Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 15: Das gescheiterte Meditieren --------------------------------------- Was habe ich mir nur dabei gedacht, zuzusagen? Ich kann Gabriels beste Freunde auf keinen Fall kennen lernen. Sie werden mich hassen. Garantiert. Und ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich krieg meine Zähne ja in diesem Haushalt kaum auseinander, wie soll das dann erst mit zwei fremden Leuten werden, bei denen ich Wert darauf lege, dass sie mich nicht bescheuert finden? Oh Gott. Hatte ich erwähnt, dass ich nur noch etwa zehn Meter von dem kleinen Café entfernt bin, in dem ich Gabriel und seine beiden unheimlich wichtigen besten Freunde treffe. Ich kenne kein einziges Musical. Sie werden mich bescheuert finden… Gabriel sieht selbstredend umwerfend aus. Er trägt einen dunkelroten Pulli und eine hellblaue Jeans und ich würde ihm gern sagen, dass er der hübscheste Mann ist, den ich je gesehen habe, aber ich bin zu aufgeregt, um irgendetwas zu sagen, weswegen mein »Hallo« zu einem heiseren Gurgeln verkommt. »Hey! Wir haben da hinten in der Ecke einen Tisch ergattert«, erklärt Gabriel mir, nachdem er mich zur Begrüßung umarmt hat – allein das ist schon Grund genug für einen neuerlichen Herzinfarkt – und deutet auf einen kleinen runden Tisch ziemlich weit hinten in dem vollen Café. »Es gibt auch Waffeln«, sagt er grinsend. »Die mit Puderzucker. In Herzchenform.« Erde, tu dich auf und verschling mich. Der Gang zum Tisch kommt mir vor wie der Weg zum Galgen. Erik habe ich schon einmal kurz beim Training gesehen und ich erkenne ihn sofort. Seine offenbar dunkelrot gefärbten Haare stehen in alle Richtungen von seinem Kopf ab, er trägt ein bunt gemustertes, sehr enges Shirt und eine knallrote, nicht minder enge Hose. Ein dicker, gelber Wollschal macht den Paradiesvogeleindruck perfekt. Tessa hingegen sieht weniger bunt aus. Sie trägt ihre roten Haare kinnlang, hat eine gerahmte Brille auf der Nase und das gesamte Gesicht voller Sommersprossen. Ihr schwarzer Rollkragenpullover lässt sie ziemlich blass aussehen. Beide grinsen mir zu, als Gabriel und ich uns dem Tisch nähern und zu meinem Entsetzen erheben sie sich beide. »Hallo!«, sagt Erik begeistert und strahlt mich an wie ein explodiertes Atomkraftwerk, »Ich bin Erik! Darf ich dich umarmen?« Ich öffne den Mund, schließe ihn wieder, gebe ein undefinierbares Geräusch von mir und nicke letztendlich ergeben, woraufhin sich Gabriels bester Freund um meinen Hals wirft. Ich taumele einen Schritt rückwärts und bin erstaunt, wie viel Kraft Erik hat, bis mir wieder einfällt, dass er sehr viel tanzt und dementsprechend vermutlich nicht viel weniger muskulös ist als Gabriel, auch wenn man es seiner Statur nicht ganz so doll ansieht. »Benni.« Wow, ich hab es geschafft meinen Namen zu krächzen. Erik entlässt mich aus seinem Schraubstockgriff und ich bin irgendwie froh, dass Tessa mit einfach schmunzelnd die Hand hinstreckt. »Schön, dass du kommen konntest«, sagt sie und drückt meine Hand. Ich schäle mich ungeschickt aus meiner dicken Jacke und Margaretes selbstgestricktem Schal und hänge beides über den letzten freien Stuhl, bevor ich mich neben Gabriel niederlasse. »Gabriel sagt, dass du euren Coach persönlich kennst«, meint Erik mit großen Augen und stützt sein Kinn auf seinem Handballen ab. Ich blinzele verwirrt und nicke dann. »Ja… er ist der Freund meines besten Freundes«, erkläre ich und denke unweigerlich an Christians und meine erste Begegnung. Damals waren die beiden noch weit davon entfernt ein Paar zu werden. Aber gut, diese Erklärung muss für die fremden Ohren genügen. »Schande, er ist vergeben«, sagt Erik theatralisch und schüttelt gespielt resigniert den Kopf. Tessa schnaubt. »Dein zweiter Besuch bei deinem besten Freund und du denkst schon wieder dran, Leute abzuschleppen?« »Hey! Ich habe Bedürfnisse!« »Kein Grund, Benni direkt zu vergraulen.« Ich schaffe es zwar nicht, meine Nervosität komplett abzustellen, aber es wird nach einiger Zeit besser und ich traue mich sogar, ein paar Fragen zu stellen. Gabriel und ich teilen uns eine Portion Waffeln, was bei seinen besten Freunden ein amüsiertes Schmunzeln und bei mir einen hochroten Kopf hervorruft. Erik erzählt von dem Kinderchor, den er leitet, und von seiner selbstgegründeten Musical-Gruppe, die in zwei Monaten ein eigens geschriebenes, kurzes Musical aufführen werden. Ich merke, dass ich mit meinem Leben noch nicht allzu viel angefangen hab, aber gut, wann auch, wenn ich die meiste Zeit versteckt in meinem Zimmer darauf gehofft habe, nicht verprügelt zu werden? Tessa redet bei weitem nicht so viel wie Erik und beobachtet schweigend und aufmerksam ihre Umgebung, eine Tatsache, die mich womöglich noch nervöser macht als Eriks blubbernde Art. Gabriel leuchtet richtig in der Gegenwart seiner besten Freunde und ich muss lächeln, als ich an Lilli und Anjo denke. Vielleicht wäre es mit den beiden andersrum. Lilli würde reden und Anjo würde schweigend zuhören. Ob ich mal dazu komme, Gabriel und die beiden einander vorzustellen? »Wie kommt’s, dass ihr nicht auch den Abend miteinander verbringt?«, will ich wissen als ich daran denke, dass Gabriel ja später noch mit mir meditieren will. »Erik und ich haben Karten fürs Theater und Gabriel steht nicht so auf Theater«, erklärt Tessa und nippt an ihrem Latte Macchiato. »Aber wir bleiben ohnehin noch ein paar Tage.« Ich bestelle eine heiße Schokolade und lausche interessiert, während es um die neue Kampfsportschule von Gabriels Familie geht, um Eriks Tanzbegeisterung, die er an Gabriel weitergegeben hat, und darum, dass Erik und Gabriel gern miteinander trainieren. »Wie macht ihr das?«, erkundige ich mich etwas verwirrt. »Es sieht eigentlich ein bisschen aus, als würden die beiden miteinander tanzen. Jeder zieht sein Ding durch, aber es schaut oft aus wie eine einstudierte Choreographie. Solltest du dir irgendwann mal angucken, es ist toll«, erklärt Tessa lächelnd. Ich wünschte, ich könnte einschätzen, ob sie mich total bescheuert findet. Erik scheint mit seiner offenen und spritzigen Art leicht zufriedenzustellen sein. »Das würd ich ja gern mal sehen«, murmele ich verlegen und nehme konzentriert die heiße Schokolade entgegen, die mir ein Kellner reicht. Ich sehe, wie Tessa und Erik sich einen Blick zuwerfen und dann anfangen zu grinsen. »Wir können ja noch in Gabriels Halle vorbeischauen«, meint Erik und das enthusiastische Funkeln in seinen Augen wirkt beinahe ein wenig gruselig. Ich schließe daraus, dass er schon länger nicht mehr mit Gabriel trainiert hat und deswegen ganz scharf darauf ist. »Wäre das ok für dich?«, fragt Gabriel mich, während ich in meine Schokolade puste, um sie etwas abzukühlen. Ich nicke nur und verbrenne mir ein wenig die Zunge, weil ich vor Verlegenheit einen zu schnellen Schluck nehme. Es macht mich immer noch unheimlich nervös, wenn Gabriel mich so ansieht. Wenn er mich irgendwie ansieht. Mit mir sind Hopfen und Malz verloren. »Wie schön«, sagt Tessa und streicht sich ein paar Strähnen ihrer roten Haare aus dem Gesicht. Sie sieht wirklich zufrieden aus. Aber mir wird bewusst, dass ich mit ihr zusammen und allein am Rand der Halle sitzen werde, während Gabriel und Erik sportliche Dinge miteinander tun… Es kann sich also nur noch um wenig Zeit handeln, bevor sie anfängt mich total bescheuert zu finden. Wenn sie das nicht jetzt schon tut. Ich bin normalerweise so gut darin, Menschen einzuschätzen, aber Tessa sitzt da lässig auf ihrem Platz und sieht aus wie ein unlösbares Mysterium. »Jetzt bin ich ein bisschen nervös«, sagt Gabriel leise zu mir und lächelt. Mein Herz stolpert heftig und ich habe einen Augenblick lang den dringenden Wunsch, seine Hand zu nehmen. Aber vor Tessa und Erik traue ich mich schließlich doch nicht und eine Viertelstunde später sind wir auf dem Weg zu der Kampfsportschule von Gabriels Familie. Es gibt mehrere Trainingsräume und eine kleine Halle. All die Räume sind momentan leer und Erik und Gabriel entscheiden sich für die Halle, weil sie offensichtlich ziemlich viel Platz brauchen. Während die beiden sich umziehen und dann anfangen sich aufzuwärmen, setze ich mich mit Tessa an den Rand auf eine kleine Sitzbank. Ich verschlinge nervös meine Finger ineinander und sehe unverwandt Gabriel und Erik an, die sich gemeinsam Dehnen. Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwas sagen sollte. Sag irgendwas. Irgendwas, Benni. Los. »Wie habt ihr euch kennen gelernt?«, frage ich, nachdem ich mich zwei Mal versuchsweise geräuspert habe. Tessa gruselt mich. Wir beide sehen weiterhin hinüber zu Gabriel und Erik, die mittlerweile schwer atmen, was wohl bedeutet, dass das Aufwärmen bald abgeschlossen sein wird. Zu meinem Entsetzen hat Gabriel beschlossen, dass das Trainieren ohne Oberteil am besten wäre und sein freier Oberkörper schreit nach Aufmerksamkeit, aber ich bemühe mich, ihn so gut es geht zu ignorieren. »Ich kenne Erik schon seit dem Kindergarten«, sagt Tessa und betrachtet ihre Fingernägel. Sie ist sehr hübsch. Nicht unbedingt zahnpastamodelhübsch, aber eindeutig hübsch wie ein Waldbrand. Man sieht sie fasziniert und bewundernd an, aber man kommt ihr womöglich besser nicht zu nahe. »Gabriel haben wir in der siebten Klasse kennen gelernt. Erik ist damals kurz nach Schulbeginn im Rock zur Schule gekommen…« Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke und lasse es zu einem trockenen Hüsteln verkommen. Klar. Erik im Rock. Wieso wundert mich das nicht? Er scheint wirklich ein Paradiesvogel zu sein. »Wahrscheinlich kannst du dir ungefähr vorstellen, wie die anderen das fanden«, fährt Tessa fort und ich riskiere einen Blick zu ihr hinüber. Sie mustert Gabriel und Erik mit schief gelegtem Kopf, während sie sich behutsam ihre Brille auf der Nase nach oben schiebt. »Allerdings«, gebe ich zurück. Tessa dreht den Kopf und betrachtet mich. Es ist ein Blick, der so durchdringend ist, dass ich mich plötzlich sehr klein fühle. »Im Sportunterricht wollten ein paar der Jungs Erik draußen stehen lassen«, erklärt Tessa und schaut wieder hinüber zu Erik und Gabriel, was mich leicht aufatmen lässt. Mein Magen zieht sich zusammen bei der Erinnerung an Anjo, den ich nicht in die Jungenumkleide gelassen habe. »Und Gabriel hat die Tür aufgemacht und zu ihnen gesagt, dass sie nur Schiss haben, dass unter Eriks Rock mehr steckt, als bei ihnen in der Hose und sie sich gefälligst verpissen sollen…« Ich wage einen weiteren Blick auf Tessa und stelle fest, dass sie bei der Erinnerung daran lächelt. Es bereitet mir überhaupt keine Probleme, mir einen dreizehnjährigen Gabriel vorzustellen, wie er wütend die Tür aufreißt und diese Jungs anmeckert. Lillis Stimme hallt durch meinen Kopf und ihre wütenden Augen starren in meinen Gedanken direkt in meine. »Halt die Schnauze und werd erwachsen. Elendes Weichei!« Vermutlich haben Gabriels Augen genauso dreingeblickt wie die von Lilli. »Gabriel hat Erik und mir beigebracht, nie vorschnell über irgendwen zu urteilen. Wen man nicht kennt, den kann man auch nicht verabscheuen. Und er war unheimlich wütend auf sich, als ihm klar geworden ist, dass er angefangen hat zu urteilen. Über dich zum Beispiel. Diese homophoben Arschlöcher haben ihn dazu gebracht schneller zu urteilen. Er hat ein schlechtes Gewissen deswegen.« Ich blinzele überrascht. Meine Augen folgen Gabriel. Die Vorstellung, dass auch er sich selbst manchmal verabscheut, kommt mir merkwürdig vor. »Deswegen ist er wieder viel ruhiger geworden, seit er mit dir zu tun hat. Er hat dich falsch beurteilt und das hat ihm gezeigt, dass seine vorherige Philosophie richtig war. Du hast ihn eines Besseren belehrt, nachdem er dich in eine Schublade sortiert hatte. Es ist ein bisschen, als hättest du seinen Glauben an die Menschheit wieder zurückgeholt.« Tessa dreht sich zu mir um und lächelt mich an. Und zum ersten Mal, seit ich sie getroffen habe, erkenne ich ganz klar, welche Emotionen sie gerade bewegen. In diesem Moment ist es Dankbarkeit. Ich bin mir zwar nicht sicher, dass ich sie verdient habe, aber sie ist da. Der Gedanke, dass gerade ich Gabriels Glauben an das Gute im Menschen wiederbelebt habe, ist völlig unvorstellbar und trotzdem muss ich so breit Lächeln, dass es sich anfühlt, als würden meine Mundwinkel gleich meine Ohren erreichen. »Tessa? Machst du mal Musik an?«, ruft Erik zu uns herüber und Tessa steht auf, geht in die kleine Kabine, die an die Halle grenzt, und ich bin einen Augenblick lang verwirrt, aber dann erinnere ich mich daran, dass Erik ja tanzt und dass die drei meinten, dass das gemeinsame Training oft aussieht wie eine einstudierte Choreographie. Erik und Gabriel stehen sich jetzt gegenüber und ich sehe fasziniert zu, wie sich jeder sichtbare Muskel in Gabriels Körper anspannt. Die Musik, die dann laut durch die Halle tönt, kenne ich nicht, aber sie lässt mir Gänsehaut über die Unterarme kriechen. Es ist ein instrumentales Stück und ich will Tessa gerade fragen, wie die beiden darauf gekommen sind, gemeinsam auf diese Art zu trainieren, als Bewegung in Gabriel und Erik kommt und ich kein Wort mehr herausbringe. Erik und Gabriel lassen so selten wie nur möglich die Augen voneinander und wenn ich nicht wüsste, dass es unmöglich ist, dann würde ich denken, dass sie telepathisch miteinander kommunizieren. Es ist ein Wirbel aus Körpern, die so mühelos aufeinander eingehen, als wären sie zwei Teile eines großen Ganzen. Gabriels Bewegungen variieren zwischen Härte und fließender Weichheit und Erik scheint vollkommen aus Gummi zu sein. Er verbiegt sich und dreht sich und sieht bei jeder seiner Bewegungen so elegant aus, als wäre er tanzend auf die Welt gekommen. Wenn Gabriel in Eriks Richtung tritt, dann biegt sich Erik zur Seite, um dem Tritt zu entgehen. Wenn Erik Gabriel mit einer Pirouette zu nah kommt, dann wirbelt Gabriel aus seiner unmittelbaren Reichweite, nur um dann wieder von seinem besten Freund angezogen zu werden, als wären sie Planet und Mond, die sich der Schwerkraft des jeweils anderen nicht entziehen können. Ich bin neidisch, weil ich nicht tanzen kann und weil ich nicht sportlich und geübt genug bin, um jemals so etwas mit Gabriel zu tun. Es ist das Schönste, was ich jemals gesehen haben und erst, als Tessa mir sachte den Finger unter das Kinn legt, stelle ich fest, dass mein Mund halboffen stand. »Was für Musik ist das?«, krächze ich verlegen und richte mich ein wenig auf, ohne meine Augen von dem ineinander versunkenen Paar zu wenden. »Das erste Lied war aus dem Soundtrack von Fluch der Karibik. Das jetzt kommt aus dem Musical König der Löwen«, erklärt sie. Auch sie mustert die beiden mit einem Funkeln in den Augen, aus dem ich Stolz und Begeisterung und sehr viel Liebe lese. Das Lied wird für kurze Zeit langsamer und Erik und Gabriel bewegen sich kreisend umeinander herum wie zwei Raubtiere, die jeden Moment zum Sprung ansetzen könnten, bis die Musik wieder schneller wird und ich zwischenzeitlich kaum ausmachen kann, welche Gliedmaßen zu wem gehören. »Ich hatte noch nie das Bedürfnis, tanzen zu können«, platzt es aus mir heraus und Tessa lacht leise. »Ja, ich kann’s auch nicht besonders gut. Nicht gut genug für sowas, auf jeden Fall«, gibt sie zurück. Es dauert ein paar Sekunden, bis Tessa wieder spricht. »Dieser Junge, den Gabriel verprügelt hat, der hat Glück gehabt«, meint sie leise. Ich runzele verwirrt die Stirn, will Tessa aber nicht ansehen, weil ich dann meinen Blick von dem spektakulären Schauspiel vor mir abwenden müsste. »Glück?«, gebe ich fragend zurück. Soweit ich gehört hab, hatte der Kerl nicht wirklich das, was man Glück nennt. »Du siehst ihn doch«, sagt Tessa. »Er ist schnell, gelenkig und stark. Ein falsches Wort und man liegt am Boden, bevor man überhaupt blinzeln kann. Seit er sechs ist, macht er die verschiedensten Sportarten. Ich weiß nicht, ob es irgendwas gibt, was er noch nicht ausprobiert hat. Tischtennis, Schwimmen, Capoeira, Leichtathletik… Ich glaub, der einzige Mensch, von dem ich weiß, der Gabriel im Zaum halten könnte, wenn er mal austickt, ist sein Bruder.« Mir war immer irgendwie klar, dass Gabriel gefährlich ist. Aber wahrscheinlich hat Tessa Recht. Der Junge hat Glück gehabt. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so bewegt wie Gabriel. Dumpf frage ich mich, was für eine krasse Kampfmaschine Gabriels Bruder sein muss, wenn er Gabriel überlegen ist. Nach fünf Liedern halten Erik und Gabriel schließlich inne. Keuchend und schwitzend wenden sie sich strahlend zu uns beiden um und ich schwanke zwischen dem Bedürfnis, den beiden zu applaudieren und zu Gabriel zu rennen und ihn besinnungslos zu knutschen. Letztendlich tue ich nichts von beidem, sondern sehe nur zu, wie Erik und Gabriel sich gegenseitig auf die Schulter klopfen. »Und? Wie fandest du es?«, will Gabriel schwer atmend wissen und bleibt vor mir stehen. »Beeindruckend«, gebe ich peinlich berührt zurück und Gabriel strahlt zu mir herunter. Ich sehe einer Schweißperle zu, wie sie seinen Oberkörper hinunterläuft und in seinem Bauchnabel verschwindet. Reiß dich zusammen, Benni! * »Deine Freunde sind nett«, erkläre ich Gabriel, als wir allein sind, nachdem Tessa und Erik sich wegen des Theaterstücks von Gabriel und mir verabschiedet haben. Wir sind wieder in die Halle und Gabriel hat die Lichter gedämmt, sodass wir nun mehr oder minder im Dunkeln mitten in der Halle sitzen. Gabriel hockt hinter mir, während ich meine Beine in einem Schneidersitz gekreuzt habe. Die Tatsache, dass ich ihn nicht sehen, sondern nur hinter mir fühlen kann, macht mich ziemlich nervös. Auf die übliche, kribbelige Art und Weise. »Freut mich, dass du sie magst. Die beiden konnten dich auch echt gut leiden«, entgegnet er und ich höre das Lächeln in seiner Stimme. Erleichtert atme ich aus. »Gott sei Dank«, murmele ich und Gabriel lacht leise. »Es ist schwer, dich nicht zu mögen«, versichert er mir und legt seine Hand auf mein Kreuz, um mich dazu zu bringen, mich gerade hinzusetzen. Mein Magen fühlt sich an wie ein Ameisenhaufen. Mir fällt es sehr schwer, mich zu mögen. Aber ich muss ja auch Tag und Nacht mit mir leben. Ich bin nicht sicher, ob heute der beste Tag zum Meditieren ist. Ich muss die ganze Zeit an Gabriel denken, wie er mit Erik durch die Halle gewirbelt ist und wie wunderschön er dabei aussah. Das wiederum macht mich aufgeregt und wer aufgeregt ist, der kann sich nur schlecht entspannen. Aber ich kann Gabriel ja schlecht mitteilen, dass ich so unter Strom stehe, dass ich leider Gottes nicht erfolgreich sein werde. Die ganze Atmosphäre trägt nicht dazu bei, mir ein ruhiges Gemüt zu verschaffen und ich zwinge mich, langsam ein- und auszuatmen. »Ok… Atmung ist sehr wichtig. Mach deine Augen zu«, sagt Gabriel leise hinter mir und ich gehorche ihm mit hämmerndem Herzen. Entspannung, wo bist du? Ich brauche dich, denke ich mir verzweifelt. Doch es hilft alles nichts. Alles Meditieren und all mein Bemühen um Disziplin ist vergessen, als Gabriels Atem meinen Nacken streift und mir ein heißer Schauer den Rücken herunter läuft. Die kühle Luft in der Halle scheint plötzlich vor Hitze zu flimmern und ich bin mir seiner Gegenwart hinter mir überdeutlich bewusst. Der Geruch seines Shampoos steigt mir in die Nase, vermischt mit etwas anderem, anziehendem. Womöglich würde Gabriel auch so riechen, wenn er nicht nach Shampoo duftet. Ich spüre, wie meine Hände schwitzig werden und mein Herz alles andere als einen entspannten Rhythmus anschlägt. Meine Augen klappen automatisch wieder auf. »Alles ok?«, flüstert Gabriel. Diesmal streicht sein Atem über mein linkes Ohr und auf meinen Armen bildet sich eine sehr deutliche Gänsehaut. Ich bin mir peinlich bewusst, dass Gabriel das ganz sicherlich nicht entgeht. Ich möchte ihm eigentlich gern antworten, aber meine Stimme scheint mir verloren gegangen zu sein. Statt einer artikulierten Antwort entkommt mir ein heiseres Geräusch und ich lasse mich unweigerlich ein wenig nach hinten sinken, sodass ich Gabriels Körperwärme deutlich durch mein T-Shirt spüren kann. Gabriel atmet langsam und tief ein, dann fühle ich behutsame Fingerspitzen an meiner Seite, die sich nach vorn zu meinem Bauch tasten, bevor Gabriels Arme mich in eine sachte Umarmung ziehen. Ich lehne schwer atmend an seinem Brustkorb und muss die Augen wieder schließen, weil das blasse Licht der Straßenlaternen von draußen vor meinen Augen zu flimmern begonnen hat. Mein Herzschlag läuft einen Marathon und mein Magen kribbelt so heftig, dass ich sicher bin gleich vom Boden abzuheben. Oh Gott. Seine Hände auf meinem Bauch lassen eine Hitzewelle in mir aufsteigen und ich wünsche mir plötzlich nichts sehnlicher, als dass Gabriel seine Finger unter mein Shirt schiebt und meine nackte Haut berührt. Im nächsten Augenblick legen sich weiche Lippen auf meinen Nacken und ich gebe ein überraschtes Keuchen von mir. »Darf ich?«, flüstert er und sein Atem kitzelt ein wenig auf meiner Haut. Ich schaffe es nur mit Müh und Not zu nicken und presse entschlossen die Lippen aufeinander, um nicht noch mehr peinliche Geräusche von mir zu geben. Gabriel haucht behutsame Küsse auf die offenkundig sehr empfindliche Haut in meinem Nacken und ich spüre, wie sich die feinen Härchen dort hinten aufstellen. Als ich seine Zunge spüre, bringt alle Zurückhaltung nichts mehr, ich japse erschrocken und erregt nach Luft. Ich meine zu bemerken, wie Gabriels Lippen auf meiner Haut sich zu einem Lächeln verbiegen und im nächsten Moment schieben seine schlanken Finger sich unter mein Shirt. Sie sind warm und tastend und wahnsinnig aufregend, zeichnen brennende Linien auf meine Muskeln und ich hätte nie gedacht, dass fremde Hände auf meinem Körper sich so überwältigend gut anfühlen können. Mein Kopf dreht sich automatisch zur Seite und ich biege meinen Hals ein wenig, um Gabriel mehr Angriffsfläche zu bieten. Ich kann es nicht fassen, dass diese Dinge gerade passieren. Wir sind hierher gekommen, damit er mir zeigen kann, wie man am besten meditiert. Und jetzt... jetzt streicheln Gabriels Hände jeden Zentimeter meines Oberkörpers und seine Zähne und Lippen rufen Gefühle in mir hervor, von denen ich nie gewusst habe, dass mein Nacken sie mir bescheren könnte. Gabriel saugt behutsam an meiner Halsbeuge und ich frage mich neblig, ob ein Fleck zurückbleiben wird. Ich bin sicher, dass ich niemals genug von diesen Zärtlichkeiten bekommen kann. Vielleicht muss ich auf ewig hier mit Gabriel sitzen bleiben, um seine Lippen und Finger auf meiner nackten Haut zu fühlen. Meine Jeans spannt mittlerweile etwas unangenehm und ich kann seit dem ersten Atemhauch auf meinem Nacken nicht mehr geradeaus denken. Ich möchte Gabriel auch berühren und – verfluchte Scheiße nochmal – ich will ihn küssen. Ich will diese Lippen auf meinem Mund spüren, seine Zunge an meiner, ich will ihm so nah wie nur möglich sein und seine nackte Haut an meiner eigenen fühlen. Wenn ich mich jetzt umdrehe, dann hört er vielleicht auf. Oh Gott, er darf auf keinen Fall aufhören. Meine Hände, die sich bisher auf dem Hallenboden unter uns abgestützt haben, fangen an, rastlos über den Boden zu wandern und vielleicht versteht Gabriel, was mein Problem ist, denn ich spüre, wie er sich hinter mir bewegt und im nächsten Augenblick sitzen wir voreinander und starren uns an. Ich kann seine Gesichtszüge nur verschwommen ausmachen, weil es wirklich sehr dunkel ist und das schwache Licht von draußen nicht wirklich hilft. Ich wünschte, ich könnte aus seiner Mimik irgendetwas ablesen. Neugier, Verlangen womöglich, egal wie unwahrscheinlich ich es auch finde, dass jemand mich so sehr will, wie ich Gabriel gerade berühren möchte. Gabriel hebt eine seiner Hände zu meinem Gesicht und streicht mir sachte über die Wange, den Hals hinunter und dann bleiben seine Finger auf meinem Brustkorb liegen, dort, wo mein Herz wie verrück hämmert. Ich sehe, wie sein Mund sich zu einem Lächeln verzieht und muss verlegen schlucken. Doch dann tastet er mit seiner freien Hand nach meinen Fingern und legt sie dort ab, wo ich seinen Herzschlag ebenfalls fühlen kann. Überrascht und überwältigt stelle ich fest, dass Gabriels Herz genauso heftig pocht wie meines. »Ich möchte dich wirklich gern küssen«, sagt Gabriel sehr leise und der heisere Klang seiner Stimme schickt etwas wie einen erregten Stromschlag durch meinen Körper, direkt in die Mitte. Ich glaube, ich sterbe. »Ok«, flüstere ich zurück und er rutscht noch ein Stück näher, sodass seine Knie im Schneidersitz nun auf meinen ruhen, beugt sich vor und unsere Nasen berühren sich kurz, dann kippt sein Kopf leicht zur Seite und sein Mund presst sich behutsam auf meinen. Ich halte den Atem an, meine Gedanken frieren ein und ich spüre, wie meine Augenlider sich flatternd schließen und meine Hände unsicher ihren Weg auf Gabriels Schultern und schließlich in seinen Nacken finden. Zunächst ist es nur eine tastende Berührung von Lippen und Gabriel löst sich kurz von mir, was ich mit einem verzweifelt-sehnsüchtigen Geräusch quittiere. Doch er hat offensichtlich nicht vor, sich gänzlich von mir zu lösen, denn sein Mund kommt zurück und diesmal küsst er mich richtig. Hitze ist kein Ausdruck für das, was jetzt in mir aufsteigt und sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitet. Unsere Lippen bewegen sich hungrig gegeneinander und als ich Gabriels Zunge zum ersten Mal an meiner eigenen spüre, gebe ich einen hingerissenen Ton von mir, den ich in einem klareren Augenblick garantiert als unheimlich peinlich empfunden hätte. Aber jetzt bringt er Gabriel dazu, den Kuss zu intensivieren, an meiner Unterlippe zu saugen und anschließend darüber zu lecken, sich mit seinen Fingernägeln in mein Shirt zu krallen... Als Gabriel in den Kuss keucht, bin ich sicher, dass ich jeden Moment explodieren werde. Und dann finde ich mich plötzlich auf dem Rücken wieder, meine Hände sind neben meinem Kopf auf den Hallenboden gepinnt und Gabriels Gewicht lastet auf meinem Unterkörper, was dieser mit einem Schauer wohliger Gefühle beantwortet. Einen Wimpernschlag lang bin ich hungrig nach mehr, dann wird meinem Körper klar, dass Gabriel viel stärker ist als ich und ich mich nicht mehr rühren kann. Mein Gehirn schaltet sich ein und jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an. Für ein paar Herzschläge bekomme ich keine Luft mehr und ein heftiger Fluchtreflex übermannt jeden meiner Sinne. Doch weil Gabriel Gabriel ist, bemerkt er sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist, und es kostet ihn scheinbar keinerlei Anstrengung, uns einmal herum zu drehen, sodass ich mich plötzlich über ihm wiederfinde und seine Hände nur noch locker auf meiner Hüfte ruhen. Er sieht mich von unten herauf aufmerksam an. »Entschuldige«, sagt er leise. »Ich hab kurz die Kontrolle verloren.« »Schon ok«, murmele ich und spüre, wie mich ein Gefühl des Wunders befällt, das nicht so recht glauben mag, dass Gabriel echt ist. Hier bei mir. Mit mir. Zusammen in einer dunklen Halle mit so viel Rücksicht auf all meine verkorksten Probleme und Zustände, mit so zärtlichen Händen und Berührungen, die ich auf diese Art noch nie in meinem Leben erfahren hab. Wow. Ich erinnere mich daran, dass Gabriel um Erlaubnis gebeten hat, mich zu küssen. Schwer schluckend öffne ich den Mund, um ihm dieselbe Frage zu stellen. Vielleicht hat er jetzt keine Lust mehr. Vielleicht hab ich die Stimmung verdorben... »Ja, bitte. Küss mich noch mal«, flüstert er lächelnd und mein Herz macht einen übermütigen Sprung in die Nähe meines Adamsapfels. Ich stütze mich auf den Unterarmen neben ihm ab und traue mich, eine meiner Hände in seinen weichen Haaren zu vergraben, bevor ich meine Lippen noch einmal auf seine drücke. Diesmal küssen wir uns langsamer, aber es fühlt sich nicht minder hungrig an. Am liebsten würde ich die ganze Nacht hier liegen und ihn küssen. Langsam und hastig und vorsichtig und gierig. Zugegebenermaßen ist der Boden in der Halle nicht das, was ich als bequem bezeichnen würde, aber trotzdem bleiben wir mehrere Stunden hier liegen. Ich kann es nicht so recht fassen. Gabriel hat mich geküsst. Ich hab Gabriel geküsst. Wir haben uns geküsst. Oh Gott. »Ich würde sagen, mit dem Meditieren sind wir großartig gescheitert«, murmelt Gabriel leise. Er hat sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergraben und seine Worte kitzeln ein wenig auf meiner Haut. Ich muss grinsen. »Zugegebenermaßen trauere ich nicht besonders darum, wenn ich daran denke, was wir stattdessen gemacht haben«, gebe ich zu und Gabriel lacht leise. »Hast Recht. Wir sollten uns öfter zum scheiternden Meditieren treffen«, entgegnet er, hebt den Kopf und schaut mich ganz aus der Nähe lächelnd an. Ich schlucke. »Ja, bitte.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)