… und dessen fester Freund, Leon. Chris und Leon mögen sich nicht, ich bin sicher, die Stimmung wird bombastisch.« * »Kannst du vielleicht auch was tragen?« »Ich stelle mein Auto zur Verfügung.« »Na und? Wir stellen auch ein Auto zur Verfügung! Und die Kartons! Meine Fresse, wie faul kann man eigentlich sein?« »Jungs, bitte. Reißt euch am Riemen.« Ich seufze kaum hörbar, während ich drei leere und zusammen gefaltete Umzugskartons in Chris‘ Kofferraum lege und mich aufrichte. Leon und Christian beharken sich, seit sie sich gesehen haben. Felix massiert angestrengt seine Nasenwurzel, so als müsste er sich sehr bemühen, um nicht auszurasten. Man muss es ihm allerdings lassen, er scheint Leon und Christian gut im Griff zu haben, denn die beiden verfallen nach seiner Ermahnung in brummiges Schweigen. Mein Brustkorb fühlt sich seit mehreren Stunden unangenehm eng an. Seit Christian mich abgeholt hat, hab ich keinen Ton gesagt. Er scheint in etwa gewusst zu haben, was in mir vorgeht, denn er hat nicht versucht, sich mit mir zu unterhalten. Felix hat mich sehr freundlich begrüßt – wenn ich an sein psychopathisches Lächeln in der Konzerthalle denke eine 180°-Drehung – und Leon hat mir mit einem Brummen die Hand geschüttelt. Jetzt sind fast alle leeren Kartons in den beiden Wagen verstaut. Jana und ich haben ja wirklich nicht viel Kram und alles an alten, gebrechlichen Möbeln bleibt in unserem ehemaligen Zimmer stehen. Ich bin dankbar, dass ich das nicht alles allein machen muss, denn ich hab weder ein Auto, noch würde ich es über mich bringen, nach unserem Ausriss die Wohnung zu betreten. Ich hab dermaßen Schiss, dass ich alle paar Minuten Schwierigkeiten hab zu atmen. Ich will da nicht mehr rein und schon gar nicht will ich, dass wildfremde Leute die Hölle sehen, aus der ich komme. Es ist meine und Janas Hölle, unser schmerzhaftes Geheimnis, das ich nicht mal Anjo vollständig zeigen wollen würde. Einerseits bin ich froh über die Gesellschaft, andererseits würde ich mir wünschen, dass all das nicht nötig wäre. Ich fühl mich vor diesen jungen Männern winzig, es ist mir peinlich, dass sie mein kaputtes zu Hause sehen, dass sie wahrscheinlich sogar meinen Vater sehen werden. Wie wird er sich wohl verhalten, wenn ich die Wohnungstür aufschließe? Was werden Christian und die anderen von mir denken? Auch Felix und Leon versuchen nicht, mit mir zu sprechen. Ich würde sowieso kein Wort herausbringen und je näher wir der Wohnung kommen, desto beklemmender wird das Gefühl in meiner Brust. Meine Panik macht sich mit schwitzigen Händen und Herzrasen bemerkbar. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und mein Magen krampft sich zusammen, als wir das schäbige Treppenhaus betreten, das ich mein Leben lang fast jeden Tag als Gang zum Galgen empfunden habe. Meine Hände zittern so heftig, dass ich kaum den Schlüssel ins Schloss kriege und wenn die Drei es sehen, dann sagen sie nichts darüber. Der Geruch nach Terror heißt mich wie so viele Jahre willkommen, als ich den kleinen, lieblos eingerichteten Flur betrete. Das hier ist nichts im Vergleich zu Christians Haus und auch nicht zu Leons kleiner Wohnung, die zwar ein wenig chaotisch ist, aber trotzdem gemütlich. Es brennt nur Licht in der Küche. Das heißt, dass er zu Hause ist. Und natürlich. Natürlich kommt er in den Flur marschiert. Angst und Hass und Wut und unauslöschliche Panik fluten mein Gehirn und ich mache unweigerlich einen Schritt zurück. Sein Blick findet mich und ich denke, dass er mich eigentlich mit einem direkten Faustschlag begrüßt hätte, wenn ich nicht in Gesellschaft wäre. In großer, muskulöser, breit gebauter Gesellschaft. »Was willst du?«, raunzt er mich an. Ich hab meine Sprache verloren. Ich möchte auf der Stelle tot umfallen, damit ich mich nicht damit auseinander setzen muss, dass diese drei Jungs meinen Erzeuger kennen gelernt haben. Als er noch zwei Schritte auf mich zu macht und ich beinahe über meine eigenen Füße stolpere, gibt es ein lautes Krachen und der personifizierte Horror meines ganzen Lebens wird von einem sehr kräftigen Unterarm gegen die Wand mit der abblätternden Farbe gedrückt. Christians Augen sprühen Funken, ich sehe, wie angespannt seine Kiefermuskeln sind und an seiner Schläfe pulsiert eine zornentbrannte Ader. Als er spricht, ist seine Stimme jedoch eiskalt und sachlich. »Wir werden das Zimmer ausräumen und dann werden wir gehen. Ohne Störung.« Die Drohung ist so offensichtlich, so gefährlich, dass selbst ich schlucke. Christian ist riesig und in seiner Wut wirkt er sogar noch größer. Seine Ausstrahlung ist wie eine Naturgewalt und ich sehe die Angst in den sonst immer so hasserfüllten Augen. Ob er jetzt zum ersten Mal weiß, wie es mir immer ging? Felix‘ Gesicht ist kaum zu lesen. Seine Mimik ist wie in Stein gemeißelt. Er bedenkt meinen Erzeuger nicht mit einem gruseligen Lächeln, wie er es bei mir getan hat. Damals. Er geht sehr langsam mit den Umzugskartons unterm Arm an Christian und meinem Erzeuger vorbei. Leon hat seine Hände zu Fäusten geballt und folgt seinem Freund. Ich stolpere ihnen nach, meine Knie fühlen sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben. Hinter mir höre ich, wie Christian seinen Griff lockert und uns nachkommt. In Janas und meinem Zimmer angekommen, schließt er leise die Tür und ich sinke auf den Schreibtischstuhl. Mein Herz hämmert schmerzhaft gegen meine Rippen und ich lasse den Kopf sinken, damit ich niemanden ansehen muss. Ich höre, wie jemand sich daran macht, die Kartons zusammen zu bauen. »Benni, wie sieht’s aus? Sollen wir einfach schon mal die Regale leerräumen?«, fragt Felix‘ Stimme direkt neben mir und eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich zucke automatisch zusammen und sehe auf. Felix‘ Lächeln ist kaum wahrzunehmen, aber ich bin darauf geeicht, Stimmungsschwingungen aller Art wahrzunehmen. Es tut ihm leid, auch wenn er natürlich nichts dafür kann. Er ist wütend auf meinen Erzeuger, aber will es nicht zeigen, weil er mir die Sache nicht unangenehm machen will. Und er will mir das hier so sehr erleichtern wie es möglich ist, auch wenn er nicht so recht weiß, wie, weil ihm so etwas sehr wahrscheinlich noch nie untergekommen ist. Ich räuspere mich zweimal und nicke dann. »Ja… ja, das wär cool. Ich… zieh mal die Betten ab«, sage ich mit heiserer, stockender Stimme und drehe mich um, damit ich niemanden anschauen muss. Eine ganze Weile lang räumen wir schweigend Sachen in Kartons und Chris geht mit jedem vollen Karton hinunter zu den Autos, um den Kram zu verstauen. Ich wickele sehr behutsam die zahllosen Bilderrahmen auf der Fensterbank in wahllose Kleidungsstücke von Jana und mir. Die wenigen Bücher, die wir haben, bedecken gerade mal den Boden eines Kartons. Ich räume unseren Kram aus dem Bad, zögere dann einen Moment und gehe in das Wohnzimmer. Jana und ich waren nie hier drin. Selbst, wenn der Erzeuger nicht in der Wohnung war, saßen wir bei uns im Zimmer. Unsere Festung. Unser Schneckenhaus. Ich bin mir nicht sicher, wieso ich es tue, aber ich öffne einen der Schränke und ziehe ein altes Fotoalbum heraus. Es ist das Einzige, was es in dieser Wohnung gibt. Da sind Bilder von unserer Mutter drin, als wir noch ganz klein waren. Die ersten vier oder fünf Jahre, als noch alles in Ordnung war. Bevor er anfing sie regelmäßig zu verprügeln. »Pass auf Jana auf, ja?«, hat sie ganz oft gesagt, mit blauem Auge und aufgeplatzter Lippe und einem schmerzhaften Lächeln. »Ja, Mama.« Manchmal frage ich mich, was sie sagen würde, wenn ich ihr heute erzählen würde, dass ich immer auf sie aufgepasst hab. Dass sie nie auch nur einen Schlag kassieren musste. Ob meine Mutter stolz wäre? Ich denke so selten wie möglich an sie. Meistens tut’s einfach nur weh, über sie nachzugrübeln. »So, ich denke, das war’s«, ächzt Felix und sieht sich im Zimmer um, als ich mit dem Fotoalbum zurück komme und es ganz oben in einen Karton mit Janas Kleidern lege. Ich nicke knapp und blicke mich ein letztes Mal um. Die Regale und Schränke sind leer, keine Poster oder Postkarten hängen noch an den Wänden. Ohne die Bilder sieht die Fensterbank nackt aus. »Na dann«, sagt Leon, hebt den letzten Karton hoch und marschiert uns voran aus der Wohnung. Ich bleibe an der Tür ein letztes Mal stehen, dann ziehe ich meine Schlüssel aus der Hosentasche und werfe sie unfeierlich auf den Flurboden. Ich werde sie nicht mehr – nie wieder – brauchen und das ist ein merkwürdiges Gefühl. Unten angekommen atme ich tief durch und starre hoch in den pechschwarzen Novemberhimmel. Es ist kalt, aber ich merke es kaum. »Danke«, sage ich in den Himmel hinein, weil ich mich immer noch nicht traue, einen von den anderen anzusehen. »Gern geschehen«, sagen sie gleichzeitig. Dann steigen wir in die Autos und ich verlasse meine alte Hölle endgültig. Kapitel 3: Das größte Wunder ---------------------------- Jana hat recht. Christians Familie macht es einem wirklich leicht, sich hier einzuleben. Trotzdem ist es so unendlich schwierig. Aber das liegt nicht an ihnen, das liegt an mir. Jana und ich haben all unsere Sachen auf Christians Dachboden verstaut. Jetzt, wo Fotos hier verteilt stehen und über den beiden Matratzen mein altbekanntes Tupac-Poster hängt, fühlt es sich nicht mehr ganz so kahl an. Jana zieht zu mir auf den Dachboden, was mich unheimlich erleichtert. Vermutlich wäre ich in diesem riesigen Raum allein durchgedreht. Aber im Gegensatz zu früher sind wir nicht den größten Teil der Zeit unter uns und verkriechen uns vor der Welt in unserem Zimmer. Wir sitzen viel im Wohnzimmer. Jeder macht, was er will, aber man sitzt beieinander. Brigitte liest, Johannes schaut einen Film, Margarete strickt an ihrem Schal. Eileen, Jana und Franzi machen Hausaufgaben, Tim hockt zwischen den Hunden auf einem der Teppiche und unterhält sie mit Kauspielzeug. Ich sitze einfach nur mittendrin und blättere eher erfolglos in meinem Englischbuch. Mir ist klar, dass ich mich anstrengen muss, um das Abi zu schaffen, aber mein Kopf ist momentan mit so vielen anderen Sachen beschäftigt. Dieses Haus und die Familie, die darin wohnt. Meine Zukunft. Gerichtstermine. Treffen mit Anwälten und – was mir und Jana womöglich am meisten Sorgen macht – Psychologen. Für das Gerichtsverfahren gegen den Erzeuger müssen Gutachten erstellt werden, die belegen, dass Jana und ich nicht spurenlos aus dieser jahrelangen Misshandlung hervorgegangen sind. Es muss geklärt werden, ob es sich um schwere Körperverletzung handelt. Beim Gedanken daran muss ich mir jedes Mal ein Schnauben verkneifen. Das halbe Personal des Marienstifts kann das belegen. Aber ok, ich hätte mir denken können, dass es nicht so einfach wird. Aber ich kann das. Nach dem ganzen Scheiß, den ich in meinem Leben schon mitgemacht hab, schaff ich das auch noch. Immer weiter, Schritt für Schritt. Und mittlerweile hab ich Unterstützung von allen Seiten. Anjo und seine Freunde, Christians Familie. Sogar Lilli. Ich kann das packen. Auch wenn ich keine Ahnung hab, wie genau. Vielleicht blicke ich in einem Jahr darauf zurück und es erscheint mir ganz weit weg, so als wäre es in einem anderen Leben passiert. Das wäre nett. Vielleicht hab ich dann einen Job und kann Jana finanziell unterstützen. Immer, wenn ich versuche, mir meine Zukunft genauer auszumalen, dann krieg ich hauptsächlich Kopfschmerzen davon. Übers Wochenende fülle ich das Anmeldeformular für Christians Anti-Aggressions-Training aus. Ich hab Anjo eine SMS geschickt und gefragt, wann das erste Treffen stattfindet und es ist schon nächste Woche. Wenn ich daran denke, werde ich nervös. Aber momentan macht mich einfach alles nervös. Vom Frühstück bis hin zu Gedanken an die Schule, das Abi und an die bevorstehenden Termine, bei denen ich womöglich den Erzeuger wieder sehen muss. Am Sonntag nimmt Brigitte mich nach dem Abendessen beiseite und dirigiert mich sanft in das Zimmer, von dem ich bisher dachte, es wäre nur das Schlafzimmer von ihr und ihrem Mann. Wie sich allerdings herausgestellt, ist es zweigeteilt, und in der Hälfte des Zimmers, in der sich auch die Tür befindet, steht ein ausladender Schreibtisch und mehrere Regale mit allen möglichen Aktenordner darin. Das wird dann wohl eine Art Büro sein. »Setz dich«, sagt sie lächelnd zu mir und deutet auf einen gemütlich aussehenden Stuhl. Anstatt sich hinter den Tisch zu setzen – was schrecklich nach einer offiziellen Sprechstunde ausgesehen hätte – hockt sie sich einfach auf den Schreibtisch und sieht mich lächelnd an, während ich mit hämmerndem Herzen auf dem Stuhl Platz nehme. »Ich hab schon mit Jana gesprochen, das hat sie dir sicherlich erzählt«, meint sie ruhig und ich schlucke. Der Kloß in meinem Hals fühlt sich an, als hätte er die Größe einer Orange. Ich nicke nur, weil ich nicht sicher bin, dass ich auch nur einen Laut raus kriege. »Es geht darum, dass ihr beide ein psychologisches Gutachten braucht, wenn es mit den Gerichtsverhandlungen losgeht. Keine Sorge, ich werde mich selber nicht als Therapeutin anbieten, immerhin werdet ihr wohl eine ganze Weile hier wohnen und ich will wirklich nicht, dass euch irgendwas unangenehm ist. Ich kenne allerdings ein paar wirklich gute Psychologen, mit einigen davon hab ich sogar studiert.« Ich nicke erneut. Im nächsten Augenblick merke ich, dass ich die Luft angehalten habe, und so atme ich langsam und tief aus. Tatsächlich bin ich sehr erleichtert, dass ich nicht mit Brigitte über alles reden muss. Es wäre komisch, dann mit ihr unter einem Dach zu leben. »Wäre es in Ordnung für dich, denselben Therapeuten zu besuchen wie Jana? Oder möchtest du lieber jemand anderen? Ich hab Jana bereits Frau Doktor Ehrmann empfohlen. Sie hat einiges an Erfahrung mit Patienten, die von häuslicher Gewalt betroffen waren«, erklärt Brigitte. Häusliche Gewalt. Hört sich merkwürdig offiziell an. Man hat es natürlich schon mal im Fernsehen oder im Radio gehört und auch irgendwie gewusst, dass es auf einen zutrifft. Aber gleichzeitig klingt es absurd und lange nicht abstrakt genug für den Scheiß, den Jana und ich jahrelang durchgemacht haben. »Ist ok. Also… denselben zu haben«, gebe ich heiser zurück. Brigitte nickt leicht lächelnd. »Ok. Dann mach ich für euch Termine aus, ja? Ich halte es für sinnvoll, wenn ihr beide auch nach der Erstellung des Gutachtens noch von ihr betreut werdet«, sagt sie behutsam. Therapie. Wow. Keine Ahnung, ob das hilft, aber es klingt tatsächlich sinnvoll. Ich weiß nicht, ob ich mit einer wildfremden Frau darüber reden will oder kann, was passiert ist. Aber ich hab schon vor einiger Zeit eingesehen, dass ich alles an Hilfe nehmen sollte, was ich kriege. Es fällt mir schwer, weil ich mich mein Leben lang nur auf mich selbst und Jana verlassen habe und keine Hilfe von irgendwem wollte… aber dann kam Anjo und Anjo hat alles verändert. Der Gedanke an ihn lässt mich erneut tief durchatmen und ich entspanne mich ein wenig auf dem gemütlichen Stuhl. »Ja. Klingt… sinnvoll«, antworte ich. Brigitte nickt und sie sieht fast ein wenig stolz aus, als hätte sie erwartet, dass ich mich vehement weigern würde, einen Therapeuten aufzusuchen. »Ich hab auch gehört, dass du in Chris‘ nächste Trainingsgruppe gehen willst«, erzählt sie. »Ja. Es ist… äh… nett von ihm, dass er mich mit rein nimmt«, entgegne ich verlegen. »Es ist vor allem sehr mutig von dir, ihn danach zu fragen«, gibt Brigitte zurück und ich ziehe unsicher die Schultern hoch. »Naja. Mir ist klar, dass ich ziemlich abgefuckt bin... Ich meine… Dass ich einen Knacks hab… oder wie auch immer… jedenfalls muss ich ja irgendwas machen, wenn ich aus dem ganzen Dreck raus will.« Brigitte rutscht von ihrem Schreibtisch herunter und schaut mich anerkennend an. »Es mag dir nicht klar sein, aber du bist viel stärker als du denkst. Und wirklich sehr mutig«, sagt sie und legt mir kurz die Hand auf die Schulter. Ich spüre meine Wangen rot werden und erhebe mich viel zu hastig. Dann folge ich ihr aus dem Arbeitszimmer und ihre Worte klingen noch in meinen Ohren nach. Stark und mutig sind nicht unbedingt Worte, die ich benutzen würde, um mich zu beschreiben. Aber ich fühle mich irgendwie ein bisschen besser, was mich selbst angeht. Hatte ich schon davon gesprochen, dass diese Familie ein Wunder ist? Nach diesem Gespräch verziehe ich mich zum ersten Mal freiwillig allein auf den Dachboden und ich stelle fest, dass Merlin auf meinem Bett liegt und sich dort putzt. Ich gehe zu ihm hinüber und setze mich. »Hey«, sage ich zu dem Kater, der mich nicht weiter beachtet, und ich frage mich, ob ich jetzt vollkommen durchdrehe, weil ich anfange, mit den Haustieren zu sprechen. Selbstverständlich antwortet der Kater nicht. Ich strecke behutsam die Hand aus und lasse ihn daran schnuppern. Als er sich nicht mit Klauen und Zähnen auf mich wirft, kraule ich ihn vorsichtig am Kopf und beobachte zufrieden, wie er die Augen schließt und zu schnurren beginnt. Ich bin total erleichtert, dass keins der Haustiere was gegen mich hat. Also, natürlich bin ich noch dankbarer, dass keines der Familienmitglieder mich scheiße findet – auch wenn ich mir da bei Lydia noch nicht so sicher bin, sie versteckt sich immer hinter anderen, wenn ich den Raum betrete –, aber ich hab mal gehört, dass Tiere eine gute Menschenkenntnis haben. Vielleicht bin ich kein so übler Typ. Irgendwie. Auch wenn es mir lächerlich erscheint, mein Selbstwertgefühl von einem Haufen Katzen und Hunden und Hasen abhängig zu machen. »Ich bin stärker, als ich dachte«, erkläre ich dem Kater, der sich davon nicht beeindrucken lässt. Die Worte aus meinem Mund klingen merkwürdig. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich daran glaube. Vielleicht mögen manche Leute es als stark ansehen, was ich jahrelang durchgemacht habe, aber ich hab mich nie getraut, nach Hilfe zu fragen, ich hab meinen Frust an Anjo ausgelassen und ich hab in meinem Leben noch nichts Vernünftiges geleistet. Aber ich kann das. Irgendwie krieg ich das hin. Was auch immer genau ›das‹ sein mag. * Wie es sich herausstellt, nimmt ›das‹ in der nächsten Schulwoche Form an. Und zwar offenbart es sich mir in Gestalt Frau Senger, meiner Chemielehrerin, die mich nach der durchgestandenen Doppelstunde zu sich nach vorne ruft. Mir wird sofort mulmig im Magen. »Benjamin«, sagt sie und wühlt in ihrer Ledertasche herum. Eigentlich kann ich Frau Senger gut leiden. Sie ist sehr nett und benotet fair. Dummerweise bin ich unheimlich schlecht in Chemie und Frau Senger erklärt nicht auf eine Art und Weise, die ich verstehe. Wenn man dann noch addiert, dass ich meistens andere Sachen im Kopf habe als Schule, weiß man, dass ich ein ziemlich großes Problem habe. »Ich muss mit Ihnen über Ihre Noten sprechen. Sie haben die letzte Geschichtsklausur unterpunktet… es sieht so aus, als würde es dieses Halbjahr nicht für fünf Punkte in Geschichte reichen«, sagt sie ganz vorsichtig, als hätte sie Angst, ich könnte an ihren Worten zerbrechen. Ich schlucke und nicke in Erinnerung an die katastrophale Geschichtsklausur über die industrielle Revolution. »Und Sie haben bisher drei Unterkurse in Chemie. Mit fünf Unterkursen können Sie nicht zum Abitur zugelassen werden, das wissen Sie.« Mein Magen krampft sich zusammen und ich spüre, wie mir die Luft aus den Lungen weicht. In meinen Ohren rauscht es, während ich die Worte in meinem Kopf wiederhole. Nicht zum Abitur zugelassen. Der Gesichtsausdruck von Frau Senger macht mir klar, dass sie Bescheid weiß. Wahrscheinlich wurde sie wegen meines Wegbleibens letzte Woche informiert. Ich sehe ihr an, dass es ihr Leid tut, aber davon kann ich mir auch kein größeres Gehirn kaufen. »Wenn Sie in der letzten Chemieklausur sieben Punkte schaffen könnten, würden Sie sich in Chemie dieses Halbjahr auf fünf Punkte retten«, erklärt sie mir. Als wäre das so einfach. Sieben Punkte in Chemie hört sich in meinen Ohren an wie eine unüberwindbare Hürde. Für Geschichte zu pauken ist im Notfall einfach. Aber Chemie ist eins dieser Fächer, genau wie Mathe, bei denen man verstehen muss, worum es geht. Man kann sich nicht rausreden und einfach alles hinschreiben, was man weiß. »Ok«, sage ich heiser. Ich weiß nicht, was ich sonst dazu sagen soll. »Vielleicht können Sie sich einen Nachhilfelehrer nehmen«, schlägt meine Tutorin vor. Ich zucke mit den Schultern. »Ich hab kein Geld«, gebe ich zurück und starre auf den grauen Linoleumboden, als stünde dort die Antwort auf all meine Probleme. Natürlich sehe ich nichts. Mein Kopf ist leergefegt und buchstabiert unaufhörlich die Worte ›nicht zum Abitur zugelassen‹. »Vielleicht können Sie auch noch mal mit Herrn Reitemeier sprechen und ein Referat halten. Oder sich mündlich besonders anstrengen, um die Klausur ein wenig auszubügeln.« Ich weiß, dass sie es nur gut meint, aber ich bin in diesem Moment nicht in der Lage mit ihr über mögliche Schritte zur Rettung meines beschissenen Abiturs zu sprechen. Ich hatte so viel um die Ohren, dass ich total vergessen hatte, wie es um meine schulischen Leistungen steht. Wie um alles in der Welt konnte ich das vergessen? Ich brauch das Abi, ich brauch einen anständigen Job, damit ich Jana nach der Schule finanziell unterstützen kann. Scheißdreck. »Ich werd mal drüber nachdenken«, sage ich mit hängenden Schultern. Dann ringe ich mich zu einem »Danke« und einem »Tschüss« durch und verlasse fluchtartig den Raum. In der großen Pause treffe ich Anjo und Lilli, die bereits in der Pausenhalle sitze und sich gut gelaunt unterhalten. Taub und schweigend lasse ich mich neben sie auf die Bank fallen und stiere geradeaus, während ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. »Hey«, sagt Lilli und zwei Augenpaare richten sich auf mich. Anjo sieht besorgt aus. Er hat selbstredend sofort gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. »Was ist los?«, will er wissen und ich spüre seine Hand auf meiner Schulter. Der bloße Gedanken an Anjo macht mich immer ruhiger, seine Anwesenheit verstärkt diesen Effekt um das Doppelte. Auch diesmal, obwohl es mir so beschissen geht. Noch mehr als Christians Familie ist Anjo ein Wunder in meinem Leben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich so viele Wunder verdient habe. »Ich werd vielleicht nicht zum Abi zugelassen«, sage ich leise und betrachte meine Knie. Wie kann es sein, dass ich so weit gekommen bin, aus der Hölle raus, in eine so nette Familie, in Christians Trainingsgruppe und zu einer Freundschaft mit Anjo und Lilli… und trotzdem noch Dinge schief gehen? Wie viel kann noch falsch laufen? »Was? Wegen Chemie?«, will Anjo entsetzt wissen und ich nicke, ehe ich stockend beginne zu erklären, was Frau Senger mir gerade gesagt hat, dass die letzte Geschichtsklausur eine Katastrophe war und dass ich einfach zu schlecht in Chemie bin, um sieben Punkte in der nächsten Klausur zu schaffen, die nebenbei bemerkt auch wirklich nicht mehr lang hin ist. »So eine Scheiße«, sagt Lilli und fährt sich durch die knalligen Haare. »Aber das mit dem Referat ist vielleicht keine schlechte Idee. Herr Reitemeier ist doch ‘n netter Kerl, ich bin sicher, dass er dir helfen wird.« Ich nicke unverbindlich. Ja, vielleicht. Vielleicht ist das die beste Lösung, denn die erforderliche Chemienote krieg ich nie im Leben. Anjo ist unterdessen damit beschäftigt, auf seinem Handy herum zu tippen. »Was machst du?«, will ich wissen, damit ich nicht weiter über das ätzende Thema reden muss. »Ich besorg dir einen Nachhilfelehrer«, murmelt er abwesend. Ich blinzele. »Du willst doch wohl nicht Christian fragen!«, entrüste ich mich bei der Eingebung daran, dass Christian Chemie studiert. Christian hat wirklich schon zu viel für mich gemacht und es wäre mir wahnsinnig unangenehm, wenn jetzt auch noch Nachhilfe hinzu käme. »Nee. Chris ist echt nicht gut im Erklären, wenn’s um sowas geht. Außerdem brauchst du den Besten. Und der Beste ist in diesem Fall ausnahmsweise nicht Chris«, informiert er mich beschwichtigend und ich hab keine Ahnung, wovon oder von wem er redet, bis er aufsieht und das Handy vorsichtig in seinen Schoß legt. Wohl, um auf eine Antwort zu warten. »Ich hab kein Geld, um Nachhilfe zu bezahlen«, sage ich dumpf. Anjo wirft mir einen Blick zu und lächelt. »Kein Problem«, sagt er. »Wen hast du gefragt?«, will ich wissen. »Felix«, sagt Anjo. Ich runzele die Stirn. Mir war nicht wirklich klar, dass Felix genau wie Christian Chemie studiert. Überhaupt ist es mir ein Rätsel, wie sich Leute freiwillig mit diesem Kram beschäftigen können. »Er hat nach der Umzugssache zu Chris gesagt, dass er gerne helfen möchte, wenn’s nochmal irgendwas gibt«, meint Anjo schulterzuckend, als wäre das alles gar kein Problem. Und mir wird klar, dass das für diese Leute wirklich kein Problem ist. Wie viele Menschen auf diesem Erdball helfen gern anderen? Ich bin bisher nur Jana begegnet, allerdings hatte ich auch wirklich nicht viel Kontakt zu anderen Leuten. All die Hilfe, die von allen Seiten auf mich einströmt, lässt mich benommen werden und die Augen schließen. Ich kann damit nicht umgehen. Keine Ahnung, wieso all diese Menschen so sehr darum bemüht sind, mir das Leben leichter zu machen. Ich versteh es nicht. Anjos Handy vibriert und ich zucke zusammen. Dann beobachte ich, wie Anjo die SMS öffnet und liest, ehe er sich lächelnd zu mir umdreht und mir das Display des Handys unter die Nase hält. Ich starre darauf und lese: »Absolut kein Problem! Gib ihm meine Adresse, er kann übermorgen um vier vorbeischauen, wenn er will. Gruß, Felix« Ich starre die Nachricht an und kann es nicht fassen, dass ich noch vor zwei Minuten verzweifelt war. Dann kommt Anjo daher und zaubert eine Lösung aus dem Hut. Ich hab keine Ahnung, wie er das immer macht. »Wie genau machst du das?«, will ich verwirrt wissen, ohne meine Frage näher zu erklären. Aber offensichtlich versteht Anjo, was ich meine, denn er lächelt verlegen und zuckt mit den Schultern. »Ich selber kann ja nichts… ich hab mir eben die richtigen Freunde ausgesucht«, sagt er verlegen. Ich buffe ihn mit der Schulter an, während Lilli uns mit einem merkwürdig zärtlichen Gesichtsausdruck betrachtet, als wären wir das Schönste, das sie jemals gesehen hat. »Das ist das Gute an Freunden. Im Gegensatz zur Familie kann man sie sich selber aussuchen«, sagt sie zufrieden und ich nicke abwesend. Obwohl ich mir Anjo nicht wirklich ausgesucht habe. Er kam zu mir. Auf merkwürdige Art und Weise haben wir uns gefunden und das ist vielleicht das größte Wunder von allen. Weil jeder andere sehr wahrscheinlich niemals mit mir hätte befreundet sein können nach allem, was ich getan hab. »Wie eine neue Familie«, murmele ich nachdenklich, lehne mich an die Wand hinter mir und schließe erneut die Augen, um darüber nachzudenken, wie ich ein weiteres Wunder von Seiten Felix‘ brauche, um zum Abitur zugelassen zu werden. Unweigerlich kommt mir der Gedanke, dass ich mit Anjo als meinem Freund alles schaffen kann, was die Welt mir in den Weg wirft. Kapitel 4: Die allseitige Hilfe ------------------------------- Guten Morgen ihr Lieben! Ich hoffe, dass ihr einen guten Start in die Woche hattet und wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, PS: Das Kapitel ist für Steffi. Ich hoffe, dass sie nicht daran zugrunde geht ò3ó ________________________________ Felix‘ Wohnung ist das genaue Gegenteil von Leons. Alles ist sorgfältig eingerichtet, die Möbel passen gut zueinander, es gibt sogar hier und da Deko. Und Zimmerpflanzen. Und vor allen Dingen ist es wahnsinnig ordentlich und sauber. Er hat sogar einen Untersetzer für das Glas O-Saft, das er mir hinstellt, als ich verdammt nervös und ein wenig peinlich berührt in seinem kleinen Wohnzimmer hocke und mich verhalten umsehe. Er ist in seinem Schlafzimmer beschäftigt und ich höre es kramen und rascheln. Ich hoffe, dass ich mich nicht so blöd anstelle, dass Felix mich nicht für einen unterbelichteten Idioten hält, ich hoffe, dass ich irgendwas verstehe und dass ich besser in Chemie werde und dass die Nachhilfe was hilft und Felix sich nicht umsonst den Arsch aufreißt, um mir zu helfen und dann seine Zeit vergeudet, weil ich doch wieder nur zwei Punkte auf die Klausur kriege… »Willst du auch was essen? Ich hab noch Lasagne von gestern übrig. Oder Lakritzschnecken?«, bietet er mir an und ich zucke ein wenig zusammen, weil ich nicht bemerkt habe, dass er wieder ins Zimmer gekommen ist. Er steht im Türrahmen und hält einen riesigen Berg Unterlagen und Ordner in den Armen. Ich schlucke. »Nee. Danke. Hab schon gegessen«, sage ich und höre den Kloß in meinem Hals auch in meiner Stimme. Felix lächelt – und es ist nicht das gruselig psychopathische Lächeln von unserem ersten Aufeinandertreffen, sondern ein sehr nettes, aufmunterndes Lächeln – und kommt zum Wohnzimmertisch herüber, um sich neben mich zu hocken und den Berg Papier auf die Tischplatte zu verfrachten. Mein Orangensaft im Glas erzittert und schlägt kleine Wellen. Der Teppich unter meinen Fingern ist ein bisschen weich und ein bisschen kratzig gleichzeitig. Und grau. »Ok, womit wollen wir anfangen? Gab’s mal eine Zeit, in der du keine Probleme hattest, Chemie zu verstehen?«, erkundigt sich Felix. Er klingt hoch motiviert und sehr freundlich. Ich möchte trotzdem am liebsten sterben, als ich den Kopf schüttele und peinlich beschämt die Augen schließe. Ich komme mir wahnsinnig blöd vor. »Kein Problem, dann fangen wir ganz vorn an«, sagt Felix. Er klingt nicht, als fände er das dumm oder witzig oder lächerlich oder total peinlich. So wie ich. Er zieht den ganz untersten Ordner hervor und ich erhasche die Worte ›Felix Prinzler, Chemie Klasse 8 – 10‹, bevor Felix den Deckel aufklappt und den Blick über die erste Seite schweifen lässt. Er hat eine ziemlich ordentliche Handschrift. Offenbar schon seit immer. Wenn ich da an meine Sauklaue denke… »Ok, wir machen jetzt einen Anfänger-Crashkurs und ich bring dir ganz zackig die wichtigsten Grundlagen bei. Kein Problem. Wenn du die Woche noch zwei Mal Zeit hast und wir zwei Stunden dran arbeiten, können wir danach mit deinem aktuellen Stoff weiter machen. Du willst ja schließlich kein Chemiker werden, sondern zum Abitur zugelassen. Und seien wir ehrlich, wenn du nach dem Abi nichts mit Naturwissenschaften machen willst, fragt dich kein Schwein nach Wasserstoffbrücken und Kohlenstoffverbindungen«, sagt er vollkommen sachlich und schiebt mir einen Notizblock und einen Kugelschreiber hin. Er hat seinen eigenen Block und Stift vor sich liegen und reibt sich kurz die Hände, ehe er den Ordner zu mir herumdreht, damit ich was sehen kann. »Ok, chemische Gleichungen…« Ich bin völlig beeindruckt von Felix‘ Art und Weise zu erklären. Chemie ist ja nicht wirklich ein Thema, wo man großartig um die eigentliche Materie drum herum erklären kann, aber er veranschaulicht die realitätsfernsten chemischen Sachverhalte mit Alltagsbeispielen und amüsanten Vergleichen. Ich kann Frau Senger echt gut leiden, aber momentan hab ich das Gefühl, sie hat ihren Beruf verfehlt. Leute wie Felix sollten Lehrer werden. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn anstarre, während er irgendwas von Sauerstoffmolekülen erzählt. Felix unterbricht sich und blickt fragend zurück. »Willst du Lehrer werden?«, platze ich heraus. Felix stutzt einen Moment, dann grinst er breit und fährt sich durch die braunen Haare. »Eigentlich nicht«, meint er amüsiert. Ich spüre, wie ich rot anlaufe. »Solltest du«, gebe ich brummig vor Verlegenheit zurück und er lacht leise, ehe er mir auf die Schulter klopft. »Wenn du so brummst, klingst du ein bisschen wie Leon«, informiert er mich. Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll, aber schließlich kann Felix Leon ziemlich gut leiden. Die beiden wirken auf eine sehr merkwürdige Art und Weise passend miteinander. Als hätte man zwei extrem gegensätzliche Farben an eine Wand geschmiert und festgestellt, dass sie viel besser miteinander aussehen, als man das erwartet hatte. Nicht, dass ich die beiden schon oft zusammen gesehen hätte. Aber mir reichen ja meistens ein paar kurze Momente, um Leute einzuschätzen. An Anjo und Chris als Paar werd ich mich womöglich nie gewöhnen. Es ist, als würde man einen sehr großen Bären mit einem winzigen Hund kuscheln sehen. »Wie lange seid ihr schon zusammen?«, erkundige ich mich nervös. Keine Ahnung, ob ich solche Fragen stellen darf. Kann. Sollte. Was weiß ich. Interaktion mit normalen Menschen ist ungewohnt und ich bin der Meister des Nicht-Könnens auf diesem Gebiet. Felix sieht aus, als müsste er ein bisschen darüber nachdenken. »Ein Jahr und sechs Tage«, sagt Felix schmunzelnd. »Aber es kommt mir schon länger vor, weil ich seit über drei Jahren hinter ihm her bin.« Oh. Felix hat ein halb amüsiertes, halb verträumtes Lächeln auf den Lippen und schaut an irgendeinen Ort in der Vergangenheit, den ich nicht sehen kann. Er sieht ziemlich zufrieden aus mit der Welt und ich stelle mir ein paar Sekunden vor, was wohl passiert wäre, wenn ich mich damals nicht dazu entschieden hätte, Anjo von mir wegzustoßen. Vielleicht wären wir dann jetzt auch ein merkwürdiges Paar aus krass unterschiedlichen Wandfarben, von denen man nie gedacht hätte, dass sie an einer weißen Wand nebeneinander gut aussehen können. Aber irgendwie sind wir das ja trotzdem. Halt nur nicht so wie es hätte sein können. Allerdings ziehe ich Anjos Freundschaft einer festen Beziehung vor. Das Wenige, was ich bisher von Freundschaft mitbekommen habe, begeistert mich zu sehr, als dass ich es für eine Beziehung über den Haufen werfen wollen würde. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Felix derjenige war, der Leon ewig nachgehechelt ist, bevor die beiden zusammen gekommen sind. Aber wenn ich mich dunkel an das Gespräch mit Leon erinnere, das er mir vor der Konzerthalle gewissermaßen aufgezwungen hat, hat er gesagt, dass er ein ziemliches Problem damit gehabt hat, sich in einen Kerl verknallt zu haben. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Leon Haare raufend durch sein Zimmer stampfen und sich laut einreden, dass er Brüste viel besser findet als Felix. Scheint nicht funktioniert zu haben. In diesem Moment höre ich einen Schlüssel in der Tür und einen Wimpernschlag später vernehme ich Leons Stimme, die mich aus meinen Leon-Felix-Pärchen-Grübeleien reißt. »Ich hab dir Froot Loops mitgebracht!« Auf Felix‘ Gesicht breitet sich ein zugegebenermaßen reichlich zärtliches Strahlen aus. »Wir können gleich weiter machen, ich geh nur schnell die Einkäufe mit wegräumen«, sagt er. »Kein Ding«, gebe ich zurück und sehe ihm nach, wie er in den Flur eilt. Ich höre ein Kussgeräusch und räuspere mich unnötigerweise diskret. Lachen und Rascheln dringt aus der Küche und dann steckt Leon seinen schmutzigblonden Haarschopf ins Wohnzimmer und hebt grüßend die Hand. »Jo!«, sagt er und lässt seinen Blick über die Unterlagen auf dem Tisch gleiten. »Wie läuft’s?« »Ganz gut, glaub ich. Ich versteh jedenfalls viel mehr als bei meiner Chemielehrerin«, antworte ich und fahre mir verlegen durch die Haare. »Chemie ist ein Arschloch. Mach dir nichts draus. Nur Wahnsinnige beschäftigen sich damit freiwillig«, versichert er mir. Ich denke daran, wie Anjo erzählt hat, dass Christian und Leon eigentlich nie wirklich miteinander reden und wenn, dann knurren sie sich nur an und machen bissige Bemerkungen. Mit mir scheint Leon kein solches Problem zu haben und ich bin ziemlich erleichtert deswegen. »Das heißt, dein Freund ist wahnsinnig?«, gebe ich ein wenig amüsiert zurück. Leon dreht sich um und wirft einen Blick über die Schulter. »Hast du das selber noch nicht bemerkt?«, gibt er grinsend und etwas gedämpft zurück. »Wer flüstert, der lügt!«, kommt Felix‘ empörte Stimme aus der Küche und einen Augenblick später schiebt er Leon vor sich her ins Wohnzimmer, ehe er sich wieder auf seinen vorherigen Platz hockt. »Hab nur gesagt, dass Chemie ein Arschloch ist«, meint Leon. Felix schnaubt schmunzelnd und tätschelt mir die Schulter. »Glaub ihm nicht. Nur weil er Schule für Zeitverschwendung hält…« »Es gibt coolere Dinge zu tun!« »Du könntest wenigstens so tun, als würdest du eine Vorbildfunktion einnehmen wollen«, stichelt Felix, doch seine Mundwinkel zucken. Leon schnaubt und zuckt in meine Richtung die Schultern. »Du schaukelst das Ding schon«, versichert er mir nüchtern. »Ich hock mich ins Schlafzimmer und mach ein bisschen Strafrecht.« Felix nickt und Leon verschwindet aus dem Wohnzimmer. »So ein Depp«, murmelt er halbherzig und zieht meine letzten Notizen zu sich heran, um sie sich anzuschauen. »Also dann, machen wir weiter?«, fragt er. Ich nicke, doch dann fällt mir noch etwas ein. »Wieso habt ihr eigentlich zwei Wohnungen? Ist das nicht Geldverschwendung?« Felix sieht mich kurz nachdenklich an. Dann lacht er. »Weiß ich tatsächlich nicht. Klingt nach ‘ner guten Idee. Vielleicht frag ich ihn später mal, was er davon hält«, gibt er zurück und schnappt sich einen Kugelschreiber. »Ich werd dich informieren, wenn dein Vorschlag angenommen wird«, nuschelt er, während er hier und da etwas auf meinem Papier ergänzt oder verbessert. »Vielleicht könnte ich dich dann auch für den Umzug einspannen.« Ich blinzele verwirrt. »Sicher. Ich mein… ihr habt mir schon beim Umziehen geholfen und jetzt auch noch die Nachhilfe und ich kann das nicht mal bezahlen und…« Felix sieht auf und bringt mich mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Ehrensache. Wirklich. Mach dir keinen Kopf drüber«, sagt er eindringlich und ich seufze lautlos, ehe ich meinen Blick wieder auf die Notizen richte und versuche mich zu konzentrieren. Wir arbeiten länger als ursprünglich geplant, aber ich bin dermaßen erleichtert, dass es so gut geklappt hat, dass ich Felix direkt nach Hausaufgaben zu übermorgen frage, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Felix mustert mich mit einem merkwürdigen Blick. Er sieht beinahe ein bisschen stolz aus. »Du willst das wirklich, was?«, fragt er, aber es klingt eigentlich mehr wie eine Feststellung. Ich nicke und er lächelt mich aufmunternd an. »Das ist großartig. Ich bin wirklich beeindruckt«, gibt Felix zurück und ich spüre, wie mir Hitze in die Wangen steigt. Es ist so merkwürdig dauernd zu hören, dass man alles richtig macht, dass Menschen beeindruckt oder stolz auf einen sind, dass sie einen unterstützen, so gut sie können. »Danke«, sage ich peinlich berührt und fahre mir schon wieder durch die Haare. Als würd ich da drin die korrekte Verhaltensweise für solche Situationen finden, die mich vollkommen überfordern. »Für heute haben wir jedenfalls genug gemacht. Ich schreib dir ein paar Aufgaben auf, die du bis übermorgen machen kannst«, meint Felix und blättert in seinem Block herum, bis er eine leere Seite findet und anfängt zu schreiben. In diesem Augenblick taucht Leon wieder auf. Er sieht aus, als hätte er sich gründlich die Haare gerauft. »Strafrecht ist scheiße«, verkündet er ungehalten und mit einem Brummen in der Stimme, was mich unweigerlich daran erinnert, wie Felix vorhin meinte, wir würden uns ähnlich anhören. »Du findest alles an deinem Studium scheiße, ich weiß wirklich nicht, wieso du es überhaupt machst«, murmelt Felix ohne den Blick von seiner Schreibarbeit zu wenden. Leon schnaubt. »Du weißt schon. Weil man nicht schlecht verdient, wenn man später mal Notar ist. Oder so«, kommt die gegrummelte Antwort und Leon betritt das Wohnzimmer und lässt sich auf Felix‘ Sofa fallen. »Ich weiß nicht, ob ich mir noch mehrere Jahre anhören möchte, wie blöd du dein Studium findest, nur damit du dann in einem Job arbeitest, in dem es um das geht, was du in deinem Studium schon nicht gern gemacht hast.« Felix klingt tatsächlich ein bisschen streng, als er das sagt, aber die Wirkung verpufft, weil er immer noch damit beschäftigt ist, meine Hausaufgaben aufzuschreiben. Leon hat offenbar keine Erwiderung auf diesen Vorwurf. Er verschränkt die Arme und beobachtet seinen Freund eingehend. »Ähm… wo ist das Bad?«, will ich wissen. Ich hab das Gefühl, ich sollte die beiden für eine Minute allein lassen. Felix sieht auf. »Die Tür hier gleich gegenüber«, sagt er lächelnd. Ich stehe hastig auf und verschwinde aus dem Wohnzimmer. Die beiden sind ein bisschen wie ein altes Ehepaar. Nur ohne das Alter und die Ehe. Unweigerlich frage ich mich, ob ich auch irgendwann mal in so einer Beziehung stecken werde. Ist schlecht vorzustellen. Ich bin keinem der beiden besonders ähnlich. Und der Gedanke an eine feste Bindung ist merkwürdig. Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, sitzt Felix neben Leon auf der Couch und hält seine Hand. Ich räuspere mich und stecke das Blatt Papier mit den Hausaufgaben in meinen Block und klappe ihn zu. »Bleibst du zum Abendessen?«, fragt Leon. Ich schüttele den Kopf. »Nee. Muss noch Hausaufgaben machen«, gebe ich zurück. Leon steht auf. »Ich fahr dich zurück«, bietet er an. Ich blinzele verwirrt und sehe auf. »Ich kann den Bus nehmen«, entgegne ich – schon wieder peinlich berührt. Soviel Nettigkeit bringt mich sicherlich bald um. »Ich kann dich auch fahren«, sagt Leon mit einem Gesichtsausdruck, der sagt ›Stell dich nicht so an, du Dussel‹. »Ok«, erwidere ich und meine Stimme hört sich eindeutig etwas kleinlaut an. Felix und ich stehen gleichzeitig auf und ich klemme mir den Block unter den Arm. »Ich hoffe, es hat geholfen. Wir sehen uns dann übermorgen um dieselbe Zeit. Viel Erfolg morgen bei Chris in der Trainingsgruppe!«, sagt er und reicht mir lächelnd die Hand. Ich ergreife sie und seufze nervös angesichts des Gedankens an morgen. »Hat auf jeden Fall ‘ne Menge geholfen. Danke. Und ich werd mir Mühe geben«, erwidere ich. »Bis übermorgen!« Dann folge ich Leon in den Flur und ziehe meine Schuhe und die warme Jacke an. Bald ist Weihnachten, es ist mittlerweile besonders eklig nass und grau draußen. Der November ist eindeutig nicht mein Lieblingsmonat. Der Gedanke an Weihnachten klingt absurd in meinem Kopf. »Wann schreibst du die Drecksklausur?«¸erkundigt sich Leon, während wir in sein Auto steigen und ich mich anschnalle. Leon startet den Wagen und lenkt ihn auf die Straße. Ich seufze schon wieder. »In drei Wochen. Und ich brauch mindestens sieben Punkte. Morgen werd ich mal mit meinem Geschichtslehrer reden, ob ich ‘n Referat oder so halten kann, um die Note auszubügeln…« Leon hält an einer Ampel und schaltet den CD-Player seines Autos ein. Irgendeine Rockband dringt leise aus den Lautsprechern. »Hast du Geschichte als LK?«, will er wissen und ich nicke. »Man soll ja eigentlich Fächer wählen, in denen man gut ist. Aber ich bin in nichts besonders gut, deswegen war’s ziemlich latte, was ich wähle«, antworte ich etwas resigniert. Leon grinst schief. »Ist doch egal. Ich hab mein Abi auch grad so geschafft. Mit ‘nem 3,6er Durchschnitt. Später fragt kein Schwein mehr nach der Note. Weißt du schon, was du danach machen willst?« »Nee. Auf keinen Fall studieren. Ich will Geld verdienen«, gebe ich zurück. Leon nickt verstehend und er sieht beinahe ein wenig nachdenklich aus, als würde er über die kurze Unterhaltung mit Felix nachdenken, die sie vorhin über sein Studium gehabt haben. Wir reden ein bisschen darüber, was ich mir für später vorstellen kann – was nicht viel ist. Was Soziales, was mit Tieren, vielleicht irgendwas Handwerkliches. Leon erzählt von seinem Studium und ich frage nach der Band. Zwischendurch gebe ich ihm Richtungsanweisungen und einmal biegen wir falsch ab, weil ich den Weg noch nicht besonders gut kenne. Aber schließlich stehen wir vorm großen Haus der Familie Sandvoss und ich schnalle mich ab. »Danke fürs Fahren«, sage ich und wir verabschieden uns mit einem Handschlag. »Kein Ding. Ich denk mal, wir sehen uns auch übermorgen wieder«, meint Leon. Ich muss grinsen. »Na dann. Bis übermorgen!« Ich schlage die Autotür zu und sehe dem Wagen noch kurz nach, während er die Straße hinunter fährt. Hoffentlich verfährt Leon sich nicht. Fröstelnd mache ich mich auf den Weg zur Haustür mit dem Buntglasfenster, den Block immer noch unter den Arm geklemmt, und klingele. Hundebellen antwortet mir, ehe die Tür von Eileen geöffnet wird. »Hello«, sagt sie lächelnd und tritt zur Seite, damit ich eintreten kann. »Hey«, gebe ich zurück und lege den Block auf den Boden, während ich mir die Schuhe und die Jacke ausziehe. »So? How was your lesson?« Ich ziehe verwirrt die Brauen zusammen und schaue zu ihr auf. Sie blickt mich erwartungsvoll an. »Ähm… ganz gut, glaub ich?« Sie legt den Kopf schief. »Excuse me?« Ich starre sie an und sie starrt zurück. Dann kommt Jana in den Flur. »Wieso spricht sie Englisch mit mir?«, will ich wissen. Jana schmunzelt. »Ich hab erzählt, dass du Englisch mündlich machst und Angst hast überall durchzufallen. Sie war ein Jahr in den USA und will wohl zu deinem Abi beitragen«, gibt Jana zurück und zuckt die Schultern. Ich sehe Eileen wieder an, die keine Anstalten macht, sich vom Fleck zu bewegen, bevor ich nicht geantwortet habe. »Ähm… it was… ok… I guess?«, sage ich. Eileen nickt zufrieden. »Great. You wanna join us for a movie? ›The day after tomorrow‹ is on«, meint sie gut gelaunt. Sie spricht, als hätte sie es ihr Leben lang gelernt. »Ok«, gebe ich matt zurück und folge Jana und Eileen ins Wohnzimmer. Der Kopf schwirrt mir von all der Hilfe und ich stelle dumpf fest, dass ich einfach nicht durchs Abi fallen kann, weil alle sich solche Mühe geben. Kapitel 5: Der wütende Partner ------------------------------ Hallo ihr Lieben! Es ist also endlich so weit und ich präsentiere euch die erste Trainingsstunde mit Chris und den ersten Vulkado-Auftritt von Gabriel. Ich bin ein bisschen nervös wegen der ganzen Trainingsgruppendynamik. Hoffentlich gefällt es euch! Viel Freude beim Lesen, eure ___________________________ Ich kann die Nacht über kaum schlafen, weil ich dermaßen aufgeregt vor dem ersten Training mit Christian bin. Jana zwingt mich zwei Mal zum Essen und eigentlich wollte ich nach der Schule noch ein paar von den Chemiehausaufgaben machen, die Felix mir gegeben hat. Aber ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich so nervös bin. Um halb vier stopfe ich meine Sportsachen in meinen Rucksack und Tim hat angeboten, mich in die Stadt zu fahren, weil er sowieso noch eine Freundin von sich besuchen will. Er singt die ganze Fahrt voller Begeisterung Wise Guys – wie er mir geschockt mitteilt, als ich ihn frage, was das für eine Band ist – und erspart mir somit eine Unterhaltung. Vor der Halle angekommen dreht er die Musik kurz leiser und klopft mir kräftig auf die Schulter. »Lass dich von meinem großen Bruder nicht ärgern«, sagt er grinsend. Ich nicke und bringe ein Lächeln zustande. »Danke fürs Fahren, man«, sage ich und winke zum Abschied. Dann wende ich mich der Halle zu, atme einmal tief durch und mache den nächsten Schritt auf dem langen Weg zu einem hoffentlich besseren Leben. Ich ziehe mich um und betrete die Halle, die noch vollkommen leer zu sein scheint. Ich bin zu früh und sehe mich kurz um, aber viel gibt es in so einer Sporthalle nicht zu sehen. »Ah, Benni. Du bist schon da«, höre ich Christians Stimme hinter mir und drehe mich um. Er trägt eine rote Trainingshose und ein weißes Muskelshirt. Seine Oberarme kommen mir vor wie Baumstämme. »Hey«, sage ich ein wenig verlegen, lasse mich auf den Boden sinken und lehne mich gegen die Hallenwand. »Nervös?«, will Christian wissen und mustert mich. Ich nicke. Die Information bringt ihn dazu, mich in Frieden hier sitzen zu lassen und nach und nach trudeln die anderen Mitglieder der Gruppe ein. Ich erinnere mich dunkel daran, dass Christian bereits weiß, mit wem er mich zusammen in eine Gruppe stecken will. Mit dem kleinen Bruder eines Bekannten. Ich sehe mich erneut in der Halle um und mustere die sechs anderen Jungs, die alle ausgesprochen abweisend und bemüht gelangweilt in der Gegend herum starren. Christian ist damit beschäftigt mehrere Boxsäcke, die von einer Deckenhalterung herunter hängen, in die Mitte der Halle zu ziehen. Als er damit fertig ist, sieht er sich suchend um. »Gabriel fehlt noch«, sagt er halb in meine Richtung. »Der Kerl, mit dem ich trainieren soll?«, gebe ich zurück. Christian nickt und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er sie ablegt und ins Trainerbüro bringt. Christian pfeift laut durch die Zähne, um die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen und sechs schlecht gelaunte Augenpaare richten sich auf ihn. Ich bin ungewollt beeindruckt davon, wie gleichgültig Christian angesichts dieser offenen Ablehnung auftritt. »Setzt euch«, sagt er. Ich hatte fast vergessen, dass dies hier nicht der Christian ist, den man privat kennenlernt. Über all die Jahre hinweg hab ich mehr oder weniger unfreiwillig gelernt Menschen und Stimmungen zu lesen. Und die Autorität, die leichte Strenge im Ton, die übermäßig gerade Haltung und der leicht erhobene Kopf machen mir klar, dass Christian in dieser Halle von Anfang an demonstrieren muss, wer der Boss ist. Und er ist der Boss. Ganz klar. Jede seiner Bewegungen spricht von Stärke und Unnachgiebigkeit. Er wirkt bis in jede Kleinigkeit seines Verhaltens professionell. Die Jungs kommen langsam und deutlich unwillentlich näher und hocken sich auf den Hallenboden. Ich tu es ihnen gleich und mustere sie so unauffällig wie es geht – ich hab auf schmerzhafte Art und Weise gelernt, dass manchmal ein völlig harmloser Blickkontakt schon Aggressionen auslösen kann. Christian hat sie alle beim Namen genannt und auf einer Liste eingetragen, als sie angekommen sind. Karol, Ismail, Jason, Paul, Dominik und Gero. Gott sei Dank hab ich ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis. Dominik ist ein Riese. Er ist wahrscheinlich nicht so groß wie Christian, aber doppelt so breit und wahrscheinlich auch doppelt so schwer. Seine kleinen Augen mustern den neuen Trainer feindselig, als wäre Christian schuld an all seinem Übel. Gero ist klein und schlaksig, hat dunkle Ringe unter den Augen und knibbelt nervös an seinen Fingern herum. Seinen rechten Mittelfinger hat er dermaßen bearbeitet, dass er blutet, aber Gero scheint nichts zu merken. Karol hat scharfgeschnittene Gesichtszüge und hohe Wangenknochen, sehr dunkle Augen und sein Kiefer ist unübersehbar angespannt, so als müsste er sich davon abhalten, Christian Beleidigungen entgegen zu werfen. Ismail hat einen dunklen Bartschatten, buschige Augenbrauen und eine Goldkette um den Hals, Jason ist eindeutig der Jüngste hier und er starrt scheinbar gelangweilt an die Decke. Paul sieht merkwürdigerweise aus wie der Vorzeigeschüler und Traum eines jeden Mathelehrers. Er trägt eine Brille, seine Haare sind gescheitelt und er ist blass, als würde er Tag und Nacht über seinen Schulbüchern hängen und nur selten mal aus der Wohnung kommen. »Die Kette muss ab«, sagt Christian zu Ismail, der zu ihm aufschaut und aussieht, als würde er protestieren wollen, aber dann steht er auf und fasst sich mit beiden Händen in den Nacken, um die Kette anschließend in die Tasche seiner Trainingshose gleiten zu lassen. »Wie schlecht siehst du ohne Brille?«, erkundigt sich Christian bei Paul. Der zuckt mit den Schultern. »Gut genug um ‘nen Boxsack zu sehen, schätz ich«, sagt er mit gleichgültiger Stimme und er steht auf, um seine Brille ins Trainerbüro neben Christians Uhr zu legen. Christian öffnet gerade den Mund, um erneut zu sprechen, als die Tür zur Halle aufgeht und der letzte aus unserer Gruppe die Halle betritt. Derjenige, mit dem ich ein Team bilden soll. Mein Kopf dreht sich automatisch in die Richtung des Neuankömmlings und ich muss mich sehr zurückhalten, um meine Kinnlade nicht in den Schoß fallen zu lassen. Wenn ich mir bisher noch nicht sicher war, dass ich auf Männer stehe, – und nicht vielleicht nur auf Anjo – dann weiß ich es jetzt. Verdammte Scheiße, ist der Typ geil. Und das habe ich eindeutig noch nie über einen anderen Mann gedacht. Nicht mal über Anjo. Er hat offensichtlich irgendeine asiatische Abstammung, eine flache Nase, fast schwarze, mandelförmige Augen und seidig glänzende, schwarze Haare, die ihm widerspenstig ins Gesicht fallen. »Ah, Gabriel«, sagt Christian und nickt dem letzten Gruppenmitglied begrüßend zu. »T’schuldige die Verspätung, es gab ‘nen Unfall hinten beim Kreuzring«, erklärt er mit ruhiger Stimme. Ich bin am Arsch. Benni, du Trottel, du kannst nicht trainieren, wenn du deinen Teamkollegen nicht angucken kannst, ohne ihm an die Wäsche gehen zu wollen. »Setz dich«, sagt Christian und Gabriel hockt sich zwischen Ismail und Karol. »Hallo allerseits«, begrüßt Christian die kleine Gruppe und lässt sich vor uns im Schneidersitz nieder. Ich frage mich, ob alles, was er tut, einen besonderen Hintergrund hat. Wenn er vor uns steht und wir zu ihm hochschauen müssen oder wenn er vor uns auf Augenhöhe sitzt… für mich macht es tatsächlich einen Unterschied, aber ich weiß nicht, ob es Absicht ist und ob irgendwer anders es gemerkt hat. Ich muss mich sehr bemühen, Gabriel nicht anzustarren, also betrachte ich Christian besonders konzentriert. »Ihr wisst schon alle, dass ich Chris heiße und ich weiß, wie ihr heißt, aber eure Teamkollegen haben keine Ahnung. Deswegen wird jetzt jeder einmal kurz sagen, wie er heißt und wieso er hier ist.« Allseitiges Murren. Nur Gabriel scheint kein Problem damit zu haben. »Wer fängt an?«, fragt Christian. Gabriel hebt ohne Scheu die Hand und Christian nickt ihm zu. »Ich bin Gabriel und ich bin hier, weil ich einen Kerl krankenhausreif geprügelt hab, nachdem er mich als Schwuchtel beschimpft hat.« Stille. Ich lasse den Kopf sinken. Großartig. Was denkt sich Christian dabei, mich mit so einem zusammen zu stecken? Wenn ich gleich die Hälfte davon erzähle, weswegen ich hier bin, – und ich werd einen Scheißdreck über meinen Erzeuger sagen – dann reißt er mich vermutlich in Stücke. Gabriels Ellbogen liegen auf seinen Knien und er schaut in die Runde, beinahe als wolle er jemanden dazu auffordern, eine Bemerkung dazu zu machen. Und die Bemerkung kommt. »Stimmt es denn?«, will Karol prompt wissen. Er spricht mit osteuropäischem Akzent. Ein amüsiertes Schnauben geht rundum. Ich halte die Luft an und… »Ja.« Dröhnende Stille. Das nächste Schnauben ist verächtlich und ich sehe mindestens drei angewiderte Mienen. Großartig. Es wird ganz locker laufen hier in dieser Gruppe, in der die meisten Schwule eklig finden. Wie macht Christian das bloß? Er sieht vollkommen gelassen aus, als würde ihm diese Situation nichts ausmachen. »Wenn das nicht eine wunderbare Gelegenheit ist, um sich in Akzeptanz zu üben«, sagt er in aller Seelenruhe und betrachtet jedes Gesicht. »Zwei Homosexuelle in der Gruppe–« »Wer soll denn hier sonst noch ‘ne Schwuchtel sein?«, will Ismail wissen. Christian hebt die Augenbrauen. Einen winzigen Augenblick lang hab ich Panik, dass er gleich meinen Namen nennt, aber… »Ich.« Die Stille, die jetzt folgt, ist noch lauter als die vorherige. »Alter, ich lass mich doch nicht von ‘ner Schwuchtel bevormunden«, folgt eine angewiderte Erwiderung von Karol, der tatsächlich blass geworden ist und aussieht, als würde er Christian am liebsten vor die Füße kotzen. Er scheint am meisten Probleme mit der momentanen Situation zu haben. Ismail und Gero sehen auch nicht begeistert aus, aber sie wirken nicht so angewidert wie Karol. Gabriels Kiefermuskeln zucken, als er heftig die Zähne zusammenbeißt. Er ballt die Hände zu Fäusten und ich sehe, dass es für ihn –genauso wie für mich – absolut richtig war, hierher zu kommen. Es kostet ihn offensichtlich extrem viel Disziplin nicht aufzuspringen und Karol an die Gurgel zu gehen. Christian steht auf und blickt nun wieder auf uns hinunter. Der Unterschied ist gravierend. »Das hier ist meine Halle. In meiner Halle wird kein Unterschied gemacht zwischen solchen Dingen. Wer jemand anderen beleidigt, weil seine Eltern nicht deutscher Abstammung sind, oder weil er schwul ist, oder weil er keine Hose von Adidas trägt, oder weil er nicht dieselbe Religion teilt, der wird Runden laufen, bis er umfällt. Ihr werdet euch damit abfinden, dass euer Trainer homosexuell ist und ich versichere euch, dass ich mit euch halbstarken Waschlappen den Boden wischen könnte, wenn ich wollte. Dafür muss ich nicht hetero sein«, erklärt Christian mit völlig ruhiger Stimme. Ich habe mich schon damit abgefunden, dass ich für Christian großen Respekt entwickelt habe, aber ich war nicht darauf vorbereitet, dermaßen von ihm beeindruckt zu werden. »Wer noch irgendwelche Bemerkungen über meine Sexualität hat, der kann jetzt aufstehen und mir in einem Kampf demonstrieren, dass er mir überlegen ist, weil er mit Frauen schläft.« Natürlich steht niemand auf. Sie alle blicken nun zu Boden, bis auf Gabriel, dessen Augen Christian folgen, als er vor uns auf und ab geht. Er hat sich merklich entspannt, auch wenn er nun aussieht, als wäre er auf sich selbst wütend. »Schön, dass wir uns einig sind. Dann würde ich sagen, ihr reißt euch jetzt ein bisschen zusammen und wir beenden den Sitzkreis lieber früher als später. Und dann können wir das machen, worin ihr besser seid, als im Reden. Draufhauen«, meint er, setzt sich wieder zu uns auf den Boden und Köpfe heben sich grinsend nach seinem letzten Statement. Eigentlich sollte das wohl kein Kompliment sein. Aber Christian ist sich offensichtlich im Klaren darüber, welche Sprache er hier sprechen muss, um angehört zu werden. Ich könnte so etwas im Leben nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht gern vor anderen spreche, würde ich mich nie so im Zaum halten können. Aber gut, genau deswegen bin ich ja hier. Christian sieht überrascht aus, als ich als nächstes die Hand hebe. Ich schaue niemanden an, als ich rede und ich sage nur die Hälfte von dem, wieso ich hier bin. Aber das hier soll ja ganz offenkundig auch kein Seelenstriptease werden. »Ich bin Benni und ich bin hier, weil ich… einen Jungen von meiner Schule für fast ein Jahr fertig gemacht hab… weil er schwul ist.« Ich kann nicht anders und schaue kurz zu Gabriel hinüber, der mich jetzt betrachtet, als würde er mir – genauso wie vorhin Karol – gerne den Hals umdrehen. Wieso will Christian mich mit ihm in ein Team stecken? Ich fasse es nicht. Wahrscheinlich ende ich als lebender Punchingball. Ich hab auf seltsame Art und Weise ein schlechtes Gewissen, als hätte ich ihm genauso Unrecht getan wie Anjo. Das ist Blödsinn, weil ich mich geändert hab. Aber das weiß Gabriel ja nicht. Die Geschichten sind alle ähnlich. Prügeleien hier, Prügeleien dort, Auffälligkeit in der Schule. Nur Paul fällt aus dem Raster, als er verkündet, er hätte den Gartenschuppen seiner Nachbarn angezündet. Wow. Krass. Für zwei Sekunden bin ich abgelenkt und vergesse, dass Gabriel mich hasst und ich gleich mit ihm zusammen trainieren muss. Es fällt mir sehr schnell wieder ein, als unsere Blicke sich treffen. Als Christian schließlich aufsteht und die Teams verkündet, wird mir klar, dass Gabriel noch nicht wusste, dass er mich als Partner haben würde. Er sieht geschockt und ungläubig aus und während ich hinüber zu dem uns zugeteilten Boxsack gehe, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie er auf Christian zugeht und ihm wohl sagt, dass er nicht mit mir trainieren will. Ein toller Anfang. Mein Trainingspartner hasst mich. Die beiden reden einige Zeit miteinander und schließlich seufzt Gabriel und kommt tatsächlich zu mir herüber. Allerdings beachtet er mich nicht. Ich schaue ihn dafür umso mehr an. Unweigerlich muss ich mir vorstellen, was passiert wäre, wenn Anjo genauso geworden wäre. Nicht ängstlich und schüchtern, sondern wütend. So wütend wie Gabriel. Die beiden haben offenbar etwas Ähnliches durchgemacht und haben sich vollkommen unterschiedlich entwickelt. Ich kann meine Augen nicht wirklich von ihm weglassen. Dreck. »Oh, und Gabriel?« Gabriel sieht auf und zu Christian hinüber. »Vergiss nicht. Kein Kampfsport außerhalb von dem, was ich euch beibringe!« Gabriel nickt und richtet sich ein wenig auf, so als wäre er sehr entschlossen Christian zu zeigen, dass er Disziplin hat. Mein Herz fühlt sich an, als würde es gleich explodieren. Ich räuspere mich unbeholfen. »Du… äh… machst Kampfsport?« Gabriel dreht mir den Kopf zu und verengt die Augen zu Schlitzen. »Seit ich sechs bin. Also pass auf, was du sagst«, grollt er und wendet den Blick sofort wieder ab. Wahnsinn. Die Kontaktaufnahme hat ganz klar super funktioniert und ich hab mich beinahe nicht total zum Idioten gemacht. Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das hier alles eine gute Idee ist. Als Gabriel sich zu mir umdreht, wird mir klar, dass Christian uns Anweisungen gegeben hat und ich keine Ahnung hab, was er gesagt hat. Gabriel zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt leicht den Kopf. Dann joggt er los und ich folge ihm verwirrt. Zwei Sekunden später wird mir klar, dass wir uns aufwärmen sollen. »Wie viele Runden?«, frage ich Gabriel. »Erstmal zehn«, kommt die knappe Antwort. Also laufen wir. Ich habe so gut wie überhaupt keine Kondition, aber ich bin nicht der einzige, dem es so geht. Gabriel scheint am wenigsten Probleme zu haben. Er läuft so schnell, dass ich mich frage, wie er noch nicht vollkommen aus der Puste sein kann, aber wenn er seit so vielen Jahren regelmäßig Kampfsport macht, hat er vermutlich eine Wahnsinnsausdauer. Ich muss mich sehr bemühen, diese Erkenntnis nicht in zweideutige Gedanken abschweifen zu lassen. »Gabriel, du weißt besser, wie viel du brauchst, um aufgewärmt zu sein«, ruft Christian ihm zu und Gabriel nickt. Dann legt er tatsächlich noch einen Zahn zu und überholt uns mehrere Male, während wir unsere zehn Runden absolvieren. Als wir schließlich alle keuchend zum Stehen kommen, hab ich Seitenstechen und ein Brennen in der Lungengegend. »Geht in eure Zweierteams zum Dehnen«, fordert Christian uns auf und mein Herz, das ohnehin schon sehr schnell von der Anstrengung hämmert, stolpert nervös. Christian scheint zu denken, dass Gabriel und ich keine Einweisung zum Dehnen brauchen, denn er zeigt den anderen ein paar Übungen, ohne auf uns zu achten. »Leg dich hin«, sagt Gabriel. Ich blinzele verwirrt. »Dehnübungen?«, fügt Gabriel etwas genervt hinzu. »Oh. Achja. T’schuldige«, sage ich peinlich berührt und lege mich auf den Boden. Gabriel mustert mich einen Moment lang mit zusammengezogenen Brauen, als wüsste er nicht so richtig, wie er mein beklopptes Verhalten mit einem gewalttätigen Schwulenhasser vereinbaren soll. Dann zuckt er kaum merklich die Schultern und hockt sich neben mich, um nach meinem rechten Fuß zu greifen und mein Bein nach oben und in Richtung meines Oberkörpers zu drücken. »Bein gestreckt lassen«, weist er mich an. Wahrscheinlich kriege ich gleich einen erniedrigenden Krampf im Bein. »Du bist nicht besonders gelenkig«, informiert er mich und macht das Ganze noch mal mit dem anderen Bein. Ich schnaube. »Hab ja auch nie Sport gemacht«, gebe ich gepresst zurück. Vielleicht fällt mein Bein gleich ab. »Hat damit ja nichts zu tun. Ich kenn unsportliche Leute, die gelenkig sind.« Er fordert mich auf, mich hinzusetzen und die Beine breit zu machen. Mein Kopf sieht wahrscheinlich aus wie eine überreife Tomate. Er setzt sich in derselben Position vor mich, stemmt seine Füße gegen meine und streckt die Hände aus. Ich sehe ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. »Deine Hände«, sagt er. Ich strecke meine Hände aus und Gabriel greift sie sich, dann zieht er mich nach vorn, wobei er seinen Oberkörper weit nach hinten lehnt. Ich ächze. »Steif wie ein Brett«, meint Gabriel kopfschüttelnd. »Zieh du mal«, fordert er mich anschließend auf und ich lehne mich nach hinten, wie er es getan hat. Ganz offensichtlich kann ich mich beinahe auf den Boden legen, Gabriels Oberkörper berührt fast den Boden zwischen seinen Beinen. Er scheint wahnsinnig gelenkig zu sein. Wir machen noch einige andere Übungen, bis mir jeder Muskel in meinem Körper wehtut. Gabriel steht schließlich auf und schüttelt sich. »Hm«, murmelt er. »So richtig warm gemacht fühl ich mich nicht.« Ich starre ihn an. Die Vorstellung, jetzt noch auf einen Boxsack einzuprügeln, lässt meine Muskeln aufstöhnen. »Ich geh noch ein paar Runden rennen«, sagt er und ist auch schon losgelaufen. Christian beachtet ihn gar nicht, sondern überwacht die Dehnübungen der anderen. Ich sehe, dass sie nicht sonderlich erpicht darauf sind, sich anzufassen. Vor allem Karol weigert sich standhaft gegen alle Übungen, die Körperkontakt beinhalten. Christian lässt sich davon allerdings nicht aus der Ruhe bringen und als Gabriel schließlich fünf weitere Runden in einem Wahnsinnstempo gerannt ist, kommt er tatsächlich schwer atmend und mit Schweißperlen auf der Stirn zurück zu mir. »Jedes Team an einen Boxsack«, ruft Christian und ich wende mich dem blauen Ding zu. »Hier ist die Aufgabe«, sagt Christian und schreitet vor den Boxsäcken auf und ab. Gabriels Augen haften an ihm, als wäre Christian das Spannendste, was er jemals gesehen hat. Gegen meinen Willen werde ich ein wenig brummig auf meinen neuen Trainer. Christian verteilt Boxhandschuhe an uns, während er fortfährt. »Einer von euch hält den Boxsack fest, der andere denkt an das, was ihn besonders sauer macht und schlägt so fest wie möglich gegen das Ziel. Die Beine lassen wir noch weg, ihr sollt erstmal ein bisschen Dampf ablassen. Ich sag Bescheid, wenn’s Zeit zum Tauschen ist.« Gabriel drückt mir die Handschuhe gegen die Brust und ich ziehe sie über, während ich nervös von einem Bein aufs andere trete. Gabriel greift den Boxsack mit beiden Händen und sieht mich auffordernd an. Ich schlucke. Dann schließe ich kurz die Augen und versuche, tief durchzuatmen. Aber stattdessen huschen Bilder durch meinen Kopf, von dem Erzeuger, den ich bis zu meinem neunten Lebensjahr ›Papa‹ genannt habe. Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich Gabriel überhaupt nicht mehr. Der Boxsack hat das Gesicht des Erzeugers erhalten und obwohl ich schon öfter in Prügeleien verwickelt war, hab ich noch nie so fest zugeschlagen wie in diesem Moment. Die Vorstellung, dass ich es ihm heimzahlen könnte, all das, was er Jana und mir angetan hat, stachelt mich an und meine Umgebung verschwimmt in einem Rausch aus Erinnerungen und erdachten Szenarien, in denen ich mich gegen die Schläge wehre. Als sich eine Hand auf meine Schulter legt, wirbele ich herum, bereit wem auch immer einen heftigen Schlag zu verpassen, aber meine Faust wird problemlos abgefangen und ich starre hoch in Christians braune Augen, die ernst und wissend zu mir hinunterschauen. »Tauschen«, sagt er bloß und meine Muskeln verlieren all ihre Anspannung und ich sacke ein Stück in mich zusammen. Erst, als ich mich wieder zu dem Boxsack umdrehe, um ihn für Gabriel festzuhalten, wird mir klar, dass alle in der Halle mich anstarren. Es ist so still, dass man eine Nadel auf den Boden fallen hören könnte. Mir rauscht noch das Blut in den Ohren und ich atme schwer. »Tauschen«, erinnert Christian die anderen und sie wenden sich von Gabriel und mir ab und wenden sich ihrer Aufgabe zu. Gabriel mustert mich mit schiefgelegtem Kopf, als würde er in meinem Gesicht irgendwas Bestimmtes suchen. Ich komme mir vor wie der furchtbarste Mensch auf der Welt. Großartig. Ich hab völlig den Kopf verloren und jetzt denken alle, dass ich ein gewalttätiger Berserker bin. Ich ziehe die Handschuhe aus und halte den Boxsack fest. Gabriels Blick weilt noch einen Wimpernschlag auf mir, dann wendet er sich dem Ziel zu. Ich sehe verwirrt zu, wie er kurz die Hände aneinanderlegt, die Augen schließt und sich leicht verbeugt. Einen Moment lang weiß ich nicht, was merkwürdig ist, bis Gabriel sich aufrichtet und anfängt, auf den Boxsack einzuschlagen. Ohne Handschuhe. Seine dunklen Augen sehen aus, als würden sie in Flammen stehen. Er muss wirklich sehr wütend sein. Mehrmals sehe ich, wie er aus dem Rhythmus kommt und sich offensichtlich daran erinnern muss, dass er die Beine nicht benutzen darf. »Hey, Gabriel«, sagt Christians Stimme neben uns und Gabriel stoppt sofort, wendet sich Christian zu und wischt sich mur dem Handrücken über die Stirn. Christian sieht aus, als müsste er sich ein Schmunzeln verkneifen. »Handschuhe.« Gabriel seufzt, nickt, und zieht das Paar Handschuhe über, das ich vorhin auch schon getragen habe. Ich habe große Mühe, den Boxsack festzuhalten, weil Gabriels Schläge eine solche Wucht haben, dass er mir mehrmals beinahe aus den Händen gleitet. Ich könnte meinen Blick durch die Halle schweifen lassen und die anderen beobachten, aber stattdessen mustere ich Gabriels konzentriertes Gesicht, die unheimlich schnellen und präzisen Schläge… »Stopp«, ruft Christian und Gabriel hält sofort inne, steht schwer atmend neben dem Boxsack und wendet sich unserem Trainer zu. Christian verbringt die nächste Zeit damit uns beizubringen, wie man die Hände halten muss, wie der richtige Stand ist, wenn man tatsächlich mal Zweikämpfe im Kickboxen austragen und nicht immer nur unkontrolliert auf einen Boxsack einprügeln will. Ich bin sicher, er hat uns erst einmal auspowern wollen, bevor er zur Technik kommt und ruhig mit uns spricht. Wir bekommen erklärt, dass die nächsten Wochen vor allem auf Konditionstraining hinauslaufen werden. Am Ende der Stunde bin ich vollkommen fertig und meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding. Die anderen sehen auch erschöpft aus, nur Gabriel bewegt sich, als könnte er noch Bäume ausreißen. Christian folgt uns in die Umkleide. Dumpf kommt mir der Gedanke, dass für den Rest des Tages niemand mehr irgendwelche Prügeleien starten könnte, weil wir alle viel zu fertig sind. Bis auf Gabriel. Es erscheint mir total logisch, uns auszupowern. Wir reagieren uns in der Halle ab, anstatt irgendwo auf der Straße auf jemanden loszugehen, der uns schief angesehen oder beleidigt hat. Gabriel, Christian und ich sind die Einzigen, die direkt nach dem Training duschen gehen. Die anderen ziehen sich so hastig wie möglich um und verschwinden ohne sich zu verabschieden. Auch daran scheint Christian sich nicht zu stören. Ich muss mich sehr zusammenreißen, um Gabriel nicht ununterbrochen anzustarren. Vor allem beim Duschen. Man duscht für gewöhnlich nackt, wie mir klar wird, als Gabriel seine Klamotten ohne den kleinsten Skrupel ablegt und unter einen der Duschköpfe tritt. Christian beobachtet mich mit einem amüsierten Funkeln. Er scheint jetzt nicht mehr in seinem Trainermodus zu sein, sondern sieht wieder aus wie der private Christian. Ich werfe ihm einen ungnädigen Blick zu, während mein Gesicht heiß wird und ich beeile mich, meine Kleidung ebenfalls loszuwerden und zu duschen. Gabriel ist schlank und trotzdem unheimlich muskulös. Er wirkt ein bisschen wie eine Raubkatze, die Art, wie er sich bewegt, wie sich die Muskeln an seinem Rücken bewegen… Ich sollte eindeutig nicht mehr starren. Sonst trete ich in Anjos Fußstapfen, der mir peinlich berührt mitgeteilt hat, dass er beim ersten Mal duschen mit Christian ein Rohr bekommen hat und dann beinahe auf die Schnauze geflogen wäre. Ich bin der erste, der fertig ist und sich in ein Handtuch wickelt. Ich versuche Christians und Gabriels Statur miteinander zu vergleichen und komme lediglich auf den beknackten Vergleich zwischen Grizzlybär und Panther. Vielleicht sollte ich mir einfach schleunigst was anziehen. Als ich die Umkleide betrete, sitzt Anjo auf einer der Bänke und lächelt mir entgegen. »Wie war’s?«, erkundigt er sich bei mir und schaut gespannt zu mir hoch. Ich räuspere mich und werfe einen Blick über die Schulter. Von Gabriel oder Christian ist nichts zu sehen. »Ganz ok, denk ich. Abgesehen davon, dass mein Trainingspartner mich hasst, weil er denkt, dass ich ein schwulenhassender Schläger bin«, informiere ich Anjo und trockne mich ab. Vor Anjo macht es mir tatsächlich nichts mehr aus, nackt zu sein. Der hat ja auch eigentlich schon fast alles gesehen. Anjo dreht seinen Kopf trotzdem diskret zur Seite. »Wieso denkt er das?«, will er wissen. »Weil ich gesagt hab, dass ich hier bin, weil ich dich ein Jahr lang in der Schule fertig gemacht hab, weil du schwul bist. Ich hatte keine Lust meine halbe Lebensgeschichte aufzutischen. Und irgendwie stimmt’s ja auch«, erkläre ich trocken und ziehe mir gerade meinen Pullover über den Kopf, als Gabriel und Christian in die Umkleide kommen. Christian grinst breit, als er Anjo sieht. Anjo steht auf und die beiden küssen sich auf den Mund. Es sieht immer noch komisch aus. Mein bester Freund ist neben Christian winzig und zerbrechlich. Und Christian… nun ja. Grizzlybär halt. »Gabriel, Anjo. Mein Freund«, stellt Christian die beiden vor und ich beobachte mit einem zufriedenen Gefühl im Magen, wie sich auf Anjos Gesicht ein glückliches Strahlen ausbreitet, als er Gabriel die Hand gibt. Er hat sich noch bei weitem nicht dran gewöhnt, dass er jetzt mit Christian zusammen ist. Ich auch nicht. Aber ich freu mich sehr für Anjo. Anjo kommt zu mir herüber und bufft mir leicht mit der Faust gegen die Schulter. »Lilli und ich wollen nachher zusammen für die Englischklausur lernen. Sie hat gesagt, ich soll dich mitbringen«, informiert Anjo mich gut gelaunt. Ich fange Gabriels verwirrten Blick auf. Schwulenhassender Schläger gut befreundet mit dem schwulen Freund des Trainers. Passt ganz offensichtlich nicht zusammen. Aber er fragt nicht, sondern zieht sich schweigend an. »Englisch«, gebe ich mit einem angestrengten Stöhnen zurück. Abitur. Vorklausuren. Ich verdränge die Schule momentan so gut es geht. Das ist nicht die schlauste Idee, aber ich hab so viel Kram um die Ohren, dass ich mich sowieso auf nichts konzentrieren kann. Aber mir ist klar, dass Eileens Üben mit mir wohl nicht ausreichen wird, um mein Englisch bis zum Abi so gut es geht aufzupolieren. Und wir schreiben bald eine Klausur. »Ja. Nächste Woche ist die Klausur. Ich bin auch nicht besonders scharf drauf, aber Lilli ist ziemlich gut in Englisch. Wird schon schiefgehen«, sagt Anjo und tätschelt mir kurz den Kopf. Ich spüre Gabriels Blick im Nacken. »Sina will Thailändisch bestellen, möchtest du mitessen?«, erkundigt sich Christian in diesem Moment bei mir und wenn Gabriel vorher schon verwirrt war, dann ist er es jetzt noch mehr. Ich grinse verlegen und nicke. »Will nur Jana eben ‘ne SMS schreiben, damit sie weiß, dass ich erst später komme. Dann kann sie deinen Eltern auch gleich Bescheid sagen«, gebe ich zurück und krame mein Handy hervor. »Bis nächstes Mal«, sagt Gabriel in diesem Moment und wir drehen uns zu ihm um. Er lächelt Anjo zu. »War nett dich kennen zu lernen.« Anjo lächelt zurück und Gabriel schwingt seine Tasche über die Schulter und verlässt die Umkleide. Ich seufze. »Ich glaub nicht, dass er dich hasst. Er muss dich nur besser kennen lernen«, versichert Anjo mir. Es ist so typisch Anjo, dass ich lachen muss. Irgendwann gewinnt mein bester Freund sicher den Friedensnobelpreis. Als wir die Halle gemeinsam verlassen und einem thailändischen Abendessen entgegengehen, hoffe ich dunkel, dass Gabriel mich wirklich nicht dauerhaft hasst. Kapitel 6: Die versiegten Tränen -------------------------------- Hallo ihr Lieben! Nach gefühlten drei Jahren melde ich mich mit dem nächsten Kapitel zurück. Ich stecke noch mitten in meiner Bachelor-Arbeit, aber vorgestern hat meine Lieblingsmuse mich geküsst und ich hab fast in einem Rutsch das Kapitel fertig geschrieben. Deswegen ist das Kapitel auch für sie. Seit jedenfalls versichert, dass ich die Geschichte nicht vergessen hab, sie ist nach wie vor in meinem Kopf präsent und wird auf jeden Fall beendet. Aber eben erst nach der BA-Arbeit ;) Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefällt! Liebe Grüße, ___________________________________________ »So, Benjamin…« »Benni. Bitte.« »Ok, Benni«, sagt Frau Doktor Ehrmann und lächelt mich freundlich an. Sie hat ein Klemmbrett locker auf den Knien liegen und die Beine übereinander geschlagen. Ihre Haare sind ganz kurz und schon ziemlich grau, genau wie ihre Augen hinter den eckigen Brillengläsern. Mein Brustkorb fühlt sich unangenehm eng an und meine Handflächen sind vor Nervosität ganz feucht. Ich habe sie auf meine Beine gelegt und in meine Hose gekrallt, wo die Fingerknöchel jetzt weiß hervortreten. Wahrscheinlich ist es unhöflich, dass ich ganz vorn auf der Stuhlkante sitze, als wollte ich jeden Augenblick aufspringen, aber ich kann mich nicht entspannen und tiefer in den gemütlichen Stuhl sinken lassen. Alles in mir schreit danach, diesen Raum zu verlassen. Mein ganzer Mut scheint sich irgendwo draußen vor der Tür verkrochen zu haben, denn ich bin mir plötzlich ganz und gar nicht mehr sicher, ob das hier eine gute Idee ist, einer fremden Frau von meinem Leben zu erzählen. Geschichten womöglich, die ich noch nicht mal Anjo erzählt hab und vielleicht auch niemals erzählen werde. »Wollen wir vielleicht einfach damit anfangen, dass du mir ein bisschen von deiner Familie erzählst? Was immer dir einfällt«, schlägt Doktor Ehrmann vor und sieht mich ermutigend an. Ihre Stimme ist angenehm, aber das lindert die Aufregung und das Unbehagen nur mäßig. Ich zwinge mich dazu, an Anjo und Jana zu denken. Das beruhigt mich eigentlich immer. »Wissen Sie das nicht alles schon von Jana?«, frage ich unsicher und ziehe die Schultern hoch. Sie lächelt. »Menschen erleben Dinge oftmals sehr unterschiedlich, auch wenn sie dasselbe durchgemacht haben. Außerdem geht es hier ja auch nicht um Jana, sondern um dich«, erklärt sie und ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um sie nicht sofort zu korrigieren. Es geht immer um Jana. Aber das weiß diese Frau wohl nicht. Noch nicht zumindest. »Ähm… ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, gebe ich zurück. Meine Stimme klingt, als hätte sie ihre Aufgabe verlernt. »Wen zählst du zu deiner Familie?«, will sie wissen. »Jana.« Ich zögere einen Augenblick. »Und Anjo.« »Wer ist Anjo?«, erkundigt sie sich bei mir. Ich seufze und schlucke geräuschvoll. »Anjo ist… mein bester Freund. Und er ist derjenige, der mich rausgezogen hat. Aus allem.« Meine Hände entkrampfen sich ein wenig und ich wische sie so unauffällig wie möglich an meiner Jeans ab, bevor ich sie locker in meinen Schoß lege. »Ich hab ihn kennen gelernt, als ich sitzen geblieben bin. Hab neben ihm gesessen und so. Dann hab ich irgendwann gemerkt, dass ich ihn wirklich gut leiden kann. Und er mich auch. Und dann hab ich…« Ich breche ab und starre hoch zur Decke. »Die emotionale Nähe hat dir Angst gemacht?« Nicken. Erinnerungen. Anjos ängstliches Gesicht, meine Hand an seinem Kragen, eine kalte Backsteinmauer, Christian, eine verriegelte Klotür, ein bemalter Rucksack, ein blaues Auge, »Hab ich irgendwas falsch gemacht?«, ein nasser Schwamm, Tränen, Jana, »Du bist nicht besser als er.«, Anjos Lächeln… »Er ist schüchtern. Und wenn er Leute kennenlernt, dann richtig. Er hat mir gesagt, dass er mich mag und ich wollte das nicht«, versuche ich zu erklären und fahre mir durch die Haare. Ich kann mich nicht besonders gut ausdrücken. Meistens rede ich ja auch einfach nicht besonders viel. Wahrscheinlich bin ich nach drei Sitzungen heiser. »Du hast dich über die Jahre von deiner Umwelt abgeschottet und Anjo hat hinter deine Fassaden geschaut. Und verstehe ich es richtig, dass du dich danach von ihm distanziert hast?«, erkundigt sie sich. Es folgen ein paar unauffällige Notizen auf dem Klemmbrett. Ich schnaube ungewollt. Der verächtliche Ton ist für mich selbst bestimmt. »Ja und nein. Ich hab nicht mehr mit ihm geredet. Ich hab stattdessen angefangen rum zu erzählen, dass er sich an mich rangemacht hat und ich vorher nur so getan hab, als würde ich ihn mögen. Ein paar Jungs aus dem Jahrgang fanden das nicht so gut. Also, dass Anjo offenbar schwul ist. Mit denen hab ich dann rumgehangen. Weiter weg von Anjo ging’s eigentlich gar nicht. Wir haben… ich hab… ich hab ihm das Schulleben ziemlich zur Hölle gemacht.« Meine Stimme wird am Ende immer leiser und starre mittlerweile auf meine Knie. Das alles zu erzählen und noch mal zu erleben bringt mich wieder einmal dazu mich wie der schlechteste Mensch auf der Welt zu fühlen. Was genau hab ich mir dabei eigentlich gedacht? Wen in Gottes Namen wollte ich denn davon überzeugen, dass das die einzig wahre Methode ist, um Anjo von mir fernzuhalten? Wieso dachte ich überhaupt, dass ich Anjo von mir fernhalten muss? »Du wolltest, dass er dich nicht mehr mag?« Ich schaue auf. Keine Ahnung. »Vielleicht? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich. Ich meine… ich hatte keinen Kopf, mir Gedanken über wen anders zu machen. Es gab genug anderen Scheiß in meinem Leben und das hätte mich vielleicht abgelenkt. Und außer Jana gab’s halt keinen, der mir irgendwann mal so nah gegangen ist. Die meisten wollen das ja auch gar nicht. Ich konnte nicht damit umgehen. Klar, das war so ziemlich die beschissenste Art drauf zu reagieren, aber wenn ich jetzt drüber nachdenke, fühlt sich das auch mehr so an, als wäre ich das gar nicht gewesen. Das macht wahrscheinlich alles überhaupt keinen Sinn…«, sage ich resigniert und peinlich berührt und zupfe verkrampft an einer Jeansfalte herum. »Gefühle sind selten besonders rational«, sagt Frau Doktor Ehrmann und macht ein paar Kreuzchen auf ihrem mysteriösen Klemmbrett. »Wie kam es dazu, dass ihr euch wieder angenähert habt?« Ich runzele die Stirn und versuche mich zu erinnern. Zuerst kommt mir der Abend in den Sinn, als Anjo sich zwischen mich und zwei Schlägertypen gestellt hat. Aber das war es nicht. Es fing an, als Jana mir gesagt hat, dass ich mit Anjo genauso umgehe, wie der Erzeuger mit uns. Und dann war diese Party, auf der Anjo mir einen Becher Wasser gereicht hat. Ich streiche unnötigerweise meine Hose glatt, starre den Fußboden an und fange an zu erzählen. Ich merke kaum, wie die Geschichte die Raum füllt und sich alles noch mal vor meinen Augen abspielt, als wäre es erst letzte Woche gewesen, dass ich Anjo in diesem dunklen Park geküsst hab, nachdem er mir den verletzten Arm verbunden hat. Frau Doktor Ehrmann unterbricht mich nicht, sie macht sich hin und wieder Notizen auf ihrem Klemmbrett und mustert mich aufmerksam, wie ich bei einigen unsicheren Blicken in ihre Richtung feststelle. Es fühlt sich an, als wäre die Geschichte ein verkümmerter Sprössling, der plötzlich in die Höhe schießt und Zweige und Blätter bekommt. Das ist mein mickriger Lebenssprössling, der kaum je Sonne und Wasser bekommen hat. Und dann kam Anjo und die Sonne ging auf. Und alle möglichen Leute in meiner Umgebung haben angefangen, den Sprössling zu gießen. Lilli, die Christopher einen Schlag ins Gesicht verpasst, weil er mich beleidigt, Christian und Sina, die mich und Jana mitten in der Nacht abholen, Felix und Leon, die beim Umzug helfen, Felix, der mir Nachhilfe in Chemie gibt, Familie Sandvoss, die mich in ihrem Haus wohnen lässt, selbst die Haustiere, die mich mögen… Eigentlich sollte ich nur von Anjo erzählen. Aber jetzt hab ich einmal angefangen und beschreibe in ziemlich wirren Worten und keinesfalls in chronologischer Reihenfolge die Dinge, die mir passiert sind, seit ich mich Anjo wieder genähert habe. Frau Doktor Ehrmann stellt zwischendurch Fragen, die dann wiederum zu einem Gesprudel von Erinnerungen und Wortwirrungen führen, aber obwohl ich mir sicher bin, dass kaum jemand nachvollziehen kann, was ich da alles vor mich hinbrassele, notiert meine Therapeutin – und es klingt seltsam, dieses Wort – einige mir unbekannte Dinge und hört konzentriert und aufmerksam zu. Als die Sitzung zu Ende ist, fühlt es sich an, als hätte es nur drei Minuten gedauert, obwohl es fast eine ganze Stunde war. »Wir sehen uns also nächste Woche Mittwoch wieder«, sagt Frau Doktor Ehrmann, nachdem sie aufgestanden ist und mir die Hand zum Abschied gereicht hat. Ich nicke verlegen und zwinge mich angestrengt dazu, ihr in die Augen zu schauen. Es ist merkwürdig, einer fremden Person gegenüber zu stehen, der man gerade einen beträchtlichen Teil seiner Lebensgeschichte aufgetischt hat. Vielleicht wird diese Frau bald mein größter Geheimniswahrer. Ein komischer Gedanke. Als ich draußen vor der Praxis stehe, wird mir klar, dass meine Beine mir wie Pudding vorkommen und ich mich so müde fühle, als wäre ich seit zwei Tagen unterbrochen wach. Als ich an die frische Luft trete, atme ich einige Male tief durch. Mein Handy vibriert in meiner Tasche und ich werfe einen Blick darauf. »Soll ich dich abholen? Bin grad in der Stadt unterwegs«, schreibt Tim. Meine Mundwinkel zucken. Tim betont immer, wie er ohnehin gerade in der Nähe ist, wenn er mir anbietet, mich irgendwohin zu fahren. Wahrscheinlich weiß er, dass mir jegliche Hilfe, die mir zusätzlich zu den Unannehmlichkeiten, die ich sowieso schon verursache, unangenehm ist. »Bin grad rausgekommen. Wo bist du?«, schreibe ich zurück. Ich habe die Handynummer jedes Familienmitglieds bekommen und es ist merkwürdig, wie voll mein Telefonbuch plötzlich ist. Familie Sandvoss – inklusive Christian, was besonders komisch ist – und Lilli, Felix und Leon… Vorher waren nur Jana und Anjo da drin. Dumpf ertappe ich mich bei dem Gedanken daran, dass ich ja vielleicht auch irgendwann Gabriels Nummer haben könnte. Wenn er mich nicht mehr hasst. Unweigerlich lasse ich die Schultern hängen und schüttele den Kopf. Eine ältere Dame, die vorbeischleicht, mustert mich misstrauisch und ich lächele ihr schief zu. Sie wirkt nicht beruhigt, sondern schiebt ihr Gehwägelchen so hastig wie sie eben kann an mir vorbei. Offensichtlich wirke ich nicht besonders vertrauensselig. »Stettiner Straße. Bei der Pizzeria. Kannst herkommen, wenn du willst.« »Ok. Bis gleich.« Überall in den Fenstern der Geschäfte, an denen ich vorbeikomme, hängt schon lange Weihnachtsdekoration. Lichterketten umranden Fenster und auf dem Bergplatz steht tatsächlich bereits ein beleuchteter Tannenbaum. Weihnachten. Das Fest der Familie. Ich schnaube und der bereits dunkle, späte Nachmittag verwandelt meinen Atem in weiße Wolken. Wie Weihnachten wohl bei Christians Familie ist? Wahrscheinlich wie in einem kitschigen Film. Der Baum ist sicher riesig, alle bekommen tonnenweise Päckchen und es werden schmalzige Lieder gesungen. Vielleicht essen sie Truthahn. Wie in amerikanischen Filmen. Ich werde wie ein Fremdkörper sein, weil ich keine Ahnung habe, wie man sich an Weihnachten in einer normalen Familie verhält. Kurz durchfährt mich der panische Gedanke, dass Frau Doktor Ehrmann gerade bei Brigitte anruft und ihr sagt, dass es keinen Zweck hat, mit mir eine Gesprächstherapie zu führen, weil ich ein hoffnungsloser Fall und ein emotionaler und sozialer Krüppel bin. Als ich schließlich in die Stettiner Straße einbiege, winkt Tim mir schon von weitem zu. Er trägt eine absolut schreckliche Pudelmütze, die selbstgestrickt aussieht. Sie hat einen riesigen, roten Bommel auf der Spitze. Tim sieht aber nicht so aus, als würde ihm das irgendwas ausmachen. Er ist der unkomplizierteste Mensch, der mir jemals untergekommen ist. »Jo!«, ruft er mir entgegen und schwingt freundschaftlich einen Arm um meine Schultern, als ich näher komme, »wir haben noch Pizzareste, willst du was essen?« Ich frage mich einen Moment lang, wer ›wir‹ sind, als Tim mich in den Laden hineinschiebt und zu einem Tisch bugsiert, an dem eine Traube junger Menschen sitzt, die mir allesamt entgegen grinsen. Mir gefriert das Blut in den Adern und ich werfe Tim einen leicht panischen Blick zu. Gerade habe ich noch eine emotional auswringende Sitzung bei meiner Therapeutin hinter mir, meine Gedanken schwirren wie ein Schwarm Kolibris und außerdem ist bald Weihnachten! Nicht, dass das wirklich etwas mit der aktuellen Situation zu tun hätte, aber es beschäftigt mich. »Leute, reicht mir den Pizzakarton mit den Resten!«, verlangt Tim. Er greift nach einer Jacke, die eine junge, blonde Frau ihm reicht und drückt mir die Pappschachtel in die Hand. »Das ist Benni«, sagt Tim gut gelaunt und klopft mir auf die Schulter. Ein Chor aus ›Hey Benni‹ antwortet mir und ich hebe unsicher die Hand. Ein Lächeln kann ich mir nicht wirklich abringen. »Wir müssen dann jetzt auch los.« Und dann bin ich auch schon wieder weg von der Traube. »Nächstes Mal stell ich dir die anderen vor, aber man kann sich immer so schlecht loseisen, wenn man sich erstmal festgequatscht hat«, erklärt Tim munter, während er seine Jacke anzieht und neben mir in Richtung Auto schlendert. »Es gibt noch zwei Stück Salami, ein Stück Funghi und drei Stücke mit Thunfisch und Zwiebeln. Nimm dir, was du magst, ich bin total voll.« Ich nicke matt und steige auf den Beifahrersitz. Nachdem ich mich angeschnallt hab, öffne ich zögernd den Deckel der Schachtel und greife nach einem Stück Salamipizza. »Bist du nicht Vegetarier?«, frage ich und beiße in das Stück. Es ist noch lauwarm, schmeckt aber trotzdem ziemlich gut. »Jap. Ich hab meine Pizza mit Paprika, Zwiebeln und Pilzen aber auch aufgegessen«, sagt er grinsend. Tim schaltet die Wise Guys an und singt gut gelaunt mit, während ich die Restpizza seiner Freunde verdrücke. »Wie läuft Weihnachten eigentlich so bei euch?«, frage ich unsicher zwischen einem Stück mit Thunfisch und dem letzten Stück mit Pilzen. Tim wirft mir einen Blick von der Seite zu und ich schlucke etwas peinlich berührt. Aber Tim ist nichts anzumerken, als er seine Augen wieder auf die dunkle Straße richtet und anfängt zu erzählen. »Wir hauen unseren Baum selber. Ist meistens ein riesiges Ding, das bis zur Decke geht. Papa, Franzi und ich schmücken den Baum und meistens kommt irgendeins der Viecher dazu, haut Kugeln runter und verheddert sich in den Lichterketten. Eileen, Oma und Mama wuseln in der Küche rum, während Lydia auf ihre Kinderweihnachtslieder von Rolf Zuckowski besteht und laut mitsingt. Chris hat früher immer den Baum aufgestellt und für alle die Geschenke eingepackt. Außer seinen eigenen. Keiner von uns außer Oma und Chris hat den Dreh wirklich raus, deswegen musste er das immer machen. Saß dann oben auf seinem Dachboden und wir haben nacheinander unseren Kram zu ihm gebracht, damit er es einpackt. Seine Geschenke waren dann immer die, die am schlechtesten aussahen, weil er die ja selber nicht einpacken konnte.« Ich muss bei der Vorstellung vom großen, breiten Christian auf seinem Dachboden mit Bergen von Geschenken schmunzeln. »Lydia darf ihre Geschenke schon vorm Essen auspacken, weil sie sonst nicht aufisst und viel zu zappelig ist. Aber dann essen wir in der Küche und dann verschwindet Papa ins Wohnzimmer und klingelt mit ‘nem Glöckchen, dann können wir alle reingehen. Zu der Zeit laufen immer noch diese Kinderweihnachtslieder und wir haben eine Menge Kerzen an. Aber nur da, wo Lydia und die Hunde nicht dran kommen. Sir Mauncelot hat sich schon mal die Schnurrhaare an einer versenkt. Dummes Vieh.« Tim lacht ein wenig schadenfroh bei der Erinnerung daran und ich schaue aus dem Fenster, um die bunten Lichter in den Vorgärten und Fenstern zu betrachten. Es klingt tatsächlich alles wie aus dem Bilderbuch. »Habt ihr eigentlich eine Kirche bei euch in der Nähe?«, will ich wissen. Das ist das Einzige, was an Weihnachten bei mir und Jana stattgefunden hat. Wir sind zusammen in die Kirche gegangen und da gab es Kerzen und Lieder und einen Baum. »Ja, eine kleine. Geht ihr immer in die Kirche?«, fragt er mich, als wir in die Grünewaldstraße einbiegen. Es ist gerade mal kurz nach fünf und es sieht aus, als wäre es stockfinstere Nacht. »Ja, schon. Wir gehen auch sonst manchmal sonntags hin«, antworte ich und schnalle mich ab, nachdem Tim vorm Haus seiner Familie geparkt hat. »Ihr könnt gern hingehen. Es gibt ‘nen Kindergottesdienst um vier. Oder später, gegen elf, ist noch Christmette, soweit ich weiß«, erklärt Tim. Ich dachte, dass er es vielleicht komisch findet, dass Jana und ich in die Kirche gehen. Aber er wirkt nicht so, als wäre das merkwürdig für ihn. Tim ist wirklich ein sehr netter Kerl. Ich nehme den Pappkarton mit aus dem Auto und wir gehen gemeinsam den Kieselweg hoch zur Eingangstür mit dem Buntglasfenster. »Danke fürs Mitnehmen«, sage ich, während Tim aufschließt. Seine Pudelmütze sieht wirklich wahnsinnig albern aus. Der Effekt wird nicht gemindert, als Tim mich sehr breit angrinst, als würde er testen, wie weit er seine Mundwinkel seinen Ohren nähern kann. »Kein Ding, man. Wir sollten beizeiten mal ein Bier zusammen trinken und ‘nen coolen Film gucken«, meint er und lässt mich zuerst ins Haus gehen. Sofort kommen uns die bellenden Hunde entgegen gelaufen. Jemand scheint zu backen, denn es riecht nach Keksen im Flur. »Jungs, es gibt Kekse! Sie sind noch warm!«, ruft Eileen aus der Küche und Tims Augen leuchten, als er sich begeistert die Hände reibt. »Warme Kekse!«, sagt er zu mir, haut mich mit seinem Ellbogen an und schleift mich in Richtung Küche, nachdem ich hastig Schuhe und Jacke ausgezogen habe. Es ist fast, als wäre ich hier schon immer ein und ausgegangen. * Die Woche danach halte ich ein Referat über den Vietnamkrieg in Geschichte. Es fühlt sich an, als hätten alle Leute, die ich kenne, mir bei der Vorbereitung geholfen. Eileen hat mich dazu gezwungen, es ihr vorzutragen. Das war eine ziemlich erniedrigende Erfahrung, aber ich glaube, dass es mir tatsächlich geholfen hat. Sie kann sehr streng sein, auch in ihren unermüdlichen Bemühungen, mir Englisch beizubringen. Jeden Fehler verbessert sie, sie mäkelt unaufhörlich an meiner Aussprache rum und manchmal droht sie mir mit Nagellack, wenn ich noch mal das s am Ende eines Verbes vergesse. Sie wirkt besonders kratzbürstig und manchmal auch etwas übertrieben in ihrem Verhalten, aber ich hab schon festgestellt, dass darunter ein ganz weicher Kern steckt. Sie und Franzi sind besonders angenehm zu beobachten. Und ich schätze es sehr, wie sie mit Jana umgeht. Bei weitem nicht so schroff wie mit mir, eher wie mit Franzi. Während sie mich auch öfter gegen den Oberarm boxt oder einen Schlag auf den Hinterkopf gibt, hält sie bei Jana einen dezenten Abstand. Nicht übermäßig auffällig, aber immer so, dass Jana sich nicht eingeengt fühlt oder Angst bekommt, wenn Eileen eine ruckartige Bewegung macht. »Wie ist es gelaufen?«, erkundigt sich Jana beim Abendessen, als wir alle an dem riesigen Tisch in der Küche sitzen. Lydia stochert unmotiviert in ihren Mohrrüben herum, während Margarete sie streng überwacht und aufpasst, dass sie nicht nur die Kartoffeln mit Soße isst. »Ganz gut, glaub ich. Hab mich ein paar Mal versprochen, weil ich’s nicht so gewöhnt bin Referate zu halten. Aber Herr Reitemeier meinte nach der Stunde, dass es echt gut war. Ich glaub, er war ein bisschen überrascht. Ich hab mich nicht wirklich getraut zu fragen, ob mich das Referat jetzt rettet… aber ich hab mich die letzten Stunden so oft wie möglich gemeldet, um meine mündliche Note noch ‘n bisschen aufzubessern.« Ich schiebe mir ein Stück Gemüsebulette in den Mund. Ich hab diese Dinger noch nie gegessen, aber sie schmecken mir echt gut. Margarete ist so ziemlich die beste Köchin, die ich kenne. Aber das kann ich ihr nicht sagen, weil ich sonst eigentlich keine Köche kenne. »Ach Benni«, sagt Johannes in diesem Moment und ich wende ihm meinen Blick zu. »Wir wollten noch mit dir über Taschengeld sprechen.« Einen Augenblick lang schafft mein Gehirn es nicht, das Gesagte zu verarbeiten. Ich hab die Worte gehört, aber sie ergeben für ein paar Sekunden keinerlei Sinn in meinem Kopf. Überdeutlich merke ich, wie sieben Augenpaare auf mich gerichtet sind. Lydia nutzt die Gelegenheit und katapultiert eine Gabel voll mit Mohrrüben quer über den Tisch und in Brigittes Schoß. »Ta–«, ich muss mich räuspern und lasse mein Besteck sinken. »Taschengeld?« Das Wort klingt dermaßen absurd aus meinem Mund, dass ich einen Herzschlag lang versucht bin, verwirrt den Kopf zu schütteln. Johannes nickt, während Brigitte einen Lappen besorgt und die verstreuten Mohrrüben aufsammelt. Unterdessen schimpft Margarete mit Lydia. »Ja, Taschengeld. Falls du mit deinen Freunden mal auf den Weihnachtsmarkt gehen möchtest, oder Weihnachtsgeschenke für deine Schwester kaufen willst«, sagt Johannes freundlich und nimmt einen Schluck seines Wassers. »Aber ich kann nicht… ich meine… ich hab noch nie wirklich Taschengeld gekriegt. Und ich mache schon so viele Umstände. Und das Essen und der Sprit und–« »Benni«, unterbricht Johannes mich mit immer noch freundlicher, aber fester Stimme. »Wir möchten das wirklich gern für dich und Jana machen. Und wir sind keine armen Leute, es ist absolut kein Problem.« Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, um zu widersprechen, weil ich wirklich nicht auch noch Taschengeld bekommen kann. Aber ich bringe kein Wort heraus. Stattdessen bietet Tim mir gut gelaunt eine weitere Gemüsebulette an und ich starre hinunter auf meinen Teller, taub angesichts all der guten und unmöglichen Dinge, die in letzter Zeit um mich herum passieren. An diesem Abend kriecht Jana zu mir ins Bett und fragt mich zum ersten Mal nach Frau Doktor Ehrmann. Sie wollte es wohl erstmal ein bisschen sacken lassen, bevor sie mich darauf anspricht, und ich glaube, dass das gut ist. Einen Tag nach der ersten Sitzung hätte ich wahrscheinlich noch nicht darüber reden können. Ich erzähle ihr im Dunkeln davon, wie ich erst nicht so richtig über Sachen reden wollte und dann gar nicht mehr aufhören konnte und dass vor allem das Thema Anjo mir die Zunge gelöst hat. Dass ich Frau Doktor Ehrmann wirklich nett finde, aber mir noch nicht so richtig vorstellen kann, mit ihr über den Erzeuger oder unsere Mutter zu sprechen. Oder über meine Selbstmordgedanken. Oder meinen übergroßen Selbsthass, den ich einfach nicht abstellen kann, egal, wie nett alle zu mir sind. Tatsächlich wird es eigentlich sogar noch schlimmer, je netter die Menschen zu mir sind, weil ich einfach immer denke, dass ich das alles nicht verdient hab. Jana hört mir zu und hält meine Hand und erzählt mir auch von ihren bisherigen Sitzungen. Dass sie es auch viel einfacher findet, über Franzi und die neuen Umstände zu sprechen, als darüber, wie es früher gelaufen ist. Sie hat schon versucht der Psychologin ihre Berührungsängste zu beschreiben, aber es wollte ihr nicht so richtig gelingen. Offensichtlich will sie bald eine Art Fragebogen über uns ausfüllen, um erste Diagnosen fürs Gericht zu erstellen. Mir gefriert alles in den Adern bei dem Gedanken, den Erzeuger in einem Gerichtssaal zu sehen und mich da gegen ihn durchsetzen zu müssen. Aber laufende Gerichtsverfahren dauern ihre Zeit und ich bin froh über die Luft zum Atmen. Zwischen Abivorbereitungen, dem Einleben im neuen Haushalt, der Psychotherapie und dem Training mit Chris hab ich wirklich genug Dinge, die mich beschäftigen. »Aber du findest es hier schon ok, oder?«, fragt Jana etwas unsicher. Ich drücke ihre Hand und schließe die Augen vor der Dunkelheit. »Wie sollte man es hier denn nicht ok finden?«, gebe ich zurück und sie seufzt erleichtert. »Das ist schön«, murmelt sie und ich höre, dass sie müde ist. Also schweige ich und lausche Janas gleichmäßig werdendem Atem und während auch ich langsam einschlafe, wird mir klar, dass sie die ganzen letzten Nächte nicht im Schlaf geweint hat. Kapitel 7: Die normalen Weihnachtsvorbereitungen ------------------------------------------------ Für Steffi, weil Felix und Leon praktisch schon verheiratet sind. Für Sanja, weil ich mir die Idee mit dem Himmel von ihr geborgt habe. Für My, die so fleißig korrigiert und Sina lieb hat, auch wenn sie nur in einem winzigen Nebensatz erwähnt wird. Viel Spaß beim Lesen ihr Lieben! ___________________________ Es würde mich nicht wundern, wenn bald alle in meinem neuen Umfeld Banner mit sich herumtrügen, auf denen steht ›Wir retten Bennis Abi!‹. Offensichtlich stehe nicht nur ich selbst unter Strom, als meine ersten Vorklausuren näher rücken – auch alle um mich herum scheinen merklich nervös zu werden. Sie versuchen es zu verbergen, aber meine Antennen sind zu fein, als dass ich es nicht merken würde. Einerseits finde ich es sehr nett, dass alle sich solche Gedanken machen. Andererseits steigt dadurch auch der Druck, alles gut hinzubekommen, um die anderen nicht zu enttäuschen. Vor allem Geschichte, was ich nur noch mit mündlicher Beteiligung retten kann, und Chemie, worin ich mindestens sieben Punkte schreiben muss, türmen sich vor mir auf und sehen von ganz unten beinahe unbesiegbar aus. Aber die Nachhilfe mit Felix läuft gut und ich habe eigentlich keinerlei Freizeit mehr zwischen all dem Schulkram, dem Training mit Christian und den Therapiesitzungen. »Du solltest dich nicht so hart rannehmen, Alter. Machst du eigentlich noch was anderes als arbeiten, essen und schlafen?«, erkundigt sich Leon, als ich bei Felix auf dem Wohnzimmerboden sitze und in der Periodentabelle fiebrig nach etwas suche. Felix werkelt gerade in der Küche rum, um Abendessen zu machen. »Zwischendurch trinke ich einen Schluck«, gebe ich nuschelnd zurück. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Leon den Kopf schüttelt. »Ich war nie so engagiert. Mir ging die Schule immer irgendwie am Arsch vorbei«, sagt er und kratzt sich im Nacken. Ich muss grinsen. Wenn Felix im Zimmer wäre, würde er wieder über Leons nicht eingenommene Vorbildfunktion schimpfen. »Bald hab ich’s ja hoffentlich mir. Grad weil ich aus dem Schuppen endlich raus will, ackere ich so. Ich meine… wenn ich nicht zum Abi zugelassen werd, muss ich noch ein Jahr länger. Und ich will endlich Kohle verdienen«, gebe ich zurück und notiere mir einige Dinge am Rand des Übungszettels. Felix hat mir Aufgaben geschrieben, die ich löse, während er sich um das Essen kümmert. Leon lümmelt auf dem Sofa herum und schlürft zwischendurch geräuschvoll an einer Colaflasche. »Hör auf zu schlürfen«, kommt es entnervt aus der Küche und Leon zieht automatisch den Kopf ein. Ich muss grinsen. »Erziehung ist eine schwierige Aufgabe«, seufzt Felix theatralisch, als er mit einer großen Schüssel Nudelsalat ins Wohnzimmer kommt und Leon einen resignierten Blick zuwirft. »Was Hänschen nicht lernt…«, sagt Leon und zuckt mit den Schultern. »Du kannst schlürfen, so viel du willst. Ich bin ja nicht deine Mutter. Aber wenn ich in Hörweite bin, sollst du es lassen. Das Geräusch macht mich wahnsinnig. Also, wenn du nicht willst, dass ich dir irgendwann mal so eine Flasche über dem Kopf ausleere…« Felix bricht den Satz ab und sieht seinen Freund bedeutungsschwanger von oben herab an. »Während ich Bennis Aufgaben kontrolliere, kannst du den Tisch decken«, sagt er dann und lässt sich mit einer fließenden Bewegung im Schneidersitz auf dem Stück Sofa nieder, das Leon nicht mit seiner Lümmelei in Anspruch nimmt. Leon zieht in meine Richtung eine Grimasse und erhebt sich. »Glaub nicht, dass ich das nicht gesehen hab«, murmelt Felix, den Blick auf mein Blatt gerichtet. Leon flüchtet aus dem Wohnzimmer und ich betrachte hungrig die Schüssel mit dem Salat. Es ist cool bei Felix und Leon. Als ich ankam, war Leon noch nicht da und ich hab Felix gefragt, ob er schon mit seinem Freund über das Zusammenziehen geredet hat. Erstaunlicherweise hat Felix mir verlegen gestanden, dass er sich noch nicht getraut hat. Wer hätte gedacht, dass Felix auch so eine Seite hat? »Bei Nummer zwei musst du noch mal drüber schauen, die anderen sind alle richtig«, meint Felix zufrieden, als er mir den Zettel zurückgibt. Ich seufze erleichtert und Leon kommt mit drei Tellern und Besteck zurück. »Wie läuft’s denn eigentlich beim Training?«, will Leon wissen, während Felix uns allen Nudelsalat auf die Teller häuft und sich schließlich mit seiner Portion aufs Sofa setzt. Leon lässt sich neben ihn fallen, greift nach seinem Salat und sieht mich fragend an. Ich sitze am liebsten auf Felix‘ Fußboden. Keine Ahnung, wann ich eine Vorliebe fürs Sitzen auf Böden entwickelt hab, aber auch auf dem Dachboden im Hause Sandvoss hocke ich meistens auf den Dielen. »Äh… ganz gut. Abgesehen davon, dass ich noch nicht rausgefunden hab, wie ich meinen Berserkermodus ausschalte. Und dass mein Trainingspartner mich immer noch hasst«, antworte ich zwischen zwei Bissen. Es stimmt. Auch bei den letzten beiden Treffen bin ich beim Aufwärmen an den Boxsäcken völlig abgedreht und hab erst gemerkt, was ich da eigentlich tue, als Christian mir – wie schon beim ersten Mal – die Hand auf die Schulter gelegt hat. In der zweiten Stunde hab ich ihm dafür aus Versehen einen Schlag in die Seite verpasst. Er hat allerdings nicht mit der Wimper gezuckt und mich fünf Runden laufen lassen, als wäre nichts weiter gewesen. Und Gabriel spricht immer noch nur das Nötigste mit mir. Es ist schwierig, weil ich mich jedes Mal dabei ertappe, wie ich ihn beeindruckend, interessant und wahnsinnig scharf finde. Aber jeder meiner Versuche, ein halbwegs vernünftiges Gespräch mit ihm anzufangen, ist bisher gescheitert. Manchmal kommt es mir so vor, als würde Christian uns mit einem amüsierten Funkeln in den Augen beobachten, aber vielleicht bin ich auch einfach nur paranoid. »Aber wieso hasst er dich?«, fragt Felix verwirrt und sieht mich durch seine hellbraunen Stirnfransen so perplex an, als könnte er es tatsächlich nicht begreifen, wie irgendein Mensch auf diesem Erdball mich hassen kann. Das bringt mich dazu, amüsiert zu schnauben. »Darf ich dich an ein Konzert erinnern, auf dem ihr mir wegen Anjo gedroht habt?«, sage ich schmunzelnd. Felix verdreht die Augen und macht mit der Hand, in der er seine Gabel hält, eine wegwerfende Bewegung. Leon beäugt ihn misstrauisch von der Seite und rutscht ein Stück von der fuchtelnden Gabel weg. »Das war, weil du Anjo fertig gemacht hast. Aber der Knirps hat dir verziehen, also haben wir das auch«, erklärt Felix, als wäre das glasklar. »Naja, Gabriel weiß nicht, dass Anjo mir verziehen hat. Er hält mich für einen schwulenhassenden Schläger«, informiere ich Felix. Der grinst sehr breit. »Oh ja. Vor lauter Hass isst du mit deinem natürlichen Fressfeind gemeinsam Nudelsalat. Vielleicht solltest du ihm einfach mal sagen, dass die Sache passé und Anjo jetzt dein bester Kumpel ist«, schlägt Felix vor. Ich schiebe mir eine Gabel Nudelsalat in den Mund und zögere durch das Kauen die Antwort hinaus, die mir auf der Zunge liegt. Ich versuche, es so lässig wie möglich klingen zu lassen. »Wenn ich ihm das sage und er mich dann immer noch scheiße findet… also… ich meine, es ist irgendwie weniger blöd, wenn er einen anständigen Grund hat und mich nicht einfach nur für einen unsympathischen Saftsack hält.« Felix zieht leicht die Brauen zusammen und mustert mich. Manchmal vergesse ich, dass ich nicht der einzige Mensch bin, der andere gut lesen kann. Tatsächlich bin ich von solchen Leuten umgeben. Die Einzigen, die so richtig immun gegen die Schwingungen anderer sind, sind Leon, Eileen und Tim. Wobei ich mir bei den letzten beiden nicht sicher bin, ob sie Dinge nicht vielleicht merken, aber sich dazu entschließen, sie nicht anzusprechen. Bei Leon weiß ich, dass er einfach unempfänglich für solche Sachen ist und sogar mit seinen eigenen Gefühlen herzlichen wenig anfangen kann. Aber Felix… Felix ist womöglich der Schlimmste von allen. Und gerade mustert er mich mit seinem gruseligen Röntgenblick. »Du kannst ihn schon irgendwie gut leiden, oder?«, will er wissen. Ich räuspere mich und spüre, wie mir Hitze ins Gesicht steigt. Benni, denk jetzt nicht dran, wie er nackt unter der Dusche aussieht, oder wie seine Rückenmuskeln sich unter seinem Shirt abzeichnen, oder wie raubtierhaft er sich bewegt, oder wie seine Augen blitzen, wenn er… »Äh«, sage ich nicht besonders geistreich. Felix grinst und Leon hebt die Brauen. »Sieht aus, als wärst du total scharf auf den Kerl«, stellt er fest. Ich würde Leon für dieses Meisterwerk des Menschenlesens gratulieren, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass mein Gesicht knallrot und womöglich ziemlich schmachtend aussieht. Ein Geräusch, das sich anhört wie eine Mischung aus Würgen und Husten entrinnt mir und ich schiebe mir hastig mehr Nudelsalat in den Mund. »Oho, sieht er so gut aus? Sieht er besser aus als Chris?«, will Felix interessiert wissen. Leon wirft ihm bei der Erwähnung von Christian gepaart mit gutem Aussehen einen sehr ungnädigen Blick zu. Ich schlucke und sehe die beiden abwechselnd und etwas panisch an. »Ähm… also… ja? Ich finde schon? Keine Ahnung. Ich… sieht Christian gut aus?« Leon lacht ziemlich gehässig, was ihm einen Schlag mit dem Ellbogen einbringt. »Wenn man auf Adonistypen mit einer Prise Arroganz in der Aura und Bindungsängsten steht, dann sieht Chris sehr gut aus«, informiert Felix mich und fuchtelt schon wieder mit seiner Gabel herum. Ich bin wirklich froh, dass ich gerade nicht neben ihm sitze. Leon hält sich immer noch empört die Seite und starrt Felix an, als wollte er von ihm hören, dass er viel besser aussieht als Christian. Ich sehe mich jedenfalls nicht in der Lage dazu, Christians Aussehen zu beurteilen. Er ist mein Trainer und irgendwie mein Ex-Rivale und Anjos Freund… ich hab das Gefühl, ich sollte ihn wirklich nicht gutaussehend finden. »Er ist kleiner und schmaler. Aber ich glaub, er könnte Christian aufs Kreuz legen, wenn er wollte«, sage ich, um von dem Thema ›Christians gutes Aussehen‹ abzulenken. Es funktioniert, denn Leon sieht plötzlich sehr interessiert aus. »Tatsächlich? Das hört sich vielversprechend und sympathisch an! Du solltest dich unbedingt mit ihm anfreunden«, sagt er und Felix blickt ihn an, als wollte er Leon einerseits gern mit seiner Gabel erstechen und andererseits sehr fest drücken. Außerdem zucken seine Mundwinkel. »Er hat schwarze Haare und ganz dunkle Augen und… naja… alles in allem sieht er aus wie ein Panther in Menschenform«, erkläre ich etwas umständlich. Der Vergleich kommt mir panne vor, als ich ihn laut ausgesprochen habe, aber Felix pfeift durch die Zähne. »Ich höre Bewunderung«, flötet er gut gelaunt und ich grummele leise, ehe ich mich schweigend wieder meinem Salat zuwende. Ich bin wirklich nicht bereit dazu, mit Felix und Leon darüber zu reden, dass mir jedes Mal bei Gabriels Anblick heiß wird. * Mir war eigentlich schon in der ersten Stunde klar, dass die reibungslose Ruhe in unserer Trainingsgruppe nicht ewig anhalten wird. Vor allem, weil Karol sehr darauf bedacht ist, Christian bei jeder Gelegenheit angeekelt anzuschauen, was Ismail und Gero in ihren Ansichten anstachelt. Die ganze Schwule-sind-eklig-und-ich-lass-mich-nicht-von-einer-Schwuchtel-rumkommandieren-Gewitterwolke entlädt sich beim vierten Treffen, als Christian Karol zwanzig Liegestütze aufbrummt, weil der Paul ein Weichei und ein Muttersöhnchen genannt hat. Wir sind mit dem Aufwärmen bereits fertig und wollten eigentlich das erste Mal mit den Beinen am Boxsack trainieren. Wie schon die letzten Male hat Gabriel nicht wirklich mit mir gesprochen und ich habe meine kläglichen Gesprächsversuche aufgegeben. Gabriel und ich stehen etwas abseits, weswegen ich nicht genau mitbekomme, wie es zu dem Knall kommt, aber in einem Augenblick steht Gabriel noch neben mir, dann ist er plötzlich verschwunden und ich sehe ihm verwirrt hinterher. Alles geht wahnsinnig schnell. Gero, Karol und Ismail haben offensichtlich beschlossen, dass Christian wegen seiner Homosexualität und seiner Strenge eine Abreibung verdient. Weil einer allein ihn ohnehin kaum kratzen könnte – was wir alle sehr genau wissen – gehen sie zu dritt auf ihn los. Christian tut überhaupt nichts. Er steht einfach nur da und schaut den Dreien mit hochgezogenen Augenbrauen entgegen. Allerdings kommen sie nicht dazu, auch nur eine Fingerspitze an Christian zu legen, weil Gabriel mit einem beinahe unmenschlichen Tempo drei gezielte Tritte und einen Ellbogen verteilt, woraufhin die Drei stöhnend zu Boden gehen. Gabriels Bewegungen sind nicht nur unheimlich schnell, sondern auch verteufelt elegant. Er sieht aus wie ein Künstler, wenn er sich bewegt. Zum ersten Mal verstehe ich wirklich, was er gemeint hat, als er mir bei unserer ersten Stunde gedroht hat. Ja, man sollte wirklich aufpassen, was man sagt. Ich starre ihn an, als hätte ich in meinem Leben noch nie was Schöneres gesehen, und dumpf wird mir klar, dass es in meinem Leben tatsächlich nur wenige Dinge gibt, die damit mithalten können. Alle Augen sind jetzt auf Gabriel gerichtet, der wütend aussieht und immer noch eine deutlich defensive Haltung einnimmt. Keiner der Jungs sagt ein Wort und man hört nur das Keuchen und schmerzerfüllte Stöhnen von den drei Angreifern. Es ist ein bisschen, als hätte man gerade einen Jet-Li-Filmausschnitt gesehen. Christian ist der Erste, in den wieder Bewegung kommt. Er verschränkt die Arme vor der Brust und mustert zunächst die drei Übeltäter und dann Gabriels Hinterkopf. »Zehn Runden für euch vier«, sagt er vollkommen gelassen. Gabriel schnellt herum und sieht Christian einen Augenblick lang verständnislos und zornig an. »Ich hab dir gesagt, kein Kampfsport in dieser Halle, den ihr nicht von mir beigebracht bekommt«, erinnert Christian ihn. Einen Wimpernschlag starren die beiden sich an, dann lässt Gabriel seine in Abwehr erhobenen Arme sinken und nickt. Er ist der Erste, der losläuft. Mir fällt sofort auf, dass sich die Stimmung in der Halle geändert hat. Die Tatsache, dass Christian sich dermaßen streng an seine eigenen Regeln hält und auch Gabriel bestraft, obwohl der ihm nur helfen wollte, bringt die anderen offenbar dazu, ihn mit anderen Augen zu betrachten. Selbst Karol sieht ungläubig und überrascht aus, als er sich vom Boden aufrappelt und als letzter los joggt. Den Rest der Stunde höre ich kein Klagen mehr, sehe keine angeekelten Blicke in Christians Richtung und auch wenn der Vergleich vielleicht ein bisschen dämlich ist, kommt es mir so vor, als hätten die Jungs Christian jetzt zum ersten Mal offiziell als Alphamännchen akzeptiert. Zwar fliehen sie alle nach der Stunde, ohne zu duschen, aber diesmal hört man tatsächlich von dem ein oder anderen ein gemurmeltes »Tschau«. Ich bin wirklich sehr beeindruckt und einen Moment lang vergesse ich, dass Gabriel mich hasst, und drehe mich zu ihm um, um ihm zu sagen, dass ich sein Eingreifen vorhin ziemlich cool fand. Allerdings beschließt meine Zunge, dass Reden überbewertet wird, als meine Augen ihr signalisieren, dass Gabriel nur eine Boxershorts trägt und sich gerade die Haare mit einem Handtuch trocknet. Wenn dieser Bastard nur nicht so verdammt gut aussehen würde. Dann wäre er zwar immer noch beeindruckend und interessant, aber man müsste ihn nicht die ganze Zeit dümmlich anstarren, als hätte man noch nie einen fast nackten Mann gesehen. Zu meinem größten Entsetzen merke ich, dass Christian mich mit dem breitesten Grinsen, das ich bei ihm jemals gesehen habe, beobachtet und anzüglich mit den Augenbrauen wackelt. Sein Trainer-Selbst hat er abgelegt, als die anderen die Umkleide verlassen haben, und nun ist er wieder nur Christian. Er trägt bereits eine Jeans, seine braunen Haare sind immer noch nass und hängen ihm fransig in die Stirn. Ich muss an die Unterhaltung mit Felix und Leon denken. Felix findet Christian unheimlich gutaussehend. Adonis, hat er gesagt. Klar, Christian könnte Unterwäschemodel werden. Aber mein Typ ist er eindeutig nicht. Ich werfe ihm einen halb panischen, halb wütenden Blick zu und er gluckst leise vor sich hin, während er sich einen dicken Kapuzenpullover über den Kopf zieht und in seine Sneakers schlüpft. »Grüß Anjo von mir, wenn ihr euch trefft«, sagt Christian noch, bevor er seine Tasche über die Schulter wirft und sich in Richtung Tür bewegt. »Mach ich. Und du Sina. Sag ihr, dass ich mir das Gestell für ihren Betthimmel nächste Woche nach der Chemieklausur anschau«, gebe ich zurück und versuche so ruhig wie möglich zu sprechen und nicht daran zu denken, dass Christian mich gerade bei meinem schamlosen Gegeiere ertappt hat. »Cool«, antwortet Christian, klopft Gabriel zum Abschied auf die Schulter und verlässt die Umkleide. Sina hat sich ein paar Stangen für ihr Bett gekauft, mit denen sie einen Himmel bauen will. Allerdings hat sie keine Ahnung, wie sie es am besten anstellen soll und ihren Worten nach zu urteilen ist Christian handwerklich in etwa so begabt wie der Hund ihrer Schwester. Und der läuft dauernd gegen Glasscheiben. Ich bin froh, dass ich mal was Nützliches für andere machen kann, statt immer nur allen Umstände zu bereiten. Während ich über die beste Möglichkeit, einen Betthimmel zu gestalten, nachdenke, wird mir nur langsam klar, dass ich mit Gabriel allein bin. Er packt gerade in aller Ruhe seinen Kram und zieht sich an. Einen Augenblick lang suche ich hektisch nach etwas, das ich sagen könnte, aber dann erinnere ich mich wieder daran, dass Gabriel sich sowieso nicht mit mir unterhalten will. Unweigerlich erinnere ich mich an die unzähligen Male mit Anjo in der Schulumkleide, in denen ich ihn schikaniert habe. Seufzend lasse ich die Schultern hängen und ziehe meine Jacke an. »Tschüss«, murmele ich und verlasse schleunigst die Umkleide, bevor ich mich noch mehr zum Deppen mache. Ich treffe mich mit Anjo an einem im Winter stillgelegten Springbrunnen mitten in der Innenstadt. In meinem Portemonnaie befinden sich fünfzig Euro, die – obwohl ich selbstredend nicht wirklich spüre, dass sie da sind – sich anfühlen, als würden sie drei Tonnen wiegen. Das ist das Taschengeld, das ich von Johannes und Brigitte bekommen hab und dann hat mir Margarete vorgestern auch noch einen Zehner zugesteckt, als ich Lydias Puppenhaus repariert hab, das von Sir Mauncelot an einer Stelle ziemlich demoliert wurde und die Kleine sehr unglücklich gemacht hat. »Aber das war doch selbstverstä–«, hab ich versucht zu stammeln. »Keine Widerrede, junger Mann. Kauf dir eine Tüte Mandeln oder einen anständigen Schal!« Mit diesen Worten ist sie dann in die Küche verschwunden, um Apfelkuchen zu backen, der übrigens wahnsinnig gut geschmeckt hat. »Hast du schon Ideen für irgendwelche Geschenke?«, fragt Anjo, der einen flauschigen Schal und eine Mütze trägt, um sich vor dem ekligen Schneeregen zu schützen, der vor einigen Minuten eingesetzt hat. Ich schüttele den Kopf und schiebe meine Hände in die Hosentasche. Eigentlich brauche ich wirklich einen Schal, aber ich will das Taschengeld nicht für mich ausgeben, sondern für Weihnachtsgeschenke. Ich konnte noch nie großartig Geschenke kaufen, geschweige denn, dass ich Leute gehabt hätte, für die ich irgendwas hätte kaufen wollen. Außer Jana. »Für Jana werd ich wohl ein neues Notenheft besorgen. Sie hat die Beatles für sich entdeckt und jetzt will ich mal sehen, ob’s da irgendwas für gibt«, gebe ich zurück. »Sie freut sich bestimmt. Mir musst du übrigens nichts kaufen«, erklärt Anjo prompt. Ich hab ihm anvertraut, dass ich mir unheimlich schlecht vorkomme, weil ich jetzt auch noch Taschengeld kriege. Er konnte das gut nachvollziehen. Mir ist da zum ersten Mal wirklich klar geworden, dass er ja mal in einer ähnlichen Lage wie ich gesteckt hat. Er ist bei Christian und Sina untergekommen, als ihm sein Vater zu viel wurde. Natürlich hätte er auch zu seiner Mutter gekonnt, aber er hat auch umsonst bei den beiden gewohnt, bis seine Mutter angefangen hat, die Miete für ihn zu zahlen. Ihm war das genauso unangenehm wie mir meine Situation jetzt. Deswegen hat er all die Hausarbeit erledigt, um seinen Teil zur Wohngemeinschaft beizutragen. Nicht mal das kann ich. Es ist zum Haare raufen. »Ich werd für Lilli Muffinförmchen und ein Backbuch besorgen, sie hat kürzlich ihre Liebe fürs Backen entdeckt. Wenn du willst, können wir das zusammen schenken«, schlägt Anjo vor und ich nicke dankbar. Ich wollte gern was für Lilli besorgen, irgendwas Kleines – ich meine, immerhin hat sie sich zwei Finger für mich verstaucht –, aber mir wäre beim besten Willen nichts eingefallen. Ich kenne sie noch nicht gut genug, als dass ich was Anständiges hätte aussuchen können. »Für meine Ma will ich ein Survival-Paket zusammen stellen. Sie will mit Daniel eine Rucksacktour durch Indien machen. Ein Buch mit der Geschichte Indiens hab ich ihr schon besorgt.« Ich beneide Anjo für seine Ideen und mache in meinem Kopf eine Liste von Leuten, denen ich was schenken will. Jana, Anjo, Lilli, Felix und Leon, Christians ganzer Familie… Christian will ich eigentlich nichts schenken. Das wäre komisch. Andererseits hat er so viel für mich gemacht, dass es sicher total undankbar wäre, ihm nichts zu schenken. Als könnte Anjo meine Gedanken lesen, dreht er sich zu mir um und sagt: »Chris sagt übrigens, du sollst gefälligst keinen Cent für ihn ausgeben, er wird dir auch nichts schenken und dir eine reinhauen, wenn du ihm was besorgst.« Ich blinzele, dann muss ich grinsen. »Ok. Cool.« Anjo lächelt mich an. »Er würde dir nicht wirklich eine reinhauen«, versichert er mir. »Er will nur nicht, dass du Geld für ihn ausgibst. Das gilt übrigens auch für Sina. Sie sagt, ihr Betthimmel ist als Weihnachtsgeschenk völlig in Ordnung.« Ich nicke. Hoffentlich kriege ich diesen Betthimmel anständig hin. Wir schlendern durch den Weihnachtstrubel in der Innenstadt und empören uns darüber, wie teuer Weihnachtskarten sind, woraufhin ich ein Pack mit zehn Karten für vier Euro kaufe und Anjo beschließt, alle seine Karten selber zu malen und dafür eine Nachtschicht am nächsten Wochenende einzulegen. Wir besorgen die Sachen für Anjos Mutter und für Lilli zuerst, ich finde ein dünnes und recht günstiges Notenheft mit Liedern von den Beatles für Jana und ein älteres Album der Wise Guys für fünf Euro, das Tim noch nicht hat. Das weiß ich zufällig, weil er mir alle seine Alben zum Anhören aufgezwungen hat. Alles in allem könnte es mit den Weihnachtsgeschenken schlimmer laufen, denke ich mir, während Anjo und ich uns eine Tüte Schmalzkuchen auf dem Weihnachtsmarkt teilen. In dem Getümmel all dieser Leute, die genau wie ich für Menschen in ihrer Nähe Geschenke kaufen und gebratene Mandeln essen und Glühwein trinken, fühle ich mich beinahe so, als wäre ich ganz normal. Kapitel 8: Der plötzliche Umschwung ----------------------------------- Hallo ihr Lieben! Die BA-Arbeit ist bestanden und das Semester und der Nebenjob bringt zwar immer noch eine Menge Stress mit sich, aber ich hoffe, dass es jetzt regelmäßiger weitergehen kann :) Das Kapitel ist für Sanja & My, weil sie Franzi und Jana besonders gern miteinander haben und mich das sehr freut. Viel Spaß beim Lesen ihr Lieben und danke dafür, dass ihr noch nicht kreischend davon gelaufen seid, weil die Kapitel so lange dauern! Liebe Grüße, ___________________________ Anspannung ist kein Ausdruck für das, was ich momentan empfinde. Übermorgen ist die Chemieklausur dran und ich habe in den letzten Tagen so viel gelernt, dass mein Kopf nur noch aus chemischen Formeln besteht. Ich kann an nichts anderes denken als an die drohende Chance, mein Abi mit dieser Klausur zu retten – oder mir den Abschluss um ein weiteres Jahr zu verbauen. Mittlerweile bin ich mir auch wirklich nicht sicher, ob ich noch ein wiederholtes Schuljahr aushalten würde. Immerhin habe ich mit der elften Klasse meinen erweiterten Realschulabschluss gemacht und könnte genauso gut das Handtuch werfen. Aber ich bin so weit gekommen, eine recht störrische Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass so ein Abi eine Kleinigkeit ist gegenüber dem, was ich in meinem Leben bisher schon durchgestanden habe. Und irgendwie hat diese Stimme ja auch Recht. Ich kann nicht verhindern, dass ich reizbar und unausstehlich werde, deswegen verkrieche ich mich die Abende vor der Klausur lieber auf dem Dachboden, als Christians Familie meine schlechte Laune aufzuzwingen. Ich weiß, dass sie alle sehr viel Verständnis haben – Eileen hat in den letzten Tagen sogar aufgehört, auf Englisch mit mir zu sprechen –, aber ich will ihnen ihre Gastfreundschaft wirklich nicht mit einer wochenlangen Zeitbombenlaune danken. Ich spreche mit Anjo darüber, ob ich vielleicht das Training am Tag vor der Klausur ausfallen lassen soll, aber Christian bekommt Wind davon und erklärt mir, dass Dampf ablassen und ein wenig abschalten am Tag vor der Klausur sicher eine gute Idee ist. Ich sehe das anders, wenn man bedenkt, dass ich ohnehin schon dazu neige, zum Berserker zu mutieren. Wie soll das erst werden, wenn ich auch noch so angespannt bin, dass ich das Gefühl habe, jeden Augenblick zu explodieren? Am Abend vorm Training liege ich neben Jana im Bett und starre an die Decke. Wahrscheinlich werde ich nicht schlafen können. Ob das an der Klausur übermorgen oder am Training morgen oder an beidem liegt, weiß ich nicht. Ein ungemütlich aussehender Schneeregen klopft beständig an die Dachfenster und ich frage mich, ob wir an Weihnachten wohl Schnee haben werden. »Benni…?«, fragt Jana ganz leise neben mir und ich zucke erschrocken zusammen, weil mir nicht klar war, dass Jana noch wach ist. Ihr Atem war so regelmäßig, aber ich war wohl ohnehin zu tief in meinen Gedanken versunken, als dass ich auf sie geachtet hätte. »Hm«, gebe ich zurück. »Ich wollte eigentlich noch bis nach deiner Klausur warten…«, fängt sie flüsternd an und ich blinzele verwirrt und drehe mich auf die Seite, um meine Schwester durch die Dunkelheit hindurch anzusehen. »Womit?«, will ich verwirrt wissen und einen egoistischen Moment lang hoffe ich inständig, dass es nichts Furchtbares ist, weil mein Gehirn sicherlich nicht noch mehr Aufregung verkraftet, bevor es implodiert. »Ich weiß gar nicht, ob du es wissen willst, aber ich wollte es dir gern sagen und… naja…« Jana klingt nervös und ich merke, dass sie unruhig unter ihrer Decke hin und her rutscht. »Du kannst mir alles sagen und ich will alles wissen«, gebe ich aufrichtig zurück. Ich weiß, dass Geschwisterpaare sich eher nicht alles erzählen, weil es peinlich ist, mit der Familie über alles zu reden. Aber ich hab nicht das Gefühl, dass das bei Jana und mir zutrifft. Obwohl… sollte ich irgendwann mal Sex haben, würde ich es ihr vielleicht nicht auf die Nase binden. Oh Gott, ich hoffe, es hat nichts mit Sex zu tun. »Es geht um Franzi«, wispert Jana jetzt sogar noch leiser. »Und naja… und um mich.« »Ok«, sage ich ermutigend und bin froh, dass es offenbar nicht um Sex geht. Für einen winzigen Sekundenbruchteil huscht Gabriels Gesicht durch meinen Kopf, dann sehe ich in der Dunkelheit wieder Janas nervösen Blick vor mir. »Wir haben uns geküsst.« Ich hole Luft, um zu sagen ›Gut für euch!‹. Dann erst verarbeite ich, was sie gerade gesagt hat. »Oh. Gut für euch?«, gebe ich zurück. »Womöglich hab ich mich verliebt«, fügt Jana hinzu. Ich nicke voller Verständnis. Was um Himmels Willen sagt man, wenn die kleine Schwester einem erzählt, dass sie sich verliebt hat? Super, dass es kein schlechter Mensch ist! Herzlichen Glückwunsch! Wer ist das Schwein? Die letzte Frage fällt weg, weil ich Franzi kenne und sie eindeutig kein Schwein ist. »Eventuell ist sie auch verliebt und wir könnten ein Paar sein.« »Warum setzt du vor alle diese Sachen ein vielleicht?«, flüstere ich zurück, nur um mich im nächsten Augenblick zu fragen, wieso wir eigentlich flüstern. »Weiß ich nicht. Weil ich nicht weiß, wie du das findest. Und weil ich nicht weiß, wie ich das finde. Ich bin unsicher. Außerdem…« Jana holt sehr tief Luft und dann geht es plötzlich doch um Sex. »Außerdem will ich keinen Sex. Nie. Kein winziges bisschen. Andere Leute reden und denken dauernd an Sex, aber ich nicht. Ich finde den Gedanken, Sex zu haben, schrecklich. Also… bitte, andere Leute sollen Sex haben, nur ich hab kein Interesse dran… ist das komisch? Es ist total komisch, oder? Alle Leute in meinem Alter–« Ich lege ihr zwei Finger auf den Mund. »Dann willst du halt keinen Sex. Ist doch deine Sache. Ich meine, wen außer dich und vielleicht deine Freundin geht das denn was an? Mach dir keinen Kopf«, sage ich. Wow, ich rede mit Jana über die Abwesenheit von Sex. Besser als über Sex. Vor allem, weil ich auf diesem Gebiet keine Ahnung habe. Ich hatte mein sexuelles Debut noch nicht. »Du findest es nicht komisch?«, will sie wissen. »Nein. Außerdem geht es mich ja auch nichts an. Ich meine… wenn du Ingwer total gut findest und ich nicht, dann ist das meine Sache. Wieso sollte es mit Sex anders sein als mit Ingwer?« »Weil jeder Sex hat, aber nicht jeder Ingwer isst!«, gibt sie zurück. Mittlerweile haben wir das Flüstern aufgegeben. »Ich meine es doch auch nicht wörtlich… ist halt Geschmackssache wie alles andere auch. Und wenn du keinen Bock auf irgendwas hast, was alle anderen total gut findest, dann geht die anderen das trotzdem nichts an.« Jana schweigt eine Weile lang und malt Muster auf das Stück Laken zwischen uns. »Gibt’s da ein Wort für?«, erkundigt sie sich. Ich zucke im Dunkeln die Schultern. »Keine Ahnung. Ich könnte Lilli mal fragen. Ohne Namen zu nennen, natürlich. Sie verbringt eine Menge Zeit im Internet, wahrscheinlich hat sie schon mal irgendwas zu dem Thema gelesen«, antworte ich. Erneut herrscht eine ganze Weile lang Stille und das einzige Geräusch ist das Pladdern des Schneeregens aufs Dach und die Fenster. »Und die Sache mit Franzi…«, fängt sie an und ich muss glucksen. »Franzi ist super«, sage ich ihr. »Das meinte ich nicht. Weil wir beide… also, Franzi sagt, sie hat keine Ahnung, ob sie nur Mädchen mag, oder auch Jungs, oder beides, oder irgendwas dazwischen. Sie sagt, sie mag mich und der Rest ist ihr wumpe. Und ich glaube, bei mir ist es auch so. Aber wie erkläre ich das anderen?« »Du musst dich vor keinem rechtfertigen. Du magst Franzi. Und wenn du irgendwann mal Olivia oder Dominik oder Kim magst, dann magst du halt die. Solange es keine Schweine sind!«, füge ich streng hinzu und sie lacht. »Danke«, nuschelt sie. »Kein Ding«, sage ich. Jetzt habe ich tatsächlich für eine Viertelstunde nicht an die Schrecken der nächsten beiden Tage gedacht. Das war entspannender als ich dachte. »Schlaf gut«, sagt Jana und rückt ein Stück näher zu mir. »Du auch.« * Gabriel scheint an diesem Tag besonders gut gelaunt zu sein, denn er summt schon während des Umziehens die ganze Zeit vor sich hin und verschwindet dann besonders beschwingt in Richtung Halle. Ich hatte vor Aufregung und Nervosität wegen morgen nicht mal Zeit, ihn anzugaffen, als er halbnackt in der Gegend rumstand. Mieser, gutaussehender Bastard. Ich schaffe es tatsächlich, die Aufwärmphase und Christians Erklärungen darüber, wie man eine vernünftige Verteidigungsposition einnimmt, problemlos zu überstehen. Vor dem Partnertraining am Boxsack habe ich am meisten Bammel, aber offensichtlich ist meine Anspannung so groß, dass der altbekannte Berserkerschalter in meinem Kopf klemmt und ich recht verbissen darauf konzentriert bin, mir keinen Fehltritt zu erlauben. Gabriel mustert mich aufmerksam und ich wünschte, er würde woanders hinsehen. Sein Blick kribbelt in meinem Nacken. Gerade, als wir tauschen sollen und ich den Boxsack für Gabriel halten muss, öffnet sich die Hallentür und ein dunkelroter Haarschopf schiebt sich hindurch, um zu sehen, was in der Halle vor sich geht. Ich bemerke es nur, weil Gabriel strahlend in Richtung Tür winkt und mein Blick folgt seinem hinüber zu dem jungen Mann, der jetzt im Türrahmen steht und breit grinst. Er trägt eine grellgrüne, knallenge Jeans, ein orangenes Shirt und einen Gürtel, an dem eine recht Aufsehen erregende Glitzerschnalle prangt. »Entschuldige, aber hier sind keine Zuschauer erlaubt«, sagt Christian zu dem Neuankömmling. Der mustert Christian, als würde er ihm gern das Sixpack ablecken, nickt und wirbelt herum, ehe er die Halle wieder verlässt. »Was war das bitte für ‘ne Tunte?«, platzt es aus Karol heraus, sobald die Tür hinter dem Fremden zugefallen ist, und die anderen lachen. Ich starre sie an und der Knoten, der seit über einer Woche in mir schlummert, explodiert endgültig. »Könnt ihr eure beschissenen homofeindlichen Äußerungen nicht für euch behalten, ihr verfickten Saftsäcke?!«, schnauze ich sie an, drehe mich auf dem Absatz um und rausche aus der Halle. Mir egal, ob ich dafür später Runden laufen muss, oder ob ich mich grad geoutet hab, oder wer der Kerl eigentlich war. Ich bin so sauer auf diese engstirnigen Vollpfosten und denke an die Klausur morgen und daran, dass ich früher genauso was gesagt hätte, wenn so ein Kerl in mein Sichtfeld geraten wäre. Ich werfe mich in der Umkleide auf eine Bank und erwarte fast, dass Christian mir hinterher kommt und mich für den Ausbruch tadelt. Aber er kommt nicht. Stattdessen öffnet sich die Tür der Umkleide und Gabriel kommt herein. Ich starre ihn verwirrt an und überlege, ob Christian ihn wohl geschickt hat, um mich zu holen, aber er setzt sich neben mich auf die Bank und sieht mich unverhohlen offen an. Ich erwidere seinen Blick widerwillig. »Du bist sehr seltsam«, eröffnet Gabriel mir ohne Umschweife. Ich runzele die Stirn. »Du auch«, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Und das grade war ziemlich cool«, fügt Gabriel hinzu. Ich zucke die Schultern und starre auf den Linoleumboden. »Karol geht mir auf den Sack«, entgegne ich, als wäre das der eigentliche Grund für meine Reizbarkeit. Ich muss Gabriel ja nicht gleich meine halbe Lebensgeschichte erzählen. »Also hasst du Schwule nicht?«, erkundigt er sich beinahe beiläufig. »Nein«, antworte ich knapp. »Wieso hast du dann diesen Typen gemobbt?« Ich schaue ihn an und Gabriel sieht wirklich interessiert aus. Mir wird ziemlich warm, aber auch wenn ich mich irgendwo in meinem aufgewühlten Kopf darüber freue, dass er tatsächlich mit mir spricht, habe ich nicht den Nerv dazu, vor ihm meine Vergangenheit auszubreiten. »Weil ich ein Arschloch war«, sage ich also. »War?«, hakt Gabriel nach. »Ja, jetzt bin ich einfach nur noch eine gebrochene Existenz mit Schulstress und einer Therapeutin. Und bei dir so?« Eigentlich will ich gar nicht so schnippisch sein. Ich hab die ganze Zeit darauf gehofft, dass Gabriel mich nicht hasst und wir mal normal miteinander reden können, aber er hat heute einen schlechten Tag erwischt, um mit mir zu reden. »Ach naja, der Kerl grad war mein bester Freund und du bist für ihn in die Bresche gesprungen. Jetzt tut es mir leid, dass ich dich vorschnell verurteilt hab und will mich bei dir entschuldigen«, sagt Gabriel frei weg und streckt mir seine Hand hin. Ich bin völlig perplex angesichts solch nüchterner Ehrlichkeit und dem offensichtlich nicht vorhandenen Problem damit, Fehler einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen. Ich greife nach Gabriels Hand und schüttele sie. »Ok«, ist alles, was ich rausbringe. Gabriel lächelt mich an und streicht sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. »Es wäre nett, wenn wir noch mal von vorn anfangen könnten. Ich war ein Arsch.« Ich nicke. Wir sitzen eine Weile schweigend nebeneinander und mein Herz stolpert ununterbrochen. Es ist anstrengend. Zusätzlich zu der Aufregung wegen morgen und dem Ärger wegen Karol und den anderen kommt jetzt auch noch die Nervosität eine zweite Chance mit Gabriel zu haben. Was, wenn er mich dann wirklich blöd findet? So, wie ich es schon Felix und Leon gesagt habe? Das wäre total scheiße. Dann liegt es nicht mehr daran, dass er denkt, dass ich auch ein homofeindlicher Trottel bin, sondern dass ich eine miese Persönlichkeit habe, absolut uninteressant und kein bisschen mögenswert bin. Kein Druck also. »Hey, ihr Faulpelze!« Ich zucke zusammen und sehe auf. Christian steht mit verschränkten Armen in der Tür zur Umkleide und sieht zu uns hinunter. Allerdings wirkt er nur mäßig streng. »Bewegt euren Hintern zurück in die Halle, wir haben noch eine Viertelstunde!« Ob Christian weiß, dass seine kleine Schwester in meine kleine Schwester verknallt ist? Ich muss grinsen und Gabriel mustert mich von der Seite, als wir zurück in die Halle gehen. »Was ist lustig?«, will er wissen. »Die meisten um mich rum sind nicht hetero. Es kommt mir grad witzig vor, dass du dachtest, ich wäre ein Schwulenhasser«, antworte ich und greife nach dem Boxsack, während Gabriel sich seine Handschuhe anzieht und in die Grundposition geht. »Ich seh schon, es gibt viel über dich zu wissen«, entgegnet Gabriel und er sieht sehr zufrieden aus. Ich laufe knallrot an und räuspere mich verhalten. »Keine Schwätzchen mehr da drüben!«, ruft Christian uns zu und Gabriel schmunzelt, dann beginnt er mit seiner beeindruckenden Schnelligkeit und Eleganz den Boxsack zu malträtieren. Es geht in meinem Leben immer noch bergauf. Die Klausur morgen muss einfach gut laufen. * Während ich noch nie so zufrieden war wie im Moment, war ich auch eindeutig noch nie so dauernervös wie im Moment. Mir ist schlecht vor Aufregung, als ich am nächsten Tag ins Klassenzimmer komme, meinen Platz einnehme und Frau Senger anfängt die Arbeiten auszuteilen. Sie lächelt mir ermutigend zu, als ich mein Blatt mit zittrigen Fingern umdrehe und meinen Namen oben links in die Ecke schreibe. »Du rockst das, ich weiß es«, hat Felix gesagt. »Viel Erfolg! Ich glaub an dich!«, meinte Anjo vorhin. Die gesamte Familie Sandvoss hat mir beim Frühstück viel Glück gewünscht. Vor mir auf dem Tisch steht eine selbstgebastelte Giraffe von Lydia, die sie aus dem Kindergarten mitgebracht hat. Eigentlich sieht das Ding mehr aus wie ein Schwein mit Flecken als eine Giraffe, aber als sie es mir heute Morgen mit ihren Marmeladenfingern überreicht hat, hätte ich am liebsten angefangen zu heulen. »Sie haben neunzig Minuten Zeit. Fangen Sie an«, sagt Frau Senger und ich schließe kurz die Augen, ehe ich mir die erste Aufgabe durchlese. Das kann ich. Mein Blick schweift über die anderen Aufgaben und ein Gefühl der Erleichterung macht sich in mir breit. Zugegeben, drei oder vier der Fragen hören sich wahnsinnig kompliziert an, aber über die Hälfte schaffe ich hoffentlich. Meine Handschrift ist eine Katastrophe, weil meine Finger so zittern. Ich spüre sehr deutlich, dass Frau Senger mich öfter mustert als die anderen Schüler, aber ich traue mich nicht, ihren Blick zu erwidern. Eine Aufgabe nach der anderen. »Wenn du eine Frage nicht verstehst, ist das kein Beinbruch. Mach einfach die nächste«, hat Felix gesagt. Von sechszehn Fragen beantworte ich neun, bei denen ich mir sicher bin, sie richtig gemacht zu haben, und drei, bei denen ich unsicher bin. Die anderen vier muss ich weglassen und schließlich gebe ich als Erster ab. Frau Senger blättert durch meine Aufzeichnungen und sieht lächelnd zu mir auf. Ich lächele unsicher zurück und verlasse eilends das Klassenzimmer. Es ist, als wäre eine tonnenschwere Last von mir gefallen. Natürlich weiß ich das Ergebnis noch nicht, aber ich bin sicher, dass es für sieben Punkte gereicht hat. Ich würde Felix am liebsten einen ganzen Lastwagen voll mit Gitarren kaufen. Auf dem Weg zur Pausenhalle unterdrücke ich nur mühsam ein Grinsen. Wenn ich mich nicht komplett täusche und völlig größenwahnsinnig geworden bin, dann hab ich mir heute die Zulassung zu meinem Abitur verdient. Kapitel 9: Die unerwartete Zuneigung ------------------------------------ Für Katja, weil sie wunderbar ist ____________________________ »Das Wort ist asexuell«, mampft Lilli mit dem Mund voll Kekse und hält mir auffordernd die Dose hin, in der eine Menge bunt bemalter Weihnachtsplätzchen liegen. Ich nehme mir eines mit gelber Glasur und rosa Streuseln. Ich habe ihr gerade umständlich erklärt, dass ich mich frage, ob es einen Begriff für Menschen gibt, die keinen Sex wollen. »Aber es gibt auch Graustufen. Leute, die keinen Sex wollen, aber trotzdem masturbieren, Leute, die nur ganz geringe Libido haben und sich deswegen noch als asexuell bezeichnen, Leute die… Ist alles ok mit euch?« Lilli schaut Anjo und mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Anjo ist knallrot im Gesicht und ich bin sicher, dass ich auch nicht besser aussehe. Sie betrachtet uns einen Moment lang schweigend, dann schmunzelt sie und bietet uns noch mehr Kekse an. »Ihr seid ja niedlich, wenn ihr so schüchtern daherkommt«, meint sie amüsiert und schiebt sich einen grünen Keks in den Mund. »Bitte beruhigt euch wieder, ich höre ja schon auf über Masturbation und Sexualtrieb zu reden…« Anjo und ich werfen uns einen halb verlegenen, halb erleichterten Blick zu und ich nehme mir vor, Jana davon zu berichten, was Lilli mir erzählt hat. Die Dinge über Selbstbefriedigung kann ich ja getrost weglassen. Wahrscheinlich würde ich vor Beendigung meines Satzes im Erdboden versinken und unten in der Arztpraxis durch die Decke brechen. Als es zum Ende der Pause klingelt, bekomme ich noch eine Handvoll Kekse zugesteckt und verschwinde dann zum Chemieunterricht. Eigentlich bin ich mir sicher, dass Frau Senger die Arbeiten noch nicht nach ein paar Tagen fertig korrigiert hat, aber trotzdem bin ich nervös, als ich mich auf meinen Platz fallen lasse und meinen Kram auspacke. Frau Senger scheint allerdings kurz vor Weihnachten in Höchstform zu sein, denn kaum dass sie den Raum betreten hat, zieht sie auch schon einen dicken Packen Papier aus ihrer Aktentasche und legt ihn vor sich auf den Tisch. »Ich dachte mir, dass ich Sie nicht in die Ferien gehen lassen kann, ohne Sie die Noten wissen zu lassen«, erklärt Frau Senger gut gelaunt und mein Herz schlägt irgendwo in der Nähe meines Adamsapfels. Ein Murmeln geht durch die Klasse. Ich hab keine Ahnung, ob noch irgendjemandes Abi von dieser Klausur abhängt und ehrlich gesagt ist es mir auch total egal. Ich starre auf den Batzen Papier auf dem Lehrerpult und in meinem Kopf läuft ununterbrochen der Satz ›Bitte lass es sieben Punkte sein‹ wie ein Mantra durch meine Gedanken. Dummerweise sind die Arbeiten alphabetisch geordnet, das heißt, ich kriege meine ganz zum Schluss. Als Frau Senger bei mir ankommt und mir die zusammengehefteten Seiten reicht, bin ich in einem Zustand, der einem Nervenzusammenbruch nahe kommt. Nach der Arbeit hatte ich ein gutes Gefühl, aber mittlerweile nagen die Zweifel an mir und ich greife mit zittrigen Fingern nach der Klausur. Ich schaffe es kaum, die Seiten umzublättern, um unten rechts die in roter Tinte geschriebene Note zu finden. Eine Hand legt sich auf meine Schulter, gerade, als meine Augen die geschwungene Neun entdecken. »Herzlichen Glückwunsch zur Abiturzulassung, Benjamin«, sagt Frau Senger leise und ich höre das Lächeln in ihrer Stimme, während ich auf die runde Zahl unter der Arbeit starre und mein Herz mir sicherlich bereits drei Rippen gebrochen hat. Neun. Neun Punkte. Frau Senger geht zurück nach vorne und schreibt den Notenschnitt an die Tafel. Dann gehen wir die Klausur Schritt für Schritt durch und ich stelle verwirrt fest, dass die beste Note im Kurs tatsächlich elf Punkte sind. Das sind nur zwei mehr als ich habe. Vielleicht sollte ich Felix Blumen schicken. Oder ihm anbieten, seine und Leons gemeinsame Wohnung komplett allein zu streichen, sollten die beiden es sich überlegen, tatsächlich zusammen zu ziehen. Womöglich auch beides. Ich möchte die ganze Welt umarmen und Felix ganz besonders, aber ich fürchte, dass ich mich das nicht traue. Also bleibt es bei einem dümmlichen Grinsen und einer Endorphinüberschwemmung. Ich werde Felix direkt nach der Doppelstunde eine SMS schreiben und ihm Bescheid geben. Oder sollte ich am besten gleich eine Rund-SMS schicken? Alle haben sich solche Mühe mit mir gegeben und mir die Daumen gedrückt… Ich verbringe die kleine Pause zwischen Chemie und Englisch damit, die SMS zu schreiben und eine Menge Empfänger hinzuzufügen. Ich überlege, ob ich Christian auch eine schicken soll, aber den sehe ich nachher beim Training und Anjo erzählt es ihm sicherlich ohnehin. Ich beobachte das Display, während SMS an Jana, Felix, Leon und Tim versandt werden. Im Englischklassenzimmer warten Lilli und Anjo bereits auf mich und für einen kurzen Moment erinnere ich mich an Anjos Coming Out vor einiger Zeit. Dann sehe ich Anjos strahlendes Lächeln, als ich mich neben ihn auf den Stuhl fallen lasse und die Erinnerung verfliegt. Ich schiebe die Klausur, die ich den ganzen Weg hierher in der Hand gehalten habe, zu Lilli und Anjo hinüber und die beiden blättern hektisch darin herum, bis sie die neun Punkte am Ende der Arbeit finden. Lilli bricht in begeistertes Quietschen aus und wirft beinahe ihren Stuhl um, als sie aufspringt und zu mir herüber kommt. Dann bin ich unter einer Dreierumarmung begraben und ächze ein wenig unter dem Gewicht. Eventuell brennen meine Augenwinkel ein wenig, aber ich ignoriere das Gefühl gekonnt und versuche meine Arme zu befreien, um die Umarmung wenigstens halbwegs zu erwidern. Lillis grüne Haare hängen mir im Gesicht und riechen nach Apfelshampoo, Anjos dicker Kapuzenpullover fühlt sich an meiner Wange ziemlich weich an und ich wünsche mir für einen Augenblick, die Zeit anzuhalten oder eine Momentaufnahme zu machen, die ich mir später immer wieder anschauen kann. Allerdings kommt in diesem Moment Frau Liebknecht in den Raum geschneit und Lilli und Anjo setzen sich wieder auf ihren Platz. In meiner Hosentasche vibriert mein Handy. »Herzlichen Glückwunsch!«, schreibt Leon. »Wie wunderbar! Das Abi machst du doch mit links. Wenn du willst, können wir die Klausur zusammen durchgehen :-) LG, Felix.« Tim ist bei der Arbeit und Jana in der Schule, von den beiden erwarte ich so schnell keine Antwort. Ich grinse zufrieden und schiebe das Handy zurück in die Tasche. Heute ist ein geiler Tag. * »Du siehst sehr gut gelaunt aus«, sagt Gabriel, als ich in die Umkleide komme. Ich bin kurz irritiert darüber, dass er mit mir spricht und mich nicht anschaut, als wäre ich eine Made, aber dann erinnere ich mich daran, dass er letztes Mal nach meinem Ausbruch beschlossen hat, dass ich offenbar doch nicht komplett beknackt bin. Ich räuspere mich und bin bemüht, das aufgeregte Flattern in meiner Magengegend zu ignorieren. Vielleicht habe ich doppelt so viel Libido wie ein normaler Mensch, weil Jana überhaupt nichts davon hat. »Ich bin offiziell zum Abi zugelassen«, entgegne ich und kann einen stolzen Unterton nicht unterdrücken. Gabriel lächelt. »Herzlichen Glückwunsch«, meint er und zieht sich seinen Pullover über den Kopf. Ich habe eine glorreiche Sekunde Zeit seine Bauchmuskeln anzustarren, während sein Sichtfeld durch den Pulli eingeschränkt ist. Dann hat er ihn ausgezogen und ich zwinge meine Augen zurück zu seinem Gesicht. »Danke.« Gabriel schlüpft aus seiner Jeans und ich hole tief Luft und fange an, hochkonzentriert meine Jacke und meine Schuhe auszuziehen, damit ich ihn nicht ununterbrochen angeiere. »Würdest du das gern feiern?«, will Gabriel plötzlich wissen. Ich blinzele und sehe zu ihm herüber. Er mustert mich aufmerksam aus seinen fast schwarzen Augen. Verfluchte Scheiße, wieso sieht dieser miese Bastard so gut aus? Man kann ja kaum hinsehen, ohne seine Augäpfel zu riskieren. »Was?«, antworte ich verwirrt. Feiern? Noch hab ich mein Abi nicht. Unweigerlich rattert eine Liste von Erledigungen durch meinen Kopf. Morgen Therapiesitzung, dann Weihnachtsbaum mit der Familie holen, abends mit Anjo und Lilli die restlichen Geschenke besorgen, Hausaufgaben, Englisch lernen … »Feiern. Die Zulassung zu deinem Abi«, wiederholt er. Vermutlich denkt er jetzt, dass ich irgendwie beschränkt bin, weil ich ihn lediglich mit leicht geöffnetem Mund ansehe, als wäre der Begriff ›feiern‹ mir noch nie zu Ohren gekommen. Gabriel legt den Kopf schief und ein paar Strähnen seines seidigen Haares fallen ihm ins Gesicht. »Wir könnten nach dem Training was trinken gehen«, schlägt er vor, wohl um sein Anliegen etwas deutlicher zu machen. Ich stecke mit einem Bein in meiner Trainingshose und sehe garantiert aus wie der letzte Trottel, als ich mitten in der Bewegung innehalte und ihn nun von unten herauf anschaue. »Du und ich? Was trinken?«, wiederhole ich seine Worte ungläubig und diesmal muss er lachen, weil ich so schwer von Begriff bin. Er hat ziemlich gleichmäßige, weiße Zähne. Wie sich das wohl anfühlt, wenn die einen in den Hals beißen? Argh, Benni! Reiß dich zusammen! »Ja. Wir beide und Getränke.« »Wa… wie ein Date?«, platzt es aus mir raus. Oh, hervorragend. Ich bin einer US-amerikanischen Highschool-Komödie entsprungen und habe mich im echten Leben erfolgreich innerhalb von zwei Minuten zwei Mal zum Horst gemacht. Super. Der Tag fing großartig an und jetzt möchte ich gern zu Stein erstarren oder so. Gabriel hebt schmunzelnd die Augenbrauen. »Willst du denn, dass es ein Date ist?«, fragt er. Heilige Scheiße, flirtet er gerade mit mir? Oh Gott. Oh nein. Hilfe. »Keine… Ahnung?«, gebe ich matt und mit brennenden Wangen zurück und ziehe endlich die Trainingshose an. Mit fahrigen Fingern angle ich nach meinem T-Shirt und gerade, als ich beschließe, dass ich meinen Kopf einfach ein paar Mal gegen die Wand hauen sollte, schneien Karol, Paul und Jason herein und Gabriel wirft mir nur noch einen amüsierten Blick zu, bevor er in Richtung Halle verschwindet. Ich lasse mir extra viel Zeit dabei, mein T-Shirt über den Kopf zu ziehen und in die Halle zu schlendern, damit Gabriel meinen peinlichen Ausrutscher vergessen kann, aber das belustigte Zucken um seine Mundwinkel sagt mir, dass er meine Worte vermutlich bis an sein Lebensende behalten wird. Super, Benni. Wirklich klasse. Christian kommt zu uns herüber und haut mir so kräftig auf den Rücken, dass mir ein würdeloses Hüsteln entfährt. »Saubere Leistung in Chemie«, sagt er breit grinsend und ich gehe davon aus, dass Anjo ihm Bescheid gesagt hat. Ich nicke und schaffe es zurück zu grinsen. »Danke. Felix hat mich gerettet«, gebe ich zurück. Er nickt. »Der elende Streber«, meint er kopfschüttelnd und sieht sich nach den anderen um. Bis auf Gero sind alle da und Christian fängt schon mal an, die Boxsäcke in die Mitte der Halle zu ziehen. »Weißt du, wenn es dich beruhigt, können wir auch ganz platonisch was trinken gehen«, ertönt Gabriels Stimme hinter mir und ich zucke erschrocken zusammen. Räuspernd bringe ich ein schiefes Grinsen zustande. »Äh… sicher. Ok. Was trinken. Kein Ding. Ich meine… gerne«, stottere ich mir zusammen und Gabriel beißt sich auf die Unterlippe, um ein Lachen zu unterdrücken. »Cool. Ich freu mich«, entgegnet er und wirkt tatsächlich zufrieden und sogar etwas beschwingt. Es ist das beste Training bisher, auch wenn ich mich am Anfang total zum Deppen gemacht habe. Gabriel und ich schweigen uns nicht mehr eisern an und er hilft mir bereitwillig beim Aufwärmen, was bedeutet, dass er mich dauernd anfasst. Selbstverständlich nur an unverfänglichen Körperstellen, aber ich bin trotzdem ganz kribbelig, als wir schließlich an die Boxsäcke treten. Ein schönes Sahnehäubchen an diesem Tag wäre gewesen, wenn ich es geschafft hätte, nicht die Kontrolle zu verlieren, aber leider funktioniert das nicht und wie schon die letzten Mal werde ich mitten drin gestoppt. Diesmal allerdings nicht von Christian, sondern von Gabriel, dessen Hände sich fest um die Boxhandschuhe geschlossen haben. Er schaut mich ernst und eindringlich an und ich bemerke, wie wieder einmal alle in der Halle mich ansehen und ich schwer atme. Meine Muskeln beschweren sich dumpf bei mir, doch ich achte so wenig wie möglich auf sie. »Tauschen«, sagt Gabriel leise und lächelt mich kurz an. Ich nicke resigniert und ziehe die Handschuhe aus, um den Boxsack für Gabriel festzuhalten. Christian beobachtet uns, das sehe ich nach einem kurzen Seitenblick. Sein Ausdruck kommt mir fast zufrieden vor, doch dann hat er sich schon abgewendet und ist zu Karol und Jason hinüber gegangen, um sie zu beaufsichtigen. Ich beschließe, dass ich mir von meinem Kontrollverlust heute nicht die Laune vermiesen lassen will, immerhin hab ich mir die Zulassung zu meinem Abi erarbeitet. Trotzdem bin ich nervös wegen der Aussicht auf ein Bier mit Gabriel. Worüber sollen wir reden? Was, wenn er mich wirklich blöd findet, nachdem er mich besser kennen gelernt hat? Hinzu kommt die sexuelle Anziehungskraft, die dieser Armleuchter auf mich ausstrahlt. Vielleicht hat sich meine Pubertät aufgrund des ganzen Stresses nach hinten verschoben? Jedenfalls fühlt es sich so an, als würde mein Hormonhaushalt komplett verrückt spielen. Das Duschen nach dem Training ist wieder eine Herausforderung für mich. Ich habe kurz überlegt, diesmal aufs Duschen zu verzichten und später bei Christians Familie zu duschen, aber schließlich will Gabriel was mit mir trinken und ich will ungern riechen wie ein Puma. Also starre ich stur die Fliesenwand an, während ich so schnell dusche wie nur möglich. Christians breites Grinsen, als ich hastig meinen Pullover in der Umkleide anziehe, bringt mich dazu, zu grummeln. »Sehr witzig«, fauche ich peinlich berührt und Christian lacht schadenfroh. »Die Liebe ist ein seltsames Spiel«, trällert der Fiesling und ich würde ihn gern gegen den Oberarm boxen, aber der ist so muskulös, dass ich mir vermutlich die Finger brechen würde. »Sie kommt und geht von einem zum anderen…« »Nun hör schon auf, du Arsch!«, motze ich. Christian lacht lauter. »Was ist so lustig?«, erkundigt sich Gabriel, der in diesem Moment mit einem Handtuch um die Hüfte geschlungen in die Umkleide kommt. »Ach, ich hab mir Benni mit Weihnachtsmütze vorgestellt«, sagt Christian lässig dahin und grinst breit in der Gegend herum, während er seinen Kram zusammensucht und ich mich frustriert und verlegen auf die Bank fallen lasse, um auf Gabriel zu warten. Weil er was trinken gehen will. Mit mir. Oh Gott, vielleicht sterbe ich gleich. »Tragt ihr welche an Weihnachten?«, will Gabriel wissen und sieht mich einen Augenblick lang prüfend an, als würde er sich mich auch mit einer Mütze vorstellen wollen. »Ja, mein Bruder und ich zwingen sie uns meistens gegenseitig auf. Und dieses Jahr muss Benni auch eine tragen«, verkündet Christian feixend und wirft sich seine Tasche über die Schulter. »Viel Spaß euch beiden!« Ich werfe ihm einen wütenden Blick nach, als er die Umkleide verlässt. Gabriel hat immerhin schon seine Boxershorts an, als ich mich zu ihm umdrehe. »Du feierst bei Christian Weihnachten?«, erkundigt er sich ein wenig verwundert und ich schlucke. »Ähm… ja. Ist ‘ne lange Geschichte«, erwidere ich ausweichend. Gabriel trocknet seine Haare und schlüpft in seine Klamotten. Bevor wir nach draußen gehen, zieht er sich eine schwarze Mütze über den Kopf. »Ok. Vielleicht erzählst du sie mir ja irgendwann mal«, entgegnet er. Ich ziehe unverbindlich die Schultern hoch. Keine Ahnung, ob ich meine Lebensgeschichte jemals mit Gabriel teilen will. Immerhin gehört schon ein ordentliches Stück Erklärung dazu, wieso ich bei Christians Familie Weihnachten feiere. Und ich bin noch nicht mal darüber hinweg, dass Gabriel plötzlich mit mir redet, da werde ich ihm nicht als erstes meine Leidensgeschichte auftischen. Ich überlege fieberhaft, was ich sagen könnte, um von mir abzulenken. »Christian hat gesagt, dass du der kleine Bruder eines Bekannten bist… Woher kennen die beiden sich denn?« Oh, gut, Benni. Hervorragend! Ein völlig unverfängliches Thema, bei dem nichts schi– »Adam hat Christian früher trainiert und Adam hat erzählt, dass Christian ihn ziemlich entschlossen angebaggert hat.« Ich glotze Gabriel verblüfft von der Seite an. »Christian? Hat deinen Bruder angebaggert?«, erkundige ich mich. Gabriel nickt schmunzelnd. »Da muss er so sechzehn oder siebzehn gewesen sein. Adam ist ein sehr höflicher Mensch, er hatte so seine Probleme damit, Christian in Zaum zu halten. Ich glaub, Christian weiß nicht, dass ich das weiß, es wäre also nett, wenn du es ihm nicht auf die Nase bindest«, meint er. Ich nicke, auch wenn ich es schade finde, dass ich Christian jetzt nicht damit aufziehen kann, dass er als siebzehnjährige Hormonwolke seinen Trainer angebaggert hat. »Also macht dein Bruder auch Kickboxen?«, frage ich. »Ja, auch. Wir haben beide schon alles Mögliche ausprobiert. Er leitet eine Kampfsportschule hier in der Stadt und unterrichtet Kung Fu und Kickboxen«, erzählt Gabriel und wir biegen in die Fußgängerzone ein. »Hast du Hunger?«, will er wissen. Ich seufze. Ja, ich hab Hunger, aber ich will mein Geld nicht für Essen ausgeben. »Ähm…«, sage ich unschlüssig. Gabriel mustert mich kurz und sagt dann: »Ich lade dich auf einen Döner ein. Weil du zum Abi zugelassen bist und ich ein Arsch war.« Ich versuche, ihn mit rudernden Armen davon abzuhalten, mir irgendetwas zu bezahlen, aber er hat sich schon an der nächstbesten Dönerbude angestellt und scheint meine Proteste nicht zu hören. Wer schon mal einen Döner gegessen hat, der weiß, dass man dieses Essen nicht verspeisen kann, ohne dabei ein Stück seiner Würde zu verlieren – vorausgesetzt natürlich, man isst in Gesellschaft. Wir hocken zu zweit in dem winzigen Imbiss, hören schmalzige Weihnachtslieder, die aus einem Radio kommen und kämpfen mit unserem Döner. Immerhin sieht Gabriel beim Döneressen bei weitem nicht so elegant aus wie normalerweise und als ihm Krautsalat in den Schoß fällt verschlucke ich mich an einem Stück Zwiebel. Wir müssen beide lachen und den Döner erst einmal beiseite legen. »Magst du Glühwein?«, fragt Gabriel, nachdem er sich beruhigt und seinen Döner wieder in die Hand genommen hat. »Ja, schon, aber–« »Dann kann ich dich ja hiernach noch auf einen einladen.« »Du kannst mir nicht alles bezahlen, nur weil du dachtest, ich sei ein Arsch!« »Du bist zu deinem Abi zugelassen.« »Ja, schon, aber trotzdem…« »Vor allem will ich gern noch mehr Zeit mit dir verbringen«, erklärt Gabriel sachlich und ich verschlucke mich beinahe schon wieder. Ein Kleks scharfer Soße tropft lautlos auf meinen Teller, während ich Gabriel über den Tisch hinweg fassungslos anglotze. »Bist du immer so direkt?«, frage ich etwas heiser. Meine Magengegend spielt Ameisenhaufen. »Ja, meistens schon. Es sei denn, es ist taktlos. Dann nicht«, gibt Gabriel nachdenklich zurück, als würde er im Kopf noch mal alle Gelegenheiten durchgehen, bei denen er jemals direkt gewesen ist. »Wow«, murmele ich. Gabriel lächelt amüsiert. »Meine besten Freunde sind genauso, denen ist davon bestimmt auch ein Teil zu verdanken«, meint er und beißt erneut in sein gefülltes Fladenbrot. »Also hast du noch mehr beste Freunde als den, der letztens beim Training reingeschaut hat?«, erkundige ich mich, während mein Gehirn sich den Satz ›Vor allem will ich gern noch mehr Zeit mit dir verbringen‹ einprägt. »Das war Erik. Ich hab noch eine beste Freundin, Tessa. Und mein Bruder gehört auch zu meinen engsten Freunden. Aber der ist nicht so direkt. Er ist eher der… in sich ruhende, besinnliche, friedfertige Mensch«, meint Gabriel und mustert den Rest seines Döners, als wäre er ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zur Sättigung. »Oh, das klingt beneidenswert. Das in sich Ruhen, mein ich«, gebe ich zurück und fange ein Stück Fleisch auf, bevor es auf den Boden fällt. Gabriel gluckst bei dem Anblick. »Wir können ja mal ein bisschen meditieren, wenn du willst. Ich bin zwar nicht so gut wie Adam, aber vielleicht hilft’s dir ja«, schlägt er vor. Seine dunklen Augen sehen mich erwartungsvoll an und mein Hals fühlt sich plötzlich sehr ausgetrocknet an. »Vielleicht nach Weihnachten?«, krächze ich. Gabriel sieht zufrieden aus und nickt. Den Rest des Döners essen wir schweigend und dann überredet Gabriel mich dazu, mit ihm auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Ich hab Tim eine SMS geschrieben, dass ich heute länger unterwegs bin und er mich nicht abholen muss. Natürlich lässt er das nicht auf sich sitzen und ich bekomme wieder einmal eine seiner »Ich bin sowieso in der Stadt, sag Bescheid, wenn du fertig bist, dann sack ich dich ein!«-SMS. Tim ist immer dann in der Stadt, wenn ich auch hier bin. Es ist ein mysteriöses Wunder. Gabriel spendiert mir einen Glühwein und ich sage ihm, dass ich ihn Neujahr auch mal zu was einladen kann und er grinst breit und stößt mit mir auf meine Abizulassung an. »Weißt du schon, was du nach dem Abi anstellen willst?«, fragt Gabriel mich. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, ihn nicht die ganze Zeit ohne zu blinzeln anzustarren. Aber alles ist spannend an ihm. Die Art, wie er sich mit der Zunge den Glühwein von der Oberlippe leckt, wie er die ganze Zeit von einem Fuß auf den anderen tritt – ob ihm kalt ist? – oder wie er sich hin und wieder mit einem Ruck seines Kopfes die mittlerweile größtenteils getrockneten und aus der Mütze entlassenen Haare aus dem Gesicht befördert. »Keinen blassen Schimmer. Auf jeden Fall kein Studium, ich will Geld verdienen«, antworte ich. Gabriel nickt. »Ja, ich will auch nicht studieren. Wahrscheinlich bleib ich bei uns in der Kampfsportschule und mache meine Trainerlizenz.« »Was machst du eigentlich alles für Sportarten? Auch Kung Fu und Kickboxen?«, frage ich. Ich hab mir an dem Glühwein die Zunge verbrannt, weil ich Gabriel die ganze Zeit so gebannt beobachtet hab. Toll. Ich halte sie kurz ein stückweit in die Kälte, damit sie abkühlen kann. Gabriel betrachtet sie mit großem Interesse, sodass ich meine Zunge hastig wieder zurückziehe. »Hab sie mir verbrannt«, erkläre ich – heute zum gefühlt hundertsten Mal – peinlich berührt. Gabriel gluckst. »Kung Fu lern ich schon, seit ich sechs bin. Kickboxen hab ich vorher noch nie gemacht und es ist auch nicht unbedingt mein Lieblingssport. Ich mach das Training ja auch nicht wegen der Sportart, sondern wegen Christian und meinen Aggressionsproblemen. Ansonsten… ich hab Karate eine Zeitlang gemacht, Tischtennis, Schwimmen, Capoeira… das hat mir am meisten Spaß gemacht.« »Was ist Capoeira?«, will ich wissen und komme mir direkt wieder blöd vor. »Das kommt aus Brasilien und ist so eine Art Mischung aus Kampfsport und Tanzen. Ich find Tanzen großartig, deswegen war das voll mein Ding.« Ich schaue ihn an und sehe dabei sicher aus wie ein Karpfen. »Du kannst tanzen?« Gabriel gluckst bei meinem beeindruckten Gesichtsausdruck. »Ja, schon. Mein bester Freund Erik will später Musicaldarsteller werden und durch ihn bin ich zum Tanzen gekommen. Ich hab’s nie professionell gemacht, sondern immer nur mit ihm und auf Feiern. Ganz oft musste ich für Proben herhalten oder für Hebefiguren zum Vorführen. Wir trainieren auch oft miteinander, dann ist es ein bisschen wie eine merkwürdige Tanz-Kampf-Aufführung weil jeder sein eigenes Ding durchzieht und wir darauf achten müssen, dass wir den anderen nicht über den Haufen rennen«, erzählt er. Mir fällt auf, dass dies ja das erste Mal ist, dass ich ihn so viel am Stück reden höre, und ich finde seine Stimme ziemlich toll. Überrascht mich ehrlich gesagt nicht, bisher finde ich alles an ihm zum Anbeißen. »Musicals…«, murmele ich abwesend und versuche in meinen Gehirnwindungen danach zu graben, ob ich irgendein Musical kenne, aber ich weiß nur, dass es Dinge wie Grease und König der Löwen gibt, aber gehört hab ich davon noch nie irgendwas. »Das würd ich ja gern mal sehen, euer Training.« Eigentlich wollte ich das nicht laut sagen, aber es ist mir rausgerutscht. Gabriel grinst breit und sieht schon wieder ausgesprochen zufrieden aus. »Wenn Erik das nächste Mal da ist, lad ich dich zu uns ein und du kannst zuschauen«, bietet er ohne Umschweife an. Ich bin völlig überfordert mit seiner Begeisterung mir gegenüber. Die ganze Zeit hab ich mir Sorgen darüber gemacht, dass er mich blöd findet, da hatte ich gar keine Gelegenheit Angst davor zu haben, was geschieht, wenn er mich mag. Es war einfach so absurd, diese Vorstellung. »Wirklich?«, hake ich vorsichtshalber nach. Gabriel sieht verwirrt aus. »Sicher. Wieso würd ich es sonst sagen? Ich habe festgestellt, dass Zeit mit dir zu verbringen sehr angenehm ist.« Wieder seine direkte Art. Einfach so sagt er diese Dinge. Ich würde ihm eigentlich gern sagen, dass ich den Abend auch toll fand, aber ich kriege kein Wort heraus und spüle den Rest meines Glühweins herunter. Seine dunklen Augen schimmern im Licht der Glühweinbude und mein Magen schlägt einen Salto. Ich bin verflucht noch mal total am Arsch. Kapitel 10: Die fröhliche Weihnacht ----------------------------------- Guten Morgen ihr Lieben! Nach Ewigkeiten melde ich mich mit einem neuen Kapitel und hoffe, dass ihr euch noch nicht entnervt über die Verspätung aus dem Staub gemacht habt. Es war recht befremdlich im Frühling über ein Weihnachtsfest zu schreiben, aber dank meiner Lieblingsmuse, Lisa, hat es letztendlich doch geklappt. Ich hoffe auch, dass meine Schreibblockade sich nun endgültig verabschiedet und ich euch wieder regelmäßig mit neuem Stoff beliefern kann :) Viel Spaß beim Lesen! ___________________________________________________ »Hast du schon mal drüber nachgedacht, wie ähnlich Chris und du euch seid?« Eh…? »Bitte!?« Anjo sieht mich aus seinen grünen Babyhundeaugen an und schaut dabei drein, als wäre er die personifizierte Unschuld. Ich bin voller Empörung. »Naja, ihr seid beide große Brüder und diese Beschützertypen mit einem… ähm… gewissen Hang zur Aggressivität, der sich in letzter Zeit selbstredend stark verringert hat!« Ich starre Anjo fassungslos an. So viel Respekt wie ich vor Christian auch habe, ich möchte wirklich nicht mit ihm verglichen werden. Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, dass das die Erwartungen an mich viel zu hoch steckt. Christian würde sich wahrscheinlich schlapp lachen, wenn er mit jemandem wie mir verglichen werden würde. »Hang zur Aggressivität«, murmele ich unzufrieden und denke automatisch an die Trainingsstunden, in denen ich immer noch regelmäßig völlig austicke und den Boxsack verprügele, als wäre er meine persönliche Nemesis. Aber gut, genau das ist das Ding in diesen Augenblicken, weil ich mir das Gesicht des Erzeugers vorstelle. »Es war nicht so negativ gemeint, wie es sich angehört hat«, beschwichtigt Anjo mich und sieht eindeutig aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Ich brumme leise in mich hinein und beiße in das Sandwich, das heute in einer orangenen Brotdose steckt und von Margarete persönlich mit viel Salat und mehreren Scheiben Salami zubereitet worden ist. Noch zwei Stunden, dann ist die Schule vorbei. Mittlerweile ist auch die Pausenhalle weihnachtlich dekoriert und das Wetter ist sehr bemüht, die unter ihm leidenden Menschen zu Weihnachtsstimmung zu inspirieren. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass sich bei mir Erfolg einstellt, da es erstens schneeregnet und zweitens mein Magen jedes Mal einen Krampf bekommt, wenn er an das anstehende Fest denkt. Ich fühle mich absolut nicht bereit dafür. Der ganze heile Familienkram ist zu viel für mich. Niemand weiß von meiner regelmäßig aufkommenden Panik, die mit jedem Tag wächst, weil es mir ziemlich peinlich ist, dass ich Angst vor Weihnachten habe. Ich habe nicht mal Frau Doktor Ehrmann davon berichtet, auch wenn mich die – zugegebenermaßen dezente – Weihnachtsdeko in ihrem Sprechstundenzimmer beinahe zum Hyperventilieren gebracht hat. Weiß der Geier, wie ich den riesigen geschmückten Baum an Heiligabend für mehrere Stunden ertragen soll, ohne an der Atmosphäre und meiner eigenen Selbstabscheu zu ersticken. Anjo zerrt mich aus meinem finsteren Gedanken, indem er den Namen Gabriel erwähnt – das einzige Wort, das ich aus seinem Satz mitbekomme. »…Gabriel?« »Was?« Ich sehe ihn an, als hätte er mir gerade von einem geplanten Bombenanschlag auf unsere Schule berichtet. Anjo schmunzelt verhalten und betrachtet mein Gesicht eingehend. »Ich hab gefragt, wann du dich das nächste Mal mit Gabriel triffst. Privat, mein ich. Ohne Training«, wiederholt er und sieht mich voller Erwartung an. Seit ich Anjo von meinem Weihnachtsmarkttreffen mit Gabriel berichtet habe, bin ich sicher, regelmäßig ein begeistertes Funkeln in seinen grünen Augen zu sehen, wenn das Thema Gabriel angesprochen wird. Ich habe dieses Funkeln bislang nur bei Lilli gesehen, wenn sie von einem fiktiven Pärchen spricht. Den Namen der Serie, aus der es kommt, hab ich wieder vergessen, aber ich meine mich zu erinnern, dass es um Brüder, Himmel, Hölle und einen Engel in einem Columbo-Mantel geht. Ich fürchte, zu einer genaueren Inhaltsangabe bin ich nicht in der Lage. »Weiß nicht… Das nächste Training ist erst nach Weihnachten. Und wir sehen uns ja sonst nicht. Und keine Ahnung, ob er überhaupt noch mal was mit mir machen will«, gebe ich nervös zurück. Mein Herz wummert unter meinen Rippen, als wollte es einen Marathon gewinnen. Noch bin ich für eine Interpretation dieser körperlichen Signale nicht bereit und schiebe sie daher auf meine Weihnachtspanik. Anjo lächelt auf seine zuckersüße Art und Weise. Fast möchte man an ihm knabbern. »Nach dem, was du erzählt hast, bin ich mir ziemlich sicher, dass er dich auch weiter privat treffen will«, versichert er mir und ich seufze. Unweigerlich wandern meine Gedanken zu Gabriel unter der Dusche, Gabriel im Licht einer Glühweinbude, Gabriel mit einem Lächeln im Gesicht, das für mich bestimmt ist, Gabriel, der… Es läutet zum Ende der großen Pause und ich stehe etwas zu hastig auf. Anjo gluckst leise. »Wir sehen uns später!«, sage ich eilends und stapfe in Richtung Chemie. Ich werde drei Kreuze machen, wenn Weihnachten endlich vorbei ist. Meine Aufmerksamkeit im Chemieunterricht liegt unter Null. Ich hoffe, dass meine gute Klausur für die Endnote ausreicht und ich mich in der letzten Stunde vor Weihnachten nicht mehr großartig beteiligen muss. Frau Senger lässt mich allerdings in Ruhe und ich lege in der kleinen Pause meinen Kopf auf den Tisch, um ein paar Minuten durchzuatmen und meine Gedanken zu sammeln. Allerdings komme ich nicht umhin, meine Mitschüler zu hören, die sich angeregt über die nahenden Weihnachtsferien unterhalten. »Mama und ich werden nachher noch Kokosmakronen backen und ich muss unbedingt noch die Geschenke für Teresa und Nicolas einpacken und…« »Alter, ich hoffe, ich krieg die neue Playstation von meinen Eltern…« »Mein kleiner Bruder spielt uns ein paar Lieder auf der Flöte vor und dann muss man so tun, als wäre es total toll. Aber niedlich ist er ja schon.« »Klara und ich müssen nachher noch den Baum aufstellen, Papa hat’s mal wieder im Rücken.« Ich versuche, meine Arme so über meine Ohren zu platzieren, dass ich die Gespräche über Weihnachten nicht mehr hören muss, aber mein Herz hat schon wieder angefangen zu rasen und die Unterhaltungen, die direkt vor und neben mir stattfinden, lassen sich nicht ausblenden, es sei denn, ich würde mir Finger in die Ohren stecken und laut summen – und ich bin nicht bereit, von allen angesehen zu werden, als wäre ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Nur noch eine Stunde, Benni, nur noch eine Stunde. Bald ist es vorbei. Aber die beunruhigende Wahrheit ist, dass es eigentlich nur schlimmer werden kann. Auch wenn ich nichts mit Baumaufstellung und -schmückung und mit Backen und Flöte spielen zu tun habe, herrscht in dem Haus, in dem ich momentan lebe – und ich bin viel zu nervös, um es ›zu Hause‹ zu nennen –, auch Vorweihnachtsstimmung. Das Haus ist voller Weihnachten und gefüllt mit Leuten, die sich auf Weihnachten freuen. Auch Jana freut sich auf das erste richtige Weihnachten ihres Lebens und ich sitze hier und würde mich am liebsten vor Panik aus dem Fenster werfen, nur damit ich Weihnachten umgehen kann. Das Fest der Freude, meine Fresse. Es ist das Fest der erstickenden Angstanfälle für mich. All der Familienzucker ist einfach zu viel. Tief durchatmen, denk an etwas Schönes. Denk an Anjo und Lilli. Oder an Gabriel. An Gabriels Lächeln und an seine Verkündung, dass er gern mehr Zeit mit mir verbringen würde… es hilft ein bisschen, aber letztendlich bin ich einfach nur erleichtert, als es endlich klingelt und ich meinen Mitschülern entkommen kann, die mir munter schwatzend aus dem Chemietrakt folgen. Die Busfahrt zurück zum Haus der Familie Sandvoss kommt mir dieses Mal unheimlich kurz vor und selbstredend ist der Bus vollgestopft mit Leuten, die riesige Tüten – ziemlich sicher mit Weihnachtseinkäufen – bei sich tragen und gestresst dreinblicken. Ich frage mich, wieso man sich für dieses Fest, das angeblich das Fest der Freude sein soll, gleichzeitig so einen Stress machen muss. Keine Freude ohne Stress? Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas von diesem Konzept halten soll. Franzi öffnet mir die Tür, als ich klingele, und ich betrete das Haus mit einem flauen Gefühl im Magen, das augenblicklich von dem Geruch nach frischen Keksen und von lauten Kinderweihnachtsliedern bestätigt wird. Lydia trägt etwas, das aussieht wie ein Faschingskostüm für eine Prinzessin, und tanzt ausgelassen und recht unbeholfen darin durch den Flur und singt sehr laut mit. »In der Weihnachtsbäckerei gibt es manche Kleckerei…« Franzi lächelt auf diese selige, zufriedene Art und Weise, die mir das Schlucken und das Atmen erschwert, weil ich mich überhaupt nicht selig und deswegen undankbar fühle. Sie schließt die Tür hinter mir und umarmt mich zur Begrüßung. »Es gibt Kartoffelgratin zum Mittag«, erklärt sie mir und nachdem ich meine Schuhe und meine Jacke ausgezogen habe – ich sollte mir wirklich einen Schal zulegen, es ist schweinekalt und ungemütlich draußen – folge ich ihr in die Küche. Brigitte, Eileen, Jana und Margarete sitzen am Küchentisch und unterhalten sich. Sobald ich eintrete, springt Margarete auf und fängt an, einen Teller mit Gratin für die Mikrowelle fertig zu machen. Franzi setzt sich neben mich und kurze Zeit später bekomme ich auch schon einen dampfenden Teller mit Mittagessen vor die Nase gestellt. »Danke«, sage ich und bemühe mich, nicht allzu leidend zu klingen. Die Weihnachtslieder, die aus dem Wohnzimmer dringen, sind wirklich sehr laut. »Guten Appetit, mein Junge«, sagt Margarete und nimmt ihren Platz am Küchentisch wieder ein. Wie immer in diesem Haus schmeckt das Essen ganz hervorragend, aber ich kann mich an der cremigen Soße und dem leicht angebräunten Käse nicht so richtig erfreuen. Als ich nach dem Salzstreuer greife, blickt Brigitte mich erwartungsvoll an und fragt: »Was wünscht du dir eigentlich von Johannes und mir?« Einen kurzen Augenblick lang bleibt meine Hand mit dem Salzstreuer in der Schwebe über dem Tisch. Vor mir steht das halb verspeiste Gratin und in meinen Ohren dröhnt ein mir unbekanntes Weihnachtslied, so laut, als würde mir ein Kinderchor direkt ins Ohr schreien. Ich spüre wie alle Blicke auf mich gerichtet sind und in meinem Gehirn macht sich schreckliche, Angst erfüllte Leere breit. Ich kann nicht mehr denken und nicht atmen und ich kann mir schon gar nicht vorstellen, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Ich merke kaum, wie ich aufstehe und das besorgte »Benni?« klingt dumpf in meinen Ohren, als ich durch den Flur eile, an Lydia vorbei, zu meinen Schuhen, die ich gerade erst ausgezogen habe, zu meiner Jacke, die noch feucht vom kalten Schneeregen dort draußen ist. Wind und Kälte peitschen mir ins Gesicht und das Zuschlagen der Tür klingt wie ein Donnergrollen. Meine Füße bewegen sich scheinbar ohne dass ich ihnen diktiere, wohin sie laufen sollen, es geht einfach nur durch den Schneeregen und irgendwelche grauen, nassen Straßen entlang, in meinen Ohren rauscht das Blut und mein Herz sprengt beinahe meinen Brustkorb. Ich kann das nicht, ich kann das nicht, ichkanndasnicht, ichkanndasnichtichkanndasnichtich… Mir läuft Schneeregen in den Nacken und ich hab meine Mütze vergessen. Es ist wirklich saukalt und ich habe keine Ahnung, wohin ich eigentlich will. Als das Stechen in meiner Brust und in meiner Luftröhre schließlich beinahe unerträglich wird, halte ich an. Ich stehe irgendwo mitten in der Pampa, am Rand eines brachliegenden Ackers und zwischen zwei riesigen, schlammigen Pfützen. Weit hinten auf einem Feldweg sehe ich einen gebeutelten Hundebesitzer, der mit seinem Haustier durch das schreckliche Wetter joggt. Plötzlich ist es ganz still um mich herum. Keine Stimmen, keine Weihnachtslieder, nur das leise Platschen des Schneeregens auf den Blättern und in den Pfützen. Was um Himmels Willen habe ich mir dabei gedacht, aufzustehen und fluchtartig das Haus zu verlassen? Ich hab nicht den geringsten Schimmer, wo ich eigentlich bin. Vermutlich denken sie nun alle, dass ich völlig wahnsinnig geworden und die Mühe nicht mehr wert bin. Kein Wunder. Mit großer Wahrscheinlichkeit bin ich der undankbarste Mensch auf der Welt. Brigitte wollte nur nett sein. Sie sind alle so bemüht, es mir einfach zu machen und ich danke es ihnen, indem ich wegrenne. Jetzt stehe ich hier wie ein begossener Pudel und habe keine Ahnung, wie ich eigentlich zurück kommen soll. Ganz zu schweigen von der Angst davor, wieder zurück zu gehen, weil ich gerade ausgerissen bin. Wegen Weihnachten. Und wegen der Frage, was ich mir wünsche. Ich wünsche mir nichts und ich hab auch keine Weihnachtsgeschenke verdient. Schon gar nicht nach dieser Kurzschlussreaktion, die ich jetzt eindeutig bereue. Unsicher sehe ich mich um und versuche herauszufinden, ob ich hier vielleicht irgendwann schon mal mit Jana und den Hunden lang gegangen bin. Aber es kommt mir nicht bekannt vor. Mein Magen sinkt irgendwo in die Nähe meiner Kniekehlen und ich würde mir gern selbst einen Schlag ins Gesicht verpassen, weil ich so dämlich bin. Dämlich und undankbar und bescheuert und schrecklich. Und jetzt stehe ich kurz vor Weihnachten im Schneeregen auf verlassenen Feldern, weil ich Angst vor Weihnachtsliedern und Geschenken habe. Großartig. Ich bin der schlechteste Mensch unter der Sonne. Und ich bin nicht nur das, nein. Ich hab mich auch noch verlaufen. Zögerlich mache ich mich auf den Weg den Feldweg entlang, aber auch nach mehreren hundert Metern und zweimal abbiegen kommt mir nichts hier bekannt vor. Eine Sekunde lang denke ich an mein Handy, das ruhig und gemütlich auf dem Dachboden am Ladekabel baumelt und mir absolut nicht weiterhelfen kann. Also tu ich das Einzige, was in diesem Moment Sinn macht. Ich suche mir eine verwitterte Bank im Schutz eines dichten Baumes – der leider nicht alles an Nässe abhält – und hocke mich an den Rand des Weges. So habe ich Ruhe und Zeit mir Gedanken darüber zu machen, was für ein Idiot ich bin. Vielleicht erfriere ich auch einfach hier auf dieser Bank. Einmal läuft ein wahnsinniger Mensch vorbei, der offenbar tatsächlich bei jedem Wind und Wetter auf seinen Sport besteht, und er ist zu schnell vorbei, als dass ich mich dazu durchringen könnte, ihn anzusprechen und nach dem Weg zu fragen. Meine Jeans klebt unangenehm nass und kalt an meinen Beinen und ich stütze mein Kinn auf meine Handballen und starre raus auf die trostlosen Felder. Manchmal wünsche ich mir, dass Probleme einfach weggehen würden, wenn man nur lang genug wartet. Irgendwann mache ich die Augen zu und stelle mir einen Strand vor. Ich war noch nie am Meer und das Land verlassen hab ich schon gar nicht. Vielleicht wäre es nett am Meer. Meine Gedanken schweifen zu der Vorstellung von einem Urlaub vom Leben ab. Ich sehe Franzi und Jana in der Sonne liegen und sich gegenseitig vorlesen. Anjo und Lilli malen das Meer und das Glitzern der Sonne darauf. Selbst Eileen und Tim kann ich mir in diesem Bild vorstellen, und Leon und Felix. Merkwürdig, wie ich mir vor einiger Zeit keinen perfekten Ort mit mehr Menschen als mit Jana und mir vorstellen konnte und dann plötzlich war auch Anjo an diesem Ort. Und jetzt sind es noch mehr Leute gewesen, einige davon kenne ich eigentlich kaum. Ob Margarete auch am Strand noch stricken würde? Ich kann es mir tatsächlich vorstellen. Christian würde sicher Beachvolleyball spielen wollen. Lilli würde mitmachen. Und Tim und Eileen. Und Gabriel, der auch viel Spaß an Sport hat… »Du siehst erfroren aus«, ertönt eine Stimme neben mir und ich zucke so heftig zusammen, dass ich beinahe von der Bank falle. Meine Strandvorstellung war so einnehmend, dass ich nicht bemerkt habe, wie zwei Menschen sich genähert haben. Tim und Eileen stehen neben der Bank und schauen zu mir herunter. Beide blicken ernst drein, aber nicht unfreundlich. Es ist merkwürdig, sie hier zu sehen. Seltsam, denn wenn ich mir vorstelle, wie jemand mich findet, wenn ich mich verlaufen habe, dann sind es Jana oder Anjo. »Ich fühle mich auch recht erfroren an«, gebe ich mit leicht krächzender Stimme zurück. Es klingt, als hätte ich verlernt zu sprechen, weil ich so lang nichts gesagt habe. Tim und Eileen stehen unter einem riesigen, hellblauen Regenschirm und haben sich beieinander untergehakt. Es ist ein ungewohntes Bild, die beiden so einträchtig miteinander zu erleben, aber letztendlich weiß ich ja, dass sie sich trotz all ihrer Kabbeleien wirklich gern haben. »Na, dann bringen wir dich mal ins Warme«, sagt Eileen und es ist beinahe ein wenig ungewohnt, dass sie nicht Englisch mit mir spricht. Aber ehrlich gesagt wäre ich jetzt mit einer anderen Sprache sowieso überfordert. »An Heiligabend müssen wir dann wohl die Haustür abschließen, bevor du deine Geschenke auspackst«, sagt Tim trocken, aber ich höre auch einen besorgten Unterton heraus. Tim kaschiert alles mit Witzen. Aber da ich gut darin bin, Leute zu lesen, ist es für mich kein Problem ihn zu verstehen. »Gute Idee«, krächze ich. Oh Gott, das ist mir alles so peinlich. Ich bin furchtbar. Tim und Eileen nehmen mich in ihre Mitte, sodass beide nur zur Hälfte unter dem enormen Schirm gehen können. Eigentlich Unsinn, wenn man bedenkt, dass ich sowieso nicht noch nasser werden kann. Aber ich schätze die Geste. »Keine Sorge, das Kartoffelgratin kann man noch mal warm machen«, erklärt Eileen scheinbar unbeschwert und hakt sich bei mir unter, so wie sie es vorher bei Tim gemacht hat. Ich werfe ihr einen Blick von der Seite zu. Wie immer sieht sie tadellos gestylt aus, nur ihre Haare fliegen unordentlich im Wind. Während sie sich normalerweise darüber beschweren würde, dass ihr Scheitel nicht hält, scheint ihr das heute egal zu sein. Tim pfeift leise ein Lied von den Wise Guys vor sich hin. Ich möchte eigentlich sagen, dass es mir Leid tut, aber die Worte wollen nicht von meiner Zunge und ins Freie. Ich öffne ein paarmal den Mund und hole Luft, aber ich krieg es nicht raus. Es ist ein langer Weg, den wir gehen, und ich bin wirklich erstaunt darüber, dass Eileen und Tim mich überhaupt gefunden haben. Aber ich will mich nicht beklagen. Mittlerweile schlottere ich am ganzen Körper und möchte wirklich gern den ganzen nassen Kram ausziehen. Vor der Haustür angekommen, atme ich zweimal tief durch. Was, wenn Brigitte sauer ist? Oder sonst irgendwer? »Rein mit dir«, sagt Eileen unnachgiebig, als ich es nicht schaffe, einen Fuß vor den anderen zu setzen und das Haus zu betreten, nachdem Tim aufgeschlossen hat. Jetzt stehe ich wie ein begossener Pudel mitten im Flur und Brigitte kommt aus der Küche geeilt. Ich will mich wirklich dringend entschuldigen, aber da hat sie mich schon in ihre Arme gezogen und ich kriege keine Luft mehr. Vielleicht muss ich heulen. Oh Gott, ist das peinlich. »Entschuldige«, sagt sie und drückt mich noch einmal, bevor sie mich loslässt. Ein paar nasse Flecken sind auf ihrem roten Pullover erschienen. Ich möchte ihr matt erklären, dass sie sich für nichts entschuldigen muss, dass ich ein Idiot bin und dass mir das alles wahnsinnig Leid tut und dass ich es verstehen könnte, wenn sie keine Lust mehr auf mehr hat. Aber ich bekomme auch weiterhin kein Wort heraus. »Dann ruft mal Franzi an, dass sie wieder herkommen kann«, sagt Brigitte zu Tim und Eileen und mir wird klar, dass die halbe Familie losgerannt ist, um mich zu suchen. Mein Magen fühlt sich an wie ein Stein. »Spring erstmal unter die Dusche und zieh dir was Trockenes an«, meint Brigitte und ich nicke wortlos und schlurfe in Richtung Treppe. Oh Mann. Während ich unter der Dusche stehe und das heiße Wasser auf meiner klammen Haut genieße, denke ich mir, dass Weihnachten auf keinen Fall schlimmer sein kann als meine heutige Aktion. Und auf verdrehte Art und Weise beruhigt mich das. * Mein erstes ›richtiges‹ Weihnachten fängt mit einem Kirchgang an. Keiner in der Familie will in die Kirche gehen, aber sie finden nichts dabei, dass Jana und ich das jedes Jahr tun. Also gehen wir in den Kindergottesdienst, der in der kleinen Kirche hier im Ort bereits um vier Uhr nachmittags stattfindet. Es ist lang nicht dasselbe wie eine Mitternachtsmesse, aber die Kinder sind bei ihrem Krippenspiel ziemlich niedlich und als am Ende alle Lichter in der Kirche ausgehen, bis auf die am großen Weihnachtsbaum vorn neben dem Altar, und alle zusammen Stille Nacht singen, komme ich das erste Mal ein kleines bisschen in Weihnachtsstimmung. Jana hält meine Hand und drückt sie ganz fest, während das Lied gesungen wird. Vielleicht hab ich ein wenig Gänsehaut. Als wir zurück zum Haus gehen, summt Jana die Melodie immer noch leise vor sich hin. Ich hab die ganze Zeit im Gottesdienst damit verbracht ›Danke‹ zu denken. Ich hoffe, dass es oben angekommen ist. Das Haus der Familie Sandvoss riecht nach Essen. So stark, dass es den üblichen Geruch nach Hund überdeckt. Ich bin immer noch nervös wegen all diesem Familienkram und dem Gefühl, ein Fremdkörper in diesem Haus zu sein, aber es hat sich nach dem letzten Desaster sehr stark verringert und ich schaffe sogar ein ehrliches Lächeln, als Lydia aufgeregt schnatternd durch den Flur gerannt kommt und mir erklärt, dass sie Zimt auf die Bratäpfel streuen durfte. Christian ist selbstredend auch da. Er steht im Türrahmen des Wohnzimmers und mustert die Szene zwischen mir und Lydia eingehend, als wollte er sicher gehen, dass ich auch ja gut mit ihr umgehe. Ich kann es ihm nicht verübeln. Wenn jemand wie ich in meinem Haus und bei meiner Familie auftauchen würde, wäre ich auch vorsichtig. »Du hast noch keine Mütze«, stellt er fest und ich blinzele verwirrt. »Mütze?«, gebe ich zurück. »Ja, die Mützen!«, ruft Lydia begeistert und eilt hinüber zu Christian, um sich von ihm hochnehmen zu lassen. »Hier sind sie schon«, ertönt Tims Stimme und als ich ihm mein Gesicht zuwende, sehe ich, dass er den Arm voller Weihnachtsmützen hat. Ich bin einen Moment zu Stein erstarrt, da bekomme ich von Tim schon eine der roten Mützen mit weißem Plüschbesatz auf den Kopf gedrückt. »Tradition. Du kannst dich nicht drücken«, meint Christian und sieht sehr amüsiert aus. Ich wäre peinlich berührt, wenn er sich nicht im nächsten Augenblick selbst eine der Mützen auf den Kopf setzen würde. Gott sei Dank sieht er nicht minder bescheuert aus als ich. Lydia ist ganz euphorisch bei dem Anblick. »Kann ich noch irgendwas helfen?«, frage ich Tim. Ich fühle mich nicht wirklich qualifiziert, aber der Baum ist schon fertig und Margarete kümmert sich ums Essen, deswegen muss ich wohl keine Angst haben, dass es anspruchsvolle Aufgaben zu erledigen gibt. »Du kannst die Katzen noch füttern, wenn du willst«, sagt Tim und zupft sich seine Weihnachtsmannmütze so hin, dass sie gewagt schief auf seinem Kopf sitzt. Ich gehe also die Katzen füttern und steige anschließend hoch auf den Dachboden, um die Geschenke, die ich eher schlecht als recht eingepackt habe, nach unten zu transportieren und auf den richtigen Haufen unter dem Weihnachtsbaum zu legen. Ich bin aufgeregt und hab Schiss, dass ich vielleicht blöde Dinge besorgt hab. Aber gut, wenn jemand falsche Freude heuchelt, werd ich es auf jeden Fall wissen. Der Baum sieht wirklich großartig aus. Er ist riesig und ziemlich ungleichmäßig und buschig und behängt mit roten und goldenen Kugeln und jeder Menge kleiner Zuckerstangen und Holzfigürchen. Ich trage Merlin vom Baum weg, der angeregt mit einer der Kugeln spielt, und er sieht mich vorwurfsvoll an. Aber ich möchte es wirklich nicht riskieren, dass irgendwas kaputt geht, während ich allein im Wohnzimmer bin. Der Kater rollt sich auf dem Sofa ein – auf dem Platz, den ich damals bei meinem ersten Abend in diesem Haus angeboten bekommen habe – und schließt die Augen, als würde er mir demonstrieren wollen, wie wenig er sich ohnehin für diese Christbaumkugel interessiert hat. All die Geschenke, die schon unter dem Baum liegen, sind sorgfältig eingepackt, nur meine sehen zerknittert und unbeholfen aus. Aber hey, ich hab auch nur sehr wenige Geschenke in meinem Leben verpackt. Lydia hat ihren Stapel offenbar schon ausgepackt, denn überall im Wohnzimmer liegen Spielzeuge verteilt. Ich versteh schon, wieso Kinder nicht bis nach dem Essen warten wollen, bis sie ihre Geschenke auspacken dürfen. Mein Herz macht einen aufgeregten Sprung, als ich mehrere kleine Kärtchen an Paketen mit dem Namen ›Benni‹ darauf entdecke. Meine Weihnachtsgeschenke. Wahnsinn. Einige Sekunden starre ich darauf, dann reiße ich mich zusammen und verteile meine Päckchen. »Essen ist fertig!«, kommt in diesem Moment der Ruf aus der Küche und ich werfe noch einen Blick auf den Baum, bevor ich die Wohnzimmertür hinter mir schließe und den anderen in die Küche folge, um an dem riesigen, runden Esstisch Platz zu nehmen. Es gibt Ente und Rotkohl und Knödel – und Tofu für Tim – und zum Nachtisch gibt es eine riesige Menge Bratäpfel mit Zimt und Zucker. Mir war vorher nicht klar, dass Bratäpfel eindeutig ein Nahrungsmittel aus dem Himmel sein müssen, und ich esse drei Stück, bis wirklich nichts mehr in mich hineinpasst und sich der Bund meiner doch recht weiten Jeans unangenehm eng anfühlt. Ich bin sicher, Tim muss mich ins Wohnzimmer kugeln, sonst schaffe ich es heute nicht mehr zu meinen Geschenken. Es ist wirklich nicht so schrecklich, wie ich es mir vorgestellt habe. Alle sind gut gelaunt und vollgegessen und es liegt tatsächlich dieser leichte Weihnachtszauber in der Luft, von dem ich bisher immer nur gehört, ihn selbst allerdings noch nie selber gespürt habe. Es ist ungewohnt, Christian hier in der Runde zu haben, aber auch er ist bester Laune, schneidet für Lydia einen Bratapfel klein und erzählt Anekdoten aus seinem letzten Praktikum. Irgendwann steht Johannes auf und verschwindet im Wohnzimmer und Tim zwinkert zu. Ich erinnere mich noch daran, wie er mir erzählt hat, dass Johannes mit einem Glöckchen klingelt und dann alle zur Bescherung ins Wohnzimmer kommen dürfen. Es wird merklich still in der Küche und selbst Lydia, die ja schon alle Geschenke – bis auf meins – ausgepackt hat, zappelt aufgeregt auf ihrem Stuhl herum und als das Glöckchen bimmelt, ist sie die erste, die aufspringt und in Richtung Flur rennt. Jana sieht genauso aufgeregt aus, wie ich mich fühle. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen leuchten richtig, als wäre sie noch mal sieben oder acht Jahre alt. Natürlich läuft im Wohnzimmer immer noch Rolf Zuckowski und mittlerweile kann ich bei ein paar Liedern sogar mitsingen, weil in den letzten Tagen beinahe nichts anderes lief. Lydia mag diese CD scheinbar wirklich sehr gern. Die Kerzen, die überall im Raum verteilt sind, tauchen das Zimmer in angenehm flackerndes, warmes Licht, und mit allen Leuten um ihn herum sieht der Weihnachtsbaum irgendwie noch beeindruckender und schöner aus als allein. »Benni, darf ich auch eins von deinen Geschenken auspacken?«, fragt Lydia prompt, kaum dass ich mich neben meinem Haufen Geschenke niedergelassen habe. Ich will gerade ›Klar, hier, nimm dir eins‹ sagen, als Johannes sich sanft einschaltet. »Lass Benni mal seine eigenen Sachen auspacken, Schätzchen. Komm her, du kannst das Große hier von mir aufmachen«, sagt er und Lydia ist sofort getröstet von dem größten aller Pakete unter dem Baum, auf das sie sich nun begeistert strahlend stürzt und das Papier abzureißen beginnt. Ich widme meine Aufmerksamkeit wieder den Päckchen, die vor mir liegen. Neben mir reißt Tim voller Begeisterung buntes Geschenkpapier von einem neuen Basketball und Eileen freut sich lautstark über eine DVD-Box von Sex and the City. Ich packe vorsichtig das erste Päckchen aus. Es fühlt sich recht weich und nachgiebig an und als ich das Papier davon wegziehe, hole ich den dunkelblauen, flauschigen Schal hervor, an dem Margarete schon so eifrig strickt, seit ich hier in diesem Haus wohne. Sie sitzt in einem der Sessel und beobachtet mit wachsamen Augen ihre Familie. Wahrscheinlich wird sie als letztes auspacken, wenn alle anderen schon fertig sind und mehr Platz unter dem Baum ist. »Ich hoffe, die Farbe ist in Ordnung«, sagt sie lächelnd und ich zögere nicht, ehe ich mir den Schal um den Hals wickele. Er fühlt sich angenehm flauschig auf meiner Haut an. »Er ist klasse, danke«, sage ich und meine Miene scheint meine Dankbarkeit angemessen auszudrücken, denn Margarete strahlt mich zufrieden aus ihrem alten, runzeligen Gesicht an. »Gern geschehen, mein Junge. Jetzt musst du wenigstens nicht mehr frieren bei diesem scheußlichen Wetter!« Ich möchte ihr gerade sagen, dass ich wirklich dauernd unheimlich friere, weil ich keinen Schal hatte, da jubiliert Tim sehr laut neben mir und boxt mir gegen den Oberarm. »Alter, genau das Album, das mir noch fehlt!«, ruft er freudig aus und hält mir die CD unter die Nase, die ich so krumpelig für ihn verpackt hatte. Er sieht so ehrlich begeistert aus, dass ich lachen muss. Vor allem, weil wir beide total dämlich mit unseren Weihnachtsmützen aussehen. Es stellt sich heraus, dass alle sich ehrlich über meine Geschenke freuen und ich bin ohnehin viel zu überwältigt von der Gesamtsituation, als dass ich mich über irgendetwas nicht gefreut hätte. Selbst Sir Mauncelot, der im Laufe des Abends um mich herumstreicht und seine Krallen in meine Jeans versenkt, scheint mir wunderbar zu sein. Während ich vor ein paar Tagen bei dem Ausspruch ›Fröhliche Weihnachten‹ in hysterisches Hyperventilieren ausgebrochen wäre, erwidere ich es heute aufrichtig. Und als ich neben Christian und mit der peinlichen Weihnachtsmütze auf dem Kopf gegen die Wand gelehnt sitze und zufrieden die anderen dabei beobachte, wie sie ihre Geschenke noch einmal eingehend betrachten, fühle ich mich zum ersten Mal so, als könnte ich hier wirklich zu Hause sein. »Fröhliche Weihnachten«, sagt Christian und bufft mich leicht mit dem Ellbogen an, ohne mich anzusehen. Ich trage immer noch den dunkelblauen Schal und antworte mit einem leisen Lächeln: »Fröhliche Weihnachten.« Kapitel 11: Der geheime Geburtstag ---------------------------------- Hallo ihr Lieben! Ich melde mich mit einem neuen Kapitel zurück und möchte noch mal danke für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel sagen. Ich hatte leider nicht die Zeit, mich für alle einzeln zu bedanken. Die Pause zwischen den Kapiteln ist ja schon kürzer geworden, aber noch nicht optimal. Ich arbeite daran ;) Viel Spaß beim Lesen, ich hoffe, dass es euch gefällt! ____________________________ Der einzige Mensch, mit dem ich über meinen Ausreißer noch einmal spreche, nachdem Weihnachten vorbei ist, ist Anjo. Er fragt nicht weiter nach, sondern lässt mich einfach erzählen. Ich bin froh, dass niemand aus Christians Familie mich noch einmal darauf angesprochen hat, sie alle scheinen stillschweigend beschlossen zu haben, diese Sache ruhen zu lassen. Außer ›Es tut mir wirklich leid‹ wäre mir ohnehin nichts zu sagen eingefallen. Jana und ich bleiben den ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag im Haus, während die Familie sich auf macht, um einige Verwandte zu besuchen. Sie haben mich und Jana gefragt, ob wir mitkommen möchten, aber Jana und ich waren uns sehr einig darüber, dass es dafür viel zu früh ist. Christians Familie ist riesig und ich wäre im Leben nicht dafür bereit gewesen, nach diesem Heiligabend noch einen Berg neuer Menschen kennen zu lernen, die sicherlich auch ungefähr im Bilde darüber sind, wieso Jana und ich bei Brigitte und Johannes wohnen. Nein, danke. Vielleicht irgendwann mal, wenn ich meine zahllosen Probleme soweit im Griff habe, dass ich mich wie ein zurechnungsfähiger und halbwegs anständiger Mensch fühle. Im Augenblick bin ich davon allerdings noch weit entfernt. Es waren zwei schöne Tage. Jana und ich hatten mit den Haustieren das große Haus für uns und wir haben viel Zeit mit reden und einfach nur stillem Beieinandersein verbracht, oftmals mit einer Katze auf dem Schoß unten im Wohnzimmer. Natürlich vermisse ich es nicht, bei dem Erzeuger in der Wohnung zu leben und jeden Tag in Angst zu verbringen, aber manchmal vermisse ich ein wenig die Zweisamkeit, die Jana und ich für so lange Zeit hatten. Es kommt jetzt viel seltener vor, dass wir nur zur zweit einen ganzen Tag verbringen. Ich werde mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen. Meine kleine Schwester und ich können wohl nicht den Rest unseres Lebens metaphorisch aneinander gekettet verbringen. Sie wird irgendwann erwachsen und vielleicht will sie eine eigene Familie. Nicht, dass ich ihr das nicht gönnen würde. Aber die Vorstellung ist auf eine sehr egoistische Art und Weise schrecklich. Vermutlich werden das Gedanken sein, die ich mit ins Grab nehme. Zwei Tage vor Silvester haben wir wieder Training. Es fühlt sich beinahe ein wenig merkwürdig an, Christian wieder in der Rolle des Trainers zu erleben, nachdem ich ihn jetzt an Weihnachten in diesem familiären Umfeld um mich hatte. Ich hab zugeschaut, wie er mit Lydia ihre neue Barbiepuppe angezogen und mit ihr ein neues Spiel namens ›Tempo kleine Schnecke‹ ausprobiert hat. Jetzt wieder den Schalter umzulegen und ihn als Alphamännchen zu sehen, ist sehr befremdlich. Am besten erzähle ich niemandem von dem Nicht-Trainer-Christian, wer weiß, wie die anderen Jungs darauf reagieren würden. Aber gut, es ist ja nun auch nicht so, als wäre ich besonders erpicht darauf, private Ereignisse mit ihnen zu teilen. Obwohl die Stimmung in der Gruppe sich deutlich gebessert hat, bin ich mir trotzdem sehr sicher, dass diese Kerle nie meine engsten Freunde sein werden. Über den ganzen Weihnachtsstress hinweg hätte ich beinahe vergessen, dass Training ja auch heißt, dass ich Gabriel wiedersehe. Als ich die Umkleide betrete und in Gedanken noch bei Janas Frage von heute Morgen bin – »Kannst du dir eigentlich vorstellen, später Kinder zu haben?« –, falle ich beinahe aus allen Wolken, als Gabriel ohne Oberteil vor seiner Sporttasche steht und darin herumwühlt, um sein Shirt zu finden. Mein Herz beschließt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für einen kleinen Sprint wäre, und ich räuspere mich möglichst unauffällig und marschiere hinüber zu einem freien Platz auf einer der Bänke, um mich umzuziehen. »Hey«, sagt Gabriel und lächelt mir über die Schulter hinweg zu. Ich grinse schief und verfluche meine verräterischen Körperfunktionen. Memo an mich: Öfter masturbieren, um Peinlichkeiten zu vermeiden. »Hallo«, gebe ich zurück und stelle meine Tasche vorsichtshalber auf meinem Schoß ab. Im Schneckentempo ziehe ich meine Turnschuhe heraus und atme erleichtert auf, als sich das kurzfristige Problem in meiner Jeans verabschiedet und ich anfangen kann, mich ohne Verlust meiner Würde umzuziehen. »Hattest du schöne Feiertage?«, will Gabriel wissen und lässt sich auf der Bank mir gegenüber nieder, um seine Schuhe zuzubinden. Fast hab ich vergessen, wie gut er eigentlich aussieht. »Ja, war ganz gut«, gebe ich zurück. Ein wahrheitsgetreuer Bericht meiner Feiertage wäre zu kompliziert und würde vermutlich die nächsten zwei Stunden in Anspruch nehmen. Da ich weder die Zeit noch die Muße dafür habe, muss dieses kurze, ungenaue Statement genügen. »Und bei dir?«, füge ich hinzu. »Sehr schön. Die Verlobte meines Bruders hat uns erzählt, dass sie schwanger ist«, berichtet Gabriel und steht auf. Ich beeile mich mit meinen Schuhen und folge ihm dann in die Halle. »Oh, herzlichen Glückwunsch. Onkel Gabriel«, antworte ich. Gabriel lacht leise. »Klingt komisch«, meint er. Außer uns beiden und Christian ist noch niemand da. Er begrüßt uns mit einem Kopfnicken und einem amüsierten Schmunzeln, was mein Gesicht automatisch dazu bringt, heiß zu werden. Dieser elende Bastard. Ich stelle mir vor, wie er und Anjo zu zweit bei ihm im Zimmer sitzen und darüber philosophieren, wie es mit mir und Gabriel so läuft. Aber Anjo lässt es wenigstens nicht so heraus hängen wie Christian. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und hocke mich neben Gabriel auf den Hallenfußboden. »Ich glaube, Christian ist stolz auf sich, weil er uns in eine Gruppe gesteckt hat und dabei was Gutes rausgekommen ist«, sagt Gabriel sachlich und beobachtet Christian dabei, wie er sich darum kümmert, dass die Boxsäcke gleichmäßig verteilt sind. »Allerdings. Selbstgefälliger Armleuchter«, grummele ich und Gabriel gluckst heiter. »Hey, ich freu mich auch drüber, was dabei rausgekommen ist«, erklärt er unumwunden und sieht mich an. Glücklicherweise muss ich mich selber nicht sehen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit hat mein Gesicht eine ungesunde, rote Färbung angenommen. »Ähm…«, sage ich wenig geistreich und würde mir am liebsten die Zunge abbeißen. Aber Gabriel scheint sich an meinem beknackten Verhalten nicht zu stören. »Weißt du schon, was du an Silvester machst?«, erkundigt er sich. Ich muss unweigerlich seufzen. Neujahr. Ich gehe ungern mit der Tatsache hausieren, dass ich am 31. Dezember Geburtstag habe. Christians Familie weiß es nicht und eigentlich möchte ich es auch ungern erzählen. Ich hab meinen Geburtstag nie wirklich gefeiert, sondern ihn einfach immer mit Jana verbracht. Vielleicht haben wir mal ein Feuerwerk angeschaut, aber mehr gab es nicht und Geschenke will ich schon gar nicht haben. Erst recht nicht dieses Mal, weil gerade erst Weihnachten war. »Nee, ich hab keine Pläne. Aber Christians Familie feiert immer zu Hause, soweit ich weiß. Also werd ich da wohl mit dabei sein«, gebe ich zögerlich zurück. Ich möchte keinen Schnickschnack an dem Tag, an dem ich geboren wurde. Ohne übermäßig dramatisch klingen zu wollen, ich hab einfach nicht das Gefühl, dass es ein Tag zum Feiern ist. »Was wirst du machen?«, frage ich, in Gedanken immer noch bei der Frage, ob ich es der Familie erzählen soll. Hoffentlich hat Jana das nicht schon längst getan. »Meine beiden besten Freunde feiern Silvester immer ziemlich groß, ich feier immer mit ihnen«, erklärt Gabriel. Er sieht zufrieden aus bei der Aussicht, mit seinen beiden besten Freunden ins neue Jahr zu feiern. Vermutlich hätte ich eine andere Einstellung zum Jahreswechsel, wenn es nicht mein Geburtstag wäre. Wer weiß, irgendwann feiere ich meinen Geburtstag ja womöglich das erste Mal. »Gehen die mit dir auf dieselbe Schule?«, erkundige ich mich bei ihm und fühle mich sehr mutig angesichts dieser eher popeligen, persönlichen Frage. Hoffentlich erlebt Gabriel mich nie betrunken, denn womöglich sage ich dann sowas wie ›Bitte erzähl mir deine gesamte Lebensgeschichte, ich will alles wissen!‹. »Nein, leider nicht mehr«, meint Gabriel seufzend und seine Miene verfinster sich. Ich verfluche mich dafür, offenbar direkt in ein Fettnäpfchen getreten zu sein. »Meine Familie ist erst vor kurzem hierher gezogen, mitten im Schuljahr. Die Entfernung ist nicht die Welt, aber es ist trotzdem blöd. Vor allem, da wir alle immer sehr viel Zeug in unserer Freizeit tun und die Schule die Zeit war, in der wir uns auf jeden Fall sehen konnten, wenn’s privat grad mal wieder zu stressig war.« Ungefähr hundert Fragen drängen sich mir auf, allerdings komme ich nicht dazu, auch nur eine davon zu stellen, weil in diesem Moment die anderen Jungs in die Halle schneien und Christian uns zu sich ruft. Beim Training komme ich garantiert nicht dazu, mehr über Gabriel zu erfahren, aber die Vorstellung, ihn nach einem privaten Treffen zu fragen, treibt mir direkt wieder Hitze ins Gesicht. Ich lasse die Augen über die anderen Gesichter schweifen und ich kann eindeutig nicht behaupten, dass ich die Jungs vermisst habe. Sie schauen alle genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe, nur Gero wirkt irgendwie blasser, dünner, wütender. Er hat dunkle Ringe unter den Augen und hat die Arme verschränkt. Sein Blick geht in die Ferne, als würde er Christian gar nicht sehen, geschweige denn hören. Man fragt sich natürlich schon, wieso genau diese Kerle so geworden sind, wie sie jetzt sind. Bei mir weiß ich es ja. Ich bin sicher, dass in denen auch solche Geschichten stecken, aber es hat keinen Sinn zu raten. Menschen sind einfach zu kompliziert. »…zehn Runden, auf geht’s!« Gabriel tippt mich an und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, ehe ich ihm folge und mit den anderen in einer Traube loslaufe. Gabriel joggt eine Runde neben uns her, dann legt er wieder an Tempo zu und ich beobachte ihn, während er rennt. Man kennt das ja aus Filmen, Leute sehen meistens einfach echt blöd aus, wenn sie laufen. Aber – und wen überrascht es eigentlich noch, ich komme mir wirklich lächerlich vor – Gabriel nicht. Ich könnte ihm ewig zugucken, wenn er rennt. Er könnte Werbung für Sportschuhe oder Shampoo oder Versicherungen machen, wenn ich das Geld hätte, würd ich den Scheiß kaufen. Noch so ein Gedanke, den ich lieber mit ins Grab nehmen sollte. Dehnübungen sind so viel angenehmer, seit Gabriel mit mir redet. Allerdings sind sie auch noch anstrengender, weil er mich so freimütig anfasst. »Weswegen seid ihr mitten im Schuljahr hierher gezogen?«, frage ich keuchend, während Gabriel sich hinten auf meinen Rücken stützt, damit ich im Sitzen meine Arme an meine Schuhspitzen kriege. Nachher wird mir wieder alles wehtun, ich seh es schon kommen. »Adam, also mein Bruder, hat hier eine Kampfsportschule aufgemacht und sofort, nachdem sein Vertrag unterschrieben war, hat die komplette Familie alles eingepackt und ist hierhergekommen. Als hätte Adam nicht auch erstmal allein mit Lina… also, mit seiner Verlobten, hierher ziehen können. Die paar Monate bis zum Abi hätte er sicherlich auch gut ohne uns überstanden.« Es ist kein Kunststück zu bemerken, dass Gabriel immer noch sauer auf seine Eltern ist, weil sie mit ihm hierhergezogen sind, kurz bevor sein Abi fertig war. »Aber ist dein Bruder nicht viel älter als du?«, frage ich ein wenig verwirrt über die Tatsache, dass jemand, der bald Vater wird, beinahe verheiratet und dazu auch noch selbstständig ist, seine Familie einpackt und mit in eine neue Stadt nimmt. Gabriel lässt meinen Rücken los und ich ächze angestrengt. Leider muss ich bei ihm nicht auf den Rücken drücken, Gabriel erreicht seine Zehenspitzen ganz problemlos. »Ja, schon. Aber mein Vater arbeitet mit ihm zusammen in der Kampfsportschule. Ich hab ja auch nichts dagegen, dass es bei uns ein bisschen großfamilienartig zugeht. Also, ohne die große Familie. Wir wohnen jetzt direkt neben der Kampfsportschule, alle zusammen. Mal sehen, wie das wird, wenn das Baby da ist.« Ich könnte Gabriel erzählen, dass ich an Silvester Geburtstag habe und mir seine Handynummer wünschen. Aus lauter Verlegenheit über meine Dummheit haue ich mir meinen Handballen gegen die Stirn. Gott sei Dank merkt Gabriel das nicht, weil er gerade breitbeinig auf dem Boden sitzt und seine Stirn auf einem seiner Knie liegt. Ob man für guten Sex sehr gelenkig sein muss? Dann wäre ich sicher echt mies im Bett. »Krieg ich deine Nummer?«, sprudelt es aus mir heraus und Gabriels Kopf hebt sich mit einem überraschten Blick von seinem Bein. Er sieht mich einen Moment lang völlig perplex an und ich habe erneut das Bedürfnis, mir mit der Hand gegen die Stirn zu schlagen. Aber dann breitet sich auf seinem Gesicht ein freudiges Strahlen aus und er nickt. »Sehr gerne«, antwortet er und rappelt sich vom Boden auf. Garantiert sehe ich aus wie eine überreife Tomate. Verfluchter Kack. Den Rest des Trainings verbringe ich unkonzentriert und mit hämmerndem Herzen. Kein zusammenhängender Satz entkommt meiner Kehle und ich bin mir ziemlich sicher, dass Christian, der uns immer besonders scharf im Auge behält, sich innerlich darüber totlacht. Haha. Ich vergesse über meine peinliche Anfrage hinweg völlig, dass mir Gero vorhin wegen seiner dunklen Augenringe aufgefallen ist. Erst, als er lauthals anfängt zu fluchen und Ismail einen heftigen Schlag in die Magenkuhle verpasst, erinnere ich mich daran, dass er offenkundig völlig fertig mit den Nerven ist. Wir beobachten, wie Christian die beiden auseinanderhält und dann mit Gero ins Trainerbüro verschwindet. Auch die anderen schauen ihnen nach und keiner spricht. Selbst Ismail sieht nicht besonders wütend aus, was mich wundert. Auf merkwürdige Art und Weise scheinen wir uns alle im Klaren darüber zu sein, dass die jeweils anderen ein beschissenes Leben leben und es daher durchaus vorkommen kann, dass man austickt. Es ist ein komisches Gefühl, sich bewusst zu sein, dass – obwohl ich nichts über diese Leute weiß – sie mir in bestimmten Punkten sehr viel ähnlicher sind als die, mit denen ich mich in meiner sonstigen Zeit beschäftige. Sie alle sind wütend, weil das Leben sie wie Dreck behandelt hat. Dumpf frage ich mich, was für furchtbare Dinge bei Gero vor sich gehen. Gero kommt nicht zurück in die Halle. Christian löst die Gruppe vorzeitig auf und als wir die Umkleide betreten, sehen wir gerade noch Geros Rücken, bevor er hinter der Eingangstür verschwunden ist. Keiner redet beim Umziehen und ich habe vor lauter Gedanken an all die traurigen Geschichten, die sich hier in einem Raum tummeln, beinahe vergessen, dass ich Gabriels Handynummer in Aussicht stehen habe. Erst, als er in seiner Hosentasche herumwühlt und sein Handy hervorholt, fällt es mir wieder ein. »Hast du dein Handy dabei?«, will er wissen und grinst mich an. Die Jungs um uns her achten kaum auf uns und einer nach dem anderen verlässt die Halle. Ich werd wohl bei Familie Sandvoss duschen. Wir sind kaum richtig zum trainieren gekommen und selbst Gabriel hat offenbar vergessen, dass wir für gewöhnlich nach unseren Stunden duschen gehen. »Ja«, sage ich und wühle fahrig in meinen Sachen herum, bis ich mein uraltes Telefon finde und hastig Gabriels Vornamen ins Telefon eingebe, damit er seine Nummer verkünden kann. Nachdem ich die Zahlen eingetippt habe, lese ich sie ihm noch einmal vor, um sicher zu gehen, dass es auch wirklich seine Nummer ist und ich Armleuchter nicht versehentlich einen Zahlendreher veranstaltet habe. Gabriel blickt mich erwartungsvoll an. »Hm?«, mache ich wenig geistreich. Gabriel lacht. Oh Gott, ich muss ihn unbedingt küssen. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann. Aber einmal muss ich diesen unverschämten Mund knutschen. Es geht nicht anders. Ich würde sonst vergehen wie ein Stück Butter in der prallen Sommersonne. »Rufst du kurz bei mir durch, damit ich deine Nummer auch hab?«, will er wissen und sieht eindeutig amüsiert aus. Ich sterbe. Der trotteligste Mensch auf der Welt hat einen Namen: Benjamin Wehrmann. Sie dürfen ihn jetzt exklusiv mit Tomaten bewerfen… »Äh, sicher«, stammele ich verlegen und drücke ein paar Tasten. In Gabriels Hand leuchtet und vibriert sein Handy auf. Wir haben offiziell Nummern getauscht und mein Herz tanzt angesichts dieser Tatsache einen nervösen Stepptanz. »Cool. Du hast nicht zufällig eine SMS Flatrate?«, erkundigt er sich und ich bilde mir ein, einen hoffnungsvollen Unterton aus seiner Stimme herauszuhören. Vermutlich nur Wunschdenken. Ich gehe davon aus, dass mein Gehör von dem rauschenden Blut in meinen Ohren beeinträchtigt ist. »Nein, leider nicht. Ich hab ‘ne Prepaid-Karte«, sage ich und kratze mich peinlich berührt am Hinterkopf. »Oh. Ok. Es gibt die Dinger aber echt günstig. Ich zahl nur fünfzehn Euro im Monat«, erklärt er mir und zieht sich seine Lederjacke über. Verfluchter Scheißdreck, er sieht so gut darin aus, ich möchte sterben. Oder sie ihm gleich wieder ausziehen. Schwierige Entscheidung. »Tatsächlich? Ich hab leider keine Ahnung von diesem Zeug«, sage ich und fühle mich mit jeder Sekunde dümmer. Gabriel scheint mein Unwissen nicht zu stören. Er sieht einfach nur aus, als wäre er mir gern behilflich. »Wir könnten noch eben in die Stadt gehen, wenn du noch Zeit hast. Also… ich will dir keinen Handyvertrag aufzwingen, nur weil ich gern SMS mit dir schreiben würde, aber…« Wie kann er diese Sachen einfach so sagen? Als ich ihn vorhin nach seiner Nummer gefragt habe, dachte ich, ich wollte jeden Moment im Erdboden versinken. Aber er steht da einfach nur und sieht mich an, als wäre es das normalste der Welt so offen über seine Gedanken und Gefühle zu reden. Wie zum Teufel stellt er das nur an? Kann man dafür einen Kurs belegen? Ich brauch eine Bedienungsanleitung für meine Emotionen und ihren Ausdruck. »Klar, ok… also… allein würd ich das nicht machen, weil ich echt keinen Plan hab, aber wenn du Bescheid weißt… cool…« Ein Hoch auf deine Artikulationsfinesse, Benni. Wie immer sind wir die letzten, die die Umkleide verlassen, und ich bin dankbar, dass ich Christian nicht mehr gesehen habe. Oder besser: Dass Christian nicht gesehen hat, wie Gabriel und ich Nummern getauscht und dann gemeinsam das Gebäude verlassen haben. »Ich hoffe, Gero geht’s bald besser«, sagt Gabriel nachdenklich, während wir der Innenstadt entgegen gehen. Es hat tatsächlich angefangen zu schneien, allerdings bleiben die kleinen Flocken auf dem nassen Boden nicht liegen. Trotzdem, ich kann Schnee gut leiden. »Ja… er sah echt übel aus«, gebe ich zurück. In Gabriels Haaren bleiben Schneeflocken hängen. »Ich hab Silvester Geburtstag«, murmele ich dann völlig ohne Zusammenhang und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Gabriel mir sein Gesicht zuwendet. Ich starre mit heißen Wangen weiterhin geradeaus. »Aber ich will nicht feiern und Geschenke will ich auch nicht. Außer meiner Schwester weiß auch keiner, dass ich Geburtstag hab. Ich dachte, ich sag es auch einfach weiter keinem, damit niemand das Gefühl hat, irgendeinen Aufwand betreiben zu müssen.« »Wenn du ihnen erklärst, dass du nicht feiern willst und auch keine Geschenken bekommen möchtest, dann sollten sie das respektieren«, gibt er zurück und schiebt seine Hände in seine Hosentasche. »Würden sie bestimmt auch, denk ich. Aber irgendwie käm ich mir dann enttäuschend vor. Alle geben sich immer Mühe mit mir und ich fühl mich undankbar.« Keine Ahnung, was genau den Korken auf meiner Gefühlsflasche hat knallen lassen, aber meine Zunge scheint der Meinung, dass Gabriel meine Innenwelt unbedingt kennenlernen muss. Auch wenn er selbstredend keine Ahnung hat, wer ›sie‹ eigentlich sind, unter welchen Umständen dieses Thema überhaupt ein Problem ist und war und was mich überhaupt dazu bringt, keinen Geburtstag feiern zu wollen. Allerdings scheint er sich nicht daran zu stören, dass er nur Bruchstücke der Geschichte aufgetischt bekommt. »Dann erzähl es ihnen nicht. Es ist immer das Beste, wenn man alles im eigenen Tempo tut und sich nicht zu irgendwas zwingt, um anderen ein besseres Gefühl zu geben«, sagt Gabriel, als wir die belebte Fußgängerzone betreten und kurzzeitig gar nicht mehr zum Reden kommen, weil alles so voll ist, dass wir uns nur hintereinander durch die Menge schieben können. Vermutlich tauschen alle Leute ihre ungewollten Geschenke um, oder lösen Gutscheine ein, die sie zu Weihnachten bekommen haben. Anders kann ich mir die Menschenmassen bei diesem Wetter nicht erklären. Ich komme nicht mehr dazu, Gabriels weise Worte zu kommentieren, aber ich wälze sie in meinem Kopf herum und denke darüber nach, bis wir schließlich ein Geschäft betreten, in dem es eine Menge Handys und anderen technischen Schnickschnack zu kaufen gibt. Wie es sich herausstellt, muss ich kaum irgendwas sagen. Gabriel erklärt mir, was für verschiedene Möglichkeiten es gibt, was die Dinge kosten und wie alles funktioniert. Ich hab noch nie einen Vertrag abgeschlossen und komme mir jämmerlich vor. Erwachsensein ist nichts für mich, soviel steht fest. Ich bin froh, dass Gabriel hier ist und die Aussicht auf endlose SMS mit ihm gefällt mir durchaus gut. Wenn es nach mir ginge, könnte ich stundenlang mit Gabriel hier in diesem totlangweiligen Telefonladen verbringen und ihm dabei zuhören, wie er mir Handyverträge erklärt. Er wäre ein ausgezeichneter Versicherungsvertreter. Da ich ja jetzt fünfzig Euro Taschengeld bekomme, kann ich mir fünfzehn Euro im Monat für einen Handyvertrag leisten. Trotzdem rufe ich – mit Gabriels Handy, weil der auch umsonst ins Festnetz telefonieren kann – bei Christians Familie an und erkundige mich peinlich berührt und stotternd, ob es ok ist, wenn ich einen Handyvertrag abschließe. Johannes versichert mir, dass ich mit meinem Geld machen kann, was ich möchte, und dass ein Handyvertrag auf lange Sicht sicher eine gute Idee ist. Das beruhigt mich endgültig und eine Viertelstunde später verlassen Gabriel und ich den Laden, ich mit einer neuen SIM-Karte und dem Wissen, dass ich von jetzt an so viele Nachrichten an liebe Menschen schicken kann, wie ich will. »Danke«, sage ich, als wir wieder draußen in der Kälte stehen, und starre hinunter auf mein altes Handy. Es sieht natürlich kein bisschen anders aus, aber ich habe gerade meinen ersten Vertrag abgeschlossen. Fühlt sich ein bisschen so an, als hätte ich meine Seele verkauft. Wer weiß, was für kleingedruckte Dinge es gibt, die mir dann eine explodierte Rechnung von tausenden Euro bescheren. Aber da Gabriel mir alles erklärt hat, sollte ich eigentlich sicher vor so etwas sein. Ich kann’s noch nicht so richtig fassen. Ich habe gerade spontan einen Handyvertrag mit einer SMS-Flatrate abgeschlossen, nur weil Gabriel gesagt hat, er fände es nett, immer mit mir texten zu können. Ob ich es wagen kann, das irgendwem zu erzählen? Ich sehe schon Lillis leuchtende Augen und ihr breites Grinsen, das sie sonst hat, wenn sie über einen Massenmörder in Lederjacke und einem Engel mit Columbo-Mantel schmachtet. Auch Anjo tendiert zu so einem Funkeln in den Augen, aber er drückt seine Begeisterung subtiler aus als Lilli. Taktgefühl und Rücksicht waren immer schon zwei seiner herausragendsten Eigenschaften. Ich frage mich, was die beiden erwarten? Dass Gabriel und ich auf einer weißen Stute in den Sonnenuntergang reiten? Ich bin schon froh, wenn ich zwei zusammenhängende Sätze herausbringe, von romantischen Rendezvous und leidenschaftlichem Geknutsche ganz zu schweigen. Oh Gott, mir ist viel zu warm für die momentane Witterung. »Ich würd eigentlich gern noch was essen gehen, aber ich bin für nach dem Training mit meinem Bruder verabredet«, sagt Gabriel und ich höre ehrliches Bedauern aus seiner Stimme heraus. Mein Herz sinkt mir zwischen die Kniekehlen. Reiß dich zusammen, denk ich mir, eigentlich hättet ihr überhaupt keine Zeit miteinander verbracht, das ist nur passiert, weil Christian früher Schluss gemacht hat. »Ok«, sage ich nur und würde mir am liebsten auf die Zunge beißen. Gabriel lächelt und fährt sich einmal durch seine seidigen Haare. »Dann hoff ich, dass du das mit deinem Geburtstag gut überstehst. Und wir sehen uns nach Silvester beim Training«, sagt Gabriel und ich nicke. Wie verabschiede ich mich? Mit einem besonders maskulinen Handschlag? Aber Gabriel hebt einfach nur lässig die Hand, grinst mir noch einmal zu und dreht sich dann um, um zu gehen. Unweigerlich greife ich nach meinem Handy in meiner Jackentasche, so als würde ich erwarten, dass Gabriel, kaum dass wir zwanzig Sekunden getrennt sind, mir eine SMS schreibt. Dann fällt mir ein, dass ich noch gar nicht die neue SIM-Karte eingesetzt habe – auch wenn Gabriel nach Abschluss des Vertrages meine alte Nummer in seinem Handy direkt durch meine neue ersetzt hat – und seufze, bevor ich mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle mache. Familie Sandvoss feiert Silvester immer zusammen. Selbst Christian und Tim und Eileen finden sich am einunddreißigsten Dezember bei ihren Eltern ein und keiner geht mit Freunden feiern, was ich unerwartet finde. Aber nett. Jana hat mir versprochen, dass sie niemandem von meinem Geburtstag erzählen wird. »Ich bin zwar recht sicher, dass sie es schon irgendwo auf irgendwelchen deiner Unterlagen gelesen haben, aber wenn du drauf bestehst…« In der Nacht vor meinem Geburtstag hocke ich mit Jana, zwei Tassen Tee und dem Kater Merlin auf meinem Bett und beobachte, wie mein Geburtstag sich tickend nähert. Merlin ist wenig interessiert an Jana und mir, er versucht nur andauernd, die Papierschnipsel an den Teebeuteln mit der Pfote zu erhaschen. Ich hab bisher noch keine SMS von Gabriel bekommen und denke darüber nach, ob ich ihm zuerst schreiben soll, während Jana und ich den Wecker beobachten, der mittlerweile zwei Minuten vor Mitternacht anzeigt. So in etwa haben wir es die ganzen letzten Jahre auch gemacht. Still beieinander gesessen und die Uhr angestarrt. Minus den Tee, die Katze und die allgemeine Sicherheit. Ich stelle erleichtert fest, dass es die richtige Entscheidung war, meinen Geburtstag nicht zu verkünden. Alles fühlt sich genau richtig an. Jana, ich, der ziemlich leckere Minze-Honig-Tee, den Tim mir empfohlen hat – bei all den Teesorten, die es in diesem Haus gibt, ist es wirklich nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen – und der leise schnurrende Kater. Ich glaube, draußen schneit es wieder. Als der größte Zeiger sich auf die zwölf schiebt, drückt Jana mir einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute zum Geburtstag«, flüstert sie. Ich lächele kaum merklich und wende den Blick nun, da Mitternacht erreicht ist, vom Wecker ab und meiner Teetasse zu. Vorsichtig, um mir nicht die Zunge zu verbrennen, nippe ich an meinem Tee. Er schmeckt wirklich ziemlich gut. Als mein Handy vibriert, lasse ich beinahe die Tasse fallen und zucke so heftig zusammen, dass Merlin mich vorwurfsvoll ansieht. Eine neue Nachricht. Ich atme einmal tief durch und öffne die SMS. Mein Herz macht sofort einen riesigen Sprung, als ich den Namen Gabriel oben in der Absenderzeile lese. »Ich weiß, du willst nicht feiern. Aber ich hoffe, eine Gratulation ist trotzdem ok. Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag! Und natürlich einen guten Rutsch ins neue Jahr. Ich freue mich auf unser Wiedersehen.« Ich lese die SMS drei Mal durch und schiebe das Handy dann wieder in meine Hosentasche. Jana hat mich beobachtet, aber sie stellt keine Fragen. Wir trinken unseren Tee aus, sortieren uns um Merlin herum in mein Bett und schlafen mit dem Kater in unserer Mitte ohne ein weiteres Wort ein. Wie es sich herausstellt, spricht mich tatsächlich niemand auf meinen Geburtstag an, selbst wenn die Familie womöglich teilweise weiß, dass es heute ist. Zugegebenermaßen, ich habe das Gefühl, dass der Kuchen, der angeblich immer schon zur Silvestertradition gehört haben soll, vielleicht neu erfunden wurde und dass die Lasagne, die ich besonders gern esse, wahrscheinlich normalerweise nicht zum Abendessen serviert wird, aber es kann gut sein, dass ich mir das alles nur einbilde. Die Gesellschaftsspiele, das Schokofondue zum Nachtisch und die riesigen Wunderkerzen, die draußen um die Terrasse herum in die Erde gesteckt und angezündet werden, machen diesen Geburtstag durchaus zu etwas Besonderem, auch wenn es ja eigentlich eine Silvesterfeier ist. Um null Uhr ist mein Geburtstag vorbei, aber draußen gehen überall im Ort Feuerwerke los, die Hunde drängen sich unterm Tisch eng zusammen, Lydia hält sich die Ohren zu und ich bekomme SMS von Anjo, Lilli und Gabriel, die mir ein frohes neues Jahr wünschen. Alles in allem ist es der beste geheime Geburtstag, den ich je gefeiert habe. Kapitel 12: Das erste Date -------------------------- Hallo ihr Lieben! Ich hatte eigentlich gehofft, dass dieses Kapitel nicht so lange dauern würde, aber ich habe im Moment Lust auf alles gleichzeitig und am Ende tue ich gar nichts davon. Einen Abschnitt dieses Kapitels dürfte manchen schon aus Heldenzeit bekannt vorkommen ;) Das Kapitel ist für meine Katja Ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, ___________________________ Eine recht merkwürdige Erkenntnis, die ich in den letzten Monaten gesammelt habe, ist, dass Schule weniger anstrengend wird, wenn man sich anstrengt. Wenn ich meine Hausaufgaben erledige und mich mündlich beteilige und früh genug anfange für Arbeiten zu lernen, dann muss ich nicht dauernd darüber verzweifeln, dass ich mein Abi womöglich ruinieren könnte. Ich sitze nicht nervös im Unterricht, weil ein Lehrer mich aufrufen könnte, wenn ich meine Hausaufgaben nicht erledigt habe, ich stehe nicht permanent unter Druck, Klausuren zu verhauen, wenn ich mich anständig vorbereite. Natürlich ist es in meiner neuen Umgebung viel leichter, fleißig zu sein, als in der verkommenen Wohnung des Erzeugers. Vor lauter Angst konnte man sich kaum auf Hausaufgaben konzentrieren. Tatsächlich haben mich mittlerweile drei Lehrer darauf angesprochen, dass sie sehr positiv überrascht von meinen ansteigenden Leistungen sind und sich gewünscht hätten, dass ich früher schon so regelmäßig mitgearbeitet hätte. Ich erkläre ihnen lieber nicht, dass ich manchmal vor Schmerzen kaum sitzen konnte, was Hausaufgaben ein wenig nichtig gemacht hat. Die Träume sind viel weniger geworden. Früher waren sie beinahe jede Nacht da, aber jetzt schlafe ich die meisten Nächte ziemlich gut. Meine Therapeutin hat sich sehr darüber gefreut, als ich ihr davon erzählt habe. Neben der Sache mit der Schule und dem Schlafen merke ich an den Treffen mit Frau Doktor Ehrmann am allermeisten, wie sehr ich mich verändere, jetzt, da das Leben um mich her nicht mehr ein einziger Scherbenhaufen ist. Ich spreche leichter über die Dinge, die mich im Dunkeln noch beschäftigen, die regelmäßig am Rand meines Bewusstseins lauern und darauf warten, dass ich mich entspanne und meine Verteidigung außer Acht lasse. Die Alpträume sind nachts weniger geworden, aber tagsüber sind sie selbstverständlich immer noch da. Seit ich viel darüber spreche, geht es mir mit ihnen allerdings besser. Sie verlieren ein wenig an Schwärze und Bedrohlichkeit. Und am besten geht es mir mit ihnen, wenn ich in Gesellschaft bin. Alleinsein liegt mir wirklich nicht. Ganz, ganz selten kommt es vor, dass ich einen einsamen Spaziergang unternehme, aber selbst dann habe ich meistens die Hunde dabei. Wenn die Stille zu laut wird, dann fluten Zweifel und Finsternis meine Gedanken und ich verfalle zurück in meinen zerstörerischen Selbsthass, der mir zuflüstert, dass ich nichts wert bin, dass ich nicht hierher gehöre, dass ich gehen sollte, dass es doch alles keinen Sinn ergibt, dass diese Leute sich um mich kümmern, weil ich ein hoffnungsloser Fall bin. Aber da ich nun in einem Haushalt mit sehr vielen Bewohnern lebe und außerdem noch Training und Anjo, Lilli und hin und wieder sogar Felix und Leon zur Gesellschaft habe, kommt es eigentlich kaum vor, dass ich niemanden um mich habe. Seit das Abi näher rückt, sehe ich Anjo und Lilli sogar noch häufiger außerhalb der Schule, da wir gemeinsam unsere Unterlagen sortieren, Notizen anfertigen und darüber fluchen, dass Abivorbereitungen anstrengend sind. Selbst Anjo flucht manchmal darüber, was aus seinem Mund wirklich sehr komisch klingt. Treffen mit Anjo allein sind trotz ihrer steigenden Häufigkeit immer noch merkwürdig, weil ich es einfach mein Leben lang nicht gewöhnt war, ›normale‹ Freunde zu haben. Wenn ich mich mit Leuten getroffen habe, dann um abends einen zu trinken. Man hat sich nicht über Gott und die Welt unterhalten, sondern blöde Witze gerissen und über Leute gelästert und Kommentare über heiße Bräute gerissen, die sich in der Nähe aufgehalten haben. Treffen mit Anjo und Lilli sind auf irgendeine Art und Weise, die ich nicht so recht in Worte fassen kann, noch merkwürdiger. Ich konnte es schon schwer akzeptieren, dass es einen Menschen auf diesem Erdball gibt, der bereit ist, sich für mich einzusetzen, mir Dinge zu verzeihen, die ich mir selbst nicht verzeihen kann, und der für mich da ist, wenn ich jemanden brauche. Anjo ist ein kleines – oder vielleicht auch ein riesiges – Wunder für mich. Und ich komme mit der Tatsache nicht so richtig klar, dass dieses Wunder Wiederholungspotential hat. Leon, Felix, Christians Familie, Christian selbst, seit neustem auch Gabriel… sie alle sind nett zu mir und mögen mich. Sie helfen mir. Und Lilli… Lilli sieht mich nie mitleidig an, oder besonders aufmerksam, als hätte sie Angst, ich könnte gleich einen Wutanfall haben. Sie betrachtet mich nicht wie ein Projekt, wie jemandem, dem man Hilfe zuteilwerden lassen muss. Nicht, dass ich mich über die anderen jemals beschweren würde. Aber Lilli behandelt mich wie einen total normalen Menschen. Wahrscheinlich kennt sie nicht mal die Hälfte der Geschichte, was mich dazu bringt, ihr gegenüber etwas gelassener zu sein. Ich beobachte Lilli und Anjo gern, wenn sie beieinander sind, weil sie so ein komisches Pärchen abgeben. Anjo ist so still und lieb und hat eine gewisse Weltfriedensaura. Lilli hingegen ist ein gut gelaunter Wirbelsturm mit großer Klappe, klar definierten Meinungen und einem Musikgeschmack, der meine Ohren bluten lässt. Das weiß sie, deswegen verschont sie mich mit ihrer Musik, wenn ich mit Anjo bei ihr zu Besuch bin. Heute unterhalten sich die beiden über irgendeine Kunstaustellung, die sie gern besuchen wollen. Ich lehne mit dem Rücken an Lillis Bett und betrachte ihre mittlerweile nur noch blassgrünen Haare – »Ich hatte einfach ewig keine Lust mehr, nachzufärben« – und Anjos konzentrierten Blick mit der leicht gerunzelten Stirn, während er ihr zuhört. Lilli gestikuliert viel, während Anjo nur ab und an zaghafte Handbewegungen macht. In diesem Moment stelle ich zum ersten Mal erstaunt fest, dass ich gewissermaßen Teil eines Trios bin. Ein bisschen so wie in Harry Potter, wovon Jana und Franzi und Eileen mir regelmäßig erzählen und was ich bestimmt irgendwann mal lesen werde, allein schon, weil es bei Familie Sandvoss zur Familientradition gehört und ich der einzige Depp bin, der keine Ahnung hat. Selbst die Oma hat die Bücher gelesen. Ein Trio. Sowas hat es in meinem Leben noch nicht wirklich gegeben. Es gibt den Einen, oder das Paar. Oder die Gruppe. Jana und ich. Der Erzeuger. Anjo, der Eine, ich und die Jungs aus der Schule als Gruppe. Christian und Anjo. Sina und Christian. Aber jetzt gibt es auch Lilli, Benni und Anjo. Sie haben schon Kekse gebacken, für Englisch gelernt, gegen homophobe Trottel gekämpft und sich Weihnachtsgeschenke gemacht. »Na, was beobachtest du uns so aufmerksam?«, will Lilli verschmitzt wissen und ihre blauen Augen ruhen auf mir. Ich räuspere mich ein wenig verlegen und rutsche nervös auf dem Teppichboden herum. »Ich denke darüber nach, dass wir ein Trio sind«, gebe ich peinlich berührt zurück. Anjo lächelt sein die-Welt-ist-ein-schöner-Ort-und-du-trägst-dazu-bei-dass-sie-schön-ist-Lächeln, das mich jedes Mal unsicher macht und aus der Bahn wirft, weil ich automatisch denke, dass ich es nicht verdiene. »Blitzmerker«, sagt Lilli amüsiert und trinkt einen großen Schluck aus ihrer Teetasse, die neben ihr auf dem Boden steht. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass Lilli sie mit ihren ausladenden Gesten umschmeißt. »Ich hab letztens nachgedacht«, meint Anjo und wir wenden uns ihm zu. Seine Wangen werden ein wenig rot. Auch, wenn ich rein platonische Gefühle für ihn habe, kann ich nicht umhin, ihn entzückend zu finden. Er ist wie ein Babyhund. »Wenn Lilli und ich hier an der Kunsthochschule angenommen werden… wäre es dann nicht nett, in eine WG zu ziehen?« Ich blinzele verwirrt. »Naja, ergibt Sinn, dass ihr dann zusammenzieht«, sage ich und nicke. Lilli gluckst heiter und Anjo seufzt. »Nein, nein. Ich meine, wir Drei. Du willst doch auch hier bleiben, bei Jana. Oder nicht?«, erwidert er und beobachtet ganz genau, wie ich reagiere. Wahrscheinlich sehe ich aus, als hätte ich einen Geist gesehen. Lilli lacht und leert ihre Teetasse, was ihren Teppich wahrscheinlich vor Pfützen bewahrt. »Ich auch?«, antworte ich und klinge selbst in meinen eigenen Ohren total stumpf. Immer, wenn sowas passiert, bin ich total schwer von Begriff, weil diese Dinge einfach keinen Sinn in meinem Kopf ergeben. Wer würde schon freiwillig mit mir zusammen wohnen wollen? Ich ganz sicher nicht. »Siehst du hier sonst noch jemanden?«, stichelt Lilli und klingt dabei besonders liebevoll. Die Vorstellung, nach dem Abi einen Job zu haben und mit Lilli und Anjo zusammen zu wohnen, klingt so utopisch, dass mein Gehirn wirklich große Probleme damit hat, sie zu verarbeiten. Noch vor ein paar Monaten war ich sicher, dass ich meinen Alten irgendwann umlegen und im Knast landen und somit mein Leben komplett ruinieren würde. »Ich bin sicher ein schrecklicher Mitbewohner«, sage ich, ohne wirklich darüber nachzudenken. Lilli schüttelt den Kopf. »Sag das nicht. Ich bin die schlimmste. Ich bin das wandelnde Chaos und höre meine Musik gern laut«, warnt sie uns vor und lacht erneut bei meinem Gesichtsausdruck, der sich automatisch in meine Züge schleicht, als ich an ihre Musik denke. »Solange du dein Chaos auf dein Zimmer beschränkst…«, meint Anjo schmunzelnd. Ich versuche mir auszumalen, wie ich morgens verschlafen meine Zimmertür öffne und von Lillis schrecklicher Musik und einem zerstruwwelten Anjo, der bereits Tee gekocht hat, begrüßt werde. Es ist eine der besten Zukunftsaussichten, die mein Gehirn sich jemals ausgemalt hat. »Ich würd auch das kleinste Zimmer nehmen«, höre ich mich sagen und auf Anjos und Lillis Gesicht breitet sich ein Strahlen aus, als wäre meine Bemerkung eine Zusage. Natürlich haben wir keine Ahnung, ob Lilli und Anjo an der Kunsthochschule angenommen werden, ob ich eine Ausbildung finde und ob es irgendwo eine passende Wohnung für uns gibt. Das hält uns allerdings trotzdem nicht davon ab, den Rest des Nachmittags mit WG-Planungen zu verbringen, auch wenn es mir einen Stich versetzt, wenn ich daran denke, dass ich dann nicht mehr mit Jana zusammen unter einem Dach wohne. Aber trotzdem, denke ich mir, während Lilli erklärt, dass sie unbedingt eine Spülmaschine haben will, eine bessere Aussicht auf die Zeit nach dem Abi gibt es eigentlich nicht. Tatsächlich bin ich in den folgenden Tagen nach diesem Treffen so gut gelaunt, dass Tim mich misstrauisch fragt, ob ich Sex hatte. Mir steigt sofort die Hitze ins Gesicht, meine Gedanken huschen automatisch hin zu Gabriel und ich stammele verneinend vor mich hin, bis Tim mir brüllend vor Lachen auf den Rücken haut und mir versichert, dass er nur einen Witz gemacht hat. Ich sacke in mich zusammen und atme erleichtert aus. Sex steht in weiter Ferne, soviel ist klar. Die paar wenigen SMS, die ich mit Gabriel austausche – weil ich einfach zu unsicher bin, um ihm immer zu schreiben, wenn ich möchte –, lassen zwar auf weiter anwachsende Zuneigung schließen, aber von Sex kann keine Rede sein. Nicht, dass ich es mir nicht schon mal vorgestellt hätte. Allein unter der Dusche. Aber ich habe wirklich genug andere Dinge zu tun. Abivorbereitungen, Therapie, Training, die nahenden Gerichtsverhandlungen, die – wie man mich behutsam vorwarnte – recht lang dauern könnten… Neben all den Dingen, die mir ansonsten an mir auffallen, muss ich feststellen, dass ich tatsächlich mehr Muskeln und eine bessere Ausdauer bekommen habe. Meine Gelenkigkeit lässt allerdings immer noch zu wünschen übrig. »Steif wie ein Brett«, sagt Gabriel beim dritten Januar-Training und schüttelt den Kopf darüber, dass ich immer noch nicht mit meinen Fingern an meine Turnschuhspitzen komme. Ich würde ihn gern auf meine gewachsenen Bizepsmuskeln aufmerksam machen, allerdings käme ich mir dann vor wie der letzte Armleuchter. Hier, Gabriel, bewundere meine minimal größer gewordenen Muskeln, ach, du hast zehnmal so viele wie ich? Nein danke. »Vielleicht breche ich einfach irgendwann in der Mitte durch«, keuche ich angestrengt und richte mich wieder auf, bevor mein Rückgrat wirklich noch beschließt, dass es die Mühen leid ist. »Bitte nicht«, sagt Gabriel mit sanfter Stimme und trotz meiner ohnehin schon erhöhten Körpertemperatur wird mir noch ein wenig heißer. Wir stehen ziemlich nah beieinander und ich kann aus nächster Nähe bewundern, wie das Licht der Halle auf seinen schwarzen Haaren glänzt. »Ok«, gebe ich mit etwas heiserer Stimme zurück und räuspere mich verlegen. Der Moment scheint sich ewig lang hinzuziehen, bis… »Hey, ihr Faulpelze! Flirten könnt ihr später!« Christian mustert uns mit einem diebischen Vergnügen in den Augen und ich möchte wirklich gern zu ihm gehen und an ihm diesen neuen Tritt ausprobieren, den er uns kürzlich beigebracht hat. Gabriel scheint zwar ebenfalls ein wenig verlegen angesichts des Rüffels, allerdings stört ihn die Formulierung mit dem Flirten offenbar keineswegs. Er grinst mich ein wenig schuldbewusst an und tritt einen Schritt von mir zurück, was ich zugegebenermaßen sehr bedauere. »Du hast nicht zufällig nach dem Training noch Zeit?«, erkundigt sich Gabriel bei mir, während wir abwechselnd den Boxsack mit Tritten malträtieren. Er schwingt leicht hin und her, bei Gabriels Tritten mehr als bei meinen. Ich denke an noch unsortierte Politikunterlagen und ausstehende Englischhausaufgaben. Aber manchmal muss man den Fleiß vielleicht auch Fleiß sein lassen. »Zufällig schon«, sage ich und verfehle vor lauter Nervosität beinahe den Boxsack. Gabriel grinst zufrieden. »Super.« Anschließend scheint Gabriel mit besonders viel Enthusiasmus alles zu tun, was Christian uns aufträgt. Uns ist am Anfang der Stunde wieder aufgefallen, dass Gero nicht besser aussieht, aber es ist einfach zu absurd, ihn danach zu fragen. Ich glaube, er ist viel dünner geworden, seit wir angefangen haben. Christian scheint seine verstärkte Aufmerksamkeit nun auf ihn zu richten und von uns abzuwenden. Vielleicht hat er gemerkt, dass ich mich mittlerweile tatsächlich besser im Griff habe und nicht mehr jedes Mal berserkerartige Ausbrüche bekomme. Wer weiß, ob die zurückkommen, wenn ich den Erzeuger im Gerichtssaal wiedersehen muss. »Magst du Waffeln?«, fragt Gabriel, als wir uns nach dem Duschen umziehen. Ich habe es geschafft, mich im Duschraum nicht komplett zum Horst zu machen und bin voller Bewunderung für mich selbst. Wer weiß, vielleicht hat das häufigere Masturbieren tatsächlich geholfen. »Ich glaub schon. Die Dinger mit Puderzucker, in Herzform?«, erkundige ich mich grübelnd und fange Gabriels Blick auf. Er betrachtet mich mit einer Mischung aus Unglauben und… so etwas wie Entzücken? »Ja. Die Herzen mit Puderzucker«, antwortet er und strahlt mich an. Mein Magen rutscht mir in die Kniekehle und ich habe ein sehr kitschiges Bild vor mir, auf dem Gabriel Puderzucker an der Wange hat und wir uns ein Stück Herzwaffel teilen. Lieber Gott, mach, dass mein Gehirn aufhört peinlich zu sein. Amen. Erst im Nachhinein fällt mir auf, dass Gabriel es womöglich irritierend findet, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich weiß, was Waffeln sind. Ich hab tatsächlich noch nie welche gegessen. Gabriel scheint sich an meiner Weltfremdheit nicht zu stören und erzählt mir auf dem Weg in die Stadt davon, dass sein sonst sehr gelassener Bruder im Angesicht der baldigen Vaterschaft tatsächlich ein wenig nervös wirkt. »Er meditiert noch mehr als sonst. Ich finde die Vorstellung recht witzig, dass er im Kreissaal in Ohnmacht fällt«, sagt Gabriel gut gelaunt und deutet auf ein kleines Café neben einem thailändischen Imbiss und die warme Luft, die mir entgegenschlägt, als wir den Laden betreten, kribbelt ein bisschen auf meinem kalten Gesicht. Die Luft draußen riecht nach Schnee und ich stelle mir vor, wie der große Garten der Familie Sandvoss voller Schneemänner steht, sobald genug von dem weißen Zeug gefallen ist. »Und, wie geht’s dir?«, erkundigt sich Gabriel und angelt nach einer Karte. Er studiert sie sorgfältig und ich beobachte, wie seine Augen sich von einer Seite zur anderen bewegen. »Ziemlich gut tatsächlich. Ich hab letztens mit zwei Freunden darüber gesprochen, dass es cool wäre, nach dem Abi zusammen zu ziehen, falls es klappt, dass wir alle hier in der Stadt bleiben«, erkläre ich und nehme mir ebenfalls eine Karte. Wer hätte gedacht, dass es Waffeln in so vielen Ausführungen gibt. Mit Eis, mit Obst, mit Schokosoße... Ich bin ein wenig überfordert und entscheide mich für die mit Schokosoße. »Wäre ja super, wenn ihr es schafft alle in derselben Stadt zu bleiben. Das kann ich mir mit meinen besten Freunden leider abschminken«, gibt Gabriel zurück und lächelt dem Kellner zu, der auf unseren Tisch zusteuert. »Was darf ich euch bringen?«, fragt er freundlich und ich überlege, ob Gabriel den Kerl wohl attraktiv findet. Was für Männer findet er wohl gut? Ich vergesse vor lauter Gegrübele darüber, auf was für Typen Gabriel stehen könnte, dass ich eigentlich bestellen sollte, und es entsteht eine verwirrte Stille zwischen mir und dem Kellner, als er mich fragend ansieht und ich einen Augenblick überhaupt keine Ahnung habe, was er eigentlich von mir will. »Äh... ich hätt gern Waffeln mit Schokosoße«, schaffe ich schließlich zu sagen und hoffe, dass mein Gesicht nicht so erhitzt aussieht, wie es sich anfühlt. »Auch ein Getränk?«, will der Kellner wissen und ich stelle fest, dass ich ihn nicht besonders gut aussehend finde. Hm. »Nein, danke«, gebe ich zurück, bevor ich mir klar gemacht habe, dass ich eigentlich durstig bin. Höfliches Ablehnen von Dingen ist eine automatische Reaktion, die mir bei Christians Familie schon so manche hochgezogene Augenbraue eingebracht hat. Vor allem Tim und Eileen sind gnadenlos und erkennen mittlerweile beinahe immer, wenn ich eigentlich Dinge will, es aber für einen Wimpernschlag vergesse und erstmal nein sage. Ich seufze resigniert über mich selbst. »Na, wolltest du doch was trinken?«¸ fragt Gabriel amüsiert und ich nicke. »Das passiert mir dauernd. Leute fragen, ob ich was will, und bevor ich überhaupt drüber nachgedacht hab, ob ich irgendwas will, hab ich schon nein gesagt«, erkläre ich peinlich berührt. Gabriel mustert mich interessiert und ich stelle unnötig penibel die Karte zurück in ihren Halter. »Ich tippe drauf, dass du es nicht gewöhnt bist, Sachen zu wollen«, entgegnet er und ich kaue auf meiner Unterlippe herum, ehe ich mit den Schultern zucke. »Vermutlich. Weiß nicht. Aber ich hab schon festgestellt, dass man einiges lernen kann, egal wie verkorkst man ist. Vielleicht schaff ich das ja auch noch.« »Ich bin recht zuversichtlich«, meint Gabriel. Ich blinzele verwirrt. »Wieso?«, will ich wissen. Ich fühle mich ja schon irgendwie geschmeichelt, aber Gabriel kennt mich ja eigentlich noch nicht besonders gut. »Ich trainiere jetzt schon einige Zeit mit dir und hab noch keinen gesehen, der so hart an sich arbeitet, wie du. Ganz zu schweigen davon, dass ich am Rande mitbekommen hab, dass du dich von einem mobbenden Schwulenhasser zu einem anständigen Kerl entwickelt hast«, erläutert Gabriel und mein Herz beginnt irgendwo in der Gegend meines Adamsapfels zu schlagen. Atmen ist manchmal wirklich schwieriger, als man denkt. Gabriel lächelt und ich möchte viele dankende Dinge sagen, allerdings bleibt mir jedes Wort im Hals stecken. Als der Kellner mit unserer Bestellung auftaucht, hole ich tief Luft, und wage einen kommunikativen Hechtsprung. »Ich hätt gern noch eine Cola«, sage ich. In meinen Ohren klingt meine Stimme etwas heiser, aber der Kellner und Gabriel scheinen sich nicht daran zu stören. Er stellt meine Waffeln mit Schokosoße vor mir ab, notiert sich meine Bestellung und verschwindet wieder. Kleine Schritte. Es wird schon irgendwie. »Wieso kannst du es dir abschminken, mit deinen beiden besten Freunden in einer Stadt zu landen?«, frage ich, um von mir abzulenken, und nehme meine Gabel, um ein Stück Waffel abzutrennen und zu probieren. Nach zweimal kauen ist mir klar, dass ich dringend öfter Waffeln mit Schokosoße essen sollte. »Erik wird nach Hamburg an die Stage School gehen und Tessa wird sehr wahrscheinlich mitgehen und zusehen, dass sie dort eine Ausbildung als Maskenbildnerin anfangen kann. Wenn sie in Hamburg nichts findet, geht sie vermutlich in irgendein Nest in Süddeutschland, um da auf eine entsprechende Schule zu gehen. Sie wollen jedenfalls beide zum Musical. Und ich will später mit in der Kampfsportschule meines Bruders arbeiten«, erzählt er und macht sich mit leuchtenden Augen über seine Waffel mit Mango und Vanilleeis her. »Deine Freunde haben ja sehr ausgefallene Berufswünsche«, sage ich perplex und denke an Lilli und Anjo, die beide auf die Kunsthochschule gehen wollen. Ich bete inständig, dass Gabriel mich nicht fragt, was ich nach der Schule machen will, weil ich weder Ahnung noch Kapazitäten habe, um mir darüber Gedanken zu machen. »Das stimmt wohl. Aber sie wissen das beide auch schon ziemlich lange und arbeiten richtig hart darauf hin. Das ist unter anderem der Grund dafür, dass ich die beiden so selten sehe. Vor allem Erik. Er leitet einen Kinderchor, tanzt ein paar Mal die Woche und ist noch Mitglied in einer Jugendgruppe, die Musicals aufführt. Da mal ein paar freie Stunden zu erwischen, ist ziemlich selten.« Ich sehe zu, wie ein Stück Mango in Gabriels Mund verschwindet. Seine Freunde scheinen beide vom seltenen Schlag der Leute zu sein, die wissen, wo sie mit ihrem Leben hinwollen. Es ist ziemlich gruselig. Wir sprechen noch ein wenig länger über unsere kreativen Freunde – ich glaube, Gabriel findet meinen Stolz angesichts von Anjos und Lillis Fähigkeiten ziemlich niedlich – und über unsere Silvesterfeiern. Ich trinke zufrieden meine Cola und vergesse sogar meine Anspannung darüber, dass ich mit Gabriel allein bin und er mich womöglich irgendwann blöd finden könnte, wenn er mich nur näher kennenlernt. Und dann... »Fühlt sich fast ein bisschen wie ein Date an«, sagt Gabriel munter und nimmt seinen letzten Schluck O-Saft. Ich höre für einen Moment lang auf zu atmen und starre ihn über den Tisch hinweg an, während mir in sehr rasantem Tempo Hitze in die Wangen steigt. Woher weiß Gabriel überhaupt, dass ich auf Männer stehe? Hat er gemerkt, dass ich ihn die ganze Zeit angeiere? Ist das hier ein Date? Oh Gott, ich falle sicherlich gleich tot vom Stuhl. Gabriel gluckst heiter. »Keine Sorge, ich werde dich nicht zu einem Date zwingen. Ich weiß ja nicht mal, ob du an Männern interessiert bist«, meint er. Mein überhitztes Gehirn hält es für eine gute Idee meiner Zunge Signale zu senden und sie sagen zu lassen: »Doch. Also... Männer sind... äh... ich...« Wow. Das muss der Gipfel der Peinlichkeit sein. Gabriel mustert mich gespannt und wartet darauf, dass nicht nur unverständliche Wortbrocken aus meinem Mund fallen wie Münzen aus einem Casinospielautomaten. »Ich stehe mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf Frauen...«, schaffe ich es schließlich zu sagen und möchte nur allzu gern meinen Kopf auf die Tischplatte hauen. »Das heißt, du fändest ein Date nicht komplett abwegig?«, hakt Gabriel nach. Ich glaube, ich verdampfe gleich. Es fühlt sich an, als wäre die Temperatur hier drin spontan um zehn Grad gestiegen. »Nein«, krächze ich. Auf Gabriels hübschem Gesicht breitet sich ein Strahlen aus. »Großartig. Dann haben wir grad offiziell unser erstes Date!« Mein Herz explodiert jeden Moment, ich weiß es einfach. Wie genau ist das passiert? Und wie kommt es, dass ich nicht direkt aus Höflichkeit abgelehnt habe? Gabriels Augen haften an mir wie Scheinwerfer. Ich fasse es nicht. Ich habe das erste Date meines Lebens. Kapitel 13: Die vereinte Gruppe ------------------------------- Hallo ihr Lieben! Ich habe immer noch nicht mein früheres Tempo erreicht, aber immerhin sind die Kapitel wieder etwas regelmäßiger geworden :) Großer Dank wegen dieses Kapitels gilt meiner besseren Hälfte, Lisa, weil ich dank ihr wieder ordentlich von der Muse geküsst wurde, was diese Geschichte angeht und sie mir geholfen hat, meinen zwischenzeitlichen Hänger zu überwinden. Deswegen ist das Kapitel auch ihr gewidmet ;) Viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende für euch alle! ______________________________________ »Ok, also... ihr geht miteinander aus...«, sagt Anjo langsam, nachdem ich ihm stockend und mit roten Wangen erzählt habe, was Gabriel am Tag zuvor gesagt hat. »Äh... ja? Weiß nicht? Oh Gott...«, gebe ich zurück und verberge das Gesicht in den Händen. Anjos Mundwinkel haben während meiner verwirrten Erzählung oftmals gezuckt und ich habe ihm aus Versehen auch von meinen peinlichen Gedanken bezüglich des Gegenseitig-Waffeln-mit-Puderzucker-Fütterns berichtet, um ihm mein Elend zu verdeutlichen. Mein bester Freund scheint meine schwierige Situation allerdings nicht als solche zu erkennen, sondern amüsiert sich offenkundig über mein beknacktes Verhalten. »Wie funktioniert sowas? Das ist ein komisches Konzept! Ich kenn das nur aus Hollywoodfilmen und da scheint’s mir immer besonders bescheuert zu sein. Soll ich ihn anrufen? Was erwartet er von mir? Gibt’s irgendwelche Regeln, die man beachten muss? Oh Mann, ich bin fürs echte Leben einfach nicht zu gebrauchen...«, brassele ich zusammenhanglos vor mich hin und raufe mir die Haare. Wir haben uns nicht zum Abschied geküsst. Nicht mal umarmt. Gabriel hat mich nur angestrahlt und sich mit einer Handbewegung verabschiedet. Was bedeutet das? Ist das normal? Heißt das, dass es mies war? Wo gibt es eine Beratungsstelle für Menschen wie mich, die in der echten Welt mit allem überfordert sind und die Vorstellung, beim Mann ihres Interesses anzurufen, so furchtbar finden, dass eine Panikattacke durchaus nicht auszuschließen wäre? »Bisher macht er mir nicht den Eindruck, als würde er irgendwas von dir erwarten. Zumindest nicht, ohne es dir mitzuteilen«, meint Anjo ruhig. Er strömt wieder diese friedfertige Aura aus, die mich immer ganz gut beruhigt. Ich atme tief durch. »Ja. Er sagt dauernd, was er denkt. Und fühlt. Ein Alptraum!«, gebe ich zurück. Anjo gluckst heiter. »Ich find es eigentlich ziemlich nett. So weißt du auf jeden Fall immer, woran du bist«, entgegnet er und hat selbstverständlich sehr Recht. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht überfordert sein kann. »Aber ich kann das nicht!« Ich wimmere nicht. Auf keinen Fall. Es war ein total männliches Verzweiflungsgeräusch, das ich da von mir gegeben habe. Jawohl. »Das musst du ja auch nicht. Bislang hat er sich nicht bei dir beschwert, oder? Ihm ist sicher klar, dass nicht jeder Mensch sein Herz auf der Zunge mit sich herumträgt«, erklärt Anjo ganz ruhig und legt eine schlanke Hand auf meinen Unterarm. Ich starre die Hand an und frage mich, ob ich jemals mit Gabriel Händchen halten werde, oder ob er vorher Reißaus nimmt. Um Himmels Willen. Jetzt denke ich schon übers Händchen halten nach. »Was mache ich jetzt? Ist es zu früh, um ihm eine SMS zu schreiben? Wir sehen uns übermorgen beim Training. Vielleicht nerv ich ihn auch...« Anjo schüttelt lächelnd den Kopf und seufzt. »Er findet dich offensichtlich ziemlich toll. Ich meine... er hat dich jetzt schon mehrmals gefragt, ob du nach dem Training noch Zeit hast, dann wollte er wissen, ob du auf Männer stehst, und dann hat er dir verkündet, dass euer letztes Treffen ja dann als erstes Date zählen kann. Wenn das nicht riesige Leuchtreklame dafür ist, dass er den Kontakt mit dir sucht, dann weiß ich auch nicht, wie man es noch deutlicher ausdrücken könnte«, antwortet er und drückt mir mein Handy in die Hand, das ich neben mir aufs Bett gelegt habe. Für den Fall, dass ich eine SMS bekomme. Von jemandem. Zum Beispiel Gabriel. »Aber was soll ich denn schreiben?«, klage ich peinlich berührt und bekomme sofort schwitzige Hände, als ich die SMS-schreibe-Funktion des Handys öffne und das leere Display anstarre. Mein Herz schlägt ein paar Saltos. Oh Gott, ich bin so dermaßen am Arsch, es ist unglaublich. Ein Herzinfarkt steht kurz bevor. So schlimm hab ich mich bei Anjo nie gefühlt. Wann genau zwischen ein paar Trainingsstunden, Waffeln und bösen Blicken ist es passiert, dass ich so eine üble Verknalltheit entwickelt hab? Ich weiß es wirklich nicht. »Schreib doch, dass du‘s gestern schön fandest und ihn gern wieder treffen würdest«, schlägt Anjo fort. »Aber ist das nicht zu aufdringlich? Wie gesagt, wir haben uns erst gesehen und sehen uns in zwei Tagen wieder und dann klingt es vielleicht so, als wollte ich ihn heute schon wieder treffen! Nicht, dass ich das nicht eventuell wollen würde, aber man muss es ja auch nicht übertreiben. Und außerdem ist er ein vielbeschäftigter Typ und...« Anjos schmale Finger legen sich sachte auf meinen Mund und er sieht mich so streng an wie ein Babyhund, der auf den Arm genommen werden will. Trotzdem verfalle ich in Schweigen. »Dann schreib ihm nur, dass du es schön fandest und hoffst, dass er einen tollen Tag hat«, meint er. Ich seufze gegen seine Hand, bevor Anjo sie von meinem Mund wegzieht. Mein Blick richtet sich aufs Display und ich fange mit fahrigen Fingern an zu tippen. »Hey! Ich hoffe du hast einen schönen Tag. Danke für gestern, es war toll.« Ich starre auf die Worte hinunter und versuche mir vorzustellen, was ich denken würde, wenn Gabriel mir so eine SMS schreiben würde. Ich würde vermutlich allein deswegen vor Freude ausrasten, weil er mir überhaupt geschrieben hat. In diesem Moment vibriert mein Handy und ich lasse es vor Schreck auf den Boden fallen. Anjo gibt es unterdrücktes Schnauben von sich, das wohl ursprünglich ein Lachen war. Toll. Lach mich ruhig aus, kein Problem. Ich hebe das Handy wieder auf, schließe die SMS und öffne die Nachricht, die ich gerade bekommen hab. »Ich muss die ganze Zeit an dich denken.« Ein Herzstillstand ereilt mich und ich lasse mich rücklings aufs Bett fallen. »Was ist los? Alles ok? Du bist ganz rot im Gesicht!«, sagt Anjo und beugt sich über mich. Ich muss unweigerlich daran denken, wie Anjos Nähe mich noch vor ein paar Monaten unheimlich nervös gemacht hat. Aber jetzt beruhigt er mich einfach nur noch und stattdessen bin ich ein Nervenbündel wegen der SMS, die noch auf meinem Display zu sehen ist. Ich halte Anjo das Handy hin und er lächelt strahlend. »Wie schön. Siehst du, du nervst ihn nicht«, meint er und tätschelt mir die Schulter. Ich lege das Handy auf meinen Bauch und sehe mit leerem Blick und hämmerndem Herzen hoch zur Decke. Um Himmels Willen. »Jetzt weiß ich erst recht nicht mehr, was ich schreiben soll«, krächze ich und versuche mich zu beruhigen. »Du könntest ihm natürlich schreiben, dass du auch an ihn denkst«, flötet Anjo unschuldig und ich möchte ihn ein wenig schütteln. »Bist du des Wahnsinns?«, gebe ich zurück und sehe ihn an, als wäre er nicht mehr ganz bei sich. Anjo schmunzelt. »Wieso? Es stimmt doch«, sagt er. »Ja, schon! Aber das kann ich nicht einfach so sagen. Und tu nicht so, als hättest du es immer einfach gefunden, Christian deine Gefühle zu erklären«, gebe ich zurück und wedele streng mit einem Zeigefinger vor Anjos Nase herum. Er nickt ergeben. »Ja, ich weiß. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht besser gewesen wäre, wenn wir öfter darüber gesprochen hätten.« Ugh. Wieso muss er immer so weise und vernünftig sein? Ich nehme das Handy wieder in die Hand und starre auf die Worte. Mein Magen kribbelt so heftig wie mehrere riesige Brausetabletten in einem Wasserglas. »Geht mir auch so.« Ich glaube nicht, dass ich das abschicken kann. Kann irgendwer mich retten? Kann sich die Erde auftun und mich verschlingen? Bitte bitte. Bevor ich mir Gedanken über meinen kurz bevor stehenden Untergang machen kann, hab ich auf Senden gedrückt und jetzt schaue ich mit Schrecken zu, wie die SMS verschickt wird. Verfluchte Scheiße. Mitteilung gesendet, verkündet mein Handy mir. Ich drehe mich auf den Bauch und vergrabe mein Gesicht in Anjos Bettdecke. Er tätschelt mich schon wieder. »Gabriel freut sich bestimmt«, versichert er mir. Es dauert keine Minute, da vibriert mein Handy erneut und ich japse ins Kissen, was Anjo erneut zum Lachen bringt. Mit einem Auge linse ich auf mein Display und öffne die Nachricht. »Jetzt kann ich den Rest des Tages mit einem Grinsen im Gesicht verbringen.« Hatte ich schon das Kribbeln in meinem Magen erwähnt? Ja? Nun, es verdient an dieser Stelle erneute Erwähnung. Ich lasse Anjo die SMS lesen. »Sag ich doch«, triumphiert er. Ich hab es nicht leicht mit mir selbst. Wirklich nicht. * Gabriel und ich tauschen in den beiden folgenden Tagen noch einige belanglose SMS, die mich trotzdem jedes Mal wieder in Aufregung versetzen, weil jeder Kontakt mit Gabriel meine Nerven zum Sirren bringt. Ich frage mich, wie ich Gabriel vorm Training begrüßen soll, aber da er mich nach unserem... Treffen... auch nicht umarmt hat, denke ich, dass ein einfaches Hallo wohl ausreicht. Trotzdem sterbe ich vielfache Tode, bin viel zu früh in der Umkleide und versuche, mir den linken Turnschuh über den rechten Fuß zu ziehen. Ich gehe zehn Minuten auf und ab und sage mehrmals hintereinander Hallo in unterschiedlichen Tonlagen, komme mir dabei wahnsinnig bescheuert vor und haue mir ein paar Mal die Hand gegen die Stirn. Meine Gedanken werden abgelenkt, als ich draußen vor der Halle laute Stimmen höre und angesichts dessen die Stirn runzele. Ich verstehe die Worte nicht, aber der Ton klingt nicht sehr freundlich und ich stapfe hinüber zur Tür, ziehe sie auf und sehe mich einem Tumult aus mehreren jungen Männern gegenüber. Drei davon kenne ich nicht, einer ist Gero. Ein Wisch aus schwarzem Haar und eine Lederjacke verraten mir, dass auch Gabriel in dem Knäuel steckt. Und dort stehen Ismail, Paul und Karol und treten unschlüssig von einem Bein aufs andere. Ich habe keine Ahnung, worum es geht, aber ich bin mit zwei Schritten bei dem raufenden Haufen und schiebe mich zwischen Gero und einen der Kerle, der besonders breite Schultern hat und dessen Muskelshirt seine beeindruckenden Oberarme zur Schau stellen. Aus dem Stimmengewirr höre ich nur ab und an Fetzen wie »Kleiner Pisser« und »Hurensohn«. Als sich noch mehr laute Stimmen hinzu mischen, wird mir klar, dass Dominik und Jason Gabriel und mir behilflich dabei sind, die drei Kerle von Gero wegzuziehen, der laut flucht und schimpft und um sich schlägt. Schließlich ist die komplette Trainingsgruppe dabei, die drei Jungs von Gero zu trennen. Sie sehen aus, als würden sie sich gerne richtig prügeln, aber bei acht gegen drei scheint ihnen klar zu sein, dass es böse enden könnte. Sie beschimpfen ihn noch und spucken vor uns auf den Boden, bevor sie an der Gruppe vorbei gehen und um die nächste Ecke verschwinden. Gero steht schnaufend und mit gesenktem Kopf in unserer Mitte und ich hab keine Ahnung, was eigentlich passiert ist. Alle sehen ratlos aus. Alle, außer Gabriel, der zu Gero hinüber geht und ihm die Hände auf die Schultern legt. »Hey«, sagt er leise und Gero hebt den Kopf und starrt ihn wütend an. »Was ist los?« »Das geht dich ‘nen Scheiß an!«, presst Gero zwischen den Zähnen hervor. Und dann passiert etwas Furchtbares. Gero sackt in sich zusammen und bleibt mitten auf dem Fußweg sitzen, das Gesicht in den Händen verborgen. Das Beben seiner Schultern kann nichts anderes heißen, als dass er weint. Scheiße. Alle stehen ratlos und unangenehm berührt herum, Passanten starren fragend und misstrauisch zu uns herüber und mir ist klar, wie es aussehen muss. Eine Gruppe aggressiv aussehender Jugendlicher, die um einen schmächtigen Jungen herum stehen, der weint. Aber niemand kommt zu uns herüber. Wir sind alle angsteinflößend. Ausgestoßene, missratene Parasiten der Gesellschaft, mit denen sich keiner näher beschäftigen will. Keiner außer Christian. Ich bin sehr froh und dankbar darüber, dass niemand Gero auslacht. Letztendlich wissen wir alle, dass die anderen auch ein Scheißleben haben und es vermutlich genug Gründe für einen Nervenzusammenbruch gibt. »Komm, wir gehen in die Umkleide«, sagt Gabriel leise und zu Gero hinunter gebeugt. Es dauert einen Moment lang bis Gero in Bewegung kommt. Er sieht niemanden an und Gabriel geht mit ihm voran in die Umkleide, ich direkt hinter ihnen, und die anderen folgen uns allmählich. Niemand denkt daran, sich umzuziehen. Ich hab meinen rechten Schuh noch nicht zugebunden, doch ich achte nicht darauf und setze mich neben Gabriel und Gero auf den Fußboden. Zögernd, als würde das Sich-dazu-Setzen einem Vertrag gleich kommen, dessen Bedingungen man nicht kennt, lassen sich auch die anderen nieder. Wir sitzen völlig verstreut und nicht so, wie Freunde eng beieinander sitzen würden. Ich war mir eigentlich sicher, dass ich niemals eine der Geschichten erfahren würde, die sich um meine Mitstreiter ranken. Ich hätte auch nicht gedacht, dass Gero von allein anfangen würde zu reden. Seine Augen sind rot und geschwollen und seine Miene sieht so hoffnungslos aus, ich spüre, wie mein Brustkorb sich vor Mitleid zusammen zieht. »Meine Eltern sind Zeugen«, murmelt er. Karol runzelt die Stirn. »Jehovas?«, fragt er. Ich habe einen Moment lang Schiss, dass er eine abfällige Bemerkung macht, doch als Gero nickt, sagt Karol nichts weiter und umschlingt seine Knie mit den Armen. »Meine Mutter ist ziemlich schwer krank. Braucht ‘ne neue Niere... Ich hab ihr hundertmal angeboten, dass sie eine von meinen haben kann...« Stille. Ich runzele ebenfalls die Stirn und bin nicht sicher, was genau das eine mit dem anderen zu tun hat, bis Paul sich meldet. Paul, der Musterschüler. »Zeugen Jehovas dürfen weder Bluttransfusionen noch Organtransplantationen durchführen lassen«, sagt er leise. Gero nickt erneut und schluckt. Es sieht aus, als würde es ihn alle Kraft der Welt kosten nicht wieder in Tränen auszubrechen. Plötzlich ergibt es Sinn. Kein Wunder, dass Gero wütend auf die Welt ist. Und auf seine Mutter. Womöglich auch auf seinen Vater. Und sehr wahrscheinlich auch auf diesen Gott, der es seiner Mutter verbietet, wieder gesund zu werden. »Mein Vater sagt nur immer, dass Jehova das so will«, zischt Gero und ich sehe, wie seine Hände sich zu Fäusten ballen, sodass seine Knöchel weiß hervor treten. Ich kann mir kaum vorstellen, wie wütend ich an seiner Stelle wäre. Ich lasse unauffällig den Blick durch die Runde schweifen. Karol sieht Gero schweigend an, mit einem merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht. Es sieht fast so aus, als würde er ganz genau verstehen, wovon Gero redet. »Heißt das...«, sagt Dominik und bricht mitten im Satz ab. Als hätte er Angst zu fragen. Oder als wäre es ihm peinlich, Interesse zu zeigen. Gero schaut auf und sieht ihn beinahe trotzig an. Er sieht aus wie ein kleiner Junge. »Dass sie bald stirbt. ‘nen Monat hat sie noch.« Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Gabriel die Augen schließt. Das ist eine Situation, in der einen niemand trösten kann. Man kann nichts sagen. Niemand achtet auf die Uhr. Wahrscheinlich sind wir schon alle zu spät und müssen später extra Runden laufen, aber was macht das schon. Vielleicht ist das der Zeitpunkt, um Geschichten auszutauschen? Ich meine... wer versteht einen besser als andere kaputte Menschen, die genauso viel Scheiß durchgemacht haben, wie man selber? Ich schaue unsicher in die Runde und mein Herz schlägt bis zum Hals. Wahrscheinlich will niemand irgendwas sagen. Keiner wird anfangen. Tief durchatmen, Benni. »Mein Erzeuger hat früher meine Mutter verprügelt. Als sie ihn verlassen hat, wollte er anfangen, meine kleine Schwester zu verprügeln, aber ich hab ihn nicht gelassen. Also hat er mich zusammengeschlagen.« Sieben Augenpaare sind auf mich gerichtet und ich denke einen Moment lang, dass gleich irgendwer entnervt stöhnt und sagt, dass er auf diesen sentimentalen Bullshit keinen Bock hat. Aber niemand tut irgendwas in die Richtung. Ich weiche Gabriels Blick aus. Zugegeben, ich hatte es mir anders vorgestellt, ihm irgendwann davon zu erzählen. Aber jetzt ist es raus und ich hoffe Gabriel packt mich von jetzt an nicht in Watte deswegen. »Man, kein Wunder, dass du immer so auf den Boxsack eindrischst, wenn du dir deinen Alten vorstellst«, sagt Jason und zieht seine Schultern hoch. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, also starre ich den Umkleidenboden an und warte darauf, dass mein Herz aufhört zu hämmern. »Ich hab keine besonders tragische Geschichte«, erklärt Paul und klingt, als müsste er sich dafür irgendwie rechtfertigen. »Ich hab gute Noten, meine Eltern verprügeln mich nicht und schreien mich nie an. Eigentlich reden sie gar nicht mit mir. Es sei denn, es geht um die Schule.« Er zuckt mit den Schultern und verschränkt die Arme vor der Brust, als würde er erwarten, dass gleich jemand abfällig schnaubt. »Vielleicht hätt ich dann auch was angezündet«, meint Dominik. Zustimmendes Gemurmel. Paul sieht überrascht aus und löst seine Arme aus der Verschränkung. Ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Ein Zittern kriecht durch meinen Körper, das nichts mit Kälte zu tun hat. Manchmal habe ich das, wenn ich besonders lange Gespräche mit Jana führe. Es ist ein komisches Gefühl, aber auch gut, irgendwie. »Meine Ma bringt jeden zweiten Tag ‘nen anderen Tag mit heim, seit mein Vater abgehauen ist. Ich glaub, sie interessiert sich ‘n Scheiß für mich. ‘n paar von denen bleiben auch ein paar Wochen und meinen dann, sie dürften mir irgendwas vorschreiben. Sind meistens Scheißkerle. Zwei oder drei haben mir auch schon mal eine runter gehauen«, murmelt Jason leise. »Wann ist dein Vater abgehauen?«, fragt Gabriel. Jason denkt kurz darüber nach. »Vor drei Jahren, glaub ich. War auch nicht der beste Vater... aber...« Ich verstehe ihn. Meine Mutter hat Jana und mich im Stich gelassen und ich bin trotzdem nicht im Stande, ihr böse zu sein. Es ist leichter, wütend auf den Erzeuger zu sein, weil er sie dazu gezwungen hat zu gehen. »Mein Vater ist auf meinen kleinen Bruder nicht klar gekommen. Der ist autistisch und der beste Mensch auf der Welt. Aber mein Vater ist ein Loser und hat sich aus dem Staub gemacht und uns sitzen lassen. Und weil der Arsch weg ist, hat meine Mutter angefangen zu saufen«, sagt Dominik und reiht sich ein in die Sparte derjenigen, die von einem Elternteil verlassen wurden. Manchmal denke ich, dass Menschen sich nicht wirklich Gedanken darüber machen, was es heißt, Kinder zu kriegen. Und dann, wenn es hart wird, oder wenn sie im Stress sind, dann lassen sie es an den Kindern aus, oder rennen weg. »Was heißt autistisch?«, fragt Karol und es ist das erste Mal, dass er was sagt. Bei ihm bin ich mir nicht sicher, ob er seine Geschichte erzählt. Sein Gesicht ist schon die ganze Zeit verschlossen, aber er ist auch nicht aufgestanden und gegangen. »Das heißt, dass sein Gehirn einfach anders funktioniert als bei anderen Leuten. Er kommuniziert anders und wenn man sich nicht die Mühe macht ihn zu verstehen, dann hat man ihn auch nicht verdient. Er ist total schlau und hat ein krasses Gedächtnis, er kann nur nicht so gut mit anderen Menschen umgehen«, sagt Dominik und ich brauche kein Psychologiestudium, um zu wissen, dass Dominiks kleiner Bruder für ihn – genau wie Jana für mich – der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Ein Mitstreiter auf der Großen-Bruder-Front, der alles für sein kleines Geschwisterkind tun würde, aber an der Verantwortung ein wenig erstickt und keinen anderen Ausweg wusste, als es an anderen Leuten auszulassen. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr und als ich aufschaue, sehe ich Christian im Türrahmen stehen. Er fängt meinen Blick auf und wir sehen uns einen Herzschlag lang an, dann verschwindet Christian schweigend, ohne irgendwas darüber zu sagen, dass wir alle in der Umkleide sitzen, obwohl wir eigentlich Training haben. »Ich hab nichts zu erzählen«, sagt Gabriel und klingt kleinlaut. »Leute haben dich fertig gemacht, weil du schwul bist«, entgegne ich automatisch. »Wieso sollte das nicht zählen?« »Und wahrscheinlich auch schon, weil du nich weiß bist, oder?«, wirft Ismail ein und Gabriel blinzelt erstaunt. »Ja, schon«, sagt er. Ismail zuckt die Schultern, als wäre damit alles klar. »Die meisten Leute hier sind ganz ok, aber ich muss mir auch dauernd beschissene Fragen anhören, ob ich meine Schwester killen würde, wenn sie ‘nen Deutschen heiraten will. Als wär ich kein Deutscher, nur weil ich Muslim bin«, fährt Ismail fort. Gabriel nickt. »Ich wurd schon oft genug Jackie Chan genannt«, sagt er und grinst schief. Die anderen lachen, auch wenn es eigentlich nicht lustig ist und wir das wohl alle kapiert haben. »Manchmal scherzen Leute, ob mein Vater meine Mutter in Thailand gekauft hat«, gibt er zurück und seine Miene verfinstert sich. »Mal ganz abgesehen davon, dass meine Mutter nicht aus Thailand kommt, würd ich am liebsten jedem eine reinschlagen, der so einen Scheiß fragt...« »Menschen sind scheiße«, sagt Jason und es geht ein zustimmendes Murmeln um. »Hast du ‘ne kleine oder ‘ne große Schwester?«, fragt Dominik Ismail. Der verzieht das Gesicht und man hat sofort das Gefühl, dass Dominik in ein Wespennest gestochen hat. »Ich hab vier kleine Geschwister«, antwortet Ismail mit finsterem Gesichtsausdruck und fummelt an seiner goldenen Halskette herum. Er sieht unschlüssig aus, ob er seine Geschichte erzählen will und auch Karol schaut drein, als würde er sich in die Enge getrieben fühlen, weil nur noch er und Ismail nichts von sich preis gegeben haben. »Mein Alter hat das Zeitliche gesegnet und meine Mutter kriegt seit Monaten keinen Job, deswegen arbeite ich jetzt zwei Jobs und es reicht trotzdem kaum...« Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen. Was würde ich tun, wenn ich allein für Jana sorgen müsste? Nicht jeder hat so ein Glück wie ich und wird von einer Familie wie der von Christian aufgenommen. Wenn ich mehr Geschwister hätte und niemanden, der uns finanziell helfen kann... »Ich will nicht drüber reden«, verkündet Karol trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust. Niemand sieht deswegen sauer aus. Ich finde es immer noch überraschend, dass fast alle ihre Geschichte erzählt haben. »Musst du ja auch nicht«, meint Gabriel. Karol wirft ihm einen Blick und seine Augen bleiben an Gabriel haften. Sie starren sich an und ich frage mich, was in Karols Kopf gerade vor sich geht. Ich erinnere mich noch daran, wie sehr er angewidert drein geblickt hat, als Gabriel erklärt hat, dass er auf Männer steht. Es scheint, als würde sich die Luft aufladen und ich kann das angespannte Knistern in der Luft förmlich spüren. »Weißt du, du bist ganz ok für einen Homo«, sagt Karol dann. Ich blinzele verwirrt und auch Gabriel sieht aus, als wüsste er nicht, wie er darauf reagieren soll. Aus Karols Mund ist das womöglich beinahe eine Liebeserklärung. Vermutlich beschließt Gabriel, Karols Bemerkung ebenso aufzufassen, denn er schmunzelt amüsiert. »Wow, danke«, meint er mit einem leicht ironischen Unterton und nun muss selbst Karol widerwillig schmunzeln. Ein plötzlicher Anflug von Verwegenheit ergreift mich und ich merke kaum, wie sich mein Mund öffnet. »Nur um das klarzustellen, ich steh auch auf Männer.« Sieben Augenpaare richten sich auf mich. Karol schnaubt und starrt an die Decke. »Ich hab’s nicht wirklich vermutet, macht aber Sinn«, sagt er. Ich werfe Gabriel einen verwirrten Blick zu. »Wieso?«, will ich wissen. »Weil du den da immer fast auffrisst mit deinen Augen«, Karol gestikuliert zu Gabriel hinüber und ich laufe knallrot an, stammele ein paar unzusammenhängende Worte und würde bei dem Lachen, das nun durch den Kreis geht, am liebsten im Boden versinken. »Aber du bist auch ok«, fügt Karol hinzu. Es sieht aus, als würde die Erkenntnis darüber, dass er mittlerweile drei Kerle kennt, die auf Männer stehen, und die nicht schrecklich sind, sein Weltbild ordentlich zum Wanken bringen. Ich sehe überall hin, nur nicht zu Gabriel, der mich garantiert beobachtet. Vielleicht sollte ich ein bisschen weniger auffällig mit meiner Begeisterung für Gabriel sein, aber es ist nicht so einfach. »Sollen wir in die Halle gehen?«, fragt Gero leise und ein zustimmendes Murmeln geht um. Es macht Sinn. Jetzt können wir die Abregung sicherlich besonders gut gebrauchen. Ich bin der Einzige, der fertig umgezogen ist und warte, bis die anderen fertig sind, dann gehen wir geschlossen in die Halle. Chris sitzt im Trainerbüro und studiert ein paar Unterlagen, die Boxsäcke hängen, bereit, geschlagen zu werden, mitten in der Halle. Er sieht auf, als wir herein kommen, steht auf und betritt die Halle. Ich erwarte ein Donnerwetter, oder Extra-Runden, aber... »Zehn Runden zum Aufwärmen«, ruft er kommentarlos und grinst uns zu. Wir werfen uns verwunderte und teilweise erleichterte Blicke zu, dann laufen wir geschlossen los. Gabriel rennt diesmal nicht vor. Wir sind nicht mehr einfach nur noch ein zusammen gewürfelter Haufen gebrochener Seelen. Wir sind eine Gruppe geworden. Kapitel 14: Die kleinen Zweifel ------------------------------- Ich habe mich in der kurzen Zeit, die ich jetzt bei Christians Familie verbracht habe, viel zu sehr daran gewöhnt, den Erzeuger nicht mehr jeden Tag zu sehen, nicht mehr in stetiger Angst zu leben, nicht mehr dauernd morgens mit Schmerzen zu Janas Schluchzen im Schlaf aufzuwachen. Das wird mir sehr deutlich vor Augen geführt, als ich den Alptraum meines Lebens zum ersten Mal im Gerichtssaal wiedersehe. Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so schwer treffen würde, immerhin habe ich früher mit diesem Schwein unter einem Dach gelebt, aber jetzt... ja, jetzt... Als ich sein hasserfülltes Gesicht sehe, spüre ich, wie meine Kehle sich zuschnürt und mein Brustkorb enger wird. Es fällt mir sehr schwer zu atmen und ich versuche peinlich berührt und mit hämmerndem Herzen nicht nach Luft zu schnappen, aber die Angst keine Luft mehr zu kriegen lässt mich nur noch schneller atmen. Brigittes Hand legt sich beruhigend auf meine Schulter und ich wünsche mir Anjo her. Anjo, mein Fels in der Brandung. Aber Anjo ist in der Schule und drückt mir die Daumen, dass es gut läuft. Was mag das bedeuten, dass es gut laufen soll? Ich wünsche mir, dass es so kurz wie möglich dauert und dass der Erzeuger so lange wie möglich hinter Gittern versauern muss. Im Augenblick fühlt sich dieses Gerichtsverfahren unüberwindbar für mich an. Ich will zurück in Christians Haus, in das Bett auf dem Dachboden, Janas Hand halten, die Hunde ausführen, zur Schule gehen, mit Lilli und Anjo Kekse essen, mit Gabriel trainieren, Hausaufgaben machen, fürs Abi lernen... ich will das normale Leben zurück, das ich bis vor zehn Minuten noch hatte. »Wir schaffen das«, sagt Jana neben mir und ich bin überrascht, wie entschlossen sie aussieht. Ihre Hände zittern, aber ihre Lippen sind aufeinander gepresst und die Abscheu und die Wut auf ihrem Gesicht sind neu, sie lassen meine Schwester fremd und ein wenig unheimlich aussehen. Er hat sie nach all den Jahren doch dazu gebracht zu erkalten, hat ihr Herz erhärtet. Und jetzt, jetzt wird er hoffentlich die Quittung dafür bekommen. Die Anwältin, die Christians Eltern für uns angerufen und ausgesucht haben, hat mit uns schon mehrmals über die nahende Verhandlung gesprochen. Sie ist eine sehr freundliche Dame mittleren Alters mit eisengrauen, raspelkurzen Haaren und wenn sie nicht lächelt, dann sieht sie aus, als könnte sie einen Riesenkraken niederringen. Ihre schwarze Anwaltsrobe wogt beeindruckend hinter ihr her und ich denke, dass Jana und ich in sehr guten Händen sind. Der Anwalt des Erzeugers sieht aus wie eine Bulldogge mit Schnurrbart und ungerahmter Brille. Er spricht flüsternd mit ihm und ich zwinge meinen Atem dazu, sich wieder zu beruhigen. Jedes Hämmern des Richters auf Holz hallt in meinen Ohren wider wie ein Kanonenschlag. Mir fällt es schwer zu sprechen, aber Jana, schüchterne Jana, kleinlaute, leise sprechende Jana, redet so klar und deutlich wie ich es selten von ihr gehört habe. Sie hält meine Hand unter dem Tisch und drückt sie ab und an. Als unsere Blicke sich zwischenzeitlich treffen, scheint sie mir stumm zu sagen: »Schau zu Benni, ich zahl alles zurück, was du für mich getan hast.« Sie tritt ihm gegenüber, wie ich es nie gekonnt habe. Alles, was ich geschafft habe, war, mich von ihm verprügeln zu lassen, und jetzt bekomme ich kaum ein Wort heraus, wo es darum geht, ihm endlich den Garaus zu machen. Aber Jana ist überlebensgroß, sitzt mit geradem Rücken und beinahe vollkommen unerschrockenem Blick neben mir auf einem harten Holzstuhl mit unserer Anwältin an der Seite, die ab und an zufrieden lächelt. Und der Erzeuger scheint auf dem Stuhl gegenüber im Gerichtssaal zu schrumpfen, als Jana ihn anstarrt, niederstarrt, mit erschreckender Detailgenauigkeit Erlebnisse schildert, über die ich niemals reden könnte, nicht mal mit Anjo. Ich sehe sie wieder vor mir, mit dem Messer in der Hand, mit dem Hass in ihren Augen, fest entschlossen, mich diesmal zu beschützen, die Angst, die sie hinterher empfunden hat... Mehrere Male erhebt der Erzeuger die Stimme drohend, aber Jana zuckt nicht zurück und er wird jedes Mal mit strenger Stimme vom Richter ermahnt. Meine Schwester, so klein und zerbrechlich, ist viel stärker als ich. Mehrere Stunden sitzen wir auf diesen ungemütlichen Stühlen und als es endlich zu Ende ist, sacke ich in mich zusammen. Ich bin einfach nur froh, den Erzeuger nicht mehr sehen zu müssen. Aber das war nur der Anfang und es stehen uns noch weitere Verhandlungen bevor. Aber Frau Liebknecht, unsere Anwältin, versichert uns, dass es sehr gut für uns ausschaut. »Du hast dich ausgezeichnet geschlagen, Jana«, sagt sie zu meiner Schwester, bevor wir uns verabschieden, und Jana lächelt sie an, jetzt wieder ganz ihr schüchternes Selbst mit der leisen Stimme. »Danke. Ich geb mein Bestes«, erwidert sie und zieht leicht die Schultern hoch. Als wir kurz davor sind, bei Brigitte ins Auto zu steigen, umarme ich Jana fest. »Du warst so mutig«, murmele ich peinlich berührt angesichts meines Versagens. Jana streicht mir sachte über die kurzen Haare. »Es wurde Zeit«, gibt sie leise zurück. An diesem Abend bekomme ich kein Auge zu und als ich morgens um sechs immer noch wach liege, schreibe ich Anjo eine SMS, dass ich heute nicht zur Schule komme. Jana hat ruhig geschlafen und sie sieht mit einem Blick, dass ich nicht eine Minute Schlaf bekommen hab. Schweigend deckt sie mich zu, nachdem sie aufgestanden ist, gibt mir einen Kuss auf die Wange und flüstert mir zu, dass sie Brigitte und Johannes Bescheid gibt, dass ich heute nicht zur Schule gehe. Im Moment fühle ich mich wie ein kleiner Bruder, der von seiner großen Schwester umhegt wird. Erst um halb neun schlafe ich endlich ein und bin dankbar, dass heute Freitag ist und ich morgen nicht noch mal die Schule verpasse, wenn ich nun meinen Schlafrhythmus ruiniere. Um drei krieche ich völlig erschlagen aus den Federn und werde unten in der Küche kommentarlos von Margarete empfangen, die mich lediglich fragt, ob ich Frühstück möchte, oder lieber etwas von dem Gemüseauflauf, den es zum Mittag gab. Ich entscheide mich für Auflauf und schlurfe mit dem dampfenden Teller durch den Flur, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Brigitte, Eileen und Lydia sitzen auf einem der flauschigen Teppiche und puzzeln gemeinsam. »Hallo«, sage ich verlegen und trete ein. »Na, hast du noch ein bisschen geschlafen?«, erkundigt sich Brigitte lächelnd und ich nicke, ehe ich mich mit dem Teller auf einem der Sessel niederlasse. »Guck mal Benni, wir machen Cinderella!«, verkündet Lydia begeistert und hält den Deckel des Puzzles hoch, damit ich das Motiv darauf bewundern kann. »Cool«, sage ich und schaffe ein ganzes Lächeln. »Ist das deine Lieblingsprinzessin?« »Nein«, meint Lydia nach ernsthaftem Nachdenken und schaut den Deckel an. »Ich mag Tiana am liebsten.« Ich habe leider Gottes keine Disneykindheit hinter mir und habe deswegen keine Ahnung, wer Tiana ist. »Wer ist Tiana?«, frage ich und Lydia schaut streng zu mir herüber, während ich meinen ersten Bissen Auflauf nehme. »Die Prinzessin mit dem Frosch!« Eileen grinst zu mir herüber. »Na, wollen wir Küss den Frosch anschauen und Benni mal zeigen, wie toll Tiana ist?«, erkundigt sie sich bei ihrer kleinen Schwester und Lydia klatscht begeistert in die Hände. »Ja, ja, ja!« Das Puzzle ist schnell vergessen und Eileen erhebt sich, um im DVD-Regal nach besagtem Film zu suchen. »Ich hoffe, dass das ok für dich ist«, sagt Brigitte mit entschuldigendem Blick. »Ach, klar. Ich hab ‘ne Menge Kinderfilme aufzuholen«, gebe ich zurück und sie grinst mich an. »Dann wünsche ich euch viel Spaß, ich werd mich mal um die Hunde kümmern«, meint sie. Und so kommt es, dass ich mit Lydia und Eileen Küss den Frosch gucke. Kurz vorm Ende versteckt Lydia sich hinter meinem Rücken, weil sie die Geister, die den Bösewicht mit auf die andere Seite nehmen, sehr gruselig findet. Dafür singt sie alle Lieder begeistert mit, fragt Eileen etwa hundert Fragen und erklärt mir, dass Tianas Kleid das schönste von allen Disneyprinzessinnenkleidern ist. Von den wenigen, die ich kenne, muss ich ihr eindeutig zustimmen. »Benni, weißt du was?«, sagt Lydia, nachdem der Film vorbei ist. »Was denn?«, antworte ich. »Ich hab nämlich schon mal Evangeline gesehen!« »Echt? Und? War Ray auch dabei?«, frage ich. Sie nickt ernsthaft. »Ja, ich glaube, die haben geheiratet«, erklärt sie beflissen und rutscht von der Couch. »Bestimmt«, meine ich lächelnd und greife nach meinem leeren Teller, um ihn in die Küche zu bringen. »Kommst du wieder und hilfst mir beim Puzzeln?«, ruft sie mir hinterher. »Klar!« * Mir bekommt die laufende Gerichtsverhandlung wirklich nicht gut. Ich bin unkonzentriert beim Lernen und bei den Hausaufgaben, meine mündliche Beteiligung in der Schule geht wieder zurück und beim Training – so muss ich zu meinem Leidwesen feststellen – habe ich erneut Aussetzer. Es ärgert mich maßlos, weil ich es endlich geschafft hatte, mich zu beherrschen. Immer macht dieser Arsch von Erzeuger alles kaputt. Gabriel mustert mich besorgt, nachdem er mich aus dem letzten Blackout zurückholt. Ich hatte die letzte Woche überhaupt keine Zeit darüber nachzudenken, dass wir ja irgendwie angefangen haben auszugehen. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm erklären sollte, wieso es mit mir wieder bergab geht und wieso ich kaum spreche oder lächele. Aber dieser anhaltende Druck der Verhandlung lastet tonnenschwer auf meinen Schultern. Christian weiß natürlich was Sache ist und hat wie am Anfang ein besonderes Auge auf mich. Ist vermutlich besser so. In meinem jetzigen Zustand bin ich wohl eine Gefahr für die Allgemeinheit. »Ist alles ok?«, fragt Gabriel mich nach dem Training. Ich ringe mit mir und schüttele schließlich den Kopf. »Willst du drüber reden?«, erkundigt er sich behutsam und ich beobachte einen Wassertropfen, der sich aus seinen schwarzen, frisch gewaschenen Haaren löst und seinen Oberkörper hinunterrinnt. Unter anderen Umständen hätte mich diese Beobachtung vermutlich an den Rande eines nervösen Zusammenbruchs getrieben, aber gerade kann ich einfach nichts fühlen außer Wut und Angst vor der nächsten Gerichtsverhandlung. »Nein. Grad nicht«, gebe ich zurück und starre auf den Linoleumboden der Umkleide. Die anderen gehen an uns vorbei und verabschieden sich, ich sehe keinen von ihnen an. »Ok«, sagt Gabriel leise und mustert mich noch einen Moment lang besorgt. Ich stopfe meine Sportsachen in meine Tasche und bücke mich, um meine Schuhe zuzubinden. »Ich hab über deine Aussetzer nachgedacht«, meint Gabriel dann und ich halte kurz inne ohne aufzublicken. »Vielleicht kannst du‘s mal mit Meditation probieren. Mein Bruder hat nach meinem Aussetzer ganz viel mit mir meditiert, das hat ein wenig geholfen.« Ich binde die Schleife zu Ende und denke darüber nach, wie ich meine Ausraster bereits unter Kontrolle hatte, einfach, weil ich mich jetzt in einer sicheren Umgebung befinde. Aber darüber will ich im Augenblick nicht sprechen, als sehe ich unsicher zu Gabriel hinüber und schultere meine Sporttasche. »Ja... vielleicht«, gebe ich vage zurück und habe den plötzlichen Drang aus der Umkleide zu rennen. Ich bin eigentlich wirklich nicht bereit für so etwas wie Ausgehen. Ich hab so viele Baustellen...Womöglich sollte ich Gabriel das einfach sagen. Es war eine blöde Idee. Ich kann das nicht. Für sowas wie eine etwaige Beziehung – und ich kriege beinahe schon wieder einen halben Nervenzusammenbruch, als ich daran denke – bin ich einfach zu kaputt. »Mach’s gut«, sage ich stattdessen, weil ich nicht den Arsch in der Hose habe, Gabriel zu sagen, was los ist. Ich kann förmlich spüren, wie er mir nachsieht und vielleicht bereut er es jetzt schon, sich mit so einem Trottel wie mir eingelassen zu haben. Ich kann es ihm nicht verübeln. Statt den Bus zu nehmen, gehe ich den ganzen Weg bis zum Haus von Christians Familie zu Fuß. Es schweinekalt und ein bisschen neblig. Es dauert über eine Stunde, bis ich angekommen bin und ich gönne mir eine viertelstündige, heiße Dusche und einen Pfefferminztee, um mich wieder aufzuwärmen. Es ist angenehm, dass ich niemanden in dieser Familie erklären muss, wieso es mir nicht gut geht und wieso ich mich einigele. Ich erledige mit Ach und Krach die Hausaufgaben, die wir am Freitag bekommen haben und die Anjo und Lilli mir zusammen gesammelt haben. Danach lege ich mich einfach ins Bett und denke über Gabriel nach. Vielleicht sollte ich ihm eine SMS schreiben und mich für mein abweisendes Verhalten entschuldigen? Oder eine Nachricht, in der steht, dass das mit dem Ausgehen eine schlechte Idee war? Aber sowas macht man besser persönlich. Den Nachmittag über schneien Tim, Eileen und Jana herein. Tim besteht auf ein paar Runden Mario Kart, Eileen will sich einfach nur mit mir unterhalten – auf Englisch, zur Abwechslung mal wieder, und ich meistere es eigentlich ganz gut – und Jana setzt sich einfach zu mir ans Bett und spielt mir ein wenig auf ihrer Klarinette vor. Auch, wenn es mich anstrengt, mit Menschen zu interagieren, ist es gut, dass sie mich nicht alle komplett in Ruhe lassen. Ich habe immer noch das Problem mit dem Alleinsein und den schrecklichen Gedanken, die am Rande meines Bewusstseins lauern und nur darauf warten, dass Stille sich um mich herum senkt und niemand mehr da ist, um mich abzulenken. Also zwinge ich mich vom Dachboden herunter. Ich male mit Lydia ein paar Bilder in einem Malbuch aus, helfe Margarete dabei, einen Berg Brote zum Abendessen zu schmieren, und übernehme gemeinsam mit Franzi den Katzenklodienst. Das alles hat den Vorteil, dass ich mir über Gabriel nicht mehr allzu viele Sorgen machen muss. Diese Familie, ob bewusst oder unbewusst, hat es einfach drauf mich abzulenken. »Benni! Telefon!« Eileen reicht mir den Hörer und formt mit den Lippen den Namen Anjo und ich verschwinde aus dem Wohnzimmer, um wieder hoch auf meinen Dachboden zu steigen. »Wie geht’s dir?«, will Anjo wissen. Es ist gut, seine Stimme zu hören, auch wenn ich Telefonieren merkwürdig finde. Ein komisches Konzept, die Stimme eines Menschen zu hören, aber ihn nicht dabei zu sehen. »Geht so«, antworte ich wahrheitsgemäß, auch wenn es mir heute schon besser geht als gestern oder früher am Tag, als ich meinen Aussetzer hatte. »Willst du erzählen, wie‘s gelaufen ist, oder lieber nicht?« Ich seufze und denke kurz darüber nach, aber dann entschließe ich mich dazu, dass es eine bessere Idee ist, mit Anjo darüber zu sprechen, als alles in mich hinein zu fressen. Stockend erzähle ich von meinen Schwierigkeiten und dem positiven Feedback der Anwältin und von Janas Mut und dann erzähle ich auch noch von Gabriel und dem Training und meinem Aussetzer und dass ich denke, dass ich das mit Gabriel doch lieber lassen sollte. Anjo unterbricht mich nicht und hört einfach nur schweigend zu. Das kann er wirklich gut. Wenn er einem zuhört, dann ist es, als würde sein Schweigen die Worte aus einem heraussaugen. Die giftigen Worte, die man sonst in sich drin behält und im Kopf herumwälzt und die nachts laut werden und einen schlaflos im Bett liegen lassen. »Also willst du sozusagen Schluss machen, bevor es überhaupt losgegangen ist? Aus Vorsicht?«, erkundigt sich Anjo und ich trete an eins der Dachfenster. Draußen hat es angefangen zu schneien und auf den Fenstern haben sich schon einige Flocken gesammelt. »Ja, irgendwie schon. Ich weiß nicht... Ich glaub nicht, dass ich das hinkriege. Bin einfach zu verkorkst«, sage ich und höre selber, wie kläglich ich klinge. Eigentlich will ich Gabriel nicht vor den Kopf stoßen. Ich kann ihn wirklich gut leiden. Anjo scheint so etwas zu ahnen. »Wäre es aber nicht sinnvoller, wenn du erstmal mit ihm über deine Zweifel redest und dann schaust, ob er es sich nicht trotzdem vorstellen kann? Ich meine... es ist natürlich nicht dasselbe, aber ich war schon ziemlich sauer, als Chris mir die Entscheidung über eine mögliche Beziehung komplett abnehmen wollte. Wenn du Gabriel erklärst, was dein Problem ist, dann möchte er es ja womöglich trotzdem probieren. Er scheint mir ganz der Typ dafür zu sein, der für sowas eine Menge Verständnis hätte«, meint Anjo behutsam und natürlich macht es Sinn, was er sagt. Ich bin halt einfach der größte Feigling unter der Sonne. Allerdings tröstet es mich ein wenig, dass Christian so eine Situation genauso verkackt hat wie ich. Er ist eben doch nicht perfekt. Anjo und ich telefonieren fast eine Stunde, bevor er sich schließlich zum Abendessen verabschiedet und ich den Hörer wieder nach unten bringe. Unschlüssig mit mir und der Welt beschließe ich, mit den Hunden rauszugehen. Es scheint so, als wären lange Spaziergänge hilfreich für mich, einen klaren Kopf zu bekommen. Außerdem mag ich Schnee. Die Hunde freuen sich scheinbar genauso über den Schnee wie ich, denn als ich mit ihnen bei den Feldern angekommen bin und sie von der Leine lasse, springen sie wie wild herum und versuchen nach einzelnen Flocken zu schnappen. Ich beobachte sie eine Weile und setze mich auf eine der Bänke am Wegrand. Schamerfüllt erinnere ich mich daran, wie ich das eine Mal vor Weihnachten ausgebüchst und genau hier gelandet bin. Mittlerweile kenne ich den Weg zurück. Nachdenklich ziehe ich mein Handy aus der Jackentasche und öffne eine leere Nachricht. »Steht das Angebot mit dem Meditieren noch?« Ich betrachte die Worte eine ganze Weile lang und denke darüber nach, ob ich diesen Schritt gehen will. Aber Anjo hat Recht. Ich schulde Gabriel irgendeine Art von Erklärung und weniger Feigheit. Mit einem schweren Schlucken schicke ich die SMS ab und stecke das Handy zurück in die Jackentasche. Allerdings bleibt es dort nicht lang, da ich schon kurz darauf eine SMS zurück bekomme. »Klar. Ich hab morgen Abend Zeit, wenn du willst. Und sonntags ist die Halle bei uns auch frei.« Ich schlucke erneut und atme die kalte Abendluft ein. Es ist erst fünf und schon stockduster. Es ist gut die Hunde zu hören, damit es nicht ganz so still ist. Das Handy vibriert erneut. »Hast du vielleicht Lust vorher mit mir und meinen besten Freunden eine heiße Schokolade trinken zu gehen? Die beiden kommen zu Besuch und wollen dich gern kennen lernen.« Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke und starre auf die neuen Worte. Beste Freunde kennen lernen? Morgen? Weil sie mich sehen wollen? Ich bin kein Vorzeigemensch. Oh Gott. Es vibriert erneut. »Du musst nicht, wenn du im Moment nicht zu sowas aufgelegt bist. Ich bin natürlich nicht sauer, wenn du absagst!« Er soll aufhören, so verdammt nett und zuvorkommend zu sein. Ich raufe mir zehn Minuten lang die Haare und stehe dann abrupt auf, als hätte ich mir gerade vorgenommen, in den Kampf zu ziehen. Schluss mit dem Verstecken, Benni. Gabriel mag dich schließlich, also finden seine besten Freunde dich vielleicht auch nicht ganz blöd. Außerdem muss ich zugeben, dass ich durchaus ein wenig neugierig auf die beiden bin. Ich hole einmal tief Luft und tippe eine Antwort. »Klingt gut. Wann und wo?« Wenn mich das nicht von der beschissenen Verhandlung ablenkt, dann weiß ich auch nicht mehr. Kapitel 15: Das gescheiterte Meditieren --------------------------------------- Was habe ich mir nur dabei gedacht, zuzusagen? Ich kann Gabriels beste Freunde auf keinen Fall kennen lernen. Sie werden mich hassen. Garantiert. Und ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich krieg meine Zähne ja in diesem Haushalt kaum auseinander, wie soll das dann erst mit zwei fremden Leuten werden, bei denen ich Wert darauf lege, dass sie mich nicht bescheuert finden? Oh Gott. Hatte ich erwähnt, dass ich nur noch etwa zehn Meter von dem kleinen Café entfernt bin, in dem ich Gabriel und seine beiden unheimlich wichtigen besten Freunde treffe. Ich kenne kein einziges Musical. Sie werden mich bescheuert finden… Gabriel sieht selbstredend umwerfend aus. Er trägt einen dunkelroten Pulli und eine hellblaue Jeans und ich würde ihm gern sagen, dass er der hübscheste Mann ist, den ich je gesehen habe, aber ich bin zu aufgeregt, um irgendetwas zu sagen, weswegen mein »Hallo« zu einem heiseren Gurgeln verkommt. »Hey! Wir haben da hinten in der Ecke einen Tisch ergattert«, erklärt Gabriel mir, nachdem er mich zur Begrüßung umarmt hat – allein das ist schon Grund genug für einen neuerlichen Herzinfarkt – und deutet auf einen kleinen runden Tisch ziemlich weit hinten in dem vollen Café. »Es gibt auch Waffeln«, sagt er grinsend. »Die mit Puderzucker. In Herzchenform.« Erde, tu dich auf und verschling mich. Der Gang zum Tisch kommt mir vor wie der Weg zum Galgen. Erik habe ich schon einmal kurz beim Training gesehen und ich erkenne ihn sofort. Seine offenbar dunkelrot gefärbten Haare stehen in alle Richtungen von seinem Kopf ab, er trägt ein bunt gemustertes, sehr enges Shirt und eine knallrote, nicht minder enge Hose. Ein dicker, gelber Wollschal macht den Paradiesvogeleindruck perfekt. Tessa hingegen sieht weniger bunt aus. Sie trägt ihre roten Haare kinnlang, hat eine gerahmte Brille auf der Nase und das gesamte Gesicht voller Sommersprossen. Ihr schwarzer Rollkragenpullover lässt sie ziemlich blass aussehen. Beide grinsen mir zu, als Gabriel und ich uns dem Tisch nähern und zu meinem Entsetzen erheben sie sich beide. »Hallo!«, sagt Erik begeistert und strahlt mich an wie ein explodiertes Atomkraftwerk, »Ich bin Erik! Darf ich dich umarmen?« Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder, gebe ein undefinierbares Geräusch von mir und nicke letztendlich ergeben, woraufhin sich Gabriels bester Freund um meinen Hals wirft. Ich taumele einen Schritt rückwärts und bin erstaunt, wie viel Kraft Erik hat, bis mir wieder einfällt, dass er sehr viel tanzt und dementsprechend vermutlich nicht viel weniger muskulös ist als Gabriel, auch wenn man es seiner Statur nicht ganz so doll ansieht. »Benni.« Wow, ich hab es geschafft meinen Namen zu krächzen. Erik entlässt mich aus seinem Schraubstockgriff und ich bin irgendwie froh, dass Tessa mit einfach schmunzelnd die Hand hinstreckt. »Schön, dass du kommen konntest«, sagt sie und drückt meine Hand. Ich schäle mich ungeschickt aus meiner dicken Jacke und Margaretes selbstgestricktem Schal und hänge beides über den letzten freien Stuhl, bevor ich mich neben Gabriel niederlasse. »Gabriel sagt, dass du euren Coach persönlich kennst«, meint Erik mit großen Augen und stützt sein Kinn auf seinem Handballen ab. Ich blinzele verwirrt und nicke dann. »Ja… er ist der Freund meines besten Freundes«, erkläre ich und denke unweigerlich an Christians und meine erste Begegnung. Damals waren die beiden noch weit davon entfernt ein Paar zu werden. Aber gut, diese Erklärung muss für die fremden Ohren genügen. »Schande, er ist vergeben«, sagt Erik theatralisch und schüttelt gespielt resigniert den Kopf. Tessa schnaubt. »Dein zweiter Besuch bei deinem besten Freund und du denkst schon wieder dran, Leute abzuschleppen?« »Hey! Ich habe Bedürfnisse!« »Kein Grund, Benni direkt zu vergraulen.« Ich schaffe es zwar nicht, meine Nervosität komplett abzustellen, aber es wird nach einiger Zeit besser und ich traue mich sogar, ein paar Fragen zu stellen. Gabriel und ich teilen uns eine Portion Waffeln, was bei seinen besten Freunden ein amüsiertes Schmunzeln und bei mir einen hochroten Kopf hervorruft. Erik erzählt von dem Kinderchor, den er leitet, und von seiner selbstgegründeten Musical-Gruppe, die in zwei Monaten ein eigens geschriebenes, kurzes Musical aufführen werden. Ich merke, dass ich mit meinem Leben noch nicht allzu viel angefangen hab, aber gut, wann auch, wenn ich die meiste Zeit versteckt in meinem Zimmer darauf gehofft habe, nicht verprügelt zu werden? Tessa redet bei weitem nicht so viel wie Erik und beobachtet schweigend und aufmerksam ihre Umgebung, eine Tatsache, die mich womöglich noch nervöser macht als Eriks blubbernde Art. Gabriel leuchtet richtig in der Gegenwart seiner besten Freunde und ich muss lächeln, als ich an Lilli und Anjo denke. Vielleicht wäre es mit den beiden andersrum. Lilli würde reden und Anjo würde schweigend zuhören. Ob ich mal dazu komme, Gabriel und die beiden einander vorzustellen? »Wie kommt’s, dass ihr nicht auch den Abend miteinander verbringt?«, will ich wissen als ich daran denke, dass Gabriel ja später noch mit mir meditieren will. »Erik und ich haben Karten fürs Theater und Gabriel steht nicht so auf Theater«, erklärt Tessa und nippt an ihrem Latte Macchiato. »Aber wir bleiben ohnehin noch ein paar Tage.« Ich bestelle eine heiße Schokolade und lausche interessiert, während es um die neue Kampfsportschule von Gabriels Familie geht, um Eriks Tanzbegeisterung, die er an Gabriel weitergegeben hat, und darum, dass Erik und Gabriel gern miteinander trainieren. »Wie macht ihr das?«, erkundige ich mich etwas verwirrt. »Es sieht eigentlich ein bisschen aus, als würden die beiden miteinander tanzen. Jeder zieht sein Ding durch, aber es schaut oft aus wie eine einstudierte Choreographie. Solltest du dir irgendwann mal angucken, es ist toll«, erklärt Tessa lächelnd. Ich wünschte, ich könnte einschätzen, ob sie mich total bescheuert findet. Erik scheint mit seiner offenen und spritzigen Art leicht zufriedenzustellen sein. »Das würd ich ja gern mal sehen«, murmele ich verlegen und nehme konzentriert die heiße Schokolade entgegen, die mir ein Kellner reicht. Ich sehe, wie Tessa und Erik sich einen Blick zuwerfen und dann anfangen zu grinsen. »Wir können ja noch in Gabriels Halle vorbeischauen«, meint Erik und das enthusiastische Funkeln in seinen Augen wirkt beinahe ein wenig gruselig. Ich schließe daraus, dass er schon länger nicht mehr mit Gabriel trainiert hat und deswegen ganz scharf darauf ist. »Wäre das ok für dich?«, fragt Gabriel mich, während ich in meine Schokolade puste, um sie etwas abzukühlen. Ich nicke nur und verbrenne mir ein wenig die Zunge, weil ich vor Verlegenheit einen zu schnellen Schluck nehme. Es macht mich immer noch unheimlich nervös, wenn Gabriel mich so ansieht. Wenn er mich irgendwie ansieht. Mit mir sind Hopfen und Malz verloren. »Wie schön«, sagt Tessa und streicht sich ein paar Strähnen ihrer roten Haare aus dem Gesicht. Sie sieht wirklich zufrieden aus. Aber mir wird bewusst, dass ich mit ihr zusammen und allein am Rand der Halle sitzen werde, während Gabriel und Erik sportliche Dinge miteinander tun… Es kann sich also nur noch um wenig Zeit handeln, bevor sie anfängt mich total bescheuert zu finden. Wenn sie das nicht jetzt schon tut. Ich bin normalerweise so gut darin, Menschen einzuschätzen, aber Tessa sitzt da lässig auf ihrem Platz und sieht aus wie ein unlösbares Mysterium. »Jetzt bin ich ein bisschen nervös«, sagt Gabriel leise zu mir und lächelt. Mein Herz stolpert heftig und ich habe einen Augenblick lang den dringenden Wunsch, seine Hand zu nehmen. Aber vor Tessa und Erik traue ich mich schließlich doch nicht und eine Viertelstunde später sind wir auf dem Weg zu der Kampfsportschule von Gabriels Familie. Es gibt mehrere Trainingsräume und eine kleine Halle. All die Räume sind momentan leer und Erik und Gabriel entscheiden sich für die Halle, weil sie offensichtlich ziemlich viel Platz brauchen. Während die beiden sich umziehen und dann anfangen sich aufzuwärmen, setze ich mich mit Tessa an den Rand auf eine kleine Sitzbank. Ich verschlinge nervös meine Finger ineinander und sehe unverwandt Gabriel und Erik an, die sich gemeinsam Dehnen. Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwas sagen sollte. Sag irgendwas. Irgendwas, Benni. Los. »Wie habt ihr euch kennen gelernt?«, frage ich, nachdem ich mich zwei Mal versuchsweise geräuspert habe. Tessa gruselt mich. Wir beide sehen weiterhin hinüber zu Gabriel und Erik, die mittlerweile schwer atmen, was wohl bedeutet, dass das Aufwärmen bald abgeschlossen sein wird. Zu meinem Entsetzen hat Gabriel beschlossen, dass das Trainieren ohne Oberteil am besten wäre und sein freier Oberkörper schreit nach Aufmerksamkeit, aber ich bemühe mich, ihn so gut es geht zu ignorieren. »Ich kenne Erik schon seit dem Kindergarten«, sagt Tessa und betrachtet ihre Fingernägel. Sie ist sehr hübsch. Nicht unbedingt zahnpastamodelhübsch, aber eindeutig hübsch wie ein Waldbrand. Man sieht sie fasziniert und bewundernd an, aber man kommt ihr womöglich besser nicht zu nahe. »Gabriel haben wir in der siebten Klasse kennen gelernt. Erik ist damals kurz nach Schulbeginn im Rock zur Schule gekommen…« Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke und lasse es zu einem trockenen Hüsteln verkommen. Klar. Erik im Rock. Wieso wundert mich das nicht? Er scheint wirklich ein Paradiesvogel zu sein. »Wahrscheinlich kannst du dir ungefähr vorstellen, wie die anderen das fanden«, fährt Tessa fort und ich riskiere einen Blick zu ihr hinüber. Sie mustert Gabriel und Erik mit schief gelegtem Kopf, während sie sich behutsam ihre Brille auf der Nase nach oben schiebt. »Allerdings«, gebe ich zurück. Tessa dreht den Kopf und betrachtet mich. Es ist ein Blick, der so durchdringend ist, dass ich mich plötzlich sehr klein fühle. »Im Sportunterricht wollten ein paar der Jungs Erik draußen stehen lassen«, erklärt Tessa und schaut wieder hinüber zu Erik und Gabriel, was mich leicht aufatmen lässt. Mein Magen zieht sich zusammen bei der Erinnerung an Anjo, den ich nicht in die Jungenumkleide gelassen habe. »Und Gabriel hat die Tür aufgemacht und zu ihnen gesagt, dass sie nur Schiss haben, dass unter Eriks Rock mehr steckt, als bei ihnen in der Hose und sie sich gefälligst verpissen sollen…« Ich wage einen weiteren Blick auf Tessa und stelle fest, dass sie bei der Erinnerung daran lächelt. Es bereitet mir überhaupt keine Probleme, mir einen dreizehnjährigen Gabriel vorzustellen, wie er wütend die Tür aufreißt und diese Jungs anmeckert. Lillis Stimme hallt durch meinen Kopf und ihre wütenden Augen starren in meinen Gedanken direkt in meine. »Halt die Schnauze und werd erwachsen. Elendes Weichei!« Vermutlich haben Gabriels Augen genauso dreingeblickt wie die von Lilli. »Gabriel hat Erik und mir beigebracht, nie vorschnell über irgendwen zu urteilen. Wen man nicht kennt, den kann man auch nicht verabscheuen. Und er war unheimlich wütend auf sich, als ihm klar geworden ist, dass er angefangen hat zu urteilen. Über dich zum Beispiel. Diese homophoben Arschlöcher haben ihn dazu gebracht schneller zu urteilen. Er hat ein schlechtes Gewissen deswegen.« Ich blinzele überrascht. Meine Augen folgen Gabriel. Die Vorstellung, dass auch er sich selbst manchmal verabscheut, kommt mir merkwürdig vor. »Deswegen ist er wieder viel ruhiger geworden, seit er mit dir zu tun hat. Er hat dich falsch beurteilt und das hat ihm gezeigt, dass seine vorherige Philosophie richtig war. Du hast ihn eines Besseren belehrt, nachdem er dich in eine Schublade sortiert hatte. Es ist ein bisschen, als hättest du seinen Glauben an die Menschheit wieder zurückgeholt.« Tessa dreht sich zu mir um und lächelt mich an. Und zum ersten Mal, seit ich sie getroffen habe, erkenne ich ganz klar, welche Emotionen sie gerade bewegen. In diesem Moment ist es Dankbarkeit. Ich bin mir zwar nicht sicher, dass ich sie verdient habe, aber sie ist da. Der Gedanke, dass gerade ich Gabriels Glauben an das Gute im Menschen wiederbelebt habe, ist völlig unvorstellbar und trotzdem muss ich so breit Lächeln, dass es sich anfühlt, als würden meine Mundwinkel gleich meine Ohren erreichen. »Tessa? Machst du mal Musik an?«, ruft Erik zu uns herüber und Tessa steht auf, geht in die kleine Kabine, die an die Halle grenzt, und ich bin einen Augenblick lang verwirrt, aber dann erinnere ich mich daran, dass Erik ja tanzt und dass die drei meinten, dass das gemeinsame Training oft aussieht wie eine einstudierte Choreographie. Erik und Gabriel stehen sich jetzt gegenüber und ich sehe fasziniert zu, wie sich jeder sichtbare Muskel in Gabriels Körper anspannt. Die Musik, die dann laut durch die Halle tönt, kenne ich nicht, aber sie lässt mir Gänsehaut über die Unterarme kriechen. Es ist ein instrumentales Stück und ich will Tessa gerade fragen, wie die beiden darauf gekommen sind, gemeinsam auf diese Art zu trainieren, als Bewegung in Gabriel und Erik kommt und ich kein Wort mehr herausbringe. Erik und Gabriel lassen so selten wie nur möglich die Augen voneinander und wenn ich nicht wüsste, dass es unmöglich ist, dann würde ich denken, dass sie telepathisch miteinander kommunizieren. Es ist ein Wirbel aus Körpern, die so mühelos aufeinander eingehen, als wären sie zwei Teile eines großen Ganzen. Gabriels Bewegungen variieren zwischen Härte und fließender Weichheit und Erik scheint vollkommen aus Gummi zu sein. Er verbiegt sich und dreht sich und sieht bei jeder seiner Bewegungen so elegant aus, als wäre er tanzend auf die Welt gekommen. Wenn Gabriel in Eriks Richtung tritt, dann biegt sich Erik zur Seite, um dem Tritt zu entgehen. Wenn Erik Gabriel mit einer Pirouette zu nah kommt, dann wirbelt Gabriel aus seiner unmittelbaren Reichweite, nur um dann wieder von seinem besten Freund angezogen zu werden, als wären sie Planet und Mond, die sich der Schwerkraft des jeweils anderen nicht entziehen können. Ich bin neidisch, weil ich nicht tanzen kann und weil ich nicht sportlich und geübt genug bin, um jemals so etwas mit Gabriel zu tun. Es ist das Schönste, was ich jemals gesehen haben und erst, als Tessa mir sachte den Finger unter das Kinn legt, stelle ich fest, dass mein Mund halboffen stand. »Was für Musik ist das?«, krächze ich verlegen und richte mich ein wenig auf, ohne meine Augen von dem ineinander versunkenen Paar zu wenden. »Das erste Lied war aus dem Soundtrack von Fluch der Karibik. Das jetzt kommt aus dem Musical König der Löwen«, erklärt sie. Auch sie mustert die beiden mit einem Funkeln in den Augen, aus dem ich Stolz und Begeisterung und sehr viel Liebe lese. Das Lied wird für kurze Zeit langsamer und Erik und Gabriel bewegen sich kreisend umeinander herum wie zwei Raubtiere, die jeden Moment zum Sprung ansetzen könnten, bis die Musik wieder schneller wird und ich zwischenzeitlich kaum ausmachen kann, welche Gliedmaßen zu wem gehören. »Ich hatte noch nie das Bedürfnis, tanzen zu können«, platzt es aus mir heraus und Tessa lacht leise. »Ja, ich kann’s auch nicht besonders gut. Nicht gut genug für sowas, auf jeden Fall«, gibt sie zurück. Es dauert ein paar Sekunden, bis Tessa wieder spricht. »Dieser Junge, den Gabriel verprügelt hat, der hat Glück gehabt«, meint sie leise. Ich runzele verwirrt die Stirn, will Tessa aber nicht ansehen, weil ich dann meinen Blick von dem spektakulären Schauspiel vor mir abwenden müsste. »Glück?«, gebe ich fragend zurück. Soweit ich gehört hab, hatte der Kerl nicht wirklich das, was man Glück nennt. »Du siehst ihn doch«, sagt Tessa. »Er ist schnell, gelenkig und stark. Ein falsches Wort und man liegt am Boden, bevor man überhaupt blinzeln kann. Seit er sechs ist, macht er die verschiedensten Sportarten. Ich weiß nicht, ob es irgendwas gibt, was er noch nicht ausprobiert hat. Tischtennis, Schwimmen, Capoeira, Leichtathletik… Ich glaub, der einzige Mensch, von dem ich weiß, der Gabriel im Zaum halten könnte, wenn er mal austickt, ist sein Bruder.« Mir war immer irgendwie klar, dass Gabriel gefährlich ist. Aber wahrscheinlich hat Tessa Recht. Der Junge hat Glück gehabt. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so bewegt wie Gabriel. Dumpf frage ich mich, was für eine krasse Kampfmaschine Gabriels Bruder sein muss, wenn er Gabriel überlegen ist. Nach fünf Liedern halten Erik und Gabriel schließlich inne. Keuchend und schwitzend wenden sie sich strahlend zu uns beiden um und ich schwanke zwischen dem Bedürfnis, den beiden zu applaudieren und zu Gabriel zu rennen und ihn besinnungslos zu knutschen. Letztendlich tue ich nichts von beidem, sondern sehe nur zu, wie Erik und Gabriel sich gegenseitig auf die Schulter klopfen. »Und? Wie fandest du es?«, will Gabriel schwer atmend wissen und bleibt vor mir stehen. »Beeindruckend«, gebe ich peinlich berührt zurück und Gabriel strahlt zu mir herunter. Ich sehe einer Schweißperle zu, wie sie seinen Oberkörper hinunterläuft und in seinem Bauchnabel verschwindet. Reiß dich zusammen, Benni! * »Deine Freunde sind nett«, erkläre ich Gabriel, als wir allein sind, nachdem Tessa und Erik sich wegen des Theaterstücks von Gabriel und mir verabschiedet haben. Wir sind wieder in die Halle und Gabriel hat die Lichter gedämmt, sodass wir nun mehr oder minder im Dunkeln mitten in der Halle sitzen. Gabriel hockt hinter mir, während ich meine Beine in einem Schneidersitz gekreuzt habe. Die Tatsache, dass ich ihn nicht sehen, sondern nur hinter mir fühlen kann, macht mich ziemlich nervös. Auf die übliche, kribbelige Art und Weise. »Freut mich, dass du sie magst. Die beiden konnten dich auch echt gut leiden«, entgegnet er und ich höre das Lächeln in seiner Stimme. Erleichtert atme ich aus. »Gott sei Dank«, murmele ich und Gabriel lacht leise. »Es ist schwer, dich nicht zu mögen«, versichert er mir und legt seine Hand auf mein Kreuz, um mich dazu zu bringen, mich gerade hinzusetzen. Mein Magen fühlt sich an wie ein Ameisenhaufen. Mir fällt es sehr schwer, mich zu mögen. Aber ich muss ja auch Tag und Nacht mit mir leben. Ich bin nicht sicher, ob heute der beste Tag zum Meditieren ist. Ich muss die ganze Zeit an Gabriel denken, wie er mit Erik durch die Halle gewirbelt ist und wie wunderschön er dabei aussah. Das wiederum macht mich aufgeregt und wer aufgeregt ist, der kann sich nur schlecht entspannen. Aber ich kann Gabriel ja schlecht mitteilen, dass ich so unter Strom stehe, dass ich leider Gottes nicht erfolgreich sein werde. Die ganze Atmosphäre trägt nicht dazu bei, mir ein ruhiges Gemüt zu verschaffen und ich zwinge mich, langsam ein- und auszuatmen. »Ok… Atmung ist sehr wichtig. Mach deine Augen zu«, sagt Gabriel leise hinter mir und ich gehorche ihm mit hämmerndem Herzen. Entspannung, wo bist du? Ich brauche dich, denke ich mir verzweifelt. Doch es hilft alles nichts. Alles Meditieren und all mein Bemühen um Disziplin ist vergessen, als Gabriels Atem meinen Nacken streift und mir ein heißer Schauer den Rücken herunter läuft. Die kühle Luft in der Halle scheint plötzlich vor Hitze zu flimmern und ich bin mir seiner Gegenwart hinter mir überdeutlich bewusst. Der Geruch seines Shampoos steigt mir in die Nase, vermischt mit etwas anderem, anziehendem. Womöglich würde Gabriel auch so riechen, wenn er nicht nach Shampoo duftet. Ich spüre, wie meine Hände schwitzig werden und mein Herz alles andere als einen entspannten Rhythmus anschlägt. Meine Augen klappen automatisch wieder auf. »Alles ok?«, flüstert Gabriel. Diesmal streicht sein Atem über mein linkes Ohr und auf meinen Armen bildet sich eine sehr deutliche Gänsehaut. Ich bin mir peinlich bewusst, dass Gabriel das ganz sicherlich nicht entgeht. Ich möchte ihm eigentlich gern antworten, aber meine Stimme scheint mir verloren gegangen zu sein. Statt einer artikulierten Antwort entkommt mir ein heiseres Geräusch und ich lasse mich unweigerlich ein wenig nach hinten sinken, sodass ich Gabriels Körperwärme deutlich durch mein T-Shirt spüren kann. Gabriel atmet langsam und tief ein, dann fühle ich behutsame Fingerspitzen an meiner Seite, die sich nach vorn zu meinem Bauch tasten, bevor Gabriels Arme mich in eine sachte Umarmung ziehen. Ich lehne schwer atmend an seinem Brustkorb und muss die Augen wieder schließen, weil das blasse Licht der Straßenlaternen von draußen vor meinen Augen zu flimmern begonnen hat. Mein Herzschlag läuft einen Marathon und mein Magen kribbelt so heftig, dass ich sicher bin gleich vom Boden abzuheben. Oh Gott. Seine Hände auf meinem Bauch lassen eine Hitzewelle in mir aufsteigen und ich wünsche mir plötzlich nichts sehnlicher, als dass Gabriel seine Finger unter mein Shirt schiebt und meine nackte Haut berührt. Im nächsten Augenblick legen sich weiche Lippen auf meinen Nacken und ich gebe ein überraschtes Keuchen von mir. »Darf ich?«, flüstert er und sein Atem kitzelt ein wenig auf meiner Haut. Ich schaffe es nur mit Müh und Not zu nicken und presse entschlossen die Lippen aufeinander, um nicht noch mehr peinliche Geräusche von mir zu geben. Gabriel haucht behutsame Küsse auf die offenkundig sehr empfindliche Haut in meinem Nacken und ich spüre, wie sich die feinen Härchen dort hinten aufstellen. Als ich seine Zunge spüre, bringt alle Zurückhaltung nichts mehr, ich japse erschrocken und erregt nach Luft. Ich meine zu bemerken, wie Gabriels Lippen auf meiner Haut sich zu einem Lächeln verbiegen und im nächsten Moment schieben seine schlanken Finger sich unter mein Shirt. Sie sind warm und tastend und wahnsinnig aufregend, zeichnen brennende Linien auf meine Muskeln und ich hätte nie gedacht, dass fremde Hände auf meinem Körper sich so überwältigend gut anfühlen können. Mein Kopf dreht sich automatisch zur Seite und ich biege meinen Hals ein wenig, um Gabriel mehr Angriffsfläche zu bieten. Ich kann es nicht fassen, dass diese Dinge gerade passieren. Wir sind hierher gekommen, damit er mir zeigen kann, wie man am besten meditiert. Und jetzt... jetzt streicheln Gabriels Hände jeden Zentimeter meines Oberkörpers und seine Zähne und Lippen rufen Gefühle in mir hervor, von denen ich nie gewusst habe, dass mein Nacken sie mir bescheren könnte. Gabriel saugt behutsam an meiner Halsbeuge und ich frage mich neblig, ob ein Fleck zurückbleiben wird. Ich bin sicher, dass ich niemals genug von diesen Zärtlichkeiten bekommen kann. Vielleicht muss ich auf ewig hier mit Gabriel sitzen bleiben, um seine Lippen und Finger auf meiner nackten Haut zu fühlen. Meine Jeans spannt mittlerweile etwas unangenehm und ich kann seit dem ersten Atemhauch auf meinem Nacken nicht mehr geradeaus denken. Ich möchte Gabriel auch berühren und – verfluchte Scheiße nochmal – ich will ihn küssen. Ich will diese Lippen auf meinem Mund spüren, seine Zunge an meiner, ich will ihm so nah wie nur möglich sein und seine nackte Haut an meiner eigenen fühlen. Wenn ich mich jetzt umdrehe, dann hört er vielleicht auf. Oh Gott, er darf auf keinen Fall aufhören. Meine Hände, die sich bisher auf dem Hallenboden unter uns abgestützt haben, fangen an, rastlos über den Boden zu wandern und vielleicht versteht Gabriel, was mein Problem ist, denn ich spüre, wie er sich hinter mir bewegt und im nächsten Augenblick sitzen wir voreinander und starren uns an. Ich kann seine Gesichtszüge nur verschwommen ausmachen, weil es wirklich sehr dunkel ist und das schwache Licht von draußen nicht wirklich hilft. Ich wünschte, ich könnte aus seiner Mimik irgendetwas ablesen. Neugier, Verlangen womöglich, egal wie unwahrscheinlich ich es auch finde, dass jemand mich so sehr will, wie ich Gabriel gerade berühren möchte. Gabriel hebt eine seiner Hände zu meinem Gesicht und streicht mir sachte über die Wange, den Hals hinunter und dann bleiben seine Finger auf meinem Brustkorb liegen, dort, wo mein Herz wie verrück hämmert. Ich sehe, wie sein Mund sich zu einem Lächeln verzieht und muss verlegen schlucken. Doch dann tastet er mit seiner freien Hand nach meinen Fingern und legt sie dort ab, wo ich seinen Herzschlag ebenfalls fühlen kann. Überrascht und überwältigt stelle ich fest, dass Gabriels Herz genauso heftig pocht wie meines. »Ich möchte dich wirklich gern küssen«, sagt Gabriel sehr leise und der heisere Klang seiner Stimme schickt etwas wie einen erregten Stromschlag durch meinen Körper, direkt in die Mitte. Ich glaube, ich sterbe. »Ok«, flüstere ich zurück und er rutscht noch ein Stück näher, sodass seine Knie im Schneidersitz nun auf meinen ruhen, beugt sich vor und unsere Nasen berühren sich kurz, dann kippt sein Kopf leicht zur Seite und sein Mund presst sich behutsam auf meinen. Ich halte den Atem an, meine Gedanken frieren ein und ich spüre, wie meine Augenlider sich flatternd schließen und meine Hände unsicher ihren Weg auf Gabriels Schultern und schließlich in seinen Nacken finden. Zunächst ist es nur eine tastende Berührung von Lippen und Gabriel löst sich kurz von mir, was ich mit einem verzweifelt-sehnsüchtigen Geräusch quittiere. Doch er hat offensichtlich nicht vor, sich gänzlich von mir zu lösen, denn sein Mund kommt zurück und diesmal küsst er mich richtig. Hitze ist kein Ausdruck für das, was jetzt in mir aufsteigt und sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitet. Unsere Lippen bewegen sich hungrig gegeneinander und als ich Gabriels Zunge zum ersten Mal an meiner eigenen spüre, gebe ich einen hingerissenen Ton von mir, den ich in einem klareren Augenblick garantiert als unheimlich peinlich empfunden hätte. Aber jetzt bringt er Gabriel dazu, den Kuss zu intensivieren, an meiner Unterlippe zu saugen und anschließend darüber zu lecken, sich mit seinen Fingernägeln in mein Shirt zu krallen... Als Gabriel in den Kuss keucht, bin ich sicher, dass ich jeden Moment explodieren werde. Und dann finde ich mich plötzlich auf dem Rücken wieder, meine Hände sind neben meinem Kopf auf den Hallenboden gepinnt und Gabriels Gewicht lastet auf meinem Unterkörper, was dieser mit einem Schauer wohliger Gefühle beantwortet. Einen Wimpernschlag lang bin ich hungrig nach mehr, dann wird meinem Körper klar, dass Gabriel viel stärker ist als ich und ich mich nicht mehr rühren kann. Mein Gehirn schaltet sich ein und jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an. Für ein paar Herzschläge bekomme ich keine Luft mehr und ein heftiger Fluchtreflex übermannt jeden meiner Sinne. Doch weil Gabriel Gabriel ist, bemerkt er sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist, und es kostet ihn scheinbar keinerlei Anstrengung, uns einmal herum zu drehen, sodass ich mich plötzlich über ihm wiederfinde und seine Hände nur noch locker auf meiner Hüfte ruhen. Er sieht mich von unten herauf aufmerksam an. »Entschuldige«, sagt er leise. »Ich hab kurz die Kontrolle verloren.« »Schon ok«, murmele ich und spüre, wie mich ein Gefühl des Wunders befällt, das nicht so recht glauben mag, dass Gabriel echt ist. Hier bei mir. Mit mir. Zusammen in einer dunklen Halle mit so viel Rücksicht auf all meine verkorksten Probleme und Zustände, mit so zärtlichen Händen und Berührungen, die ich auf diese Art noch nie in meinem Leben erfahren hab. Wow. Ich erinnere mich daran, dass Gabriel um Erlaubnis gebeten hat, mich zu küssen. Schwer schluckend öffne ich den Mund, um ihm dieselbe Frage zu stellen. Vielleicht hat er jetzt keine Lust mehr. Vielleicht hab ich die Stimmung verdorben... »Ja, bitte. Küss mich noch mal«, flüstert er lächelnd und mein Herz macht einen übermütigen Sprung in die Nähe meines Adamsapfels. Ich stütze mich auf den Unterarmen neben ihm ab und traue mich, eine meiner Hände in seinen weichen Haaren zu vergraben, bevor ich meine Lippen noch einmal auf seine drücke. Diesmal küssen wir uns langsamer, aber es fühlt sich nicht minder hungrig an. Am liebsten würde ich die ganze Nacht hier liegen und ihn küssen. Langsam und hastig und vorsichtig und gierig. Zugegebenermaßen ist der Boden in der Halle nicht das, was ich als bequem bezeichnen würde, aber trotzdem bleiben wir mehrere Stunden hier liegen. Ich kann es nicht so recht fassen. Gabriel hat mich geküsst. Ich hab Gabriel geküsst. Wir haben uns geküsst. Oh Gott. »Ich würde sagen, mit dem Meditieren sind wir großartig gescheitert«, murmelt Gabriel leise. Er hat sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergraben und seine Worte kitzeln ein wenig auf meiner Haut. Ich muss grinsen. »Zugegebenermaßen trauere ich nicht besonders darum, wenn ich daran denke, was wir stattdessen gemacht haben«, gebe ich zu und Gabriel lacht leise. »Hast Recht. Wir sollten uns öfter zum scheiternden Meditieren treffen«, entgegnet er, hebt den Kopf und schaut mich ganz aus der Nähe lächelnd an. Ich schlucke. »Ja, bitte.« Kapitel 16: Die nötige Aussprache --------------------------------- Jedes Mal, wenn irgendwas Entscheidendes in meinem Leben passiert, kriege ich eine Identitätskrise. Das geht mir wahnsinnig auf die Eier, allerdings hab ich angesichts der eben genannten Identitätskrise nicht wirklich Zeit, mich zu ärgern. Stattdessen bin ich damit beschäftigt, auf dem Dachboden der Familie Sandvoss auf und ab zu gehen und mir die Haare zu raufen. Immerhin bin ich mit meiner Krise nicht allein. Anjo und Lilli sitzen auf meiner Matratze, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und den aufmerksamen Augen immerzu auf mich gerichtet. Vielleicht, um sicherzustellen, dass ich mich nicht vor lauter Panik aus dem Fenster stürze oder eine Schneise in den Holzfußboden renne. Beides ist momentan nicht unwahrscheinlich. »Also, als er sagte, dass ihr euch jetzt öfter zum scheiternden Meditieren treffen solltet, dann war das doch eindeutig eine Metapher dafür, dass er öfter mit dir rummachen will. Ich glaube also kaum, dass es mies war. Mal abgesehen davon, dass ich noch nie mit jemandem drei Stunden oder länger rumgemacht hab, wenn ich es scheußlich fand«, meint Lilli ruhig und Anjo neben ihr nickt bestätigend. »Aber selbst, wenn das stimmt, dann weiß ich überhaupt nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll!«, gebe ich verzweifelt zurück und halte für ein paar Sekunden inne, ehe ich wieder von vorn damit anfange, das Zimmer mit meinen Schritten zu durchpflügen. »Also, entweder, du wartest einfach ab, oder du triffst dich noch mal mit ihm, um zu klären, wo genau ihr jetzt steht«, sagt Anjo beschwichtigend. Ich bleibe erneut stehen und entschließe mich letztendlich dazu, mich zu meinen beiden Vertrauten aufs Bett zu hocken. Ein Fortschritt, wenn auch ein kleiner. Darin bin ich ja gar nicht so schlecht. In kleinen Fortschritten. Ich muss nur aufhören, nach jedem leinen Schritt eine Panikattacke zu kriegen. Gabriel und ich haben uns geküsst. Lange. In einer Sporthalle. Es war ungemütlich, aber sehrsehr schön. Tessa und Erik haben uns beschmunzelt, als sie uns irgendwann dort auf dem harten Linoleumboden gefunden haben und ich bin rot angelaufen wie eine Verkehrsampel. »Meditation, was? Hat anders ausgesehen, als du versucht hast, es mir beizubringen«, hat Erik gesagt und mit den Augenbrauen gewippt. Gabriel hat schnaubend gelacht und den Arm um mich gelegt und ich bin einen kleinen Tod gestorben. Ein großer kann es nicht gewesen sein, da ich es mit dem letzten Bus bis zum Haus der Sandvoss‘ geschafft hab. »Oh Gott, ich bin so schlecht mit sowas«, klage ich und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Wieso muss das auch alles so schwer sein? Hey Gabriel, weil mein Vater mich fast mein ganzes Leben lang verprügelt und terrorisiert hat, bin ich heute ein Versager, wenn es um Gefühle und Bindungen und Vertrauen geht, weswegen ich leider nicht sicher bin, ob ich mich auf eine Beziehung einlassen kann. Beziehung. Verfluchter Scheißdreck, ich glaub, ich muss mich übergeben. »Bad«, bringe ich noch heraus, bevor ich vom Bett aufspringe und so schnell ich kann die steile Treppe vom Dachboden herunter klettere, um ins nächste Bad zu stürzen, die Tür hinter mir zuzuknallen und mich tatsächlich ins Klo zu erbrechen. »Scheiße«, murmele ich immer wieder zwischen den Würgeattacken und ich traue mich erst nach geschlagenen zehn Minuten, mir die Zähne zu putzen, das Bad zu verlassen und wieder auf den Dachboden zurückzukehren. »Geht es? Hier, trink was«, sagt Anjo besorgt und reicht mir ein Glas Wasser. Ich habe noch Zahnpastageschmack im Mund, aber Wasser ist vermutlich keine üble Idee. »Du bist blass wie ‘ne Tapete geworden«, meint Lilli und fühlt meine Stirn. Ich seufze resigniert und leere das Glas, bevor ich es neben die Matratzen stelle. »Ich hab das Wort Beziehung gedacht, da musste ich kotzen«, erkläre ich nüchtern und sehe, wie Lilli und Anjo einen Blick tauschen. Ja, ich bin ein psychisches Wrack. Immer noch. Wer weiß, wann es aufhört. Vielleicht bin ich in vierzig Jahren immer noch so, wenn ich so lange lebe. Es ist wahrscheinlicher, dass ich vorher an einem Herzinfarkt sterbe. »Vielleicht ist es auch einfach noch nicht die richtige Zeit…?«, gibt Anjo vorsichtig zu bedenken und streicht mir behutsam über die Rücken. Ich gebe ein Geräusch von mir, das nach einer Mischung aus resigniertem Seufzen und verächtlichem Schnauben klingt. »Es wird nie die richtige Zeit sein. Ich bin einfach total durch mit der Welt«, grummele ich, jetzt auf einmal eher sauer auf mich als panisch. Wieso bin ich so ein verdammter Angsthase? Ich hab doch nicht jahrelang Prügel eingesteckt, um mich jetzt vor den guten Sachen zu verstecken. Teufel nochmal. »Gib mir mein Handy«, sage ich entschlossen zu Lilli, die am nächsten bei meinem Handy sitzt, und sie reicht es mir widerstandslos. »Was passiert jetzt?«, will Anjo wissen und klingt ein wenig ängstlich, als könnte ich jeden Moment Amok laufen, aus Wut darüber, was für ein Armleuchter ich bin. »Ich schreib ihm eine SMS«, gebe ich zurück und würde gern zur Strafe für so viel Beklopptheit meinen Kopf gegen die Wand hauen. Vielleicht bin ich ein Armleuchter, aber dann kann ich doch wenigstens ein mutiger Armleuchter sein. * Mein Mut ist verdampft, als ich Gabriel zwei Tage später schließlich gegenüber sitze. In seinem Zimmer. Ich bin sehr dankbar dafür, dass seine Eltern nicht daheim sind und dass Adam arbeitstechnisch unterwegs ist. Das heißt, wenn ich voller Angst das Zimmer verlasse und eventuell nochmal kotzen muss, werde ich nicht Gabriels Mutter in die Arme rennen und der verwirrten Frau erklären müssen, dass ich leider nicht gut genug für ihren Sohn bin und dass sie mir doch bitte künftig Hausverbot erteilen sollte, zu seinem eigenen Wohlergehen. Gabriels Zimmer ist ziemlich schlicht, klein und es stehen noch zwei Umzugskartons herum. Ich sehe Bilder von Erik und Tessa – eine ganze Menge davon – an einer großen Pinnwand hängen, unter anderem ist Erik im Rock abgebildet. Steht ihm sehr gut. Gabriels Familie ist auch oft auf Bildern, seine Mutter ist eindeutig diejenige, von der er sein hübsches Gesicht hat. Sie ist recht klein und dick und hat so ein strahlendes Lächeln, wie ich es kaum je an jemandem gesehen habe. »Deine SMS klang besonders entschlossen«, sagt Gabriel lächelnd, nachdem er mir nacheinander geschmierte Brote, alle möglichen Saftsorten und Schokolade angeboten hat. Ich hab zu allem nein gesagt, aus Angst, mich wieder zu übergeben. Der dunkelblaue Teppichboden fühlt sich weich unter meinen Füßen an, und dass ich mit Gabriel auf seinem Bett sitze, hilft mir nicht, meine Nervosität zu zerstreuen. »Äh… ja. Da hatte ich mir grad eisernen Mut zugesprochen«, antworte ich mit einem peinlich berührten halben Grinsen und verkralle meine Finger in meiner Jeans. Gabriel entgeht das nicht und er rutscht ein Stückchen näher. Wieso sieht er selbst in einem weißen Poloshirt und einer Jogginghose aus wie ein südostasiatischer Gott? Meine Fresse. Ich sollte lieber nicht darüber nachdenken, wie großartig Gabriel ist, sonst fühle ich mich wieder schrecklich unwürdig. »Ok«, sagt Gabriel und richtet sich ein wenig auf, wobei er seine Hände auf die Knie stützt. Er sitzt im Schneidersitz und hat sich mir komplett zugewandt, also ziehe ich zögerlich meine Füße vom Boden und drehe mich ebenfalls, sodass wir uns direkt gegenüber sitzen. »Ich bin ganz Ohr«, verspricht er und lächelt immer noch. Mein Herz kann sich zwischen Losrennen und Stehenbleiben nicht entscheiden und stolpert kläglich in meiner Brust herum. »Gut«, sage ich und schlucke schwer. Mein Puls rast und ich bin sicher, er könnte einen Marathon gewinnen, wenn er daran teilnehmen dürfte. »Ich werd das jetzt einfach runter rattern und du darfst mich bitte nicht unterbrechen, sonst übergebe ich mich womöglich«, füge ich mit zittriger Stimme hinzu. Die Erinnerung an den Vorfall von vor zwei Tagen ist noch sehr lebhaft. Gabriel nickt geduldig und er schafft es, so auszusehen, als fände er mich kein bisschen bekloppt. Dafür verdient er eindeutig eine Medaille. Ich merke, dass sein Blick erneut meine zittrigen Finger streift und es würde mich nicht wundern, wenn ich blass wie ein Bettlaken wäre. Eigentlich habe ich mir ganz genau überlegt, was ich erzählen will und in welcher Reihenfolge ich Gabriel am besten verständlich machen könnte, wieso genau ich so schwierig bin. Natürlich ist mein Gehirn jetzt komplett blank, wie ein frisch geöffnetes Word-Dokument. Toll, Benni. Wirklich großartig. Also sprudele ich einfach los. »Ich stecke gerade mitten in einer Gerichtsverhandlung gegen meinen Erzeuger. Und in Abivorbereitungen. Ich bin emotional labil, hab Bindungs- und manchmal Berührungsängste, verabscheue mich eine sehr ungesunde Menge und kann überhaupt nur sehr schlecht über mich oder meine Gefühle reden. Ich hab Schiss vor allem, gehe regelmäßig zur Therapie und bin alles in allem ein Wrack…«, platzt es zusammenhangslos aus mir heraus und ich kriege es nicht gebacken, Gabriel in die Augen zu sehen. Allerdings spüre ich seinen Blick ganz deutlich auf mir und mein Herz wummert schmerzhaft doll gegen meine Rippen. »Ich bin also so ziemlich der schwierigste Mensch, mit dem man… anbandeln kann«, fahre ich fort und starre auf meine bebenden Finger. Oh Gott. Er ist garantiert abgeschreckt und niemand kann es ihm verübeln. »Aber ich fürchte, ich bin ziemlich hoffnungslos hingerissen von dir und ich würde es total verstehen, wenn dir das alles zu viel ist und ich hab sowieso keine Ahnung, ob ich halbwegs bez–… beziehungstauglich bin und ob du dich darauf einlassen willst… Ich… Oh Gott, ich bin so mies mit Worten… Ich würde es… aber gern probieren, weil du… du bist und ich… ja…«, ich breche ab und wage es nicht hochzuschauen. Das war mit Abstand die schlechteste Gefühlsbekundung aller Zeiten, aber ein »Ich bin total in dich verschossen« bringe ich einfach nicht heraus. Meine Handflächen sind vor Nervosität ganz feucht und mir ist wieder leicht übel. Atmen war auch schon mal leichter. Zwei Finger legen sich unter mein Kinn und zwingen mich sachte, den Kopf zu heben. Ein sehr dunkles, sehr offenes Paar Augen schaut mir voller Zärtlichkeit und Hochachtung entgegen und allein die Tatsache, dass Gabriel mich nicht anschaut, als wäre ich etwas Schleimiges, Widerliches, Lächerliches, bringt meine Augenwinkel dazu, heftig zu brennen. Jetzt heul nicht auch noch, Volltrottel, mahne ich mich und schlucke mehrmals heftig, um den Kloß im Hals loszuwerden. Es hilft nicht. »Danke, dass du mir das alles gesagt hast«, meint Gabriel mit einer Stimme, die mir runtergeht wie Honig. Ich bin nicht sicher, wie jemand, der selbst Christian auf eine Matte schmeißen könnte, gleichzeitig so sanft reden und Menschen berühren kann. Es ist ein krasser Gegensatz, der mich Gabriel nur noch toller finden lässt. Bei mir ist echt Hopfen und Malz verloren. Die Gefühle, die ich mal für Anjo hatte, scheinen Millionen Jahre zurück zu liegen und fühlen sich seltsam irreal an, wenn ich sie mit meiner heutigen Situation vergleiche. »Wir können alles so langsam angehen lassen, wie du willst«, fährt Gabriel fort und obwohl ich wahnsinnig nervös bin und gern wieder meine Knie anstarren würde, kann ich meinen Blick nicht von Gabriels Gesicht lösen. Wenn er das so sagt, bedeutet das…? »Aber ich muss dich auch vorwarnen, ich rede dauernd über meine Gefühle!«, fügt er hinzu und schmunzelt. Mein Herz plustert sich auf, noch bevor mein Gehirn wirklich realisiert hat, was Gabriel eigentlich gesagt hat. »Heißt das…«, beginne ich, doch meine Stimme bricht und das Kribbeln, das sich überall in meinem Körper ausbreitet, legt mein Gehirn samt Sprachzentrum lahm. Gabriel strahlt und sieht einen Augenblick so aus, als würde er sich gern auf mich stürzen, aber vermutlich erinnert er sich an die Szene in der Halle und streckt deshalb nur die Hand aus und fährt mir durch die kurzen Haare. Ich bin so aufgeregt, es ist nicht mehr feierlich. »Das heißt, lass es uns versuchen, ja«, erklärt Gabriel und seine Worte jagen ein Glücksgefühl durch meinen Körper, das es unheimlich lächerlich erscheinen lässt, dass ich mich vor zwei Tagen noch deswegen übergeben habe. Ich greife nach Gabriels Hand und ziehe ihn mit einem Ruck nach vorn, sodass wir nebeneinander auf seinem Bett landen. Die Bettwäsche riecht nach ihm und ich fühle mich durch all die Endorphine so beflügelt, dass ich es wage, mein Gesicht an Gabriels Hals zu vergraben. Es ist großartig, ihm so nah zu sein, und ich habe einen winzigen Augenblick Angst, jeden Moment aufzuwachen und festzustellen, dass das Gespräch zwischen uns noch gar nicht stattgefunden hat. Aber Gabriel schlingt seine Arme um mich und zieht mich so fest an sich, dass mir eine Sekunde lang die Luft wegbleibt. Er hat einfach verdammt viel Kraft. Wir liegen eng aneinander gedrückt und ich atme seinen Geruch ein, um mich auch später noch daran zu erinnern, wenn ich wieder auf dem Dachboden im Bett liege und wahrscheinlich schlaflos an die Decke starre. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wird es eine gute Schlaflosigkeit sein, voller Kribbeln und Grinsen und Herzflattern. Wann genau hab ich mich derart in diesen Kerl verknallt, den ich kaum mehr als ein oder zwei Monate kenne? Vielleicht war ich schon verloren, als er durch die Tür der Halle kam. Gabriels Finger streichen über meinen Rücken und kraulen meinen Nacken und ich würde mich gern noch näher an ihn drücken, aber zwischen uns passt bereits kein Blatt Papier mehr und ich hab keine Ahnung, wie ich diesem Drang in mir Genüge tun soll. Also ziehe ich meinen Kopf ein Stück zurück und presse meinen Mund auf Gabriels Lippen. In ihn kommt augenblicklich Bewegung und ich spüre, wie sein Unterkörper sich gegen meinen drückt, als hätte er schon die ganze Zeit darauf gewartet, das zu tun. Als unsere Zungen sich berühren, ist es, als würde ein Feuerwerk in meinem Bauchraum starten und sich direkt in meinen Schritt ausbreiten. Innerhalb weniger Sekunden wandelt sich die Stimmung von nervös-erleichtert-kuschelnd-zufrieden in ein hitziges Zerren an Kleidung und dem hungrigen Kampf zweier Paar Lippen gegeneinander. Ich fühle mich ausgehungert nach etwas, das ich noch nie hatte, aber Gabriel scheint genauso verzweifelt mehr Haut, mehr Küsse, mehr fahrige Hände überall zu wollen. Etwas ungeschickt zerre ich ihm sein Shirt über den Kopf und Gabriel hat einige Schwierigkeiten in unserer Position meine Hose aufzubekommen, aber schließlich tragen wir beide nur noch Shorts und seine erhitzte Haut an meinem fast nackten Körper fühlt sich umwerfend an. Mein Atem ist schwer geworden und mein Kopf ist völlig benebelt. Mit einem Ruck zieht Gabriel mich auf sich, sodass unsere Unterkörper fest gegeneinander gedrückt sind und ich stöhne unkontrolliert in unseren Kuss. Ich löse den Kuss für einen Augenblick und lecke mir über die Lippen. Gabriels Augen öffnen sich und er schaut mit glasigem Blick unter halb geöffneten Lidern zu mir hoch. Verfluchte Scheiße, er sieht verdammt heiß aus und ich will ihn so sehr… Gabriels Hände finden ihren Weg zu meinem Hintern, krallen sich dort in Muskeln und den Stoff meiner Shorts und pressen meinen Unterkörper noch fester gegen seinen, was mir erneut ein erregtes Keuchen entlockt. Gabriel beißt sich auf die Unterlippe und es kann durchaus sein, dass ich gleich beim bloßen Anblick seines Gesichts in meiner Boxershorts komme. Gabriel winkelt eins seiner Beine an und dann breitet sich ein laszives Grinsen auf seinen Lippen aus. Herrgott. Ich kann nicht mehr. »Beweg dich«, schnurrt er – schnurrt, verdammte Axt nochmal! – und ruckt mit seiner Hüfte nach oben, was meine Augenlider dazu veranlasst, flatternd zuzugehen. Und weil ich vermutlich ohnehin explodiere, wenn ich der Aufforderung nicht nachkomme – und weil Gabriels Stimme so verteufelt heiß klingt, dass man sich ohnehin nicht wehren mag – fange ich an, meine Hüfte gegen seinen Schritt zu bewegen. Oh Gott, ohgottohgott… Gabriels Keuchen in meinen Ohren verwandelt sich direkt in pure Spannung, die blitzartig in meinen Schoß schießt und mehr Bewegung nur noch dringlicher macht. Ich werd das ja sowas von nicht lang durchhalten. Als er den Kopf hebt und mich wieder küsst und seine Finger noch fester zudrücken, halte ich es nicht mehr aus und komme mit einem erstickten Stöhnen in meiner Shorts. Gabriel bewegt seine Hüften nur noch wenige Male gegen meine, bevor er sich unter mir aufbäumt und dann auf die Matratze sinkt, um mich aus verhangenen Augen mit einem breiten Grinsen anzuschauen. Ich rolle mich von ihm herunter und wäre beinahe aus dem Bett gefallen, doch Gabriels Reflexe sind selbst nach einem Orgasmus unübertrefflich und er hält mich fest und zieht mich nah zu sich heran. Ich fühle mich ziemlich schwitzig und klebrig, aber ich will auch auf keinen Fall aufstehen und mehr als fünf Zentimeter Abstand zwischen uns haben. »Ups«, sage ich in die Stille hinein und Gabriel lacht und ich muss auch lachen, weil es bekloppt ist, sowas zu sagen, nachdem man Sex hatte, und weil ich vor einer halben Stunde noch fast damit gerechnet habe, dass es sich zwischen uns sowieso erledigt hat. »Um ehrlich zu sein, bin ich erstaunt, dass ich es so lang ausgehalten hab«, meint Gabriel und ich höre das breite Grinsen in seiner Stimme. »Hm?«, gebe ich nuschelnd zurück und drücke mein Gesicht in seine Halsbeuge. »Naja, ist ja nicht so, als wäre ich nicht schon länger scharf auf dich«, erklärt er und da ich ohnehin noch einen hochroten Kopf von unserer Aktion gerade habe, kann ich nicht extra erröten. »Oh«, ist mein geistreicher Kommentar dazu und Gabriel rutscht ein Stück von mir weg, was mich zum Grummeln bringt, aber ihn dazu befähigt, mir in die Augen zu schauen. Er streckt mir die Zunge raus. »Was dachtest du denn? Dauernd hab ich neben dir geduscht und mich umgezogen und du warst so… unbeholfen bei allem, ich wollte dich wirklich gern aufessen«, sagt er. Einfach so. Mir ging es ja genauso, aber ich könnte das niemals so sagen. Heilige Scheiße. Mein Herz schlägt sieben Saltos und mein Magen kribbelt schon wieder. Dank dieser Offenbarung bin ich jetzt wieder sprachlos und Gabriel fährt einfach fort. »Ich glaub, es ging schon in der Umkleide los, nachdem wir das erste Mal miteinander geredet haben. Ich war den ganzen Tag danach so übermäßig gut gelaunt, dass ich mich schon gefragt hab, was eigentlich los ist«, fährt er fort und ich hänge wie gebannt an seinen Lippen. Das Wissen, dass er da gerade über mich redet, ist total seltsam. Wie könnte jemals jemand so auf mich reagieren…? »Ich war noch nie wirklich verknallt, deswegen hat’s ein bisschen länger gedauert, bis ich das verstanden hab. Aber womöglich hab ich es zwischendurch auch ein wenig übertrieben. Ich war so begeistert drüber, dass ich mich endlich auch mal verknallt hatte, dass ich etwas übermütig war. Ich hoffe, ich hab mich nicht allzu sehr aufgedrängt«, meint er und sieht tatsächlich besorgt aus. Ich starre ihn an. Er hat gerade ohne irgendwelche Probleme zwei Mal gesagt, dass er in mich verknallt ist. »Wenn…«, ich räuspere mich, weil ich schon wieder einen Kloß im Hals habe, »wenn du dich nicht so bemüht hättest, wäre ich immer noch in meinem Schneckenhaus.« Gabriel lächelt erleichtert und zeichnet mit seinem linken Zeigefinger die Konturen meines Schlüsselbeins nach. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meine erste Beziehung stolpern würde, wenn ich bei Christian ins Training gehe«, sagt Gabriel amüsiert und ich muss unweigerlich auch grinsen. »Das hätte ich auch nicht gedacht.« Kapitel 17: Der richtige Weg ---------------------------- Die Veränderung wird mir bewusst, als ich in der Küche stehe und darauf warte, dass der Wasserkocher klickt, damit ich mir einen Tee machen kann. Als es soweit ist, greife ich blindlings nach rechts und finde meine Teetasse – die blaue, die zu meinem Schal passt, mit der Aufschrift »Großer Bruder« – und zur selben Zeit geht draußen im Flur die Tür auf und Tim und Jana kommen mit den Hunden zurück. »Wir sind wieder zu Hause!«, ruft Tim und ich lächele, während ich heißes Wasser in die Tasse gieße. Die Hunde bellen, ich höre im Wohnzimmer Lydia quietschen, während sie mit Eileen und Franzi spielt und ich weiß, dass Margarete strickend daneben sitzt, dass Johannes einkaufen ist, dass Brigitte in ihrem Büro hockt und telefoniert und ein warmes Gefühl meinem Brustkorb signalisiert mir vollkommen unverhofft: Du gehörst hier hin. Es ist der siebte Februar, draußen schneit es, später ist Spieleabend angesagt, wenn Lydia im Bett ist. In genau zwei Monaten habe ich meine erste Abiprüfung und zum ersten Mal fällt mir auf, dass ich mich nicht mehr wie ein Fremdkörper in diesem Haus fühle. Mit der Teetasse in der Hand gehe ich in den Flur und grinse Jana und Tim zu. Es ist ein kleiner, unauffälliger Moment, aber er überrascht mich und füllt mein Inneres mit Wärme. Ich folge Tim, Jana und den Hunden ins Wohnzimmer. Alles sieht genauso aus, wie ich es mir in der Küche vorgestellt habe. Eileen, Franzi und Lydia haben Lotti Karotti auf einem der Teppiche ausgebreitet und Margarete strickt an einem grünen Pulli für ihre jüngste Enkelin. Ich lasse mich auf dem Sofa nieder und stelle meinen Tee ab. Jana und Tim plumpsen neben mir auf die Couch. »Schon mal versucht mit drei Hunden Fangen zu spielen?«, fragt Tim und klingt tatsächlich ziemlich außer Atem. Jana kichert und ich grinse erneut. »Vielleicht ist es besonders anstrengend, wenn man sowieso ‘ne schlechte Kondition hat«, gebe ich feixend zurück und Eileen lacht dreckig über meine Stichelei. Tim ist empört und greift sich ein Kissen, um damit in meine Richtung auszuholen. Jana duckt sich kichernd zur Seite weg. Lachend erinnere ich mich an meinen ersten Abend in diesem Wohnzimmer, als Tim und Eileen sich ebenfalls eine Kissenschlacht geliefert haben. Jana flieht amüsiert zu Franzi und den anderen beiden auf den flauschigen Teppich, während Tim und ich uns mit Kissen bekriegen. »Tut euch nicht weh, Jungs«, sagt Margarete abwesend, während sie ihre Maschen zählt und Tim rollt fast vom Sofa. Ich hoffe, mein Tee ist in Sicherheit. »Dich krieg ich allemal!« »Ich trainiere mit Christian!« »Pah! Das spricht nur gegen dich!« Als ich schließlich wieder zu Atem komme, ist mein Tee soweit abgekühlt, dass ich ihn trinken kann, ohne mir die Zunge zu verbrennen. »Übrigens«, sagt Tim mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck, der mich sogleich alarmiert, »was haben meine aufmerksamen Ohren vernommen? Unser Benni ist verlii~ebt?« Margaretes Mundwinkel zucken und Eileen grinst wissend zu mir herüber. Ich laufe rot an. »Was? Wieso ist das wichtig?«, frage ich und nehme einen viel zu großen Schluck Tee, der mich prompt verräterisch zum Husten bringt. »Wann stellst du ihn uns denn vor? Muss ja ein heißer Feger sein!«, fährt Tim bestens gelaunt fort. Ich habe kaum Gelegenheit dazu, mich zu wundern, wann ich mich eigentlich vor der Familie geoutet haben soll, denn mein Gehirn verknotet sich peinlich berührt. »Du könntest ihn zu unserem Hauskonzert einladen«, meint Franzi und versucht unschuldig auszusehen. Achja, schießt es mir durch den Kopf. Jana und Franzi haben überlegt, dass es nett wäre, mit noch anderen Leuten Musik zu machen, weswegen Christian vorgeschlagen hat, Felix, Leon und Nicci einzuladen. Was dann auch sofort passiert ist. Deswegen ist am nächsten Wochenende volles Haus hier und ich habe bereits Anjo und Lilli dazu eingeladen. Das wäre die volle Breitseite für Gabriel! Ich weiß nicht, ob ich ihm das zumuten kann. »Das ist doch eine nette Idee«, verkündet Margarete und ich öffne den Mund, um zu widersprechen, gebe dann aber auf. Vielleicht hat er ja keine Zeit, denke ich ziemlich aufgeregt, während ich mein Handy hervor krame. »Hey! Hast du Lust nächstes Wochenende zu mir zu kommen? Meine Schwester und ein paar Freunde wollen Musik machen. Allerdings ist Christians ganze Familie da, und Anjo und Lilli auch. Wenn dir das zu viel ist, versteh ich das natürlich!« Ich warte darauf, dass die SMS sendet und mir wird plötzlich klar, dass ich »zu mir« geschrieben habe. Hier, zu mir nach Hause. Nicht »zum Haus der Familie Sandvoss«, auf den Dachboden. Sondern zu mir, in mein Zimmer. Ich bin mir sehr sicher, dass ich mich so bezüglich dieses Hauses noch nie ausgedrückt habe, aber ich habe keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weil mein Handy vibriert. »Klingt toll! Wann und wie komm ich dahin?« Ich schlucke, muss aber trotzdem lächeln. Mein Magen kribbelt zufrieden, wie immer, wenn ich an Gabriel denke. »Aw, die Liii~ebe!«, trällert Tim und ich haue ihn erneut mit einem Kissen. »Du bist genauso schlimm wie dein Bruder!«, rufe ich. Tim mimt den Geschockten. »Wie kannst du das nur sagen? Nimm es zurück!« Und die Kissenschlacht geht von vorn los. * Christian hat Anjo, Lilli und Sina im Schlepptau, als er Samstag um fünf die Haustür aufschließt und sich ausgiebig von seiner Familie und den Haustieren begrüßen lässt, bevor er sich mit einem breiten Grinsen zu mir umdreht. Lilli und Anjo stehen neben mir, deswegen fühle ich mich erst mal in Sicherheit. Aber natürlich lässt Christian es sich nicht nehmen, noch mal »Die Liebe ist ein seltsames Spiel« anzustimmen und Tim tänzelt laut lachend dazu durch den Flur, bis Eileen ihm einen Schlag auf den Hinterkopf gibt und ihn streng ansieht. »Halt die Schnauze«, sagt sie. Es ist recht erstaunlich, in wie vielen Leuten ich offenbar einen Beschützerinstinkt erwecke. Das Klingeln an der Tür lenkt mich von dem Rüffel ab, den Brigitte erteilt. So voll war der Eingangsbereich noch nie. Mein Herz springt mir beim Geräusch der Klingel automatisch in die Kehle, weil ich denke, dass es Gabriel sein könnte, aber es sind Leon, Felix und Nicci mit Gitarre und Bass im Gepäck. Ein riesiges Gewusel entsteht, weil die Hunde aufgeregt sind und Lydia nach Aufmerksamkeit verlangt, deswegen verstreuen sich erst einmal alle, um von Margarete Kuchen und Tee entgegen zu nehmen. Jana, Franzi und ihre musikalischen Gäste machen sich daran, die Musikinstrumente im Wohnzimmer rund um das Klavier aufzubauen und Chris und Tim werden dazu verdonnert, alle Stühle, die im Haus vorhanden sind, ins Wohnzimmer zu schleppen, damit alle eine Sitzgelegenheit haben. Ich stelle Lilli die Haustiere vor, während ich ein Stück Zitronenblechkuchen in der Hand halte und mit hämmerndem Puls darauf warte, dass es erneut an der Tür klingelt. Ich höre, wie Felix seine Gitarre stimmt und wie Jana und Franzi mit Nicci noch mal die Liederauswahl durchgehen. Es spricht für den Einfluss dieser Familie, dass Jana sich traut, vor so vielen Menschen Klarinette zu spielen. Etwas, das sie sonst nur vor mir getan hat. Ich beiße gerade von meinem Kuchen ab und sehe amüsiert dabei zu, wie Lilli mit Milkyway spielt, als es an der Tür klingelt und ich hastig aufspringe. Alle sehen zu mir herüber und ich versuche so hastig wie möglich meinen Kuchen zu schlucken. Ich bin so schnell im Flur, dass ich beinahe über Sir Mauncelot stolpere und Leon umrenne. Er zieht die Brauen hoch und seufzt, als wollte er sagen »Die Jugend von heute«. Ich denke daran, wie ich zum ersten Mal vor dieser Tür stand und geklingelt habe. Jetzt stehe ich dahinter und öffne von innen. Wow, Benni, schau mal wie weit du gekommen bist. »Hallo«, sagt Gabriel lächelnd, als ich ihm die Tür öffne, gerade als ich mein Stück Zitronenkuchen endlich ganz herunterschlucke. »Hey«, sage ich etwas atemlos und bitte ihn mit einer Handbewegung herein. Er hat Schnee in den Haaren und zieht seine Hände aus den Hosentaschen, um mich zur Begrüßung in den Arm zu nehmen. Ich bin mir der Blicke bewusst, die vermutlich gerade auf uns ruhen. Wer auch immer gerade durch den Flur geht, beobachtet uns garantiert. Ich bin sehr bemüht, mein Stück Kuchen nicht fallen zu lassen. »Kuchen?«, frage ich mit heiserer Stimme und halte das angebissene Stück hoch. Gabriel lacht angesichts meiner Nervosität und ich bewundere ihn dafür, wie er sich dieser Situation stellen kann, ohne aufgeregt zu sein. So viele neue Leute auf einmal… aber im Gegensatz zu mir ist Gabriel offensichtlich ein Künstler, was den Umgang mit fremden Menschen angeht. »Gleich. Sobald ich die Jacke ausgezogen habe«, gibt er schmunzelnd zurück und pellt sich aus seinen Schuhen und der dicken Jacke. Ich deute auf die Garderobe und erinnere mich daran, wie ich vor ein paar Monaten zum ersten Mal hier war und diese Garderobe eins der Dinge war, die ich mit meinem alten… Zuhause… verglichen hab. Jetzt hängt Gabriels Jacke direkt neben meiner und es kommt mir überhaupt nicht mehr komisch vor. »Toller Garten«, sagt Gabriel und schaut sich interessiert um. Seine Socken sind geringelt und ich möchte ihn sehr dringend küssen. »Ah! Gabriel!« Christian steckt den Kopf aus dem Wohnzimmer und ich möchte ihn gern erwürgen, als er mir zuzwinkert. »Chris, ärgerst du ihn schon wieder? Du kriegst es mit mir zu tun, wenn du nicht lieb zu ihm bist!« Eileen taucht neben Christian auf, entdeckt Gabriel und ich sehe, wie ihr Mund sich ein Stück weit öffnet. Ungewollt schwillt mir die Brust an vor Stolz. Ja, bewundere ihn nur, denke ich mir. Er sieht großartig aus. Und er ist mit mir zusammen. »Hey«, sagt Gabriel und wirkt nun tatsächlich ein bisschen verlegen. »Ich bin Eileen. Achte nicht auf Chris. Komm rein, wir haben Kuchen!«, sagt sie und winkt ihn herüber. Es folgt ein weiterer großer Tumult, weil alle Anwesenden sich Gabriel vorstellen möchten und alle wollen ihm Tee und Kuchen anbieten und die Haustiere wollen ihn beschnüffeln. Ich habe einen eifersüchtigen Moment, in dem ich ihn für mich allein haben möchte, um ihn zu küssen und mein Gesicht an seinem Hals zu vergraben, aber dann ist er auch schon verflogen und ich beobachte mit einem warmen Gefühl in der Bauchgegend, wie Gabriel mit Lilli und Anjo plaudert. »Vielleicht hätten wir Namensschilder tragen sollen«, meint Sina grinsend. Gabriel lacht. »Ach, ich denke, ich krieg das schon hin«, gibt er zurück. »Ich hab ein ziemlich gutes Namensgedächtnis.« »Das wichtigste ist, dass du mich und meinen missratenen Bruder nicht verwechselst, ansonsten ist es egal, wie du die Leute nennst«, erklärt Tim mit ernster Stimme und wirft einen Arm um Gabriel. Chris zeigt ihm den Mittelfinger. »Ihr seht euch schon ziemlich ähnlich«, sagt Gabriel verschmitzt und Tim macht eine theatralische Geste. »Blasphemie!«, ruft er und fängt sich zum zweiten Mal einen Schlag von Eileen ein. »Sei nicht albern. Du siehst genauso aus wie Chris. Nur mit viel weniger Muskeln«, stichelt sie und Tim und sie jagen von dannen, vermutlich, um zu raufen. »Ich hätte auch gern Geschwister«, sagt Anjo seufzend und sieht ihnen nach, als hätte er gerade etwas besonders Rührendes beobachtet. Lilli grinst. »Kannst eine von meinen abhaben«, bietet sie ihm an. »Wie viele Geschwister hast du?«, erkundigt Gabriel sich interessiert und ich bin voller Bewunderung, weil ihm solche Fragen so leicht von den Lippen gehen. Ich weiß noch, als ich Tessa und Erik kennen gelernt hab, hat mir jede gestellte Frage einen Schweißausbruch beschert. »Ich bin eine von Drillingen«, sagt Lilli und Gabriel klappt erstaunt der Mund auf. »Krass!«, meint er und Lilli lacht. »Ja, das ist es wohl. Dafür sind die bunten Haare, damit man mich nicht verwechselt«, erklärt sie zwinkernd. »Hier mein Junge, nimm noch mehr Kuchen!«, meldet sich Margarete zu Wort und drückt Gabriel sein zweites Stück Blechkuchen in die Hand. »Vielen Dank. Er ist wirklich sehr lecker«, antwortet Gabriel höflich und Margarete lächelt zufrieden. »Ich mag ihn«, erklärt sie mir, als wollte sie mir raten, ihn dringend zu behalten. Nunja, ich habe fürs Erste wirklich nichts anderes vor, denke ich mir im Stillen und sehe voller Entzückung, wie Gabriel ein wenig rot wird. Es steht ihm ganz hervorragend. »Alle sind so nett«, flüstert er mir zu. »Ja, ich weiß. Es ist überwältigend«, gebe ich zurück. »Hättest mich an meinem ersten Abend hier sehen sollen. Tims Kater hat mich als Sitzkissen missbraucht, ich hab mich so geehrt gefühlt, dass ich mich nicht einen Millimeter bewegt hab.« Gabriel lacht und greift mit seiner freien Hand nach meinen Fingern. In der anderen hält er den Kuchen und beißt ab. »Du leuchtest richtig zwischen all den Leuten«, sagt er zwischen zwei Bissen und schaut zu Jana herüber, die mit Franzi einen Notenständer aufbaut. »Tatsächlich?«, gebe ich verwundert zurück und folge seinem Blick. Jana leuchtet auch. Vielleicht sehe ich genauso aus wie sie. Gabriel nickt. »Und ist dir aufgefallen, dass Christian uns anschaut, als gebühre ihm der Dank für uns?«, fragt Gabriel amüsiert. Ich schnaube. »Er hat mir mal in der Umkleide »Die Liebe ist ein seltsames Spiel« vorgesungen. Und vorhin schon wieder, im Flur. Ich glaub, er denkt, dass er uns verkuppelt hat«, entgegne ich und Gabriel lacht laut bei der Vorstellung, wie Christian dieses Lied gesungen hat. »Du musst mir später zu all den Leuten noch mehr erzählen«, bittet Gabriel mich und ich lächele und nicke, gerade als Franzi verkündet, dass sie jetzt fertig sind und es losgehen kann. Gabriel und ich finden Stühle nebeneinander. Für Margarete haben die Jungs ihren Stammsessel näher herüber gezogen, sodass sie nun darauf thront und gespannt die Hände im Schoß gefaltet hat. Ich beobachte Franzi, Jana, Nicci, Leon und Felix. Gabriel sucht wieder nach meiner Hand und drückt sie zufrieden. Hermine streicht um seine Beine herum und setzt sich vor ihn hin. Er bückt sich zu ihr herunter, um sie zu streicheln und sie schnurrt zufrieden. Ich wünschte, ich könnte diesen Moment einfrieren. Alle sind hier. Es befinden sich sechzehn Leute in diesem Wohnzimmer und selbst Lydia ist artig und still, während sie bei ihrem Papa auf dem Schoß sitzt und gespannt wartet. Sechzehn Menschen, die mein Leben irgendwie verändert haben. Und sei es in Niccis Fall nur durch ihre Stimme auf einem Konzert, die »Schrei nach Liebe« von den Ärzten singt. Es ist merkwürdig, alle diese Menschen auf einem Haufen zu sehen. Es ist wie ein Spaziergang durch die letzten Monate meines Lebens. Ich wandere mit jedem Gesicht durch Momente meiner nahen Vergangenheit und das neue Gefühl von hier-hin-gehören saugt begierig jede Erinnerung in sich ein und plustert sich zu ungeahnter Größe auf. Natürlich fing alles mit Anjo an. Ich beobachte sein lächelndes Profil, den schlanken Hals, den dicken, viel zu großen Pullover, den Christian ihm geschenkt hat und es kommen Erinnerungen hoch, von Feiern und Obstsalat und Krankenhausbesuchen, von Vergebung und Chancen und Freundschaft. Mein Herz fühlt sich an, als würde es auf die doppelte Größe anschwellen. Jana wird auf ewig der wichtigste Mensch in meinem Leben sein, aber Anjo – gutmütiger, hilfsbereiter, sanftmütiger Anjo – hat den unangefochtenen zweiten Platz eingenommen. Ich würde für ihn durch die Hölle und wieder zurück gehen, um einen Bruchteil dessen zurück zu geben, was er für mich getan hat. Ich sehe, wie Felix Leon zuzwinkert und bin amüsiert darüber, dass Leon rot wird, ich betrachte Lillis pinken Haarschopf und Sinas elegant übereinander geschlagene Beine. Ich erinnere mich an Tee auf einem Autorücksitz, an Faustschläge und Kekse, an Nachhilfestunden und Umzugsbeistand, an Gespräche im Auto über eine unsichere Zukunft… Ich kenne das erste Lied nicht, aber Jana hat mir erzählt, was sie alles spielen wollen und ich glaube, dieses Lied könnte von den Beatles sein. Womöglich heißt es »Let it be«, aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Fast hätte ich vergessen, wie beeindruckend Niccis Stimme klingt. Vor allem in so einem geschlossenen, stillen Raum, wo nicht mehrere hundert Leute dazwischen grölen, hört sie sich besonders schön an. Die Instrumente passen sehr gut zusammen und ich bin recht erstaunt davon, wie besonders Leon mit seinem Akustikbass wirkt. Es ist doch etwas anderes, ihn so zu sehen, als mit Mikro vor der Nase, elektrischem Bass und seinem üblichen, grimmigen Gesichtsausdruck. Er sieht beinahe friedlich aus. Ich denke zurück an die Szene vor der Konzerthalle, als Leon mit mir darüber geredet hat, wie ich wirklich kein Problem damit haben sollte, dass ich auf Männer stehe. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein. Felix mit seinem hübschen Gesicht lächelt kaum merklich und beißt sich ab und an auf die Unterlippe, während seine schlanken Finger sich auf den Saiten der Gitarre auf und ab bewegen. Wenn er mit seinem Erklär-Genie nicht gewesen wäre, dann wäre ich sehr wahrscheinlich nicht zum Abitur zugelassen worden. Flackernd huscht die Erinnerung an seinen wie in Stein gemeißelten Gesichtsausdruck durch meinen Kopf, als er meinen Erzeuger angeschaut hat. Er ist auf eine ganz andere Art als Gabriel oder Christian gefährlich, jemand, den man eindeutig nicht zum Feind haben möchte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass er mich gut leiden mag und ich ihm ganz beruhigt den Rücken zudrehen kann. Sobald Felix und Leon zusammen ziehen, werde ich so viele schwere Kisten wie möglich tragen, um einen winzigen Bruchteil dessen zurück zu geben, was so ein Abitur und die Hilfe bei einer traumatischen Erfahrung wiegt. »Das hier ist mein neues Leben«, möchte ich Gabriel erklären und unerwartet und absolut peinlicher Weise fangen meine Augenwinkel an zu brennen. Ich schlucke mehrmals entschlossen und blinzele, während mir einmal mehr – und diesmal mit ungeahnter Heftigkeit – klar wird, dass ich nie wieder zurück muss in das alte, dunkle, abgrundtiefe Loch, aus dem ich gekrochen bin. Oder besser: Aus dem ich gezogen wurde. Von all den Menschen, die hier sitzen und lächeln und der Musik zuhören und Musik machen. »Alles ok?«, flüstert Gabriel leise, dem meine plötzliche Gefühlsregung offensichtlich aufgefallen ist, denn er drückt meine Hand ein wenig fester und mustert mich unauffällig von der Seite, während Nicci ein Lied von Franzis Lieblingssängerin, Amy MacDonald, singt, das Franzi mir auch schon einmal vorgespielt hat. Es ist nicht unbedingt meine Art von Musik, aber ich mag den Text und die Zeile »Your time will come« hilft nicht, meine rührselige Stimmung zu lindern. Ich nicke ziemlich hastig und Gabriel lehnt seinen Kopf an meine Schulter. Hinter uns fängt Lydia an zu zappeln und verkündet, dass sie auch Gitarre lernen will, was Felix zum Grinsen bringt und Johannes dazu veranlasst, mit der Kleinen in den Flur zu gehen, damit wir in Ruhe weiter zuhören können. Die Fünf haben sich auf insgesamt zehn Lieder geeinigt, aber als sie am Ende dieser Lieder angelangt sind, verlangen alle eine Zugabe und sie improvisieren noch drei weitere Lieder, bevor ihnen die allgemein bekannten Musikstücke ausgehen und Leons Magen so laut knurrt, dass er alle damit zum Lachen und sich selbst zum Erröten bringt. »Willst du den Rest vom Haus sehen?«, frage ich Gabriel leise und er nickt lächelnd, während Brigitte vorschlägt, einfach ein paar Familienpizzen zu bestellen und uns noch fragt, was wir gern als Belag hätten, bevor wir uns aus dem Trubel entfernen und nach einem kurzen Blick in die Küche und das Bad in den ersten Stock hinauf steigen. »Das ist ein echt riesiges Haus«, sagt er beeindruckt und mustert amüsiert das Poster, das an Tims Tür hängt. Ich erinnere mich daran, wie Franzi und Jana mir das Haus an meinem ersten Abend gezeigt haben. Es wirkte damals sehr viel riesiger als jetzt noch. Mittlerweile ist es mit Erinnerungen gefüllt und ich kenne die Menschen, die hier leben, jetzt viel besser. Ich war schon in allen Zimmern, außer dem elterlichen Schlafzimmer und Margaretes Zimmer, ich habe mit Tim in seinem Zimmer Bier getrunken und Playstation gespielt, mit Eileen Englisch gelernt und Lydias Puppenhaus repariert. »Es wird weniger riesig, wenn man länger drin wohnt«, gebe ich zurück und deute etwas zaghaft auf die steile Treppe, die hinauf zum Dachboden führt, auf dem ich nun seit etwa drei Monaten wohne. Gabriel wirft einen interessierten Blick nach oben und fängt dann an, die Stufen zu erklimmen. Ich folge ihm etwas nervös. Das Zimmer zeigt deutlich, dass ich immer noch Probleme mit der Größe des Dachbodens habe. Ich habe mittlerweile alle Möbel in die hintere Hälfte des Dachbodens geschoben, sodass es dort aussieht, als wäre er weniger als halb so groß. Der vordere Teil ist vollkommen leer. »Ich hatte nicht genug Kram für all den Platz«, sage ich etwas verlegen und schließe die Tür leise hinter uns. Gabriel betrachtet die Dachfenster, auf denen sich Schnee sammelt. Dann betritt er beinahe andächtig den Bereich, den ich zu meinem eigenen gemacht habe und sein Blick bleibt direkt an den Fotos hängen. »Ein kleiner Benni!«, sagt er und beugt sich etwas hinunter zur Kommode, auf der ich die meisten meiner Fotos abgestellt habe, nachdem sie so viele Jahre auf der kalten, geräumigen Fensterbank in Janas und meinem winzigen Zimmer verbracht haben. »Ja, man glaubt es kaum«, gebe ich mit einem schiefen Lächeln zurück. Gabriel schmunzelt. »Die Zahnlücke steht dir ausgezeichnet«, meint er mit einem Schmunzeln und ich kratze mir verlegen den Hinterkopf. Es hat für mich etwas unheimlich Intimes, jemandem mein Zimmer zu zeigen, auch wenn das hier bei weitem nicht so krass ist wie die Erfahrung, als Chris, Leon und Felix in mein altes Zimmer kamen. Aber Gabriel weiß vor allem noch so wenig über mich und ich weiß kaum etwas über ihn und einen winzigen Augenblick lang bekomme ich wieder Panik darüber, was das für unsere… Beziehung bedeutet. Wir sind gerade erst in der Kennenlern-Phase. Aber vielleicht ist das auch nichts Schlechtes. Es ist noch ein neuer Anfang innerhalb meines großen, neuen Anfangs. Mittlerweile könnte man meinen, ich hätte mich an Umbrüche gewöhnt. »Wenn du mir also beim Training einen Zahn ausschlägst, weiß ich, dass du mich dann immer noch gut findest«, scherze ich und Gabriel richtet sich auf, um mich eindringlich zu mustern. »Ich glaube an diesem Punkt gibt es kaum noch Dinge, die du tun kannst, damit ich dich nicht mehr großartig finde«, gibt er zurück und seine Offenheit bringt mich erneut zum Schwitzen. Weiß der Geier, wie er das tut, vor allem, weil er einem dabei so offen in die Augen schaut und nicht einmal mit der Wimper zuckt. »Oh«, ist alles, was mir dazu einfällt und ich rutsche nervös von einem Fuß auf den anderen. Gabriel beobachtet mich einen Wimpernschlag dabei, dann wendet er sich wieder dem Raum zu und mustert jede Kleinigkeit. »War da unten im Wohnzimmer eigentlich grad wirklich alles in Ordnung?«, fragt Gabriel beiläufig, während er erneut die Fotos betrachtet und ab und an lächelt. Ich mustere ihn eindringlich dabei und fahre mir mit der Hand peinlich berührt über den Nacken. »Naja… ich… äh… etwas rührselig geworden, weil all die Leute, die mir was bedeuten, in einem Zimmer versammelt hatte und das war… ziemlich überwältigend«, erkläre ich verlegen und starre auf meine recht ausgelatschten Socken im Kontrast zum hellen Holzfußboden. »Kann mir vorstellen, dass das Eindruck machen kann«, entgegnet er behutsam und ich zucke überrascht zusammen, als sich eine zärtliche Hand in meinen Nacken schiebt. Ich schaue auf und hatte beinahe vergessen, dass wir uns ja jetzt immer anfassen können. Als… Paar. »Willst du vielleicht ein bisschen erzählen? Über die Leute? Und warum sie wichtig sind?«, fragt Gabriel und ich lehne meine Stirn an seine. »Ok.« Wir setzen uns aufs Bett und Gabriel rutscht ganz nah an mich heran und verhakt seine Finger mit meinen. Ich betrachte unsere Hände einen Augenblick und kann immer noch nicht so recht fassen, dass ich ihn verdient habe, aber dann schlucke ich, denke kurz nach und hole tief Luft. »Also… alles hat mit Anjo angefangen«, sage ich schaue hoch zur Decke, während die Bilder wie schon unten im Wohnzimmer meinen Kopf fluten und jede winzige Ecke ausfüllen, bis ich alles ganz genau vor mir sehen kann. Den Anfang von allem. Der Tag, an dem ich nach den Ferien in die neue Klasse kam und mit Anjo viel zu früh vorm Klassenraum stand. Die grünen Augen, die unsichere Stimme, das Unwissen darüber, was dieser kleine Dominostein in Gang setzen würde… »Du bist neu, oder?« Ich bin immer noch neu. In dieser Art von Leben. Es ist merkwürdig, aber auch sehr, sehr wunderbar. Es ist, als würde ich Gabriel an die Hand nehmen und durch die wichtigste Zeit meines Lebens führen, wie durch ein Museum. Ob nun auf dem richtigen Weg oder am tatsächlichen Ziel, es gibt auf jeden Fall keinen Grund mehr zur Flucht. 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