Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 1: Das neue Heim ------------------------ Es hat tausend lang gedauert, ich weiß. Und es tut mir echt Leid, dass ihr auf das Kapitel so lange warten musstet. Aber die Uni lässt mir nicht wirklich viel Platz fürs Schreiben. Ich weiß auch noch nicht, wann ich Zeit haben werde, das nächste Kapitel zu schreiben, da ich in den nächsten Wochen anfange Schwedisch zu lernen und eine Hausarbeit zu schreiben. Ich hoffe, dass euch das Einstiegskapitel gefällt und bedanke mich an dieser Stelle noch mal für die zahlreichen Kommentare zum Prolog! Viel Freude beim Lesen, ________________________________ Die Tür mit dem kleinen Buntglasfenster scheint mich anzustarren und mit mir zu reden. Sie sagt, dass ich nicht hierher gehöre, dass ich wieder umdrehen und irgendwo anders hingehen soll. Aber es gibt nichts anderes für mich. Ich höre Christians Auto unten an der Straße. Wahrscheinlich wartet er darauf, dass ich klingele und eintrete. Das hier sind sein Haus und seine Familie. Das ist sein Leben. Und ich bin kurz davor hinein zu marschieren. Wie er das wohl findet? Wahrscheinlich nicht besonders gut, wenn man bedenkt, dass er mich nicht leiden kann. Aber gut, ich nehme es ihm nicht übel. Ich kann mich auch nicht besonders gut leiden. Obwohl ich sagen muss, dass es sehr viel besser geworden ist, seit ich mit Anjo befreundet bin. Bei dem Gedanken an Anjo werde ich automatisch ruhiger und ich stelle mir vor, wie er neben mir steht und mich aufmunternd ansieht, damit ich den Mut aufbringe, auf die Klingel zu drücken. Also hebe ich die Hand und drücke auf den kleinen, weißen Knopf. Sofort setzt Hundebellen ein und ich höre, wie Christians Auto davon fährt. Jana hat nicht viel von Franzi erzählt. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass ich mich schlecht fühle, weil sie eine andere Familie gefunden hat. Ich weiß also praktisch nichts über dieses Haus und die Menschen, die darin wohnen. Nur, dass sie Christians Familie sind. Und Janas. Mein Magen krampft sich zusammen, als sich die Tür öffnet und Christians kleine Schwester erscheint. Janas beste Freundin. Franziska. Sie lächelt und geht einen Schritt zur Seite, damit ich eintreten kann. Ich stopfe meine Hände in die Hosentaschen und bleibe etwas verloren im Flur stehen. »Hallo«, sagt Franziska und mustert mich. Sie hat dieselben Augen wie ihr großer Bruder. »Hi«, gebe ich nervös zurück. Wie scheiße es wäre, wenn Janas beste Freundin mich nicht leiden kann. »Du kannst deine Jacke da an die Garderobe hängen«, sagt Franziska und zeigt auf ein paar säuberlich angebrachte Haken an der Wand. Der Eingangsbereich ist groß und hell gefliest, die Möbel sind schlicht und weiter hinten sehe ich eine breite Holztreppe ins obere Stockwerk führen. Es riecht nach Heizungsluft, Zimt und ein bisschen nach Hund. Ich schäle mich aus meiner Jacke und hänge sie an einen der freien Garderobenhaken. Wenn ich bedenke, dass Jana und ich unsere Jacken immer einfach ins Zimmer geworfen haben… ich sollte wahrscheinlich nicht vergleichen. Das hier ist eine ganz andere Welt. Mit Buntglasfenster in der Tür, Hunden und einer Garderobe. Besagte Hunde kommen in diesem Moment durch eine offen stehende Tür rechts von der Treppe. Alle drei sind ziemlich groß und ich frage mich, ob sie sich auf mich stürzen und fressen wollen… aber stattdessen umringen sie mich nur neugierig und schnuppern an meiner ausgeblichenen Jeans. Franziska lächelt etwas breiter. »Das sind Mogli, Renja und Sam«, erklärt sie, zeigt nacheinander auf den Labradormischling, den Golden Retriever und den Husky und krault Renja hinter den Ohren. Ich strecke die Hand nach Sam aus und er bellt begeistert, als ich ihn streichele. Sein Fell ist ausgesprochen flauschig. »Sind wohl keine Wachhunde, was?«, gebe ich trocken zurück und Franziska lacht leise. »Nicht wirklich. Die Rassen eigenen sich aber auch wirklich nicht als Wachhunde. Aber da sie immer bellen, wenn jemand das Haus betritt, und aufs Wort hören, könnten sie sicherlich auch einen Einbrecher vertreiben«, erklärt sie ruhig. Während sie die Hunde streichelt, habe ich kurz die Gelegenheit, sie zu mustern, ohne sie blöd anzustarren. Sie ist etwa genauso groß wie Jana, ihre braunen Haare sind dünn und kinnlang und werden von einem Haarreifen zurückgehalten. Sie trägt einen riesigen Kapuzenpullover, der sicher irgendwann mal Christian gehört hat und eine Pyjamahose mit Katzenmuster. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie die auch schon gestern Nacht an, als wir hier aufgetaucht sind. Franziska strahlt unheimlich viel Ruhe und Freundlichkeit aus. Das erinnert mich an Anjo. Der hat auch dieses weltfreundliche Lächeln, das sich auf ihren Lippen abzeichnet. »Jana ist bei uns im Wohnzimmer, wir gucken Harry Potter«, erklärt sie und richtet sich auf. »Du kannst dich mit dazu setzen, wenn du willst. Wir können dir das Haus später zeigen.« Mein Herz sinkt mir irgendwo in die Gegend meiner Knie und ich nicke etwas benommen. Hastig ziehe ich meine Schuhe aus und folge Franziska zu der Tür, durch die die Hunde gekommen sind. Das Wohnzimmer ist riesig. Der Boden ist mit hellem Parkett ausgelegt, überall liegen verschiedenfarbige, flauschige Teppiche. Eine breite Fensterfront führt hinaus auf eine Terrasse und dann in den Garten. Jetzt sind allerdings die Vorhänge zugezogen und meine Augen haben nicht wirklich Zeit, alles zu begutachten, weil sie unweigerlich von dem Bild angezogen werden, das sich auf dem Sofa abspielt. Christians andere Geschwister hocken halb nebeneinander und halb aufeinander auf einem Zweiersofa und verprügeln sich energisch mit ein paar dunkelroten Kissen. Franziskas Platz ist offensichtlich neben Jana auf der längeren Couch unter einer gemütlichen, braunen Wolldecke. In einem sehr knautschigen Sessel sitzt Christians Oma und strickt an einem Schal. Seine Eltern sitzen am anderen Ende des Sofas, auf dem auch Jana hockt und mich anstrahlt. So ein Strahlen bin ich wirklich nicht von ihr gewöhnt und ich habe unweigerlich das lächerliche Bedürfnis auf die Knie zu gehen und der mir fremden Familie für diesen Gesichtsausdruck zu danken. »Ah, Benjamin«, sagt Frau Sandvoss und lächelt mir zu. Meinen Namen auf diese Art und Weise zu hören, ist komisch. »Setz dich doch, hier ist noch Platz.« Sie klopft zwischen sich und Jana aufs Sofa und Franziska manövriert mich mit sanfter Gewalt an dem hölzernen Couchtisch und ihren zankenden Geschwistern vorbei hinüber zum Sofa. Jana steht auf und umarmt mich. Ich sollte irgendwas sagen. Irgendwas… aber mir fällt nichts ein. Ein ›Danke‹ reicht nicht aus. Es fühlt sich geradezu lächerlich an, ›Danke‹ sagen zu wollen. »Willst du eine Tasse Tee, mein Junge?«, fragt die Oma und sieht über ihre Strickarbeit zu mir hinüber. Ich starre sie an. Ich hab meine Großeltern nie kennen gelernt. »Ähm… Ja?«, sage ich unsicher. Ich will wirklich keine Umstände machen. Jana und Franzi sitzen jetzt wieder gemeinsam unter der Decke und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie eng sie beieinander hocken. Es sieht – genau wie gestern – aus, als wollten sie ineinander kriechen. Es ist mir ein Rätsel, wie Franziska das angestellt hat. »Du kannst mich Margarete nennen«, informiert die Oma mich mit einem mütterlichen Lächeln, während sie ihr Strickzeug beiseitelegt und aufsteht, um mir einen Tee zu organisieren. Ich starre sie an. »Früchtetee? Oder Kamille? Wir haben auch Pfefferminz.« Ich zucke etwas verloren mit den Schultern. »Pfefferminz klingt in Ordnung«, sage ich. Ich trinke sonst nie Tee. Und demnach hab ich auch keine Ahnung, welchen Tee ich mag. Der, den Anjo gestern Nacht mitgebracht hat, war lecker. Ich hab allerdings keine Ahnung, was es für eine Sorte gewesen ist. »Sollen wir Benjamin sagen? Oder ist Benni besser?«, fragt Franziskas Mutter. »Benni«, antworte ich automatisch. Es ist womöglich ein dummer Gedanke, aber den Namen, den meine Eltern mir gegeben haben, will ich nicht. Ich konnte ihn noch nie leiden. »Fein. Benni«, sagt Frau Sandvoss lächelnd. »Brigitte. Und Johannes«, fügt sie hinzu und deutet auf sich und ihren Mann. Ich nicke und fahre mir verlegen durch die Haare. Dann segelt ein Kissen gegen meinen Brustkorb und ein lauter Fluch folgt ihm. »Tim, du Arsch!« Ich betrachte das Kissen und sehe hinüber zu dem raufenden Paar auf dem anderen Sofa. »Wir versuchen hier einen Film zu sehen«, erklärt Herr San–… Johannes mit einem verschmitzten Schmunzeln. Ich hab von dem Film noch nichts mitbekommen. Es gibt so viel zu sehen und ich fühle mich, als stünde ich unter Strom. »Aber Tim ist ein Arsch!« »Eileen ist eine verwöhnte Zicke«, gibt Tim zurück und erntet einen Schlag mit dem Kissen, das Eileen in der Hand hält. »Kommt es noch jemandem so vor, als wäre die Jüngste hier im Raum die erwachsenste von euch?«, erkundigt sich Brigitte amüsiert. Franziska presst die Lippen aufeinander und sieht aus, als würde sie versuchen, nicht zu lachen. »Möchtest du Zucker?« Ich werde aus meinen Beobachtungen gerissen und eine grüne Tasse mit dampfendem Tee wird mir gereicht. »Ja, bitte«, sage ich und es werden zwei Löffel Zucker in die Tasse getan. Dann setzt sich – ich kann es nicht fassen, dass ich sofort von allen das ›Du‹ angeboten bekommen haben – Margarete wieder in ihren Sessel. Nach diesem nett gemeinten Rüffel an Tim und Eileen wird es ruhiger im Wohnzimmer, sodass ich tatsächlich den Ton des Films hören kann. Aber es gibt zu viel zu sehen, als dass ich wirklich darauf achten könnte, was auf der Mattscheibe läuft. Die ganze hintere Wand des Raumes wird von einem Bücherregal verdeckt und eine kleine, hölzerne Leiter kann daran hin und her geschoben werden, um auch an die obersten Reihen heranzukommen. Von hier aus kann ich die Titel nicht erkennen. Die Hunde haben sich nahe der Heizung auf einem der Teppiche zusammen gekuschelt und sehen zufrieden und dösig aus. Genauso wie Jana und Franzi, die sich bei der Hand halten und zwischendurch angesichts der Handlung des Films lächeln oder kichern. Tim sieht aus wie eine etwas jüngere Ausgabe von Christian. Aber er ist schmaler und kleiner, hat kürzere Haare und ein schalkhaftes und albernes Funkeln in den Augen, das seinem großen Bruder fehlt. Auch Eileen und Franziska sehen sich ähnlich, aber man erkennt auf den ersten Blick, dass sie wohl sehr unterschiedlich sein müssen. Eileen trägt ein sehr kurzes Strickkleid und eine gemusterte Strumpfhose. Ihre Augenbrauen sind akkurat gezupft und ihre langen Haare wurden sofort nach der Kissenschlacht wieder in Ordnung gebracht. Johannes ist groß und dünn, trägt eine Lesebrille und ein Holzfällerhemd. Seine Frau erscheint winzig neben ihm, sie hat Lachfalten um den Mund und die Augen und die beiden sehen so unheimlich nach glücklicher Ehe aus, dass ich nicht allzu lange hinschauen kann. Also mustere ich stattdessen das älteste Mitglied des Haushaltes. Margarete hat viele Falten im Gesicht, eine zerzauste Dauerwelle und knorrige, aber ziemliche flinke Hände, die ununterbrochen an dem dunkelblauen Schal stricken, der bereits bis zu ihren Knien reicht. Es ist merkwürdig. Alles. Es ist, als wäre ich nicht da. Oder so, als würde ich dazu gehören und niemanden stören. Es gab keine großartige Einleitungsrede über irgendwelche Zustände, darüber, wie man diese Übergangslösung am schnellsten wieder beenden könnte, darüber, dass ich von jetzt ab hier wohne und diese Familie das alles tut, einfach weil sie nett ist und weil sie helfen will. Es ist ein absurder Gedanke, aber vielleicht war mir seit Anjo irgendwie klar, dass es noch mehr Menschen von dieser Sorte auf der Welt geben muss. Menschen, die gerne helfen und nichts zurück verlangen. Ich bin so falsch in dieser Familienwelt, dass ich überdeutliche jede meiner Bewegungen spüre und sei es nur ein Schlucken. Als würden sie mich beobachten. Aber das tun sie nicht. Wir schauen einen Harry Potter Film und ich sitze mitten drin und niemand benimmt sich, als wäre das irgendwie komisch. Niemand, außer mir selbst. Ich betrachte das Klavier und versuche zu raten, wer aus der Familie spielen kann. Ich beschließe, Jana später zu fragen, wieso sie mir nicht mehr von diesen Leuten erzählt hat, auch wenn ich die Antwort eigentlich weiß. Ob sie bei Franzi im Zimmer wohnt? Wie viele Zimmer dieses riesige Haus überhaupt hat? Der Geruch nach Zimt ist hier im Wohnzimmer noch stärker als im Flur. Es riecht immer noch nach Hund, aber auch nach Tee und ich greife nach der Tasse auf dem Couchtisch und rühre möglichst umsichtig darin herum. Dann nehme ich einen Schluck und verbrenne mir die Zungenspitze. Auf der Mattscheibe tragen zwei alte Leute eine Statue in einen Raum und legen sie auf ein Bett. Ich hab Harry Potter nie gelesen. Ich hatte generell nie wirklich die Ruhe, um irgendwas zu lesen. Was die ›echte‹ Welt angeht, bin ich eine riesige Niete. Ich hab keine Ahnung von aktueller Musik, von Kinofilmen oder Büchern. Alles an Geld, was wir überhaupt je in die Finger bekommen haben, ging für zwei billige Handys drauf, für Klamotten, wenn sie gebraucht wurden und für Essen. In meinem Fall auch öfter mal für Alkohol. Und in Janas Fall für ihre Klarinette, die sie unserer alten Nachbarin für wenig Geld abkaufen durfte, weil die aufgrund von Arthritis nicht mehr spielen konnte. Eine schwarzweiße Katze kommt in den Raum gestrichen und sieht sich suchend um. Wie viele Tiere gibt es in diesem Haus? Ich versuche mich noch einmal an meinem Tee und diesmal bin ich so umsichtig, ein bisschen zu pusten, bevor ich mir noch irgendwas verbrenne. Die Katze kommt zu uns herüber geschlichen und springt mit einem eleganten Satz aufs Sofa. Jetzt sitzt sie direkt neben mir und starrt mich an, als würde sie von mir wissen wollen, wer ich bin und was ich in ihrem Wohnzimmer mache. »Soll ich ihn da weg nehmen?«, fragt Franziska mich. Es wird mir bewusst, dass ich das Tier zurück anstarre. Also ist es ein Kater. »Nein. Schon ok. Er sieht aus, als würde ich ihm seinen Platz wegnehmen«, murmele ich. Der Kater legt den Kopf schief und mustert mich weiterhin. »Wenn’s nach ihm ginge, würde jeder Platz in diesem Haus exklusiv ihm gehören«, erklärt Tim vom anderen Sofa her und wirft dem Kater einen Blick zu. »Das ist deine schlechte Erziehung«, erklärt Eileen. Tim schnaubt. »Dein Teufelsvieh schläft am liebsten auf dem Esstisch. Das ist schlechte Erziehung!« Eileen verdreht die Augen. »Wollen wir uns darauf einigen, dass die einzig gut erzogene Katze in diesem Haushalt Hermine ist?«, wirft Johannes belustigt ein und Tim und Eileen mustern ihren Vater, als hätte er sie hinterrücks verraten. Der Kater erhebt sich und ich denke einen Moment lang, dass er wieder verschwinden will, aber stattdessen steigt er auf meinem Schoß und rollt sich dort zusammen. Ich bin offiziell ein Sitzkissen. »Wie heißt er?«, frage ich. »Sir Mauncelot«, kommt Tims Antwort. Ich sehe ihn an und bin nicht sicher, ob er Witze macht. Tim grinst breit und klopft sich auf die Schulter. »Geiler Name, was? Ist mein Kater. Er brauchte einen möglichst coolen Namen, um–« »Niemand außer dir findet diesen Namen cool«, informiert Eileen ihren Bruder mit einer verächtlichen Handbewegung. Tim schnaubt empört. »Klar findet Benni ihn cool. Du findest ihn cool, oder?«, will Tim wissen. Ich bin eindeutig überfordert. Mit allem. »Ähm…« Eileen lacht spöttisch. »Siehst du, er findet ihn auch lächerlich«, meint sie. »Du hast deine Teufelsbrut Milkyway genannt! Welche Katze wird denn respektiert, wenn sie Milkyway heißt!?«, schießt er zurück und bekommt prompt einen Schlag auf den Oberarm. Das ganze Kissenschlacht-Spektakel geht von vorne los und ich bin mittlerweile immerhin über drei der Katzennamen informiert. Vermutlich sind es noch hundert andere Katzen. Ich nehme noch einen Schluck Tee und beuge mich zu Jana hinüber. »Wie viele Katzen gibt es noch?«, flüstere ich. Jana kichert. »Noch einen Kater. Merlin. Hermine ist Franzis Katze. Merlin war der erste Kater im Haus. Der ist ganz schwarz und schon ein bisschen älter«, flüstert meine Schwester zurück. Ich betrachte den Kater in meinem Schoß und streichele ihm probehalber über den Kopf. Er schließt zufrieden die Augen und fängt an zu schnurren. Sein Fell ist kurz und weich und ich glaube, das ist offiziell das erste Mal, dass ich eine Katze streichele. Wahrscheinlich wird die Zeit in diesem Haushalt voller Premieren sein. Der Rest des Films vergeht mit noch drei weiteren Zankereien zwischen Tim und Eileen. Sir Mauncelot scheint sein neuer Platz auf meinem Schoß zu gefallen, denn er döst zufrieden und hinterlässt Haare auf meiner alten Jeans. Jana hat Mitleid mit mir, nachdem ich meinen Tee ausgetrunken habe und mich nicht bewegen will, um den Kater nicht aufzuwecken. Sie nimmt mir die Tasse ab und stellt sie auf den Tisch. Ich bekomme tatsächlich etwas vom Film mit und stelle fest, dass ich so gut wie nichts verstehe. Immerhin checke ich, dass Harry ein Zauberer ist und seine beste Freundin so heißt wie Franziskas Katze. Wahrscheinlich ist es andersrum. Am Ende liefert Harry sich einen relativ spektakulären Schwertkampf mit einer riesigen Schlange und schenkt einem komischen Gnom eine widerliche Socke, die ich sicherlich nicht haben wollen würde, aber der Gnom freut sich wahnsinnig und schmeißt den blonden Schönling als Dank die Treppe runter. Plötzlich wird mir klar, dass die Dinge womöglich komisch werden, wenn der Film erst mal aus ist. Denn dann müssen sich die anderen tatsächlich damit auseinander setzen, dass ich jetzt hier wohnen soll. Vielleicht kriege ich dann die Hausregeln diktiert. Die Tatsache, dass ich keine Ahnung habe, wie es in einem normalen Haushalt zugeht, ist wahnsinnig erbärmlich. Und dann ist der Film vorbei und Johannes streckt sich ausgiebig. Mein Herz wummert peinlich laut in meinem gefühlt viel zu engen Brustkorb. »Wenn du willst, zeig ich dir das Haus«, bietet Franziska freundlich von der Seite an und ich drehe den Kopf, um in ihre braunen, sanftmütigen Augen zu sehen. Etwas benommen nicke ich und starre dann hinunter auf den schwarzweißen Kater, der keinerlei Anstalten macht, sich zu bewegen. Tim macht kurzen Prozess und hebt das Fellknäuel von mir herunter, was den Kater dazu bewegt, unheimlich empört dreinzublicken und wütend davon zu staksen, nachdem Tim ihn abgesetzt hat. »Ich werde dann jetzt ins Bett gehen. Fühl dich ganz wie zu Hause, Benni«, sagt Brigitte. Mir steckt ein riesiger Kloß im Hals, als ich aufstehe und dabei zusehe, wie die anderen sich ebenfalls erheben. Margarete legt ihr Strickzeug beiseite, Tim und Eileen hauen sich ein letztes Mal die Kissen um die Ohren, bevor Eileen mit einem wütenden Aufschrei aus dem Wohnzimmer fegt und Tim ihr lachend nachsetzt. Brigitte und Johannes wünschen uns Zurückgebliebenen noch eine gute Nacht und sind dann ebenfalls verschwunden. Das bedeutet wohl, dass ich keine Hausregeln mitgeteilt bekomme. Was, wenn ich mich dauernd daneben benehme, weil ich keine Ahnung von familiärem Zusammenleben habe? Vielleicht werfen sie mich dann irgendwann raus. »Morgen können wir dir auch den Garten und die Praxis zeigen«, sagt Franziska und geht mir voran hinüber zur Wohnzimmertür. »Gute Nacht, ihr Lieben«, sagt Margarete noch und ich blicke kurz zurück, dann folge ich Jana und Franzi hinaus in den Eingangsbereich. »Praxis?«, frage ich abwesend und blicke mich noch mal um, dann führt Franzi mich nach rechts und ich stehe in einer ziemlich großen Küche mit einem unglaublichen großen Tisch, um den neun Stühle und ein Kinderstuhl stehen. Alles ist aufgeräumt, bunte Magneten und selbstgemalte Kinderbilder hängen am Kühlschrank, ich sehe in einem Regal vier verschiedene Frühstücksflockensorten und im Fach direkt darüber eine riesige Sammlung von Teetassen. »Das ist die Küche«, sagt Franziska lächelnd und zuckt mit den Schultern, als wollte sie sich für die Überflüssigkeit dieser Information entschuldigen. »Wir haben unsere Getränke dahinten in der Speisekammer, wenn du Hunger hast, kannst du einfach an den Kühlschrank gehen. Die zweite Schublade der Gefriertruhe klemmt ein bisschen… Tierfutter ist auch in der Speisekammer. Oh, und wir wollten dir zum Einzug unbedingt eine eigene Teetasse besorgen, aber wir wussten nicht, ob du überhaupt Tee trinkst. Vielleicht können wir das morgen nachholen.« Mein Kopf kann mit all den neuen Informationen nicht wirklich mithalten. Alles, was mein Gehirn wirklich filtert, ist ›deine eigene Teetasse‹. »Ihr… äh… müsst mir keine Teetasse besorgen«, probiere ich meine Stimme aus. Sie klingt tatsächlich so, als hätte ich sie sehr lange nicht gebraucht. Franziska lächelt und Jana sieht unheimlich zufrieden aus. »Ist Familientradition. Jeder, der zum Haushalt gehört, hat seine eigene Teetasse. Auf Janas Tasse sind Notenschlüssel. Jetzt das Bad?« Ich nicke benommen. Auch das Bad ist riesig und mit Badewanne und Dusche ausgestattet. Und zwei Waschbecken. Wenn ich an das leicht gesprungene Waschbecken in unserem Bad denke… mein Kopf scheint nicht in der Lage zu sein, mit den Vergleichen aufzuhören. Überall sind große Fenster, helle Fußböden und Wände, überall ist es aufgeräumt, aber nicht steril. Und vor allem sind überall persönliche Noten verteilt. Pinnwände, gerahmte Bilder, selbstgebastelte Kleinigkeiten aus Schultagen. Franziska und Jana steigen mir voran die Treppe hinauf. Im Erdgeschoss befinden sich noch das Elternschlafzimmer und auch das Zimmer von Margarete. Der erste Stock gehört den Kindern. Jede Zimmertür ist mit einem Namensschild versehen, an Tims Tür hängt auch noch ein Poster mit Biergläsern, die jeweils die Begriffe ›Optimist‹, ›Pessimist‹, ›Materialist‹ und ›Perfektionist‹ verdeutlichen. Eileens Tür ist mit einem riesigen Poster von ›Sex and the City‹ beklebt und an der letzten Tür, dem Zimmer von Franziska gegenüber – an deren Tür wirklich nur ein Namensschild hängt – sind viele bunte Pappblumen und Schmetterlinge befestigt. Ein kindlich beschriftetes Blatt Papier verkündet den Namen ›Lydia‹ in Großbuchstaben. »Wer ist Lydia?«, frage ich gedämpft. »Das Pflegekind von Franzis Eltern«, flüstert Jana zurück. Dieses Haus scheint ein Hort für heimatlose Tiere und Menschen zu sein. »Sie ist vier und wahnsinnig niedlich!« Jana mochte Kinder schon immer. Bei seltenen Gelegenheiten, wenn wir mal Kinder getroffen haben, hat sie sich gern mit ihnen beschäftigt. Und bei Kindern hat sie auch keine Berührungsängste. Manchmal hab ich versucht mir vorzustellen, wie sie später mal eigene Kinder hat und ich dann Onkel bin. Onkel Benni. Ein dunkles Gefühl in den Tiefen meines Brustkorbs sagt mir, dass ich vermutlich kein besonders guter Onkel wäre. Außerdem durchfährt mich automatisch Panik, wenn ich mir vorstelle, dass Jana irgendwann ganz aus meinem Leben verschwunden sein wird, weil sie eine eigene Familie gegründet hat und ich nur noch zu Geburtstagsfeiern bei ihr vorbeischaue. Ein grässlicher Gedanke. »Möchtest du mein Zimmer auch sehen?«, erkundigt sich Franziska leise und deutet auf die Tür, die nur mit dem schlichten Namensschild versehen ist. Ich nicke automatisch. Wenn Jana auch da drin wohnt, dann will ich es wirklich gern sehen. Wir gehen hinüber zur Tür und Franziska öffnet sie für uns. Die Art und Weise, wie Jana das Zimmer betritt und sich ohne Umstände auf das Bett unter dem Fenster setzt, sagt mir, dass sie sehr oft hier drin war. Natürlich war sie das. Trotzdem vermittelt es ein merkwürdiges und ungewohntes Gefühl von Heimeligkeit, wie sie dort sitzt, lächelt und leicht mit den Beinen wippt. »Jana schläft hier bei mir«, erklärt Franziska und bestätigt meine Vermutung. Ich nicke abwesend und lasse meinen Blick über die zwei großen Fenster schweifen, die von gelben Gardinen verdeckt werden. Darunter steht das breite Bett, neben dem eine Matratze liegt. »Wo ist Christians Zimmer?«, frage ich und sehe einen Berg Notenbücher in einem kleinen Regal, die mir verraten, dass Franziska diejenige ist, die Klavier spielt. Ich mustere Disney-Filme, Harry Potter, ein Poster von Amy MacDonald und eines mit einer Babykatze in einer Hängematte. Helle, zusammenpassende Möbel, freundliche Farben und Janas Klarinette, die auf einem niedrigen Tischchen liegt und aussieht, als würden sie genau dort hingehören. »Chris gehört der Dachboden. Und da kannst du schlafen. Wir haben schon Bettzeug bezogen und so«, antwortet Franziska und deutet zur Tür. Jana erhebt sich und wir gehen zurück in den Flur, hin zu einer sehr schmalen und sehr steilen weiteren Treppe, die noch ein Stockwerk weiter nach oben führt. Ich werde in Christians altem Zimmer leben. Es fühlt sich unwirklich an. Ob er gerade bei Anjo darüber flucht, dass ich seine Familie invadiere? Vielleicht beklagt er sich auch bei Sina, weil Anjo mich gut leiden kann und er es sich mit ihm nicht verscherzen will. Oben angekommen eröffnet sich mir ein riesiger Dachboden mit Balken, die das Dach stützen, schrägen Wänden und hellem Holzboden. Obwohl Christian hier nicht mehr wohnt, habe ich das Gefühl, ihn hier noch herumgeistern zu spüren. Das ist natürlich irgendwie unsinnig. Aber die schlichten Möbel, der ebenso schlichte Fußboden und die vielen Quadratmeter flüstern von dem jungen Mann, der hier sein Leben lang gewohnt hat. Hinten in einer Nische liegen zwei Matratzen aufeinander und frisch bezogenes Bettzeug ist bis auf ein paar wenige andere Dinge das Einzige, was nicht leer und unbewohnt wirkt. »Ist natürlich alles noch nicht so richtig wohnlich«, meint Franziska entschuldigend, so als könnte sie meine Gedanken lesen. »Aber wenn ihr morgen Abend erstmal deine Sachen geholt habt, dann kannst du es dir hier gemütlich machen.« Ich ziehe die Schultern hoch und nicke vage. Ich hab nicht viele Sachen und ganz bestimmt nicht genügend, um dieses Zimmer zu füllen. Dumpf kommt mir der Vergleich von Christians und meinem Leben. Meins ist ein kleines, schäbiges und besitzarmes Zimmer. Seins ist dieser riesige, weite Dachboden. »Ich kann hier oben bei dir schlafen. Die ersten Nächte, wenn du willst«, flüstert Jana leise und mustert mich besorgt. Ich bin ziemlich sicher, dass sie in etwa weiß, wie es gerade in mir aussieht. Sie kennt mich eben einfach am besten. »Schon ok«, murmele ich, obwohl ich sie eigentlich gern in den Arm nehmen und bitten will, hier mit mir zusammen auf diesem Dachboden zu wohnen. Ich hab noch nie ein Zimmer für mich allein gehabt und schon gar nicht so ein großes. »Ok. Ich mach die Tür zu, dann können dich die Katzen nicht wecken«, sagt Franzi. »Schlaf gut!« Ich nicke automatisch. Sehr wahrscheinlich werde ich kein Auge zu tun. Jana umarmt mich und lächelt mir noch einmal zu, dann verschwinden sie und Franziska durch die Tür und die schmale Treppe hinunter. Ich gehe hinüber zu den Matratzen, hocke mich hin, starre einen Augenblick den hellen Fußboden an und dann fange ich an zu heulen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)