Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 6: Die versiegten Tränen -------------------------------- Hallo ihr Lieben! Nach gefühlten drei Jahren melde ich mich mit dem nächsten Kapitel zurück. Ich stecke noch mitten in meiner Bachelor-Arbeit, aber vorgestern hat meine Lieblingsmuse mich geküsst und ich hab fast in einem Rutsch das Kapitel fertig geschrieben. Deswegen ist das Kapitel auch für sie. Seit jedenfalls versichert, dass ich die Geschichte nicht vergessen hab, sie ist nach wie vor in meinem Kopf präsent und wird auf jeden Fall beendet. Aber eben erst nach der BA-Arbeit ;) Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefällt! Liebe Grüße, ___________________________________________ »So, Benjamin…« »Benni. Bitte.« »Ok, Benni«, sagt Frau Doktor Ehrmann und lächelt mich freundlich an. Sie hat ein Klemmbrett locker auf den Knien liegen und die Beine übereinander geschlagen. Ihre Haare sind ganz kurz und schon ziemlich grau, genau wie ihre Augen hinter den eckigen Brillengläsern. Mein Brustkorb fühlt sich unangenehm eng an und meine Handflächen sind vor Nervosität ganz feucht. Ich habe sie auf meine Beine gelegt und in meine Hose gekrallt, wo die Fingerknöchel jetzt weiß hervortreten. Wahrscheinlich ist es unhöflich, dass ich ganz vorn auf der Stuhlkante sitze, als wollte ich jeden Augenblick aufspringen, aber ich kann mich nicht entspannen und tiefer in den gemütlichen Stuhl sinken lassen. Alles in mir schreit danach, diesen Raum zu verlassen. Mein ganzer Mut scheint sich irgendwo draußen vor der Tür verkrochen zu haben, denn ich bin mir plötzlich ganz und gar nicht mehr sicher, ob das hier eine gute Idee ist, einer fremden Frau von meinem Leben zu erzählen. Geschichten womöglich, die ich noch nicht mal Anjo erzählt hab und vielleicht auch niemals erzählen werde. »Wollen wir vielleicht einfach damit anfangen, dass du mir ein bisschen von deiner Familie erzählst? Was immer dir einfällt«, schlägt Doktor Ehrmann vor und sieht mich ermutigend an. Ihre Stimme ist angenehm, aber das lindert die Aufregung und das Unbehagen nur mäßig. Ich zwinge mich dazu, an Anjo und Jana zu denken. Das beruhigt mich eigentlich immer. »Wissen Sie das nicht alles schon von Jana?«, frage ich unsicher und ziehe die Schultern hoch. Sie lächelt. »Menschen erleben Dinge oftmals sehr unterschiedlich, auch wenn sie dasselbe durchgemacht haben. Außerdem geht es hier ja auch nicht um Jana, sondern um dich«, erklärt sie und ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um sie nicht sofort zu korrigieren. Es geht immer um Jana. Aber das weiß diese Frau wohl nicht. Noch nicht zumindest. »Ähm… ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, gebe ich zurück. Meine Stimme klingt, als hätte sie ihre Aufgabe verlernt. »Wen zählst du zu deiner Familie?«, will sie wissen. »Jana.« Ich zögere einen Augenblick. »Und Anjo.« »Wer ist Anjo?«, erkundigt sie sich bei mir. Ich seufze und schlucke geräuschvoll. »Anjo ist… mein bester Freund. Und er ist derjenige, der mich rausgezogen hat. Aus allem.« Meine Hände entkrampfen sich ein wenig und ich wische sie so unauffällig wie möglich an meiner Jeans ab, bevor ich sie locker in meinen Schoß lege. »Ich hab ihn kennen gelernt, als ich sitzen geblieben bin. Hab neben ihm gesessen und so. Dann hab ich irgendwann gemerkt, dass ich ihn wirklich gut leiden kann. Und er mich auch. Und dann hab ich…« Ich breche ab und starre hoch zur Decke. »Die emotionale Nähe hat dir Angst gemacht?« Nicken. Erinnerungen. Anjos ängstliches Gesicht, meine Hand an seinem Kragen, eine kalte Backsteinmauer, Christian, eine verriegelte Klotür, ein bemalter Rucksack, ein blaues Auge, »Hab ich irgendwas falsch gemacht?«, ein nasser Schwamm, Tränen, Jana, »Du bist nicht besser als er.«, Anjos Lächeln… »Er ist schüchtern. Und wenn er Leute kennenlernt, dann richtig. Er hat mir gesagt, dass er mich mag und ich wollte das nicht«, versuche ich zu erklären und fahre mir durch die Haare. Ich kann mich nicht besonders gut ausdrücken. Meistens rede ich ja auch einfach nicht besonders viel. Wahrscheinlich bin ich nach drei Sitzungen heiser. »Du hast dich über die Jahre von deiner Umwelt abgeschottet und Anjo hat hinter deine Fassaden geschaut. Und verstehe ich es richtig, dass du dich danach von ihm distanziert hast?«, erkundigt sie sich. Es folgen ein paar unauffällige Notizen auf dem Klemmbrett. Ich schnaube ungewollt. Der verächtliche Ton ist für mich selbst bestimmt. »Ja und nein. Ich hab nicht mehr mit ihm geredet. Ich hab stattdessen angefangen rum zu erzählen, dass er sich an mich rangemacht hat und ich vorher nur so getan hab, als würde ich ihn mögen. Ein paar Jungs aus dem Jahrgang fanden das nicht so gut. Also, dass Anjo offenbar schwul ist. Mit denen hab ich dann rumgehangen. Weiter weg von Anjo ging’s eigentlich gar nicht. Wir haben… ich hab… ich hab ihm das Schulleben ziemlich zur Hölle gemacht.« Meine Stimme wird am Ende immer leiser und starre mittlerweile auf meine Knie. Das alles zu erzählen und noch mal zu erleben bringt mich wieder einmal dazu mich wie der schlechteste Mensch auf der Welt zu fühlen. Was genau hab ich mir dabei eigentlich gedacht? Wen in Gottes Namen wollte ich denn davon überzeugen, dass das die einzig wahre Methode ist, um Anjo von mir fernzuhalten? Wieso dachte ich überhaupt, dass ich Anjo von mir fernhalten muss? »Du wolltest, dass er dich nicht mehr mag?« Ich schaue auf. Keine Ahnung. »Vielleicht? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich. Ich meine… ich hatte keinen Kopf, mir Gedanken über wen anders zu machen. Es gab genug anderen Scheiß in meinem Leben und das hätte mich vielleicht abgelenkt. Und außer Jana gab’s halt keinen, der mir irgendwann mal so nah gegangen ist. Die meisten wollen das ja auch gar nicht. Ich konnte nicht damit umgehen. Klar, das war so ziemlich die beschissenste Art drauf zu reagieren, aber wenn ich jetzt drüber nachdenke, fühlt sich das auch mehr so an, als wäre ich das gar nicht gewesen. Das macht wahrscheinlich alles überhaupt keinen Sinn…«, sage ich resigniert und peinlich berührt und zupfe verkrampft an einer Jeansfalte herum. »Gefühle sind selten besonders rational«, sagt Frau Doktor Ehrmann und macht ein paar Kreuzchen auf ihrem mysteriösen Klemmbrett. »Wie kam es dazu, dass ihr euch wieder angenähert habt?« Ich runzele die Stirn und versuche mich zu erinnern. Zuerst kommt mir der Abend in den Sinn, als Anjo sich zwischen mich und zwei Schlägertypen gestellt hat. Aber das war es nicht. Es fing an, als Jana mir gesagt hat, dass ich mit Anjo genauso umgehe, wie der Erzeuger mit uns. Und dann war diese Party, auf der Anjo mir einen Becher Wasser gereicht hat. Ich streiche unnötigerweise meine Hose glatt, starre den Fußboden an und fange an zu erzählen. Ich merke kaum, wie die Geschichte die Raum füllt und sich alles noch mal vor meinen Augen abspielt, als wäre es erst letzte Woche gewesen, dass ich Anjo in diesem dunklen Park geküsst hab, nachdem er mir den verletzten Arm verbunden hat. Frau Doktor Ehrmann unterbricht mich nicht, sie macht sich hin und wieder Notizen auf ihrem Klemmbrett und mustert mich aufmerksam, wie ich bei einigen unsicheren Blicken in ihre Richtung feststelle. Es fühlt sich an, als wäre die Geschichte ein verkümmerter Sprössling, der plötzlich in die Höhe schießt und Zweige und Blätter bekommt. Das ist mein mickriger Lebenssprössling, der kaum je Sonne und Wasser bekommen hat. Und dann kam Anjo und die Sonne ging auf. Und alle möglichen Leute in meiner Umgebung haben angefangen, den Sprössling zu gießen. Lilli, die Christopher einen Schlag ins Gesicht verpasst, weil er mich beleidigt, Christian und Sina, die mich und Jana mitten in der Nacht abholen, Felix und Leon, die beim Umzug helfen, Felix, der mir Nachhilfe in Chemie gibt, Familie Sandvoss, die mich in ihrem Haus wohnen lässt, selbst die Haustiere, die mich mögen… Eigentlich sollte ich nur von Anjo erzählen. Aber jetzt hab ich einmal angefangen und beschreibe in ziemlich wirren Worten und keinesfalls in chronologischer Reihenfolge die Dinge, die mir passiert sind, seit ich mich Anjo wieder genähert habe. Frau Doktor Ehrmann stellt zwischendurch Fragen, die dann wiederum zu einem Gesprudel von Erinnerungen und Wortwirrungen führen, aber obwohl ich mir sicher bin, dass kaum jemand nachvollziehen kann, was ich da alles vor mich hinbrassele, notiert meine Therapeutin – und es klingt seltsam, dieses Wort – einige mir unbekannte Dinge und hört konzentriert und aufmerksam zu. Als die Sitzung zu Ende ist, fühlt es sich an, als hätte es nur drei Minuten gedauert, obwohl es fast eine ganze Stunde war. »Wir sehen uns also nächste Woche Mittwoch wieder«, sagt Frau Doktor Ehrmann, nachdem sie aufgestanden ist und mir die Hand zum Abschied gereicht hat. Ich nicke verlegen und zwinge mich angestrengt dazu, ihr in die Augen zu schauen. Es ist merkwürdig, einer fremden Person gegenüber zu stehen, der man gerade einen beträchtlichen Teil seiner Lebensgeschichte aufgetischt hat. Vielleicht wird diese Frau bald mein größter Geheimniswahrer. Ein komischer Gedanke. Als ich draußen vor der Praxis stehe, wird mir klar, dass meine Beine mir wie Pudding vorkommen und ich mich so müde fühle, als wäre ich seit zwei Tagen unterbrochen wach. Als ich an die frische Luft trete, atme ich einige Male tief durch. Mein Handy vibriert in meiner Tasche und ich werfe einen Blick darauf. »Soll ich dich abholen? Bin grad in der Stadt unterwegs«, schreibt Tim. Meine Mundwinkel zucken. Tim betont immer, wie er ohnehin gerade in der Nähe ist, wenn er mir anbietet, mich irgendwohin zu fahren. Wahrscheinlich weiß er, dass mir jegliche Hilfe, die mir zusätzlich zu den Unannehmlichkeiten, die ich sowieso schon verursache, unangenehm ist. »Bin grad rausgekommen. Wo bist du?«, schreibe ich zurück. Ich habe die Handynummer jedes Familienmitglieds bekommen und es ist merkwürdig, wie voll mein Telefonbuch plötzlich ist. Familie Sandvoss – inklusive Christian, was besonders komisch ist – und Lilli, Felix und Leon… Vorher waren nur Jana und Anjo da drin. Dumpf ertappe ich mich bei dem Gedanken daran, dass ich ja vielleicht auch irgendwann Gabriels Nummer haben könnte. Wenn er mich nicht mehr hasst. Unweigerlich lasse ich die Schultern hängen und schüttele den Kopf. Eine ältere Dame, die vorbeischleicht, mustert mich misstrauisch und ich lächele ihr schief zu. Sie wirkt nicht beruhigt, sondern schiebt ihr Gehwägelchen so hastig wie sie eben kann an mir vorbei. Offensichtlich wirke ich nicht besonders vertrauensselig. »Stettiner Straße. Bei der Pizzeria. Kannst herkommen, wenn du willst.« »Ok. Bis gleich.« Überall in den Fenstern der Geschäfte, an denen ich vorbeikomme, hängt schon lange Weihnachtsdekoration. Lichterketten umranden Fenster und auf dem Bergplatz steht tatsächlich bereits ein beleuchteter Tannenbaum. Weihnachten. Das Fest der Familie. Ich schnaube und der bereits dunkle, späte Nachmittag verwandelt meinen Atem in weiße Wolken. Wie Weihnachten wohl bei Christians Familie ist? Wahrscheinlich wie in einem kitschigen Film. Der Baum ist sicher riesig, alle bekommen tonnenweise Päckchen und es werden schmalzige Lieder gesungen. Vielleicht essen sie Truthahn. Wie in amerikanischen Filmen. Ich werde wie ein Fremdkörper sein, weil ich keine Ahnung habe, wie man sich an Weihnachten in einer normalen Familie verhält. Kurz durchfährt mich der panische Gedanke, dass Frau Doktor Ehrmann gerade bei Brigitte anruft und ihr sagt, dass es keinen Zweck hat, mit mir eine Gesprächstherapie zu führen, weil ich ein hoffnungsloser Fall und ein emotionaler und sozialer Krüppel bin. Als ich schließlich in die Stettiner Straße einbiege, winkt Tim mir schon von weitem zu. Er trägt eine absolut schreckliche Pudelmütze, die selbstgestrickt aussieht. Sie hat einen riesigen, roten Bommel auf der Spitze. Tim sieht aber nicht so aus, als würde ihm das irgendwas ausmachen. Er ist der unkomplizierteste Mensch, der mir jemals untergekommen ist. »Jo!«, ruft er mir entgegen und schwingt freundschaftlich einen Arm um meine Schultern, als ich näher komme, »wir haben noch Pizzareste, willst du was essen?« Ich frage mich einen Moment lang, wer ›wir‹ sind, als Tim mich in den Laden hineinschiebt und zu einem Tisch bugsiert, an dem eine Traube junger Menschen sitzt, die mir allesamt entgegen grinsen. Mir gefriert das Blut in den Adern und ich werfe Tim einen leicht panischen Blick zu. Gerade habe ich noch eine emotional auswringende Sitzung bei meiner Therapeutin hinter mir, meine Gedanken schwirren wie ein Schwarm Kolibris und außerdem ist bald Weihnachten! Nicht, dass das wirklich etwas mit der aktuellen Situation zu tun hätte, aber es beschäftigt mich. »Leute, reicht mir den Pizzakarton mit den Resten!«, verlangt Tim. Er greift nach einer Jacke, die eine junge, blonde Frau ihm reicht und drückt mir die Pappschachtel in die Hand. »Das ist Benni«, sagt Tim gut gelaunt und klopft mir auf die Schulter. Ein Chor aus ›Hey Benni‹ antwortet mir und ich hebe unsicher die Hand. Ein Lächeln kann ich mir nicht wirklich abringen. »Wir müssen dann jetzt auch los.« Und dann bin ich auch schon wieder weg von der Traube. »Nächstes Mal stell ich dir die anderen vor, aber man kann sich immer so schlecht loseisen, wenn man sich erstmal festgequatscht hat«, erklärt Tim munter, während er seine Jacke anzieht und neben mir in Richtung Auto schlendert. »Es gibt noch zwei Stück Salami, ein Stück Funghi und drei Stücke mit Thunfisch und Zwiebeln. Nimm dir, was du magst, ich bin total voll.« Ich nicke matt und steige auf den Beifahrersitz. Nachdem ich mich angeschnallt hab, öffne ich zögernd den Deckel der Schachtel und greife nach einem Stück Salamipizza. »Bist du nicht Vegetarier?«, frage ich und beiße in das Stück. Es ist noch lauwarm, schmeckt aber trotzdem ziemlich gut. »Jap. Ich hab meine Pizza mit Paprika, Zwiebeln und Pilzen aber auch aufgegessen«, sagt er grinsend. Tim schaltet die Wise Guys an und singt gut gelaunt mit, während ich die Restpizza seiner Freunde verdrücke. »Wie läuft Weihnachten eigentlich so bei euch?«, frage ich unsicher zwischen einem Stück mit Thunfisch und dem letzten Stück mit Pilzen. Tim wirft mir einen Blick von der Seite zu und ich schlucke etwas peinlich berührt. Aber Tim ist nichts anzumerken, als er seine Augen wieder auf die dunkle Straße richtet und anfängt zu erzählen. »Wir hauen unseren Baum selber. Ist meistens ein riesiges Ding, das bis zur Decke geht. Papa, Franzi und ich schmücken den Baum und meistens kommt irgendeins der Viecher dazu, haut Kugeln runter und verheddert sich in den Lichterketten. Eileen, Oma und Mama wuseln in der Küche rum, während Lydia auf ihre Kinderweihnachtslieder von Rolf Zuckowski besteht und laut mitsingt. Chris hat früher immer den Baum aufgestellt und für alle die Geschenke eingepackt. Außer seinen eigenen. Keiner von uns außer Oma und Chris hat den Dreh wirklich raus, deswegen musste er das immer machen. Saß dann oben auf seinem Dachboden und wir haben nacheinander unseren Kram zu ihm gebracht, damit er es einpackt. Seine Geschenke waren dann immer die, die am schlechtesten aussahen, weil er die ja selber nicht einpacken konnte.« Ich muss bei der Vorstellung vom großen, breiten Christian auf seinem Dachboden mit Bergen von Geschenken schmunzeln. »Lydia darf ihre Geschenke schon vorm Essen auspacken, weil sie sonst nicht aufisst und viel zu zappelig ist. Aber dann essen wir in der Küche und dann verschwindet Papa ins Wohnzimmer und klingelt mit ‘nem Glöckchen, dann können wir alle reingehen. Zu der Zeit laufen immer noch diese Kinderweihnachtslieder und wir haben eine Menge Kerzen an. Aber nur da, wo Lydia und die Hunde nicht dran kommen. Sir Mauncelot hat sich schon mal die Schnurrhaare an einer versenkt. Dummes Vieh.« Tim lacht ein wenig schadenfroh bei der Erinnerung daran und ich schaue aus dem Fenster, um die bunten Lichter in den Vorgärten und Fenstern zu betrachten. Es klingt tatsächlich alles wie aus dem Bilderbuch. »Habt ihr eigentlich eine Kirche bei euch in der Nähe?«, will ich wissen. Das ist das Einzige, was an Weihnachten bei mir und Jana stattgefunden hat. Wir sind zusammen in die Kirche gegangen und da gab es Kerzen und Lieder und einen Baum. »Ja, eine kleine. Geht ihr immer in die Kirche?«, fragt er mich, als wir in die Grünewaldstraße einbiegen. Es ist gerade mal kurz nach fünf und es sieht aus, als wäre es stockfinstere Nacht. »Ja, schon. Wir gehen auch sonst manchmal sonntags hin«, antworte ich und schnalle mich ab, nachdem Tim vorm Haus seiner Familie geparkt hat. »Ihr könnt gern hingehen. Es gibt ‘nen Kindergottesdienst um vier. Oder später, gegen elf, ist noch Christmette, soweit ich weiß«, erklärt Tim. Ich dachte, dass er es vielleicht komisch findet, dass Jana und ich in die Kirche gehen. Aber er wirkt nicht so, als wäre das merkwürdig für ihn. Tim ist wirklich ein sehr netter Kerl. Ich nehme den Pappkarton mit aus dem Auto und wir gehen gemeinsam den Kieselweg hoch zur Eingangstür mit dem Buntglasfenster. »Danke fürs Mitnehmen«, sage ich, während Tim aufschließt. Seine Pudelmütze sieht wirklich wahnsinnig albern aus. Der Effekt wird nicht gemindert, als Tim mich sehr breit angrinst, als würde er testen, wie weit er seine Mundwinkel seinen Ohren nähern kann. »Kein Ding, man. Wir sollten beizeiten mal ein Bier zusammen trinken und ‘nen coolen Film gucken«, meint er und lässt mich zuerst ins Haus gehen. Sofort kommen uns die bellenden Hunde entgegen gelaufen. Jemand scheint zu backen, denn es riecht nach Keksen im Flur. »Jungs, es gibt Kekse! Sie sind noch warm!«, ruft Eileen aus der Küche und Tims Augen leuchten, als er sich begeistert die Hände reibt. »Warme Kekse!«, sagt er zu mir, haut mich mit seinem Ellbogen an und schleift mich in Richtung Küche, nachdem ich hastig Schuhe und Jacke ausgezogen habe. Es ist fast, als wäre ich hier schon immer ein und ausgegangen. * Die Woche danach halte ich ein Referat über den Vietnamkrieg in Geschichte. Es fühlt sich an, als hätten alle Leute, die ich kenne, mir bei der Vorbereitung geholfen. Eileen hat mich dazu gezwungen, es ihr vorzutragen. Das war eine ziemlich erniedrigende Erfahrung, aber ich glaube, dass es mir tatsächlich geholfen hat. Sie kann sehr streng sein, auch in ihren unermüdlichen Bemühungen, mir Englisch beizubringen. Jeden Fehler verbessert sie, sie mäkelt unaufhörlich an meiner Aussprache rum und manchmal droht sie mir mit Nagellack, wenn ich noch mal das s am Ende eines Verbes vergesse. Sie wirkt besonders kratzbürstig und manchmal auch etwas übertrieben in ihrem Verhalten, aber ich hab schon festgestellt, dass darunter ein ganz weicher Kern steckt. Sie und Franzi sind besonders angenehm zu beobachten. Und ich schätze es sehr, wie sie mit Jana umgeht. Bei weitem nicht so schroff wie mit mir, eher wie mit Franzi. Während sie mich auch öfter gegen den Oberarm boxt oder einen Schlag auf den Hinterkopf gibt, hält sie bei Jana einen dezenten Abstand. Nicht übermäßig auffällig, aber immer so, dass Jana sich nicht eingeengt fühlt oder Angst bekommt, wenn Eileen eine ruckartige Bewegung macht. »Wie ist es gelaufen?«, erkundigt sich Jana beim Abendessen, als wir alle an dem riesigen Tisch in der Küche sitzen. Lydia stochert unmotiviert in ihren Mohrrüben herum, während Margarete sie streng überwacht und aufpasst, dass sie nicht nur die Kartoffeln mit Soße isst. »Ganz gut, glaub ich. Hab mich ein paar Mal versprochen, weil ich’s nicht so gewöhnt bin Referate zu halten. Aber Herr Reitemeier meinte nach der Stunde, dass es echt gut war. Ich glaub, er war ein bisschen überrascht. Ich hab mich nicht wirklich getraut zu fragen, ob mich das Referat jetzt rettet… aber ich hab mich die letzten Stunden so oft wie möglich gemeldet, um meine mündliche Note noch ‘n bisschen aufzubessern.« Ich schiebe mir ein Stück Gemüsebulette in den Mund. Ich hab diese Dinger noch nie gegessen, aber sie schmecken mir echt gut. Margarete ist so ziemlich die beste Köchin, die ich kenne. Aber das kann ich ihr nicht sagen, weil ich sonst eigentlich keine Köche kenne. »Ach Benni«, sagt Johannes in diesem Moment und ich wende ihm meinen Blick zu. »Wir wollten noch mit dir über Taschengeld sprechen.« Einen Augenblick lang schafft mein Gehirn es nicht, das Gesagte zu verarbeiten. Ich hab die Worte gehört, aber sie ergeben für ein paar Sekunden keinerlei Sinn in meinem Kopf. Überdeutlich merke ich, wie sieben Augenpaare auf mich gerichtet sind. Lydia nutzt die Gelegenheit und katapultiert eine Gabel voll mit Mohrrüben quer über den Tisch und in Brigittes Schoß. »Ta–«, ich muss mich räuspern und lasse mein Besteck sinken. »Taschengeld?« Das Wort klingt dermaßen absurd aus meinem Mund, dass ich einen Herzschlag lang versucht bin, verwirrt den Kopf zu schütteln. Johannes nickt, während Brigitte einen Lappen besorgt und die verstreuten Mohrrüben aufsammelt. Unterdessen schimpft Margarete mit Lydia. »Ja, Taschengeld. Falls du mit deinen Freunden mal auf den Weihnachtsmarkt gehen möchtest, oder Weihnachtsgeschenke für deine Schwester kaufen willst«, sagt Johannes freundlich und nimmt einen Schluck seines Wassers. »Aber ich kann nicht… ich meine… ich hab noch nie wirklich Taschengeld gekriegt. Und ich mache schon so viele Umstände. Und das Essen und der Sprit und–« »Benni«, unterbricht Johannes mich mit immer noch freundlicher, aber fester Stimme. »Wir möchten das wirklich gern für dich und Jana machen. Und wir sind keine armen Leute, es ist absolut kein Problem.« Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, um zu widersprechen, weil ich wirklich nicht auch noch Taschengeld bekommen kann. Aber ich bringe kein Wort heraus. Stattdessen bietet Tim mir gut gelaunt eine weitere Gemüsebulette an und ich starre hinunter auf meinen Teller, taub angesichts all der guten und unmöglichen Dinge, die in letzter Zeit um mich herum passieren. An diesem Abend kriecht Jana zu mir ins Bett und fragt mich zum ersten Mal nach Frau Doktor Ehrmann. Sie wollte es wohl erstmal ein bisschen sacken lassen, bevor sie mich darauf anspricht, und ich glaube, dass das gut ist. Einen Tag nach der ersten Sitzung hätte ich wahrscheinlich noch nicht darüber reden können. Ich erzähle ihr im Dunkeln davon, wie ich erst nicht so richtig über Sachen reden wollte und dann gar nicht mehr aufhören konnte und dass vor allem das Thema Anjo mir die Zunge gelöst hat. Dass ich Frau Doktor Ehrmann wirklich nett finde, aber mir noch nicht so richtig vorstellen kann, mit ihr über den Erzeuger oder unsere Mutter zu sprechen. Oder über meine Selbstmordgedanken. Oder meinen übergroßen Selbsthass, den ich einfach nicht abstellen kann, egal, wie nett alle zu mir sind. Tatsächlich wird es eigentlich sogar noch schlimmer, je netter die Menschen zu mir sind, weil ich einfach immer denke, dass ich das alles nicht verdient hab. Jana hört mir zu und hält meine Hand und erzählt mir auch von ihren bisherigen Sitzungen. Dass sie es auch viel einfacher findet, über Franzi und die neuen Umstände zu sprechen, als darüber, wie es früher gelaufen ist. Sie hat schon versucht der Psychologin ihre Berührungsängste zu beschreiben, aber es wollte ihr nicht so richtig gelingen. Offensichtlich will sie bald eine Art Fragebogen über uns ausfüllen, um erste Diagnosen fürs Gericht zu erstellen. Mir gefriert alles in den Adern bei dem Gedanken, den Erzeuger in einem Gerichtssaal zu sehen und mich da gegen ihn durchsetzen zu müssen. Aber laufende Gerichtsverfahren dauern ihre Zeit und ich bin froh über die Luft zum Atmen. Zwischen Abivorbereitungen, dem Einleben im neuen Haushalt, der Psychotherapie und dem Training mit Chris hab ich wirklich genug Dinge, die mich beschäftigen. »Aber du findest es hier schon ok, oder?«, fragt Jana etwas unsicher. Ich drücke ihre Hand und schließe die Augen vor der Dunkelheit. »Wie sollte man es hier denn nicht ok finden?«, gebe ich zurück und sie seufzt erleichtert. »Das ist schön«, murmelt sie und ich höre, dass sie müde ist. Also schweige ich und lausche Janas gleichmäßig werdendem Atem und während auch ich langsam einschlafe, wird mir klar, dass sie die ganzen letzten Nächte nicht im Schlaf geweint hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)