Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 14: Die kleinen Zweifel ------------------------------- Ich habe mich in der kurzen Zeit, die ich jetzt bei Christians Familie verbracht habe, viel zu sehr daran gewöhnt, den Erzeuger nicht mehr jeden Tag zu sehen, nicht mehr in stetiger Angst zu leben, nicht mehr dauernd morgens mit Schmerzen zu Janas Schluchzen im Schlaf aufzuwachen. Das wird mir sehr deutlich vor Augen geführt, als ich den Alptraum meines Lebens zum ersten Mal im Gerichtssaal wiedersehe. Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so schwer treffen würde, immerhin habe ich früher mit diesem Schwein unter einem Dach gelebt, aber jetzt... ja, jetzt... Als ich sein hasserfülltes Gesicht sehe, spüre ich, wie meine Kehle sich zuschnürt und mein Brustkorb enger wird. Es fällt mir sehr schwer zu atmen und ich versuche peinlich berührt und mit hämmerndem Herzen nicht nach Luft zu schnappen, aber die Angst keine Luft mehr zu kriegen lässt mich nur noch schneller atmen. Brigittes Hand legt sich beruhigend auf meine Schulter und ich wünsche mir Anjo her. Anjo, mein Fels in der Brandung. Aber Anjo ist in der Schule und drückt mir die Daumen, dass es gut läuft. Was mag das bedeuten, dass es gut laufen soll? Ich wünsche mir, dass es so kurz wie möglich dauert und dass der Erzeuger so lange wie möglich hinter Gittern versauern muss. Im Augenblick fühlt sich dieses Gerichtsverfahren unüberwindbar für mich an. Ich will zurück in Christians Haus, in das Bett auf dem Dachboden, Janas Hand halten, die Hunde ausführen, zur Schule gehen, mit Lilli und Anjo Kekse essen, mit Gabriel trainieren, Hausaufgaben machen, fürs Abi lernen... ich will das normale Leben zurück, das ich bis vor zehn Minuten noch hatte. »Wir schaffen das«, sagt Jana neben mir und ich bin überrascht, wie entschlossen sie aussieht. Ihre Hände zittern, aber ihre Lippen sind aufeinander gepresst und die Abscheu und die Wut auf ihrem Gesicht sind neu, sie lassen meine Schwester fremd und ein wenig unheimlich aussehen. Er hat sie nach all den Jahren doch dazu gebracht zu erkalten, hat ihr Herz erhärtet. Und jetzt, jetzt wird er hoffentlich die Quittung dafür bekommen. Die Anwältin, die Christians Eltern für uns angerufen und ausgesucht haben, hat mit uns schon mehrmals über die nahende Verhandlung gesprochen. Sie ist eine sehr freundliche Dame mittleren Alters mit eisengrauen, raspelkurzen Haaren und wenn sie nicht lächelt, dann sieht sie aus, als könnte sie einen Riesenkraken niederringen. Ihre schwarze Anwaltsrobe wogt beeindruckend hinter ihr her und ich denke, dass Jana und ich in sehr guten Händen sind. Der Anwalt des Erzeugers sieht aus wie eine Bulldogge mit Schnurrbart und ungerahmter Brille. Er spricht flüsternd mit ihm und ich zwinge meinen Atem dazu, sich wieder zu beruhigen. Jedes Hämmern des Richters auf Holz hallt in meinen Ohren wider wie ein Kanonenschlag. Mir fällt es schwer zu sprechen, aber Jana, schüchterne Jana, kleinlaute, leise sprechende Jana, redet so klar und deutlich wie ich es selten von ihr gehört habe. Sie hält meine Hand unter dem Tisch und drückt sie ab und an. Als unsere Blicke sich zwischenzeitlich treffen, scheint sie mir stumm zu sagen: »Schau zu Benni, ich zahl alles zurück, was du für mich getan hast.« Sie tritt ihm gegenüber, wie ich es nie gekonnt habe. Alles, was ich geschafft habe, war, mich von ihm verprügeln zu lassen, und jetzt bekomme ich kaum ein Wort heraus, wo es darum geht, ihm endlich den Garaus zu machen. Aber Jana ist überlebensgroß, sitzt mit geradem Rücken und beinahe vollkommen unerschrockenem Blick neben mir auf einem harten Holzstuhl mit unserer Anwältin an der Seite, die ab und an zufrieden lächelt. Und der Erzeuger scheint auf dem Stuhl gegenüber im Gerichtssaal zu schrumpfen, als Jana ihn anstarrt, niederstarrt, mit erschreckender Detailgenauigkeit Erlebnisse schildert, über die ich niemals reden könnte, nicht mal mit Anjo. Ich sehe sie wieder vor mir, mit dem Messer in der Hand, mit dem Hass in ihren Augen, fest entschlossen, mich diesmal zu beschützen, die Angst, die sie hinterher empfunden hat... Mehrere Male erhebt der Erzeuger die Stimme drohend, aber Jana zuckt nicht zurück und er wird jedes Mal mit strenger Stimme vom Richter ermahnt. Meine Schwester, so klein und zerbrechlich, ist viel stärker als ich. Mehrere Stunden sitzen wir auf diesen ungemütlichen Stühlen und als es endlich zu Ende ist, sacke ich in mich zusammen. Ich bin einfach nur froh, den Erzeuger nicht mehr sehen zu müssen. Aber das war nur der Anfang und es stehen uns noch weitere Verhandlungen bevor. Aber Frau Liebknecht, unsere Anwältin, versichert uns, dass es sehr gut für uns ausschaut. »Du hast dich ausgezeichnet geschlagen, Jana«, sagt sie zu meiner Schwester, bevor wir uns verabschieden, und Jana lächelt sie an, jetzt wieder ganz ihr schüchternes Selbst mit der leisen Stimme. »Danke. Ich geb mein Bestes«, erwidert sie und zieht leicht die Schultern hoch. Als wir kurz davor sind, bei Brigitte ins Auto zu steigen, umarme ich Jana fest. »Du warst so mutig«, murmele ich peinlich berührt angesichts meines Versagens. Jana streicht mir sachte über die kurzen Haare. »Es wurde Zeit«, gibt sie leise zurück. An diesem Abend bekomme ich kein Auge zu und als ich morgens um sechs immer noch wach liege, schreibe ich Anjo eine SMS, dass ich heute nicht zur Schule komme. Jana hat ruhig geschlafen und sie sieht mit einem Blick, dass ich nicht eine Minute Schlaf bekommen hab. Schweigend deckt sie mich zu, nachdem sie aufgestanden ist, gibt mir einen Kuss auf die Wange und flüstert mir zu, dass sie Brigitte und Johannes Bescheid gibt, dass ich heute nicht zur Schule gehe. Im Moment fühle ich mich wie ein kleiner Bruder, der von seiner großen Schwester umhegt wird. Erst um halb neun schlafe ich endlich ein und bin dankbar, dass heute Freitag ist und ich morgen nicht noch mal die Schule verpasse, wenn ich nun meinen Schlafrhythmus ruiniere. Um drei krieche ich völlig erschlagen aus den Federn und werde unten in der Küche kommentarlos von Margarete empfangen, die mich lediglich fragt, ob ich Frühstück möchte, oder lieber etwas von dem Gemüseauflauf, den es zum Mittag gab. Ich entscheide mich für Auflauf und schlurfe mit dem dampfenden Teller durch den Flur, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Brigitte, Eileen und Lydia sitzen auf einem der flauschigen Teppiche und puzzeln gemeinsam. »Hallo«, sage ich verlegen und trete ein. »Na, hast du noch ein bisschen geschlafen?«, erkundigt sich Brigitte lächelnd und ich nicke, ehe ich mich mit dem Teller auf einem der Sessel niederlasse. »Guck mal Benni, wir machen Cinderella!«, verkündet Lydia begeistert und hält den Deckel des Puzzles hoch, damit ich das Motiv darauf bewundern kann. »Cool«, sage ich und schaffe ein ganzes Lächeln. »Ist das deine Lieblingsprinzessin?« »Nein«, meint Lydia nach ernsthaftem Nachdenken und schaut den Deckel an. »Ich mag Tiana am liebsten.« Ich habe leider Gottes keine Disneykindheit hinter mir und habe deswegen keine Ahnung, wer Tiana ist. »Wer ist Tiana?«, frage ich und Lydia schaut streng zu mir herüber, während ich meinen ersten Bissen Auflauf nehme. »Die Prinzessin mit dem Frosch!« Eileen grinst zu mir herüber. »Na, wollen wir Küss den Frosch anschauen und Benni mal zeigen, wie toll Tiana ist?«, erkundigt sie sich bei ihrer kleinen Schwester und Lydia klatscht begeistert in die Hände. »Ja, ja, ja!« Das Puzzle ist schnell vergessen und Eileen erhebt sich, um im DVD-Regal nach besagtem Film zu suchen. »Ich hoffe, dass das ok für dich ist«, sagt Brigitte mit entschuldigendem Blick. »Ach, klar. Ich hab ‘ne Menge Kinderfilme aufzuholen«, gebe ich zurück und sie grinst mich an. »Dann wünsche ich euch viel Spaß, ich werd mich mal um die Hunde kümmern«, meint sie. Und so kommt es, dass ich mit Lydia und Eileen Küss den Frosch gucke. Kurz vorm Ende versteckt Lydia sich hinter meinem Rücken, weil sie die Geister, die den Bösewicht mit auf die andere Seite nehmen, sehr gruselig findet. Dafür singt sie alle Lieder begeistert mit, fragt Eileen etwa hundert Fragen und erklärt mir, dass Tianas Kleid das schönste von allen Disneyprinzessinnenkleidern ist. Von den wenigen, die ich kenne, muss ich ihr eindeutig zustimmen. »Benni, weißt du was?«, sagt Lydia, nachdem der Film vorbei ist. »Was denn?«, antworte ich. »Ich hab nämlich schon mal Evangeline gesehen!« »Echt? Und? War Ray auch dabei?«, frage ich. Sie nickt ernsthaft. »Ja, ich glaube, die haben geheiratet«, erklärt sie beflissen und rutscht von der Couch. »Bestimmt«, meine ich lächelnd und greife nach meinem leeren Teller, um ihn in die Küche zu bringen. »Kommst du wieder und hilfst mir beim Puzzeln?«, ruft sie mir hinterher. »Klar!« * Mir bekommt die laufende Gerichtsverhandlung wirklich nicht gut. Ich bin unkonzentriert beim Lernen und bei den Hausaufgaben, meine mündliche Beteiligung in der Schule geht wieder zurück und beim Training – so muss ich zu meinem Leidwesen feststellen – habe ich erneut Aussetzer. Es ärgert mich maßlos, weil ich es endlich geschafft hatte, mich zu beherrschen. Immer macht dieser Arsch von Erzeuger alles kaputt. Gabriel mustert mich besorgt, nachdem er mich aus dem letzten Blackout zurückholt. Ich hatte die letzte Woche überhaupt keine Zeit darüber nachzudenken, dass wir ja irgendwie angefangen haben auszugehen. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm erklären sollte, wieso es mit mir wieder bergab geht und wieso ich kaum spreche oder lächele. Aber dieser anhaltende Druck der Verhandlung lastet tonnenschwer auf meinen Schultern. Christian weiß natürlich was Sache ist und hat wie am Anfang ein besonderes Auge auf mich. Ist vermutlich besser so. In meinem jetzigen Zustand bin ich wohl eine Gefahr für die Allgemeinheit. »Ist alles ok?«, fragt Gabriel mich nach dem Training. Ich ringe mit mir und schüttele schließlich den Kopf. »Willst du drüber reden?«, erkundigt er sich behutsam und ich beobachte einen Wassertropfen, der sich aus seinen schwarzen, frisch gewaschenen Haaren löst und seinen Oberkörper hinunterrinnt. Unter anderen Umständen hätte mich diese Beobachtung vermutlich an den Rande eines nervösen Zusammenbruchs getrieben, aber gerade kann ich einfach nichts fühlen außer Wut und Angst vor der nächsten Gerichtsverhandlung. »Nein. Grad nicht«, gebe ich zurück und starre auf den Linoleumboden der Umkleide. Die anderen gehen an uns vorbei und verabschieden sich, ich sehe keinen von ihnen an. »Ok«, sagt Gabriel leise und mustert mich noch einen Moment lang besorgt. Ich stopfe meine Sportsachen in meine Tasche und bücke mich, um meine Schuhe zuzubinden. »Ich hab über deine Aussetzer nachgedacht«, meint Gabriel dann und ich halte kurz inne ohne aufzublicken. »Vielleicht kannst du‘s mal mit Meditation probieren. Mein Bruder hat nach meinem Aussetzer ganz viel mit mir meditiert, das hat ein wenig geholfen.« Ich binde die Schleife zu Ende und denke darüber nach, wie ich meine Ausraster bereits unter Kontrolle hatte, einfach, weil ich mich jetzt in einer sicheren Umgebung befinde. Aber darüber will ich im Augenblick nicht sprechen, als sehe ich unsicher zu Gabriel hinüber und schultere meine Sporttasche. »Ja... vielleicht«, gebe ich vage zurück und habe den plötzlichen Drang aus der Umkleide zu rennen. Ich bin eigentlich wirklich nicht bereit für so etwas wie Ausgehen. Ich hab so viele Baustellen...Womöglich sollte ich Gabriel das einfach sagen. Es war eine blöde Idee. Ich kann das nicht. Für sowas wie eine etwaige Beziehung – und ich kriege beinahe schon wieder einen halben Nervenzusammenbruch, als ich daran denke – bin ich einfach zu kaputt. »Mach’s gut«, sage ich stattdessen, weil ich nicht den Arsch in der Hose habe, Gabriel zu sagen, was los ist. Ich kann förmlich spüren, wie er mir nachsieht und vielleicht bereut er es jetzt schon, sich mit so einem Trottel wie mir eingelassen zu haben. Ich kann es ihm nicht verübeln. Statt den Bus zu nehmen, gehe ich den ganzen Weg bis zum Haus von Christians Familie zu Fuß. Es schweinekalt und ein bisschen neblig. Es dauert über eine Stunde, bis ich angekommen bin und ich gönne mir eine viertelstündige, heiße Dusche und einen Pfefferminztee, um mich wieder aufzuwärmen. Es ist angenehm, dass ich niemanden in dieser Familie erklären muss, wieso es mir nicht gut geht und wieso ich mich einigele. Ich erledige mit Ach und Krach die Hausaufgaben, die wir am Freitag bekommen haben und die Anjo und Lilli mir zusammen gesammelt haben. Danach lege ich mich einfach ins Bett und denke über Gabriel nach. Vielleicht sollte ich ihm eine SMS schreiben und mich für mein abweisendes Verhalten entschuldigen? Oder eine Nachricht, in der steht, dass das mit dem Ausgehen eine schlechte Idee war? Aber sowas macht man besser persönlich. Den Nachmittag über schneien Tim, Eileen und Jana herein. Tim besteht auf ein paar Runden Mario Kart, Eileen will sich einfach nur mit mir unterhalten – auf Englisch, zur Abwechslung mal wieder, und ich meistere es eigentlich ganz gut – und Jana setzt sich einfach zu mir ans Bett und spielt mir ein wenig auf ihrer Klarinette vor. Auch, wenn es mich anstrengt, mit Menschen zu interagieren, ist es gut, dass sie mich nicht alle komplett in Ruhe lassen. Ich habe immer noch das Problem mit dem Alleinsein und den schrecklichen Gedanken, die am Rande meines Bewusstseins lauern und nur darauf warten, dass Stille sich um mich herum senkt und niemand mehr da ist, um mich abzulenken. Also zwinge ich mich vom Dachboden herunter. Ich male mit Lydia ein paar Bilder in einem Malbuch aus, helfe Margarete dabei, einen Berg Brote zum Abendessen zu schmieren, und übernehme gemeinsam mit Franzi den Katzenklodienst. Das alles hat den Vorteil, dass ich mir über Gabriel nicht mehr allzu viele Sorgen machen muss. Diese Familie, ob bewusst oder unbewusst, hat es einfach drauf mich abzulenken. »Benni! Telefon!« Eileen reicht mir den Hörer und formt mit den Lippen den Namen Anjo und ich verschwinde aus dem Wohnzimmer, um wieder hoch auf meinen Dachboden zu steigen. »Wie geht’s dir?«, will Anjo wissen. Es ist gut, seine Stimme zu hören, auch wenn ich Telefonieren merkwürdig finde. Ein komisches Konzept, die Stimme eines Menschen zu hören, aber ihn nicht dabei zu sehen. »Geht so«, antworte ich wahrheitsgemäß, auch wenn es mir heute schon besser geht als gestern oder früher am Tag, als ich meinen Aussetzer hatte. »Willst du erzählen, wie‘s gelaufen ist, oder lieber nicht?« Ich seufze und denke kurz darüber nach, aber dann entschließe ich mich dazu, dass es eine bessere Idee ist, mit Anjo darüber zu sprechen, als alles in mich hinein zu fressen. Stockend erzähle ich von meinen Schwierigkeiten und dem positiven Feedback der Anwältin und von Janas Mut und dann erzähle ich auch noch von Gabriel und dem Training und meinem Aussetzer und dass ich denke, dass ich das mit Gabriel doch lieber lassen sollte. Anjo unterbricht mich nicht und hört einfach nur schweigend zu. Das kann er wirklich gut. Wenn er einem zuhört, dann ist es, als würde sein Schweigen die Worte aus einem heraussaugen. Die giftigen Worte, die man sonst in sich drin behält und im Kopf herumwälzt und die nachts laut werden und einen schlaflos im Bett liegen lassen. »Also willst du sozusagen Schluss machen, bevor es überhaupt losgegangen ist? Aus Vorsicht?«, erkundigt sich Anjo und ich trete an eins der Dachfenster. Draußen hat es angefangen zu schneien und auf den Fenstern haben sich schon einige Flocken gesammelt. »Ja, irgendwie schon. Ich weiß nicht... Ich glaub nicht, dass ich das hinkriege. Bin einfach zu verkorkst«, sage ich und höre selber, wie kläglich ich klinge. Eigentlich will ich Gabriel nicht vor den Kopf stoßen. Ich kann ihn wirklich gut leiden. Anjo scheint so etwas zu ahnen. »Wäre es aber nicht sinnvoller, wenn du erstmal mit ihm über deine Zweifel redest und dann schaust, ob er es sich nicht trotzdem vorstellen kann? Ich meine... es ist natürlich nicht dasselbe, aber ich war schon ziemlich sauer, als Chris mir die Entscheidung über eine mögliche Beziehung komplett abnehmen wollte. Wenn du Gabriel erklärst, was dein Problem ist, dann möchte er es ja womöglich trotzdem probieren. Er scheint mir ganz der Typ dafür zu sein, der für sowas eine Menge Verständnis hätte«, meint Anjo behutsam und natürlich macht es Sinn, was er sagt. Ich bin halt einfach der größte Feigling unter der Sonne. Allerdings tröstet es mich ein wenig, dass Christian so eine Situation genauso verkackt hat wie ich. Er ist eben doch nicht perfekt. Anjo und ich telefonieren fast eine Stunde, bevor er sich schließlich zum Abendessen verabschiedet und ich den Hörer wieder nach unten bringe. Unschlüssig mit mir und der Welt beschließe ich, mit den Hunden rauszugehen. Es scheint so, als wären lange Spaziergänge hilfreich für mich, einen klaren Kopf zu bekommen. Außerdem mag ich Schnee. Die Hunde freuen sich scheinbar genauso über den Schnee wie ich, denn als ich mit ihnen bei den Feldern angekommen bin und sie von der Leine lasse, springen sie wie wild herum und versuchen nach einzelnen Flocken zu schnappen. Ich beobachte sie eine Weile und setze mich auf eine der Bänke am Wegrand. Schamerfüllt erinnere ich mich daran, wie ich das eine Mal vor Weihnachten ausgebüchst und genau hier gelandet bin. Mittlerweile kenne ich den Weg zurück. Nachdenklich ziehe ich mein Handy aus der Jackentasche und öffne eine leere Nachricht. »Steht das Angebot mit dem Meditieren noch?« Ich betrachte die Worte eine ganze Weile lang und denke darüber nach, ob ich diesen Schritt gehen will. Aber Anjo hat Recht. Ich schulde Gabriel irgendeine Art von Erklärung und weniger Feigheit. Mit einem schweren Schlucken schicke ich die SMS ab und stecke das Handy zurück in die Jackentasche. Allerdings bleibt es dort nicht lang, da ich schon kurz darauf eine SMS zurück bekomme. »Klar. Ich hab morgen Abend Zeit, wenn du willst. Und sonntags ist die Halle bei uns auch frei.« Ich schlucke erneut und atme die kalte Abendluft ein. Es ist erst fünf und schon stockduster. Es ist gut die Hunde zu hören, damit es nicht ganz so still ist. Das Handy vibriert erneut. »Hast du vielleicht Lust vorher mit mir und meinen besten Freunden eine heiße Schokolade trinken zu gehen? Die beiden kommen zu Besuch und wollen dich gern kennen lernen.« Ich verschlucke mich fast an meiner eigenen Spucke und starre auf die neuen Worte. Beste Freunde kennen lernen? Morgen? Weil sie mich sehen wollen? Ich bin kein Vorzeigemensch. Oh Gott. Es vibriert erneut. »Du musst nicht, wenn du im Moment nicht zu sowas aufgelegt bist. Ich bin natürlich nicht sauer, wenn du absagst!« Er soll aufhören, so verdammt nett und zuvorkommend zu sein. Ich raufe mir zehn Minuten lang die Haare und stehe dann abrupt auf, als hätte ich mir gerade vorgenommen, in den Kampf zu ziehen. Schluss mit dem Verstecken, Benni. Gabriel mag dich schließlich, also finden seine besten Freunde dich vielleicht auch nicht ganz blöd. Außerdem muss ich zugeben, dass ich durchaus ein wenig neugierig auf die beiden bin. Ich hole einmal tief Luft und tippe eine Antwort. »Klingt gut. Wann und wo?« Wenn mich das nicht von der beschissenen Verhandlung ablenkt, dann weiß ich auch nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)