Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 2: Die alte Hölle ------------------------- Hallo ihr Lieben! An dieser Stelle will ich eilends erwählen, dass der Name Sir Mauncelot von meiner lieben Steffi stammt, die hier unbedingt erwähnt werden wollte ;) Ansonsten hab ich dieses Kapitel (bzw. den zweiten Teil) mit Herzklopfen geschrieben, weil ich so mitgefühlt habe. Ich hoffe, dass ich das gut rüberbringen konnte und wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, _____________________ Ich schlafe kaum in dieser ersten Nacht. Wenn ich dann doch mal wegdämmere, träume ich wirres Zeug, das mich wieder aus dem Schlaf reißt. Ein paar panische Herzschläge lang hab ich dann keine Ahnung, wo ich eigentlich bin und ich will das Licht anmachen und nach Jana schauen, aber Jana ist natürlich nicht hier. Sie schläft bei Franziska im Zimmer und träumt hoffentlich angenehmere Dinge als ich. Als es draußen langsam hell wird, fühle ich mich wie gerädert und eine peinliche halbe Stunde lang traue ich mich nicht vom Dachboden hinunter ins Haus. Ich bin froh, dass ich heute nicht in die Schule gehen muss, dass ich den Rest der Woche freigestellt bin und mir nicht auch noch Gedanken um Hausaufgaben und die nahenden Vorabiklausuren machen muss. Dazu hab ich momentan wirklich keinen Kopf. Als ich den Dachboden verlasse, höre ich Stimmen und Schritte im Haus. Der erste Bewohner, der mir entgegen kommt, ist der schwarze Kater, den ich bisher noch nicht gesehen habe. Merlin, hat Jana mir gesagt. Er mustert mich misstrauisch und streicht dann an mir vorbei, hin zu der offenen Zimmertür von Franziska. Wahrscheinlich sind sie und Eileen schon aus dem Haus, weil die Schule anfängt. »Morgen«, sagt Tim gähnend, als ich im Erdgeschoss ankomme. Er trägt lediglich eine Boxershorts und ich frage mich, ob ihm nicht kalt ist, aber er sieht nicht danach aus. Seine Haare stehen wild ab und seine Augen sind winzig klein. Offensichtlich hab ich hier einen Langschläfer vor mir. »Guten Morgen, mein Junge! Möchtest du frühstücken?«, werde ich von Margarete in der Küche begrüßt. Der Tisch ist noch für zwei gedeckt und ich frage mich gerade, wo Jana wohl steckt, als meine Schwester in die Küche kommt. Sie hat ein aufgetürmtes Handtuch auf dem Kopf und war wohl gerade duschen. »Guten Morgen«, sagt sie strahlend und setzt sich auf einen der Stühle, vor denen unbenutztes Geschirr auf dem Tisch steht. »Kann ich ins Bad?«, fragt Tim verschlafen. Jana nickt und Tim verschwindet schlurfend. »Tee, Kaffee, Saft, Milch?«, erkundigt sich Margarete bei mir, während sie durch die Küche wuselt und Frühstücksflocken, Marmelade und Honig von Regalen sammelt und sie vor uns auf den Tisch stellt. »Orangensaft, bitte«, sagt Jana lächelnd und ich nicke zustimmend, ohne wirklich wahrzunehmen, was ich gerade bestellt habe. Margarete stellt einen Teller mit Toasts vor uns auf den Tisch, dann werden mir fünf Marmeladen-Sorten, Nutella, Honig, Käse und eine halbe Fleischwurst vor die Nase gesetzt und ich starre auf die breite Auswahl. Einmal abgesehen davon, dass ich nie zu Hause gefrühstückt habe, hätte es bei uns sicherlich so viel verschiedenen Kram gegeben. Ich greife unsicher nach einer Scheibe Toast und beschließe, Aprikosen-Marmelade auszuprobieren. Margarete räumt geschäftig in der Küche herum. Ich stelle mir vor, wie es wäre, Rentner zu sein und allein zu leben. Nein danke. Da wäre es mir auch lieber, wenn ich tagsüber im Haus meiner Familie ein bisschen was zu tun hätte, als für mich allein Frühstück zu machen und den Rest des Tages in Langeweile zu verbringen. Wie es sich herausstellt, mag ich keine Aprikosen-Marmelade. Trotzdem esse ich das Toast auf, nehme mir ein zweites und belege es mit Käse, um weitere Marmeladen-Experimente zu vermeiden. »Könnt ihr wohl nach dem Frühstück mit den Hunden rausgehen?«, erkundigt sie sich bei uns, während sie benutztes Geschirr in den Geschirrspüler sortiert. »Sicher«, sagt Jana sofort und ich habe kaum Zeit zu nicken. Es ist ein merkwürdiges Gefühl direkt in die Abläufe des Haushaltes integriert zu werden. Aber es ist gut. Dann habe ich was zu tun und ich hab ein bisschen Zeit mit Jana allein. Tim schlurft frisch geduscht in die Küche. »Noch Kaffee da?«, fragt er. Margarete stellt ihm ohne weiteren Kommentar einen Pott mit dampfendem Inhalt hin, als würde sie das jeden Morgen tun. »Bist die Beste, Oma«, nuschelt Tim und riecht zufrieden seufzend an dem Kaffee. Jana kichert leise, während die alte Dame ihrem Enkel ein Kopfschütteln zuteilwerden lässt. »Dein Vater ist zu lasch mit dir, junger Mann. Glaub ja nicht, dass du es dir später leisten kannst, zwei Stunden später zur Arbeit zu kommen, nur weil du nicht aus dem Bett kommst!« Tim brummt zustimmend, aber ich bin mir nicht sicher, ob er den Inhalt ihrer Worte überhaupt wahrgenommen hat. Während Jana und ich nach und nach den Berg Toasts verspeisen, trinkt Tim schweigend seinen Kaffee und Margarete räumt die Küche auf. Ich bin nicht mehr ganz so verkrampft wie gestern Abend, aber immerhin sind momentan auch nicht alle Mitglieder der Familie hier. Mal sehen, wie lange es dauert, bis ich meine Schrecken überwunden hab. Vielleicht gewöhne ich mich nie daran und irgendwann haben diese netten Leute die Schnauze voll, weil ich so undankbar bin. Ich seufze kaum hörbar und leere mein Glas Orangensaft. Sofort wird der leere Teller vor meiner Nase weggeschnappt und Margarete steckt ihn in die Spülmaschine. »Willst du noch duschen gehen?«, fragt Jana. »Danach können wir mit den Hunden raus.« Sie lächelt mich erwartungsvoll an und ich nicke. Ein bisschen frische Luft ist jetzt genau das Richtige. Also gehe ich in dem riesigen Bad duschen und bin sehr bemüht, nirgends irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Als ich frisch geduscht bin und wir in unsere Jacken gehüllt vor der Tür stehen, greift Jana nach den Leinen, die an Haken neben der Tür mit dem Buntglasfenster hängen. Mir wird zum hundertsten Mal bewusst, dass Jana hier bereits zu Hause ist. Sie bewegt sich sicher, sie kennt sich im Haus aus, sie fühlt sich wohl mit den Mitgliedern dieser Familie, die sie alle so behandeln, als hätte sie schon immer dazu gehört. Sie pfeift nach den Hunden, die ihre Stimme kennen und sofort aus dem Wohnzimmer in den Flur gelaufen kommen, um sich aufgeregt schwanzwedelnd von ihr an die Leine nehmen zu lassen. Als Jana sich aufrichtet, starre ich sie an, als wäre sie ein ganz neuer Mensch und ihr ist wohl zumindest ansatzweise klar, was in mir vorgeht, denn sie lächelt schüchtern und fährt sich durch die dunkelblonden Haare. »Es ist nicht schwer, sich hier einzuleben, weißt du? Sie machen es einem so wunderbar leicht«, sagt sie sehr leise und öffnet die Haustür, damit ich hinaus in den großen Garten treten kann. Der Himmel ist grau und mit schweren Wolken verhangen, die früher oder später Regen ankündigen. Es ist kalt und ich ziehe den Kragen meiner Jacke ein wenig höher, bevor ich Jana den Weg hinunter zum Eingangstor folge. Der Garten ist im Sommer sicher besonders beeindruckend, auch wenn ich momentan nur die Hälfte sehen kann. Der Garten reicht fast ganz ums Haus herum und ich frage mich, ob ich jemals jeden Winkel dieses Hauses kennen werde. »Wie war die erste Nacht?«, erkundigt sich Jana bei mir und reicht mir lächelnd die Leine, die zu Renjas Halsband führt. Der Golden Retriever trabt gut gelaunt vor mir her und schnüffelt hier und da an einem Gartenzaun. »Scheiße«, gebe ich zu. Ich will natürlich nicht, dass Jana sich Sorgen macht, aber es bringt auch nichts, die Wahrheit zu verheimlichen. Wir haben so viele Jahre auf engstem Raum miteinander gelebt, dass kein Platz für Lügen war. Sie kennt mich in und auswendig und würde es ohnehin merken, wenn ich nicht ehrlich zu ihr bin. »Tut mir Leid. Als ich das erste Mal bei Franzi übernachtet hab, hab ich auch kein Auge zugetan. Aber sie war total lieb und hat noch ganz lange mit mir geredet«, erzählt Jana und lächelt bei der Erinnerung daran. Ich habe sie selten so viel lächeln sehen. Es ist eigenartig und wunderbar zugleich. Diese Familie ist ein Wunder. Vielleicht sollten ich ihnen doch noch auf Knien danken, dafür, dass sie meine Schwester so glücklich machen, wie ich das nie konnte. »Erzähl ein bisschen von denen«, fordere ich sie auf, als Jana nach links biegt. Die Häuserreihen enden hier und es geht in Richtung Felder. Jana scheint nachzudenken, so als hätte sie tausend Geschichten zu erzählen und wüsste nicht, wo sie anfangen soll. »Johannes ist Tierarzt. Er hat seine Praxis unten im Keller und Tim macht seine Ausbildung zum Tierarzthelfer bei seinem Vater. Weil er so gern lang schläft, darf er morgens später in die Praxis kommen, dafür muss er hinterher alles allein sauber machen. Brigitte ist Psychotherapeutin. Ich weiß nicht genau, was ihr Spezialgebiet ist, weil sie selten über ihre Arbeit redet. Schweigepflicht und so, ist ja klar. Margarete hat früher in der Bank gearbeitet und sie ist wirklich gut in Mathe und so. Hilft Eileen immer bei den Hausaufgaben und so. Tim ist Vegetarier, Eileen will später mal Journalistin werden…« Es ist ein Wirrwarr aus Informationen und kleinen Anekdoten. Ich erfahre die verschiedensten Kleinigkeiten. Jana weiß auch Dinge über Chris, obwohl sie ihn bis vor ein paar Tagen noch nie gesehen hat. Franzi hat aber natürlich eine Menge über ihren großen Bruder erzählt. »Franzi und ich haben Geschichten getauscht, weißt du? Von unseren großen Brüdern. Ich dachte immer, dass Chris schon nach einem ziemlich tollen großen Bruder klingt, aber… naja. Ich würde dich trotzdem nicht tauschen wollen. Franzi hat gelacht und gesagt, dass es gut ist, dass wir beide den besten großen Bruder der Welt haben. Franzi ist der zweittollste Mensch auf der Welt.« Ich werfe Jana einen Blick zu. Sie beobachtet Sam dabei, wie er am Rand des Trampelpfades, auf dem wir uns mittlerweile befinden, ein wenig herum buddelt. »Du weißt schon. Nach dir«, erklärt sie mir. Ich muss lächeln und denke an Anjo. Wenn es danach geht, dann ist Anjo eindeutig der zweittollste Mensch auf der Welt. Nach Jana. »Ich bin froh, dass sie dich so glücklich machen«, meine ich. Janas blaugrüne Augen suchen mein Gesicht ab und sie seufzt leise. »Du kannst nichts dafür, dass wir sowas nie hatten, weißt du? Ich würd nicht ohne dich in diesem neuen Leben sein wollen. Du bist immer noch das Allerwichtigste.« Sie umarmt mich mitten auf dem Feldweg und ich verheddere mich in Renjas Leine, als ich die Umarmung erwidere. Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Natürlich wusste ich eigentlich, dass Jana mich jetzt nicht plötzlich unwichtig findet. Aber es zu hören, tut gut. Vor allem, wo es mir gerade so dreckig geht. »Willst du, dass ich heut Abend mitkomme?«, fragt meine Schwester dann sehr leise und abgesehen davon, dass ich an ihrer Stimme hören kann, wie viel Angst sie davor hätte, zurückzugehen, würde ich es nicht wollen. »Nein, ist schon ok. Ich hab drei gruselige Typen dabei, die mir Kisten schleppen helfen«, sage ich mit einem schiefen Lächeln und sehe, wie Janas Schultern sich vor Erleichterung entspannen. Ein zittriges Kichern entkommt Janas Kehle und sie bückt sich, um die Hunde von den Leinen zu lassen. »Wer kommt noch? Außer Chris, meine ich?«, will sie wissen und wir sehen den Hunden nach, wie sie quer über den leblosen Acker jagen und miteinander spielen. »Chris‘ bester Freund, Felix. So ein gruseliges Lächeln hast du noch nie gesehen… und dessen fester Freund, Leon. Chris und Leon mögen sich nicht, ich bin sicher, die Stimmung wird bombastisch.« * »Kannst du vielleicht auch was tragen?« »Ich stelle mein Auto zur Verfügung.« »Na und? Wir stellen auch ein Auto zur Verfügung! Und die Kartons! Meine Fresse, wie faul kann man eigentlich sein?« »Jungs, bitte. Reißt euch am Riemen.« Ich seufze kaum hörbar, während ich drei leere und zusammen gefaltete Umzugskartons in Chris‘ Kofferraum lege und mich aufrichte. Leon und Christian beharken sich, seit sie sich gesehen haben. Felix massiert angestrengt seine Nasenwurzel, so als müsste er sich sehr bemühen, um nicht auszurasten. Man muss es ihm allerdings lassen, er scheint Leon und Christian gut im Griff zu haben, denn die beiden verfallen nach seiner Ermahnung in brummiges Schweigen. Mein Brustkorb fühlt sich seit mehreren Stunden unangenehm eng an. Seit Christian mich abgeholt hat, hab ich keinen Ton gesagt. Er scheint in etwa gewusst zu haben, was in mir vorgeht, denn er hat nicht versucht, sich mit mir zu unterhalten. Felix hat mich sehr freundlich begrüßt – wenn ich an sein psychopathisches Lächeln in der Konzerthalle denke eine 180°-Drehung – und Leon hat mir mit einem Brummen die Hand geschüttelt. Jetzt sind fast alle leeren Kartons in den beiden Wagen verstaut. Jana und ich haben ja wirklich nicht viel Kram und alles an alten, gebrechlichen Möbeln bleibt in unserem ehemaligen Zimmer stehen. Ich bin dankbar, dass ich das nicht alles allein machen muss, denn ich hab weder ein Auto, noch würde ich es über mich bringen, nach unserem Ausriss die Wohnung zu betreten. Ich hab dermaßen Schiss, dass ich alle paar Minuten Schwierigkeiten hab zu atmen. Ich will da nicht mehr rein und schon gar nicht will ich, dass wildfremde Leute die Hölle sehen, aus der ich komme. Es ist meine und Janas Hölle, unser schmerzhaftes Geheimnis, das ich nicht mal Anjo vollständig zeigen wollen würde. Einerseits bin ich froh über die Gesellschaft, andererseits würde ich mir wünschen, dass all das nicht nötig wäre. Ich fühl mich vor diesen jungen Männern winzig, es ist mir peinlich, dass sie mein kaputtes zu Hause sehen, dass sie wahrscheinlich sogar meinen Vater sehen werden. Wie wird er sich wohl verhalten, wenn ich die Wohnungstür aufschließe? Was werden Christian und die anderen von mir denken? Auch Felix und Leon versuchen nicht, mit mir zu sprechen. Ich würde sowieso kein Wort herausbringen und je näher wir der Wohnung kommen, desto beklemmender wird das Gefühl in meiner Brust. Meine Panik macht sich mit schwitzigen Händen und Herzrasen bemerkbar. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und mein Magen krampft sich zusammen, als wir das schäbige Treppenhaus betreten, das ich mein Leben lang fast jeden Tag als Gang zum Galgen empfunden habe. Meine Hände zittern so heftig, dass ich kaum den Schlüssel ins Schloss kriege und wenn die Drei es sehen, dann sagen sie nichts darüber. Der Geruch nach Terror heißt mich wie so viele Jahre willkommen, als ich den kleinen, lieblos eingerichteten Flur betrete. Das hier ist nichts im Vergleich zu Christians Haus und auch nicht zu Leons kleiner Wohnung, die zwar ein wenig chaotisch ist, aber trotzdem gemütlich. Es brennt nur Licht in der Küche. Das heißt, dass er zu Hause ist. Und natürlich. Natürlich kommt er in den Flur marschiert. Angst und Hass und Wut und unauslöschliche Panik fluten mein Gehirn und ich mache unweigerlich einen Schritt zurück. Sein Blick findet mich und ich denke, dass er mich eigentlich mit einem direkten Faustschlag begrüßt hätte, wenn ich nicht in Gesellschaft wäre. In großer, muskulöser, breit gebauter Gesellschaft. »Was willst du?«, raunzt er mich an. Ich hab meine Sprache verloren. Ich möchte auf der Stelle tot umfallen, damit ich mich nicht damit auseinander setzen muss, dass diese drei Jungs meinen Erzeuger kennen gelernt haben. Als er noch zwei Schritte auf mich zu macht und ich beinahe über meine eigenen Füße stolpere, gibt es ein lautes Krachen und der personifizierte Horror meines ganzen Lebens wird von einem sehr kräftigen Unterarm gegen die Wand mit der abblätternden Farbe gedrückt. Christians Augen sprühen Funken, ich sehe, wie angespannt seine Kiefermuskeln sind und an seiner Schläfe pulsiert eine zornentbrannte Ader. Als er spricht, ist seine Stimme jedoch eiskalt und sachlich. »Wir werden das Zimmer ausräumen und dann werden wir gehen. Ohne Störung.« Die Drohung ist so offensichtlich, so gefährlich, dass selbst ich schlucke. Christian ist riesig und in seiner Wut wirkt er sogar noch größer. Seine Ausstrahlung ist wie eine Naturgewalt und ich sehe die Angst in den sonst immer so hasserfüllten Augen. Ob er jetzt zum ersten Mal weiß, wie es mir immer ging? Felix‘ Gesicht ist kaum zu lesen. Seine Mimik ist wie in Stein gemeißelt. Er bedenkt meinen Erzeuger nicht mit einem gruseligen Lächeln, wie er es bei mir getan hat. Damals. Er geht sehr langsam mit den Umzugskartons unterm Arm an Christian und meinem Erzeuger vorbei. Leon hat seine Hände zu Fäusten geballt und folgt seinem Freund. Ich stolpere ihnen nach, meine Knie fühlen sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben. Hinter mir höre ich, wie Christian seinen Griff lockert und uns nachkommt. In Janas und meinem Zimmer angekommen, schließt er leise die Tür und ich sinke auf den Schreibtischstuhl. Mein Herz hämmert schmerzhaft gegen meine Rippen und ich lasse den Kopf sinken, damit ich niemanden ansehen muss. Ich höre, wie jemand sich daran macht, die Kartons zusammen zu bauen. »Benni, wie sieht’s aus? Sollen wir einfach schon mal die Regale leerräumen?«, fragt Felix‘ Stimme direkt neben mir und eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich zucke automatisch zusammen und sehe auf. Felix‘ Lächeln ist kaum wahrzunehmen, aber ich bin darauf geeicht, Stimmungsschwingungen aller Art wahrzunehmen. Es tut ihm leid, auch wenn er natürlich nichts dafür kann. Er ist wütend auf meinen Erzeuger, aber will es nicht zeigen, weil er mir die Sache nicht unangenehm machen will. Und er will mir das hier so sehr erleichtern wie es möglich ist, auch wenn er nicht so recht weiß, wie, weil ihm so etwas sehr wahrscheinlich noch nie untergekommen ist. Ich räuspere mich zweimal und nicke dann. »Ja… ja, das wär cool. Ich… zieh mal die Betten ab«, sage ich mit heiserer, stockender Stimme und drehe mich um, damit ich niemanden anschauen muss. Eine ganze Weile lang räumen wir schweigend Sachen in Kartons und Chris geht mit jedem vollen Karton hinunter zu den Autos, um den Kram zu verstauen. Ich wickele sehr behutsam die zahllosen Bilderrahmen auf der Fensterbank in wahllose Kleidungsstücke von Jana und mir. Die wenigen Bücher, die wir haben, bedecken gerade mal den Boden eines Kartons. Ich räume unseren Kram aus dem Bad, zögere dann einen Moment und gehe in das Wohnzimmer. Jana und ich waren nie hier drin. Selbst, wenn der Erzeuger nicht in der Wohnung war, saßen wir bei uns im Zimmer. Unsere Festung. Unser Schneckenhaus. Ich bin mir nicht sicher, wieso ich es tue, aber ich öffne einen der Schränke und ziehe ein altes Fotoalbum heraus. Es ist das Einzige, was es in dieser Wohnung gibt. Da sind Bilder von unserer Mutter drin, als wir noch ganz klein waren. Die ersten vier oder fünf Jahre, als noch alles in Ordnung war. Bevor er anfing sie regelmäßig zu verprügeln. »Pass auf Jana auf, ja?«, hat sie ganz oft gesagt, mit blauem Auge und aufgeplatzter Lippe und einem schmerzhaften Lächeln. »Ja, Mama.« Manchmal frage ich mich, was sie sagen würde, wenn ich ihr heute erzählen würde, dass ich immer auf sie aufgepasst hab. Dass sie nie auch nur einen Schlag kassieren musste. Ob meine Mutter stolz wäre? Ich denke so selten wie möglich an sie. Meistens tut’s einfach nur weh, über sie nachzugrübeln. »So, ich denke, das war’s«, ächzt Felix und sieht sich im Zimmer um, als ich mit dem Fotoalbum zurück komme und es ganz oben in einen Karton mit Janas Kleidern lege. Ich nicke knapp und blicke mich ein letztes Mal um. Die Regale und Schränke sind leer, keine Poster oder Postkarten hängen noch an den Wänden. Ohne die Bilder sieht die Fensterbank nackt aus. »Na dann«, sagt Leon, hebt den letzten Karton hoch und marschiert uns voran aus der Wohnung. Ich bleibe an der Tür ein letztes Mal stehen, dann ziehe ich meine Schlüssel aus der Hosentasche und werfe sie unfeierlich auf den Flurboden. Ich werde sie nicht mehr – nie wieder – brauchen und das ist ein merkwürdiges Gefühl. Unten angekommen atme ich tief durch und starre hoch in den pechschwarzen Novemberhimmel. Es ist kalt, aber ich merke es kaum. »Danke«, sage ich in den Himmel hinein, weil ich mich immer noch nicht traue, einen von den anderen anzusehen. »Gern geschehen«, sagen sie gleichzeitig. Dann steigen wir in die Autos und ich verlasse meine alte Hölle endgültig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)