Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 17: Der richtige Weg ---------------------------- Die Veränderung wird mir bewusst, als ich in der Küche stehe und darauf warte, dass der Wasserkocher klickt, damit ich mir einen Tee machen kann. Als es soweit ist, greife ich blindlings nach rechts und finde meine Teetasse – die blaue, die zu meinem Schal passt, mit der Aufschrift »Großer Bruder« – und zur selben Zeit geht draußen im Flur die Tür auf und Tim und Jana kommen mit den Hunden zurück. »Wir sind wieder zu Hause!«, ruft Tim und ich lächele, während ich heißes Wasser in die Tasse gieße. Die Hunde bellen, ich höre im Wohnzimmer Lydia quietschen, während sie mit Eileen und Franzi spielt und ich weiß, dass Margarete strickend daneben sitzt, dass Johannes einkaufen ist, dass Brigitte in ihrem Büro hockt und telefoniert und ein warmes Gefühl meinem Brustkorb signalisiert mir vollkommen unverhofft: Du gehörst hier hin. Es ist der siebte Februar, draußen schneit es, später ist Spieleabend angesagt, wenn Lydia im Bett ist. In genau zwei Monaten habe ich meine erste Abiprüfung und zum ersten Mal fällt mir auf, dass ich mich nicht mehr wie ein Fremdkörper in diesem Haus fühle. Mit der Teetasse in der Hand gehe ich in den Flur und grinse Jana und Tim zu. Es ist ein kleiner, unauffälliger Moment, aber er überrascht mich und füllt mein Inneres mit Wärme. Ich folge Tim, Jana und den Hunden ins Wohnzimmer. Alles sieht genauso aus, wie ich es mir in der Küche vorgestellt habe. Eileen, Franzi und Lydia haben Lotti Karotti auf einem der Teppiche ausgebreitet und Margarete strickt an einem grünen Pulli für ihre jüngste Enkelin. Ich lasse mich auf dem Sofa nieder und stelle meinen Tee ab. Jana und Tim plumpsen neben mir auf die Couch. »Schon mal versucht mit drei Hunden Fangen zu spielen?«, fragt Tim und klingt tatsächlich ziemlich außer Atem. Jana kichert und ich grinse erneut. »Vielleicht ist es besonders anstrengend, wenn man sowieso ‘ne schlechte Kondition hat«, gebe ich feixend zurück und Eileen lacht dreckig über meine Stichelei. Tim ist empört und greift sich ein Kissen, um damit in meine Richtung auszuholen. Jana duckt sich kichernd zur Seite weg. Lachend erinnere ich mich an meinen ersten Abend in diesem Wohnzimmer, als Tim und Eileen sich ebenfalls eine Kissenschlacht geliefert haben. Jana flieht amüsiert zu Franzi und den anderen beiden auf den flauschigen Teppich, während Tim und ich uns mit Kissen bekriegen. »Tut euch nicht weh, Jungs«, sagt Margarete abwesend, während sie ihre Maschen zählt und Tim rollt fast vom Sofa. Ich hoffe, mein Tee ist in Sicherheit. »Dich krieg ich allemal!« »Ich trainiere mit Christian!« »Pah! Das spricht nur gegen dich!« Als ich schließlich wieder zu Atem komme, ist mein Tee soweit abgekühlt, dass ich ihn trinken kann, ohne mir die Zunge zu verbrennen. »Übrigens«, sagt Tim mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck, der mich sogleich alarmiert, »was haben meine aufmerksamen Ohren vernommen? Unser Benni ist verlii~ebt?« Margaretes Mundwinkel zucken und Eileen grinst wissend zu mir herüber. Ich laufe rot an. »Was? Wieso ist das wichtig?«, frage ich und nehme einen viel zu großen Schluck Tee, der mich prompt verräterisch zum Husten bringt. »Wann stellst du ihn uns denn vor? Muss ja ein heißer Feger sein!«, fährt Tim bestens gelaunt fort. Ich habe kaum Gelegenheit dazu, mich zu wundern, wann ich mich eigentlich vor der Familie geoutet haben soll, denn mein Gehirn verknotet sich peinlich berührt. »Du könntest ihn zu unserem Hauskonzert einladen«, meint Franzi und versucht unschuldig auszusehen. Achja, schießt es mir durch den Kopf. Jana und Franzi haben überlegt, dass es nett wäre, mit noch anderen Leuten Musik zu machen, weswegen Christian vorgeschlagen hat, Felix, Leon und Nicci einzuladen. Was dann auch sofort passiert ist. Deswegen ist am nächsten Wochenende volles Haus hier und ich habe bereits Anjo und Lilli dazu eingeladen. Das wäre die volle Breitseite für Gabriel! Ich weiß nicht, ob ich ihm das zumuten kann. »Das ist doch eine nette Idee«, verkündet Margarete und ich öffne den Mund, um zu widersprechen, gebe dann aber auf. Vielleicht hat er ja keine Zeit, denke ich ziemlich aufgeregt, während ich mein Handy hervor krame. »Hey! Hast du Lust nächstes Wochenende zu mir zu kommen? Meine Schwester und ein paar Freunde wollen Musik machen. Allerdings ist Christians ganze Familie da, und Anjo und Lilli auch. Wenn dir das zu viel ist, versteh ich das natürlich!« Ich warte darauf, dass die SMS sendet und mir wird plötzlich klar, dass ich »zu mir« geschrieben habe. Hier, zu mir nach Hause. Nicht »zum Haus der Familie Sandvoss«, auf den Dachboden. Sondern zu mir, in mein Zimmer. Ich bin mir sehr sicher, dass ich mich so bezüglich dieses Hauses noch nie ausgedrückt habe, aber ich habe keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weil mein Handy vibriert. »Klingt toll! Wann und wie komm ich dahin?« Ich schlucke, muss aber trotzdem lächeln. Mein Magen kribbelt zufrieden, wie immer, wenn ich an Gabriel denke. »Aw, die Liii~ebe!«, trällert Tim und ich haue ihn erneut mit einem Kissen. »Du bist genauso schlimm wie dein Bruder!«, rufe ich. Tim mimt den Geschockten. »Wie kannst du das nur sagen? Nimm es zurück!« Und die Kissenschlacht geht von vorn los. * Christian hat Anjo, Lilli und Sina im Schlepptau, als er Samstag um fünf die Haustür aufschließt und sich ausgiebig von seiner Familie und den Haustieren begrüßen lässt, bevor er sich mit einem breiten Grinsen zu mir umdreht. Lilli und Anjo stehen neben mir, deswegen fühle ich mich erst mal in Sicherheit. Aber natürlich lässt Christian es sich nicht nehmen, noch mal »Die Liebe ist ein seltsames Spiel« anzustimmen und Tim tänzelt laut lachend dazu durch den Flur, bis Eileen ihm einen Schlag auf den Hinterkopf gibt und ihn streng ansieht. »Halt die Schnauze«, sagt sie. Es ist recht erstaunlich, in wie vielen Leuten ich offenbar einen Beschützerinstinkt erwecke. Das Klingeln an der Tür lenkt mich von dem Rüffel ab, den Brigitte erteilt. So voll war der Eingangsbereich noch nie. Mein Herz springt mir beim Geräusch der Klingel automatisch in die Kehle, weil ich denke, dass es Gabriel sein könnte, aber es sind Leon, Felix und Nicci mit Gitarre und Bass im Gepäck. Ein riesiges Gewusel entsteht, weil die Hunde aufgeregt sind und Lydia nach Aufmerksamkeit verlangt, deswegen verstreuen sich erst einmal alle, um von Margarete Kuchen und Tee entgegen zu nehmen. Jana, Franzi und ihre musikalischen Gäste machen sich daran, die Musikinstrumente im Wohnzimmer rund um das Klavier aufzubauen und Chris und Tim werden dazu verdonnert, alle Stühle, die im Haus vorhanden sind, ins Wohnzimmer zu schleppen, damit alle eine Sitzgelegenheit haben. Ich stelle Lilli die Haustiere vor, während ich ein Stück Zitronenblechkuchen in der Hand halte und mit hämmerndem Puls darauf warte, dass es erneut an der Tür klingelt. Ich höre, wie Felix seine Gitarre stimmt und wie Jana und Franzi mit Nicci noch mal die Liederauswahl durchgehen. Es spricht für den Einfluss dieser Familie, dass Jana sich traut, vor so vielen Menschen Klarinette zu spielen. Etwas, das sie sonst nur vor mir getan hat. Ich beiße gerade von meinem Kuchen ab und sehe amüsiert dabei zu, wie Lilli mit Milkyway spielt, als es an der Tür klingelt und ich hastig aufspringe. Alle sehen zu mir herüber und ich versuche so hastig wie möglich meinen Kuchen zu schlucken. Ich bin so schnell im Flur, dass ich beinahe über Sir Mauncelot stolpere und Leon umrenne. Er zieht die Brauen hoch und seufzt, als wollte er sagen »Die Jugend von heute«. Ich denke daran, wie ich zum ersten Mal vor dieser Tür stand und geklingelt habe. Jetzt stehe ich dahinter und öffne von innen. Wow, Benni, schau mal wie weit du gekommen bist. »Hallo«, sagt Gabriel lächelnd, als ich ihm die Tür öffne, gerade als ich mein Stück Zitronenkuchen endlich ganz herunterschlucke. »Hey«, sage ich etwas atemlos und bitte ihn mit einer Handbewegung herein. Er hat Schnee in den Haaren und zieht seine Hände aus den Hosentaschen, um mich zur Begrüßung in den Arm zu nehmen. Ich bin mir der Blicke bewusst, die vermutlich gerade auf uns ruhen. Wer auch immer gerade durch den Flur geht, beobachtet uns garantiert. Ich bin sehr bemüht, mein Stück Kuchen nicht fallen zu lassen. »Kuchen?«, frage ich mit heiserer Stimme und halte das angebissene Stück hoch. Gabriel lacht angesichts meiner Nervosität und ich bewundere ihn dafür, wie er sich dieser Situation stellen kann, ohne aufgeregt zu sein. So viele neue Leute auf einmal… aber im Gegensatz zu mir ist Gabriel offensichtlich ein Künstler, was den Umgang mit fremden Menschen angeht. »Gleich. Sobald ich die Jacke ausgezogen habe«, gibt er schmunzelnd zurück und pellt sich aus seinen Schuhen und der dicken Jacke. Ich deute auf die Garderobe und erinnere mich daran, wie ich vor ein paar Monaten zum ersten Mal hier war und diese Garderobe eins der Dinge war, die ich mit meinem alten… Zuhause… verglichen hab. Jetzt hängt Gabriels Jacke direkt neben meiner und es kommt mir überhaupt nicht mehr komisch vor. »Toller Garten«, sagt Gabriel und schaut sich interessiert um. Seine Socken sind geringelt und ich möchte ihn sehr dringend küssen. »Ah! Gabriel!« Christian steckt den Kopf aus dem Wohnzimmer und ich möchte ihn gern erwürgen, als er mir zuzwinkert. »Chris, ärgerst du ihn schon wieder? Du kriegst es mit mir zu tun, wenn du nicht lieb zu ihm bist!« Eileen taucht neben Christian auf, entdeckt Gabriel und ich sehe, wie ihr Mund sich ein Stück weit öffnet. Ungewollt schwillt mir die Brust an vor Stolz. Ja, bewundere ihn nur, denke ich mir. Er sieht großartig aus. Und er ist mit mir zusammen. »Hey«, sagt Gabriel und wirkt nun tatsächlich ein bisschen verlegen. »Ich bin Eileen. Achte nicht auf Chris. Komm rein, wir haben Kuchen!«, sagt sie und winkt ihn herüber. Es folgt ein weiterer großer Tumult, weil alle Anwesenden sich Gabriel vorstellen möchten und alle wollen ihm Tee und Kuchen anbieten und die Haustiere wollen ihn beschnüffeln. Ich habe einen eifersüchtigen Moment, in dem ich ihn für mich allein haben möchte, um ihn zu küssen und mein Gesicht an seinem Hals zu vergraben, aber dann ist er auch schon verflogen und ich beobachte mit einem warmen Gefühl in der Bauchgegend, wie Gabriel mit Lilli und Anjo plaudert. »Vielleicht hätten wir Namensschilder tragen sollen«, meint Sina grinsend. Gabriel lacht. »Ach, ich denke, ich krieg das schon hin«, gibt er zurück. »Ich hab ein ziemlich gutes Namensgedächtnis.« »Das wichtigste ist, dass du mich und meinen missratenen Bruder nicht verwechselst, ansonsten ist es egal, wie du die Leute nennst«, erklärt Tim mit ernster Stimme und wirft einen Arm um Gabriel. Chris zeigt ihm den Mittelfinger. »Ihr seht euch schon ziemlich ähnlich«, sagt Gabriel verschmitzt und Tim macht eine theatralische Geste. »Blasphemie!«, ruft er und fängt sich zum zweiten Mal einen Schlag von Eileen ein. »Sei nicht albern. Du siehst genauso aus wie Chris. Nur mit viel weniger Muskeln«, stichelt sie und Tim und sie jagen von dannen, vermutlich, um zu raufen. »Ich hätte auch gern Geschwister«, sagt Anjo seufzend und sieht ihnen nach, als hätte er gerade etwas besonders Rührendes beobachtet. Lilli grinst. »Kannst eine von meinen abhaben«, bietet sie ihm an. »Wie viele Geschwister hast du?«, erkundigt Gabriel sich interessiert und ich bin voller Bewunderung, weil ihm solche Fragen so leicht von den Lippen gehen. Ich weiß noch, als ich Tessa und Erik kennen gelernt hab, hat mir jede gestellte Frage einen Schweißausbruch beschert. »Ich bin eine von Drillingen«, sagt Lilli und Gabriel klappt erstaunt der Mund auf. »Krass!«, meint er und Lilli lacht. »Ja, das ist es wohl. Dafür sind die bunten Haare, damit man mich nicht verwechselt«, erklärt sie zwinkernd. »Hier mein Junge, nimm noch mehr Kuchen!«, meldet sich Margarete zu Wort und drückt Gabriel sein zweites Stück Blechkuchen in die Hand. »Vielen Dank. Er ist wirklich sehr lecker«, antwortet Gabriel höflich und Margarete lächelt zufrieden. »Ich mag ihn«, erklärt sie mir, als wollte sie mir raten, ihn dringend zu behalten. Nunja, ich habe fürs Erste wirklich nichts anderes vor, denke ich mir im Stillen und sehe voller Entzückung, wie Gabriel ein wenig rot wird. Es steht ihm ganz hervorragend. »Alle sind so nett«, flüstert er mir zu. »Ja, ich weiß. Es ist überwältigend«, gebe ich zurück. »Hättest mich an meinem ersten Abend hier sehen sollen. Tims Kater hat mich als Sitzkissen missbraucht, ich hab mich so geehrt gefühlt, dass ich mich nicht einen Millimeter bewegt hab.« Gabriel lacht und greift mit seiner freien Hand nach meinen Fingern. In der anderen hält er den Kuchen und beißt ab. »Du leuchtest richtig zwischen all den Leuten«, sagt er zwischen zwei Bissen und schaut zu Jana herüber, die mit Franzi einen Notenständer aufbaut. »Tatsächlich?«, gebe ich verwundert zurück und folge seinem Blick. Jana leuchtet auch. Vielleicht sehe ich genauso aus wie sie. Gabriel nickt. »Und ist dir aufgefallen, dass Christian uns anschaut, als gebühre ihm der Dank für uns?«, fragt Gabriel amüsiert. Ich schnaube. »Er hat mir mal in der Umkleide »Die Liebe ist ein seltsames Spiel« vorgesungen. Und vorhin schon wieder, im Flur. Ich glaub, er denkt, dass er uns verkuppelt hat«, entgegne ich und Gabriel lacht laut bei der Vorstellung, wie Christian dieses Lied gesungen hat. »Du musst mir später zu all den Leuten noch mehr erzählen«, bittet Gabriel mich und ich lächele und nicke, gerade als Franzi verkündet, dass sie jetzt fertig sind und es losgehen kann. Gabriel und ich finden Stühle nebeneinander. Für Margarete haben die Jungs ihren Stammsessel näher herüber gezogen, sodass sie nun darauf thront und gespannt die Hände im Schoß gefaltet hat. Ich beobachte Franzi, Jana, Nicci, Leon und Felix. Gabriel sucht wieder nach meiner Hand und drückt sie zufrieden. Hermine streicht um seine Beine herum und setzt sich vor ihn hin. Er bückt sich zu ihr herunter, um sie zu streicheln und sie schnurrt zufrieden. Ich wünschte, ich könnte diesen Moment einfrieren. Alle sind hier. Es befinden sich sechzehn Leute in diesem Wohnzimmer und selbst Lydia ist artig und still, während sie bei ihrem Papa auf dem Schoß sitzt und gespannt wartet. Sechzehn Menschen, die mein Leben irgendwie verändert haben. Und sei es in Niccis Fall nur durch ihre Stimme auf einem Konzert, die »Schrei nach Liebe« von den Ärzten singt. Es ist merkwürdig, alle diese Menschen auf einem Haufen zu sehen. Es ist wie ein Spaziergang durch die letzten Monate meines Lebens. Ich wandere mit jedem Gesicht durch Momente meiner nahen Vergangenheit und das neue Gefühl von hier-hin-gehören saugt begierig jede Erinnerung in sich ein und plustert sich zu ungeahnter Größe auf. Natürlich fing alles mit Anjo an. Ich beobachte sein lächelndes Profil, den schlanken Hals, den dicken, viel zu großen Pullover, den Christian ihm geschenkt hat und es kommen Erinnerungen hoch, von Feiern und Obstsalat und Krankenhausbesuchen, von Vergebung und Chancen und Freundschaft. Mein Herz fühlt sich an, als würde es auf die doppelte Größe anschwellen. Jana wird auf ewig der wichtigste Mensch in meinem Leben sein, aber Anjo – gutmütiger, hilfsbereiter, sanftmütiger Anjo – hat den unangefochtenen zweiten Platz eingenommen. Ich würde für ihn durch die Hölle und wieder zurück gehen, um einen Bruchteil dessen zurück zu geben, was er für mich getan hat. Ich sehe, wie Felix Leon zuzwinkert und bin amüsiert darüber, dass Leon rot wird, ich betrachte Lillis pinken Haarschopf und Sinas elegant übereinander geschlagene Beine. Ich erinnere mich an Tee auf einem Autorücksitz, an Faustschläge und Kekse, an Nachhilfestunden und Umzugsbeistand, an Gespräche im Auto über eine unsichere Zukunft… Ich kenne das erste Lied nicht, aber Jana hat mir erzählt, was sie alles spielen wollen und ich glaube, dieses Lied könnte von den Beatles sein. Womöglich heißt es »Let it be«, aber ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Fast hätte ich vergessen, wie beeindruckend Niccis Stimme klingt. Vor allem in so einem geschlossenen, stillen Raum, wo nicht mehrere hundert Leute dazwischen grölen, hört sie sich besonders schön an. Die Instrumente passen sehr gut zusammen und ich bin recht erstaunt davon, wie besonders Leon mit seinem Akustikbass wirkt. Es ist doch etwas anderes, ihn so zu sehen, als mit Mikro vor der Nase, elektrischem Bass und seinem üblichen, grimmigen Gesichtsausdruck. Er sieht beinahe friedlich aus. Ich denke zurück an die Szene vor der Konzerthalle, als Leon mit mir darüber geredet hat, wie ich wirklich kein Problem damit haben sollte, dass ich auf Männer stehe. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein. Felix mit seinem hübschen Gesicht lächelt kaum merklich und beißt sich ab und an auf die Unterlippe, während seine schlanken Finger sich auf den Saiten der Gitarre auf und ab bewegen. Wenn er mit seinem Erklär-Genie nicht gewesen wäre, dann wäre ich sehr wahrscheinlich nicht zum Abitur zugelassen worden. Flackernd huscht die Erinnerung an seinen wie in Stein gemeißelten Gesichtsausdruck durch meinen Kopf, als er meinen Erzeuger angeschaut hat. Er ist auf eine ganz andere Art als Gabriel oder Christian gefährlich, jemand, den man eindeutig nicht zum Feind haben möchte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass er mich gut leiden mag und ich ihm ganz beruhigt den Rücken zudrehen kann. Sobald Felix und Leon zusammen ziehen, werde ich so viele schwere Kisten wie möglich tragen, um einen winzigen Bruchteil dessen zurück zu geben, was so ein Abitur und die Hilfe bei einer traumatischen Erfahrung wiegt. »Das hier ist mein neues Leben«, möchte ich Gabriel erklären und unerwartet und absolut peinlicher Weise fangen meine Augenwinkel an zu brennen. Ich schlucke mehrmals entschlossen und blinzele, während mir einmal mehr – und diesmal mit ungeahnter Heftigkeit – klar wird, dass ich nie wieder zurück muss in das alte, dunkle, abgrundtiefe Loch, aus dem ich gekrochen bin. Oder besser: Aus dem ich gezogen wurde. Von all den Menschen, die hier sitzen und lächeln und der Musik zuhören und Musik machen. »Alles ok?«, flüstert Gabriel leise, dem meine plötzliche Gefühlsregung offensichtlich aufgefallen ist, denn er drückt meine Hand ein wenig fester und mustert mich unauffällig von der Seite, während Nicci ein Lied von Franzis Lieblingssängerin, Amy MacDonald, singt, das Franzi mir auch schon einmal vorgespielt hat. Es ist nicht unbedingt meine Art von Musik, aber ich mag den Text und die Zeile »Your time will come« hilft nicht, meine rührselige Stimmung zu lindern. Ich nicke ziemlich hastig und Gabriel lehnt seinen Kopf an meine Schulter. Hinter uns fängt Lydia an zu zappeln und verkündet, dass sie auch Gitarre lernen will, was Felix zum Grinsen bringt und Johannes dazu veranlasst, mit der Kleinen in den Flur zu gehen, damit wir in Ruhe weiter zuhören können. Die Fünf haben sich auf insgesamt zehn Lieder geeinigt, aber als sie am Ende dieser Lieder angelangt sind, verlangen alle eine Zugabe und sie improvisieren noch drei weitere Lieder, bevor ihnen die allgemein bekannten Musikstücke ausgehen und Leons Magen so laut knurrt, dass er alle damit zum Lachen und sich selbst zum Erröten bringt. »Willst du den Rest vom Haus sehen?«, frage ich Gabriel leise und er nickt lächelnd, während Brigitte vorschlägt, einfach ein paar Familienpizzen zu bestellen und uns noch fragt, was wir gern als Belag hätten, bevor wir uns aus dem Trubel entfernen und nach einem kurzen Blick in die Küche und das Bad in den ersten Stock hinauf steigen. »Das ist ein echt riesiges Haus«, sagt er beeindruckt und mustert amüsiert das Poster, das an Tims Tür hängt. Ich erinnere mich daran, wie Franzi und Jana mir das Haus an meinem ersten Abend gezeigt haben. Es wirkte damals sehr viel riesiger als jetzt noch. Mittlerweile ist es mit Erinnerungen gefüllt und ich kenne die Menschen, die hier leben, jetzt viel besser. Ich war schon in allen Zimmern, außer dem elterlichen Schlafzimmer und Margaretes Zimmer, ich habe mit Tim in seinem Zimmer Bier getrunken und Playstation gespielt, mit Eileen Englisch gelernt und Lydias Puppenhaus repariert. »Es wird weniger riesig, wenn man länger drin wohnt«, gebe ich zurück und deute etwas zaghaft auf die steile Treppe, die hinauf zum Dachboden führt, auf dem ich nun seit etwa drei Monaten wohne. Gabriel wirft einen interessierten Blick nach oben und fängt dann an, die Stufen zu erklimmen. Ich folge ihm etwas nervös. Das Zimmer zeigt deutlich, dass ich immer noch Probleme mit der Größe des Dachbodens habe. Ich habe mittlerweile alle Möbel in die hintere Hälfte des Dachbodens geschoben, sodass es dort aussieht, als wäre er weniger als halb so groß. Der vordere Teil ist vollkommen leer. »Ich hatte nicht genug Kram für all den Platz«, sage ich etwas verlegen und schließe die Tür leise hinter uns. Gabriel betrachtet die Dachfenster, auf denen sich Schnee sammelt. Dann betritt er beinahe andächtig den Bereich, den ich zu meinem eigenen gemacht habe und sein Blick bleibt direkt an den Fotos hängen. »Ein kleiner Benni!«, sagt er und beugt sich etwas hinunter zur Kommode, auf der ich die meisten meiner Fotos abgestellt habe, nachdem sie so viele Jahre auf der kalten, geräumigen Fensterbank in Janas und meinem winzigen Zimmer verbracht haben. »Ja, man glaubt es kaum«, gebe ich mit einem schiefen Lächeln zurück. Gabriel schmunzelt. »Die Zahnlücke steht dir ausgezeichnet«, meint er mit einem Schmunzeln und ich kratze mir verlegen den Hinterkopf. Es hat für mich etwas unheimlich Intimes, jemandem mein Zimmer zu zeigen, auch wenn das hier bei weitem nicht so krass ist wie die Erfahrung, als Chris, Leon und Felix in mein altes Zimmer kamen. Aber Gabriel weiß vor allem noch so wenig über mich und ich weiß kaum etwas über ihn und einen winzigen Augenblick lang bekomme ich wieder Panik darüber, was das für unsere… Beziehung bedeutet. Wir sind gerade erst in der Kennenlern-Phase. Aber vielleicht ist das auch nichts Schlechtes. Es ist noch ein neuer Anfang innerhalb meines großen, neuen Anfangs. Mittlerweile könnte man meinen, ich hätte mich an Umbrüche gewöhnt. »Wenn du mir also beim Training einen Zahn ausschlägst, weiß ich, dass du mich dann immer noch gut findest«, scherze ich und Gabriel richtet sich auf, um mich eindringlich zu mustern. »Ich glaube an diesem Punkt gibt es kaum noch Dinge, die du tun kannst, damit ich dich nicht mehr großartig finde«, gibt er zurück und seine Offenheit bringt mich erneut zum Schwitzen. Weiß der Geier, wie er das tut, vor allem, weil er einem dabei so offen in die Augen schaut und nicht einmal mit der Wimper zuckt. »Oh«, ist alles, was mir dazu einfällt und ich rutsche nervös von einem Fuß auf den anderen. Gabriel beobachtet mich einen Wimpernschlag dabei, dann wendet er sich wieder dem Raum zu und mustert jede Kleinigkeit. »War da unten im Wohnzimmer eigentlich grad wirklich alles in Ordnung?«, fragt Gabriel beiläufig, während er erneut die Fotos betrachtet und ab und an lächelt. Ich mustere ihn eindringlich dabei und fahre mir mit der Hand peinlich berührt über den Nacken. »Naja… ich… äh… etwas rührselig geworden, weil all die Leute, die mir was bedeuten, in einem Zimmer versammelt hatte und das war… ziemlich überwältigend«, erkläre ich verlegen und starre auf meine recht ausgelatschten Socken im Kontrast zum hellen Holzfußboden. »Kann mir vorstellen, dass das Eindruck machen kann«, entgegnet er behutsam und ich zucke überrascht zusammen, als sich eine zärtliche Hand in meinen Nacken schiebt. Ich schaue auf und hatte beinahe vergessen, dass wir uns ja jetzt immer anfassen können. Als… Paar. »Willst du vielleicht ein bisschen erzählen? Über die Leute? Und warum sie wichtig sind?«, fragt Gabriel und ich lehne meine Stirn an seine. »Ok.« Wir setzen uns aufs Bett und Gabriel rutscht ganz nah an mich heran und verhakt seine Finger mit meinen. Ich betrachte unsere Hände einen Augenblick und kann immer noch nicht so recht fassen, dass ich ihn verdient habe, aber dann schlucke ich, denke kurz nach und hole tief Luft. »Also… alles hat mit Anjo angefangen«, sage ich schaue hoch zur Decke, während die Bilder wie schon unten im Wohnzimmer meinen Kopf fluten und jede winzige Ecke ausfüllen, bis ich alles ganz genau vor mir sehen kann. Den Anfang von allem. Der Tag, an dem ich nach den Ferien in die neue Klasse kam und mit Anjo viel zu früh vorm Klassenraum stand. Die grünen Augen, die unsichere Stimme, das Unwissen darüber, was dieser kleine Dominostein in Gang setzen würde… »Du bist neu, oder?« Ich bin immer noch neu. In dieser Art von Leben. Es ist merkwürdig, aber auch sehr, sehr wunderbar. Es ist, als würde ich Gabriel an die Hand nehmen und durch die wichtigste Zeit meines Lebens führen, wie durch ein Museum. Ob nun auf dem richtigen Weg oder am tatsächlichen Ziel, es gibt auf jeden Fall keinen Grund mehr zur Flucht. 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