Walking on a dream von Anshie (Yuuichi & Kyousuke Tsurugi) ================================================================================ Kapitel 1: Walking on a dream ----------------------------- Titel: Walking on a dream Serie: Inazuma Eleven Genre: Sport, Shonen-ai, yaoi Pairing: Yuuichi & Kyousuke Tsurugi Disclaimer: Ich verdiene damit (leider) kein Geld und die Charaktere gehören auch nicht mir. Ich leih sie mir nur aus. ^_~ Widmung: Meine Mia :3. Beta: Ryusei Anmerkung: Die Idee zu dieser FF hatte ich schon ziemlich zu Anfang, als man Yuuichi in der Serie zum ersten Mal gesehen hat. Es war Liebe auf den ersten Blick! *lol* Zwischendrin war meine Motivation zum Weiterschreiben aber im Keller, zum einen weil Yuuichi im Anime schon eine ganze Weile nicht mehr vor kam, zum anderen, weil ich doch einige Gewissenskonflikte bezüglich gewisser Handlungen in dieser FF hatte. Ich war mir bis zum Schluss nicht sicher, wie weit ich da nun letztendlich gehen soll / darf / will. Ich hab mir am Ende aber doch nicht reinreden lassen und das geschrieben, was ich eigentlich von Anfang an wollte. Ich kann mir gut vorstellen, dass hier einige faule Tomaten fliegen werden. ^^“ Was ich da diesmal verzapft hab, ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Dessen bin ich mir bewusst und ich stell mich seelisch schon mal auf drauf ein, hoffe aber natürlich, dass es dem ein oder anderen Leser gefällt, auch wenn er sich für das Pairing vielleicht nicht so begeistern kann. (WAS ICH GAR NICHT VERSTEHEN KANN!!! °A° EINSELF!!!111 *Fangirlykraisch*) Noch ein paar Worte zum Titel. Es MUSSTE unbedingt ein Titel her mit ner Anspielung aufs Laufen. Das war von Anfang an klar. |D Ich wollte die FF ursprünglich irgendwas mit „Go“ drin nennen, aber da ich so gerne Songtitel verwende, hab ich mich auf die Suche nach dem passenden Lied gemacht und wurde fündig. Passender könnte ein Liedtext wohl kaum sein, darum möchte ich euch den zu „Walking on a dream“ von „Empire of the Sun“ auch nicht vorenthalten, sondern meine FF damit beginnen. (Hört euch das Lied mal an! °o° http://www.myvideo.de/watch/7224870/Empire_Of_The_Sun_Walking_On_A_Dream Das Video ist irgendwie krank, aber das Lied ist toll. ^^) Lange Rede, kurzer Sinn. Ich wünsch euch viel Spaß beim Lesen von “Walking on a dream”. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ ♫ Walking on a dream ♫ ♪ How can I explain? Talking to myself... Will I see again? We are always running for the thrill of it thrill of it. Always pushing up the hill searching for the thrill of it. On and on and on we are calling out and out again. Never looking down. I’m just in awe of what’s in front of me. Is it real now? When two people become one... I can feel it! When two people become one... Thought I’d never see the love you found in me. Now it’s changing all the time. Living in a rhythm where the minutes working overtime. Catch me I’m falling down! Catch me I’m falling down! Don’t stop just keep going on! I’m your shoulder lean upon. So come on, deliver from inside! All we got is tonight, that’s right, till first light. ♪ ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Walking on a dream Tsurugi rannte weg. Einfach nur weg. Ganz egal wohin. Nur möglichst weit weg von dort, wo er bis eben noch gewesen war, das war die Hauptsache. Weg von allem was schief ging, einfach nur weg, weg, WEG! Er war wütend. Wütend war gar kein Ausdruck. Aufgebracht, frustriert, aufgewühlt, ratlos, verzweifelt und wütend auf alles und jeden. In aller erster Linie aber auf sich selbst. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wieso hatte er so etwas ungemein Bescheuertes getan? Als lief nicht ohnehin schon alles in seinem Leben total beschissen, nein, da musste er noch eins drauf setzen. Immer, wenn er dachte, es könne nicht noch schlimmer kommen, geschah etwas, was ihm das Gegenteil schmerzlich vor Augen führte. Nicht selten war er selbst schuld daran, aber DAS! Das war nun wirklich die Spitze des Eisbergs gewesen. Schwer, so eine seltene Blödheit noch zu toppen. Es war schlichtweg zum Kotzen, dass er im Grunde trotzdem noch an seinem Leben hing, sonst hätte er genauso gut vor den nächstbesten LKW laufen können. Stattdessen knallte er mit voller Kraft den Fußball samt dem Netz, in dem sich derselbe befand, gegen das Straßenschild, an dem er gerade vorbei kam und verursachte damit einen lauten Knall, sodass ein paar Mädchen, die in der Nähe gestanden hatten, erschrocken losquietschen und davon liefen. Pfff, war ihm doch egal, was irgendwelche Passanten über ihn dachten. War ihm allgemein vollkommen scheißegal, was irgendjemand über ihn dachte. Die sollten einfach alle zur Hölle fahren! Der Ball dotzte ein paar Mal auf den Boden und rollte dann über den Bordstein. Tsurugi ging schnurstracks daran vorbei, nahm wie üblich nicht einmal die Hände aus den Hosentaschen. Scheiß auf Fußball! Scheiß auf den 5th Sector! Scheiß auf alle! Einen Boxsack zum Abreagieren hätte er im Moment wirklich gut gebrauchen können. Wo war dieser beknackte Matsukaze Tenma, wenn man ihn mal wirklich brauchte? Jeder andere von diesen dummen, ahnungslosen, kleinen Versagern hätte es auch getan. Tsss! Sie taten gut daran, ihm jetzt nicht unter die Augen zu treten. Wenn es nach ihm ginge, würden sie ihm überhaupt nie wieder unter die Augen treten. Aber es ging ja leider nicht nach ihm. Ging es nie. Sonst wäre schon so einiges in seinem Leben anders gelaufen und zwar ganz gewaltig anders. Nur konnte man sich das bedauerlicherweise nicht aussuchen. Also, was sollte er jetzt machen, wenn die LKW-Lösung doch nicht wirklich eine Option war? Wie sollte er aus dieser aussichtslosen Situation je wieder herauskommen? Er hatte nicht den blassesten Schimmer… ~ Wenige Stunden zuvor: … Im Krankenhaus war es ruhig wie immer. Nur durch das gekippte Fenster des Zimmers waren Vogelgezwitscher und entfernte Stimmen zu hören. Die Stimmen der Besucher und Patienten, die das schöne Wetter nutzten und die warmen Sonnenstrahlen dort unten im Park genossen. Sie klangen leise von hier oben im zweiten Stock aus. Nahezu unerreichbar. Tsurugi Yuuichi warf einen Blick auf den Rollstuhl, der neben dem Bett stand. Und das waren sie meist auch. Unerreichbar. Aber was sollten die trüben Gedanken? Er hatte keinen Grund sich zu beschweren. Immerhin hatte er liebevolle Menschen um sich herum, die sich um ihn kümmerten – und ihn an die Sonne brachten, wann immer er es wollte. Genau! Es gab viele Menschen auf der Welt, die es mit Sicherheit viel schlechter hatten als er. Also kein Grund sich zu beklagen. Er sah zu seinem jüngeren Bruder, der neben dem Bett auf einem Stuhl hing und mit den Armen und dem Kopf darauf auf der Bettdecke eingeschlafen war. Yuuichi lächelte. So erschöpft und trotzdem kam er ihn so oft besuchen. Die Schule und das Fußballtraining mussten anstrengend sein… Yuuichi griff nach einem Buch, welches auf dem Nachttisch lag und schlug es auf. Er würde Kyousuke noch etwas schlafen lassen. Es war ja noch nicht spät und etwas Ruhe tat ihm sicher gut. ~ Tsurugi war auf dem Fußballplatz am Flussufer. Das Raimon-Team trainierte gerade. Und der immer fröhliche neue Trainer Endou stand mit den Händen in die Seiten gestemmt am Rande des Fußballplatzes und rief ihnen ab und an ein Lob zu. Tsss! Nur am Loben, dieser Vollidiot. Sah er nicht was für gravierende Fehler dieser unfähige Haufen sich erlaubte? Und wenn er überhaupt mal Kritik aussprach, dann in einem solch optimistischem Tonfall, dass Tsurugi hätte kotzen können. So konnte diesen Kerl doch einfach keiner ernst nehmen. „Tsurugi!“, rief Endou plötzlich, und riss den Angesprochenen damit aus den Gedanken. „Los, mach schon mit!“ Tsurugi gab nur ein verächtliches Schnauben von sich und blieb am Rande der überdachten Bänke stehen. Er hatte keine Lust auf diesen Kindergartenverein. „Hey Tsurugi!“, wandte sich nun auch Matsukaze Tenma, die wohl größte Plage seit der Pest, an ihn. „Nun komm endlich her!“ Wieso konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Sie würden das nächste Spiel doch sowieso verlieren. Das war längst beschlossene Sache und zwar wortwörtlich. Wieso konnten sie sich nicht einfach damit abfinden? Doch Tenmas nächsten Worte machten Tsurugi mit einem Mal hellhörig. „Dein Bruder würde doch auch wollen, dass du spielst, oder nicht?“ Tsurugi riss die Augen auf und blicke auf das Feld. Woher zum Teufel-?!!! Wieso wusste dieser Knirps von Yuuichi? Auf dem Platz stand neben Tenma das gesamte restliche Raimon-Team. Alle hatten ihr Training unterbrochen und starrten ihn geradezu anschuldigend an. Was sollte das? Wussten sie etwa alle davon? „Ich finde ja,…“, fuhr Tenma fort. „Wenn du schon schuld daran bist, dass er nicht mehr spielen kann, dann kannst du das jetzt wenigstens an seiner Stelle tun, oder nicht?“ JETZT REICHT’S!!! Das war genug! Was fiel diesem Wurm überhaupt ein?! Ohne weiter darüber nachzudenken, stürmte Tsurugi los, packte Tenma am Kragen und riss ihn zu Boden. Er kniete über ihm, holte mit der Faust aus und schlug ihm mitten ins Gesicht. Und von dieser Sekunde an nahm er rein gar nichts mehr um sich herum wahr. Er spürte nicht, wie seine Faust den anderen traf. Er hörte keine Geräusche, keine Stimmen, weder die der anderen Spieler, noch die des Trainers, noch Tenmas. Er holte wieder aus, schlug wieder auf ihn ein. Und wieder. Und wieder. Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Was war los? Weinte er etwa? Wieso wehrte dieser Bastard sich überhaupt nicht? Und wieso hielt ihn niemand von den anderen auf? Irgendwas stimmte hier doch nicht. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er konnte nichts mehr erkennen. Er holte erneut aus, blinzelte ein paar Mal, um das Gesicht unter ihm wieder erkennen zu können. Und plötzlich stockte ihm der Atem. Sein Arm hielt in der Bewegung inne. Die Person, die da unter ihm lag war nicht mehr Tenma. „Nii-san!“ Ihm wurde schwindelig… ~ „AAAH!“ Yuuichi schreckte zurück, als sein Bruder urplötzlich mit einem lauten Schrei die Augen aufschlug. Bis eben hatte der Ältere der beiden Geschwister noch versucht, den Jüngeren wach zu schütteln. Hastig atmend und sichtlich verwirrt blickte Tsurugi sich um. Erst als er merkte, wo er war und dass er offenbar geträumt hatte, kam er wieder zur Ruhe. „Alles in Ordnung?“, fragte Yuuichi besorgt und legte die Hand auf die Schulter des Jüngeren. „Ja“, murmelte dieser daraufhin nur und fixierte die Bettdecke. Er konnte ihn nicht ansehen, nachdem was er da gerade für einen Mist zusammen geträumt hatte. Er merkte, dass er tatsächlich im Schlaf geweint hatte und wischte sich schnell über die Augenwinkel. Yuuichi lächelte sanft und streichelte beruhigend über seinen Arm. „Was hast du geträumt?“, fragte er dann. „Weiß ich nicht mehr“, log Tsurugi prompt. Yuuichi kaufte ihm diese Antwort nicht wirklich ab, aber er fragte nicht weiter nach. Tsurugi waren seine Schwächen schon immer peinlich gewesen. Yuuichi ließ die Hand sinken und legte das Buch von der Bettdecke zurück auf den Nachttisch. „Es ist schon spät“, sagte er dann. „Mama macht sich Sorgen, wenn du nicht bald nach Hause kommst.“ „Willst du mich loswerden?“, erwiderte Tsurugi monoton. Yuuichi sah ihn irritiert an. Als Scherz gemeint sähe seinem Bruder so eine Frage ja ähnlich. Aber im Moment klang er etwas zu ernst für Yuuichis Geschmack. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte er lächelnd. „Wenn es nach mir ginge, könntest du die ganze Nacht lang hier bleiben.“ „Dann mach ich das.“ Yuuichi legte die Stirn in Falten. Immer noch dieser ernste Tonfall. Was auch immer Tsurugi gerade geträumt hatte, es schien ihn ganz schön mitzunehmen. Yuuichi sah ihn einen Moment lang an, dann streckte er die Hand aus und strich über seine Wange. Die Haut war nass, dort wo Tsurugi sich die Tränen abgewischt hatte. „Hör zu, Kyousuke“, begann Yuuichi. „Du musst mich wirklich nicht jeden Tag besuchen kommen. Ich freue mich zwar darüber, aber ich sehe doch auch, wie geschafft du bist. Gönn dir auch mal etwas Ruhe, ja?“ „Tu ich doch. Ich ruhe mich hier aus“, antwortete Tsurugi knapp. Yuuichi lachte. „Du bist unverbesserlich, wirklich.“ Tsurugi sah ihn still, an, lehnte den Kopf etwas gegen die ihm dargebotene Hand. So warm… „Wenn ich dir auf die Nerven gehe, dann…“, begann er leise, wurde jedoch sofort unterbrochen. “Du gehst mir nicht auf die Nerven!“, sagte Yuuichi sofort. „Ich hab doch eben gesagt, ich freue mich, wenn du mich besuchst. Darum geht es doch auch überhaupt nicht. Aber ich merke doch, dass du dir immer noch Vorwürfe machst und…“ Weiter kam er nicht, denn Tsurugi unterbrach ihn prompt. „Du hast recht, es ist schon ganz schön spät“, wechselte der Jüngere schnell das Thema. „Ich gehe dann jetzt.“ Yuuichi sah ihn traurig an. Die Reaktion überraschte ihn nicht wirklich. War eigentlich klar, dass er jetzt auf einmal gehen wollte. Wie immer, wenn man versuchte, ihn auf diese Sache anzusprechen, wich er einfach aus. Wenn ein Themenwechsel nicht zur Option stand, dann musste er eben ganz urplötzlich los. Am liebsten hätte Yuuichi ihn jetzt nicht gehen lassen. Doch er wusste, dass es nichts brachte, weiter darüber zu diskutieren. Tsurugi war stur. Verdammt stur! „Na gut“, gab Yuuichi nach. Er ließ die Hand ein Stück sinken, zögerte einen Moment und legte sie dann um Tsurugis Schulter, um ihn näher zu ziehen. Tsurugi beugte sich nach vorn, stützte sich mit einem Arm auf dem Bett ab und legte den anderen um Yuuichis Rücken. „Pass auf dich auf, ja?“, hörte er Yuuichi leise nahe seinem Ohr sagen. Sein Herz schlug schneller, wie immer, wenn Yuuichis Stimme so nah war. „Hmm…“, murmelte er und legte den Kopf auf Yuuichis Schulter. Er genoss es, ihm so nahe zu sein. Er wollte eigentlich auch gar nicht gehen. Aber noch viel weniger wollte er sich schon wieder über die leidige Frage „Schuldig oder nicht schuldig“ unterhalten. Er spürte Yuuichis Hand in seinem Nacken, die ihn ganz leicht kraulte. Das hatte er früher schon oft gemacht. Und Tsurugi bekam immer eine Gänsehaut davon. Eine angenehme Gänsehaut. „Ich hab dich lieb, Kyousuke“, flüsterte Yuuichi. „…“ Normalerweise hätte er jetzt „Ich dich auch“ gesagt. So wie immer. Aber irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen. Es war nicht richtig. Es stimmte so nicht. Diesen Gedanken hatte er schon seit Wochen, Monaten… Er wusste nicht genau wie lange. Aber irgendetwas daran fühlte sich falsch an. Darum sagte er es nicht. Stattdessen löste er langsam die Umarmung. Sehr langsam, um genau zu sein. Und dann passierte es. In der Sekunde, wo Yuuichis Gesicht seinem eigenen am nächsten war. Statt sich einfach von ihm abzuwenden, beugte Tsurugi sich noch ein paar Zentimeter weiter vor und – küsste ihn. Nur ganz kurz. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Es war fast nur eine flüchtige Berührung ihrer Lippen, aber sie war dennoch da gewesen. Und allein diese Millisekunden lange, klitzekleine Berührung verursachte ein unvorstellbares Kribbeln in seiner Magengrube. Unglaublich, was für eine gewaltige Reaktion so ein winziger Kuss auslösen konnte. Tsurugi nutzte den Augenblick, in dem Yuuichi ihn vollkommen perplex und wie versteinert anstarrte, um vom Bett aufzustehen und den Fußball in seinem Netz vom Boden aufzuheben. „Gute Nacht!“, nuschelte er undeutlich und sah zu, dass er zur Tür hinauskam, ehe sein Bruder seine Stimme zurückfand. ~ Tsurugi hatte noch nie so zügig das Krankenhaus verlassen. Er war die Straßen entlang gerannt als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Was war er nur für ein Idiot? Wieso hatte er so etwas ungemein Bescheuertes getan? Wie sollte er Yuuichi nun je wieder unter die Augen treten? Seine Gedanken überschlugen sich. Doch eine Lösung fand er nicht. Erst als er in die Straße einbog, in der sich sein Haus sich befand, verlangsamte er seine Schritte. Er berührte mit den Fingern seine Lippen. So fühlte es sich also an… Yuuichi zu küssen. Auch wenn die Berührung so kurz gewesen war, dass er sie überhaupt nicht so genau hatte spüren können. Das Kribbeln war immer noch da. Dieses klischeehafte Gefühl, welches er sonst nur aus Gesprächen von kindisch schwärmenden Klassenkameradinnen über irgendwelche Popstars kannte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Gefühle für einen Fremden auch nur ansatzweise so stark sein konnten wie die für… seinen Bruder. Und genau da lag das große Problem an der ganzen Sache. Er war sein Bruder. Sein leiblicher Bruder. Und folglich zudem auch noch ein Mann. Zum ersten Mal in seinem Leben erschienen Tsurugi diese beiden Umstände negativ zu sein. Nicht, dass er sich nicht schon weit vor dem heutigen Tag Gedanken darüber gemacht hätte… aber erst das, was eben passiert war, machte die ganze Sache so real. So… problematisch. Bis zum heutigen Tage hatte er sich möglichst wenig mit diesem Gefühl befasst. Er hatte es als falsch interpretierte Schuldgefühle abgetan. Und damit war das Thema erledigt gewesen. Oder zumindest auf Eis gelegt. Nun aber war es wieder da und näher als je zuvor. Nun hatte er… Blut geleckt, um es mal so zu sagen. Dieser Kuss. Eine Kurzschlussreaktion, mehr nicht. Aber so kurz er auch gewesen war, so sehr steigerte er Tsurugis Verlangen nach mehr. Was sollte er nur machen? Und was am Wichtigsten war: Wie sollte er sich Yuuichi gegenüber nun verhalten? Vor allem, wenn er ihn das nächste Mal sah. Irgendwie würde er sich ja wohl erklären müssen. Nur wie? Er konnte ja schlecht einfach so mit der Tür ins Haus fallen. Nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Er würde genau das Gleiche tun wie bisher: Es verdrängen, ignorieren, vergessen, nicht darüber nachdenken. Ganz einfach. Nur dieser einmalige Kuss stellte ein Problem dar und sonst nichts. Nur für diesen einen Kuss musste er sich irgendwie rechtfertigen. Das war schon Herausforderung genug, da musste er sich nicht noch tiefer in diese missliche Lage hinein reiten. Diese Gefühle waren sowieso vollkommen bescheuert. Er musste sie nur lange genug ignorieren, dann würden sie schon wieder verschwinden. Er würde Yuuichi einfach eine Weile aus dem Weg gehen. Bis etwas Gras über die Sache gewachsen war. Das war wahrscheinlich am Besten. ~ "Tsurugi! Los, mach schon mit!", rief Matsukaze Tenma vom Platz aus und Tsurugi fühlte sich unangenehm an einen bestimmten Traum erinnert, den er vor einigen Tagen gehabt hatte. Er saß auf der Bank im Schatten und sah genervt dem Raimon-Team beim Training zu. Wenigstens ließ Trainer Endou ihn in Ruhe. Vielleicht hatte immerhin einer ja mittlerweile kapiert, dass er keinen Bock auf den Kindergartenverein hatte. Er beobachtete lieber, wie dieser untalentierte Haufen sich in der prallen Sonne abhetzte. Einfach nur peinlich... In diesem Moment begann das Handy in seiner Tasche zu vibrieren. Er holte es heraus und sah auf das Display, auch wenn er sich eigentlich schon denken konnte, wer es war. "Nii-san..." Er hielt das Handy nur in der Hand, statt den Anruf anzunehmen. Es war nicht das erste Mal, dass Yuuichi ihn in den letzten Tagen anrief. Und kein einziges Mal, hatte Tsurugi den Anruf angenommen. Er hatte ihn auch seit diesem... Zwischenfall... nicht mehr besucht. Er wusste einfach nicht, was er sagen oder wie er sich verhalten sollte. Früher oder später musste er sich aber wohl doch blicken lassen, sonst machte er alles nur noch schlimmer. Wenn er so tun wollte, als wäre dieser Kuss nur eine belanglose Sache gewesen, dann war dieses offensichtliche aus dem Weg gehen wahrscheinlich keine besonders gute Idee. Es machte seine Masche nicht unbedingt glaubwürdig. Nach einer Weile hörte der Vibrationsalarm auf und das Display wurde wieder dunkel. Tsurugi seufzte und steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Was für eine beschissene Situation. Die gesamte letzte Woche hatte er sich im Prinzip über nichts anderes den Kopf zerbrochen. Die Suche nach einer vernünftigen Lösung des Problems hatte er jedoch längst aufgegeben. Es gab nur eine Reaktion für ihn, die überhaupt in Frage kam und die hatte von Anfang an festgestanden: So tun, als hätte er sich nichts dabei gedacht. Es als unbedeutende Geste abtun. Mit etwas Glück kaufte Yuuichi ihm das auch ab. Immerhin war es wirklich nur ein sehr kleiner Kuss gewesen. Wirklich nichtig. Nur ein Streifkuss sozusagen. Wieso zum Geier hatte er eigentlich permanent das Gefühl, sich vor sich selbst rechtfertigen zu müssen? ~ Nach dem Training - an welchem er ja eigentlich nicht mal teilgenommen hatte - beschloss Tsurugi, sich zu stellen und seinen Bruder im Krankenhaus zu besuchen. Er konnte ihm schließlich nicht ewig aus dem Weg gehen. Und das wollte er ja auch gar nicht. Als er den Flur im zweiten Stock des Krankenhauses entlang lief, hatte er ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Er war lange nicht mehr nervös gewesen, aber jetzt war er es und zwar gewaltig. Er atmete tief ein und drückte den Türgriff des Zimmers 315 herunter. Anklopfen tat er wie immer nicht. Yuuichi saß am Fenster und tat das, was er meistens tat: Lesen. Gott, wie musste das langweilig sein, den ganzen Tag an diesen Stuhl oder das Bett gefesselt zu sein! Tsurugis schlechtes Gewissen verstärkte sich jedes Mal, wenn er ihn sah. Als Tsurugi den Raum betrat, blickte sein Bruder von seinem Buch auf und lächelte sichtlich erleichtert. "Kyousuke!" Der Angesprochene vergrub die Hände noch etwas weiter in den Hosentaschen und betrat den Raum. Er wusste nicht so recht, wie er anfangen sollte. So viel zu seinem tollen Plan, sich nichts anmerken zu lassen. Er lehnte sich an den kleinen Tisch, der im Raum stand, nicht allzu weit weg vom Fenster. "Wie geht es dir?", begann er dann. "Jetzt besser", antwortete Yuuichi. Er wirkte ziemlich gut gelaunt. "Nur die letzten Tage..." Tsurugi schluckte und sah ihn nicht an. "Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht", fuhr Yuuichi fort. "Ich weiß, ich hab gesagt, du musst mich nicht jeden Tag besuchen kommen, aber dieser plötzliche Umschwung… Und du bist auch nicht ans Handy gegangen." "Tut mir leid", entschuldigte Tsurugi sich und starrte auf den Boden. "Ich war... beschäftigt. Ich wollte zurückrufen, aber dann dachte ich, ich komm lieber gleich vorbei." Yuuichi lächelte. "Na, Hauptsache es geht dir gut", sagte er. "Wie läuft das Training?" Erleichtert stellte Tsurugi fest, dass Yuuichi nicht mal ansatzweise vorzuhaben schien, ihn auf den Kuss anzusprechen. Also hatte er sich wohl auch nichts daraus gemacht. Und Tsurugi hatte sich den Kopf zerbrochen und die letzten Nächte kaum noch ein Auge zugetan. So viele übertriebene Gedankengänge wegen nichts und wieder nichts. Ts, wie dumm von ihm! Aber umso besser, dann konnte er die Angelegenheit ja jetzt beruhigt zu den Akten legen. Merkwürdig, eigentlich müsste er doch jetzt erleichtert sein. Stattdessen wollte dieses flaue Gefühl einfach nicht verschwinden. "Gut", log er schlicht. Von dem Zwergenaufstand im Raimon-Team musste Yuuichi genauso wenig wissen, wie von Tsurugis Arbeit für den 5th Sector. Es war nicht so, dass es Yuuichi nicht komisch vorkam, dass Tsurugi so verschlossen geworden war, was Fußball anging. Aber er nahm an, dass Tsurugi aus Rücksichtnahme auf ihn nicht darüber reden wollte. Immerhin wusste Tsurugi wie gerne Yuuichi auch wieder spielen würde. Tsurugi dazu zu bringen, sich darüber zu unterhalten, brachte nichts. Da kam der Sturkopf durch. Und als älterer Bruder war Yuuichi es ja gewohnt, nachzugeben. Also wechselte er das Thema. "Ganz schön heiß, oder?" "Hm?" Tsurugi blickte auf und sah ihn verwirrt an. "Die Temperaturen", sagte Yuuichi. "Im Wetterbericht haben sie vor der Hitzewelle gewarnt. Wie ist es draußen?" Ach so, er sprach vom Wetter! Und an was hatte er gedacht? Er sollte sich selbst ohrfeigen. So weit waren sie nun also schon. Dass sie sich übers Wetter unterhalten mussten... "Ja, es ist ziemlich warm", antwortete er. "Wollen wir nach draußen?", fragte Yuuichi daraufhin. Und in dem Moment tat Tsurugi sein eben gezeigtes Desinteresse auch schon wieder leid. Natürlich interessierte Yuuichi das Wetter mehr als jemanden, der jeder Zeit nach draußen gehen und es selbst wahrnehmen konnte. Das Krankenzimmer war klimatisiert und im Winter passend beheizt. Hier drin war es immer gleich. Wer an den Rollstuhl gefesselt war, war über jede noch so kleine Abwechslung dankbar. Tsurugi biss sich auf die Unterlippe. "Klar", sagte er, stieß sich vom Tisch ab und ging um Yuuichi herum. Dann schob er den Rollstuhl zur Tür. Das Gelände des Krankenhauses war groß und an einem warmen Tag wie heute befanden sich mehr Menschen als sonst auf dem Rasen und den Gehwegen. Es war schon später Nachmittag, aber die Temperaturen wollten nicht sinken. Tsurugi hatte den Rollstuhl wie immer in den Schatten eines Baumes geschoben und sich selbst unter diesen gesetzt. Sie saßen eine Weile da und schwiegen. Yuuichi beobachtete ein paar Jungs, die in einiger Entfernung zu ihnen einen Fußball hin und her kickten. "Wie geht es Mama?", fragte Yuuichi irgendwann. "Ganz gut", antwortete Tsurugi. "Sie arbeitet zu viel. Wie immer also." Yuuichi nickte. "Ja... wie immer." Ihre Eltern kamen ihn nicht so oft besuchen wie sein kleiner Bruder. Aber er verstand das. Unter der Woche war neben der Arbeit nicht viel Zeit. Also mussten sich die Besuche auf Wochenenden beschränken. Ihre Mutter hatte wieder angefangen zu arbeiten, damit sie das Geld für die Operation schneller zusammen bekamen. Und sein Vater machte mehr Überstunden als gut für ihn waren. Sie taten so viel für ihn. Er war dankbar, so eine Familie zu haben. Er sah weiter zu den Kindern, die aufgeweckt dem Ball nach hetzten. Hoffentlich bekamen sie nicht gleich noch Ärger vom Krankenhauspersonal. Yuuichi lächelte. „Als wir in dem Alter waren, haben wir immer Fußball gespielt, bis es dunkel wurde“, sagte er. Tsurugi antwortete nicht. Er wollte nicht ständig daran erinnert werden. Nicht an diesen einen Tag… Nicht an den Grund, warum sie nun hier saßen und Yuuichi nicht mehr laufen konnte. Aber diesmal fiel ihm so schnell auch keine Ausweichmöglichkeit ein, also stützte er nur den Kopf auf die Hand und schaute abwesend in die andere Richtung. „Machst du dir wirklich immer noch Vorwürfe?“, fragte Yuuichi. Seine Stimme hatte so einen tröstenden Tonfall. Irgendwie unpassend, wie Tsurugi fand, immerhin war Yuuichi derjenige, der im Rollstuhl saß und nicht er. „Es war ein Unfall“, fuhr Yuuichi fort. Das reichte jetzt! Urplötzlich stand Tsurugi auf. „Nii-san“, begann er, doch Yuuichi ließ ihn nicht weiter sprechen. „Du solltest weiterspielen“, sagte er. „Es war immerhin unser Traum, irgendwann gegen die ganze Welt anzutreten, weißt du nicht mehr? Genauso wie-“ „Du bist derjenige, der spielen sollte!“, unterbrach diesmal Tsurugi seinen Bruder. Seine Stimme war lauter geworden. „Ich will DICH spielen sehen!“ Yuuichi sah ihn wortlos an. Diese Sache schien Tsurugi wirklich sehr zu belasten. Yuuichi wünschte, er hätte ihm diese Schuldgefühle einfach nehmen können. Niemand gab ihm die Schuld an dem was passiert war. Niemand, außer er selbst. „Ich werde schon dafür sorgen, dass du bald wieder laufen kannst“, fügte Tsurugi etwas leiser hinzu. „Kyousuke…“ Tsurugi war aufgewühlt. Auch wenn es nun schon Jahre her war, so belastete ihn dieser… Unfall… noch immer. Natürlich gab er sich die Schuld. Wäre er nicht so dumm gewesen, auf diesen Baum zu klettern… Er schluckte schwer. „Es ist wirklich viel zu warm heute“, bemerkte er dann und versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen. „Ich hol uns etwas zu Trinken, ja?“ „Einverstanden“, entgegnete Yuuichi und rang sich ein Lächeln ab. Tsurugi hatte seine Antwort kaum abgewartet, da war er auch schon losgelaufen. Yuuichi sah ihm nach, bis er im Gebäude verschwand. Es war wieder ein rapider Themenwechsel gewesen, aber Yuuichi hatte beschlossen, dass er genug nachgebohrt hatte. Es tat ihm weh, zu sehen, wie sehr Tsurugi unter dem, was geschehen war, litt. Doch ganz egal, was er sagte, nichts schien das Gewissen seines Bruders zu beruhigen. Er hatte sich verändert, besonders in letzter Zeit. Er wirkte verschlossener, abwesend… Yuuichi fragte sich, ob das allein an diesem Unfall lag oder ob da noch mehr war, was Tsurugi belastete. Er wusste, dass es nichts bringen würde, ihn direkt zu fragen. Aber er machte sich Sorgen. Tsurugi war ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wollte, dass er glücklich war, das war auch schon alles. In diesem Augenblick wurde Yuuichi aus seinen Gedanken gerissen und zwar von etwas Großem, das unmittelbar an ihm vorbei flog. Er folgte mit seinem Blick dem Fußball, der ein Stück weit von seinem Rollstuhl entfernt im Gras liegen blieb. Als er zu den Kindern hinüber sah, die vorhin noch damit gespielt hatten, stand bei ihnen eine Frau – wahrscheinlich die Mutter – die die Jungs bei der Hand genommen hatte und wohl gerade dazu drängte, sich auf den Heimweg zu machen. Sie hatte anscheinend nicht bemerkt, wohin der Ball geflogen war und die Jungs schienen ihn zu vergessen. „Ah, entschuldigen Sie!“, rief Yuuichi in ihre Richtung. „Warten Sie!“ Doch sie waren zu weit entfernt, um ihn zu hören. Er überlegte kurz, dann lehnte er sich zur Seite, um nach dem Ball zu greifen. Er erreichte ihn jedoch nicht ganz. Ein paar Zentimeter fehlten. Er beugte sich noch etwas weiter über die Armlehne, hielt sich mit der anderen Hand an der anderen Lehne fest, um nicht die Balance zu verlieren und streckte den Arm so weit er konnte. Nur noch ein paar Millimeter-! Plötzlich spürte er, wie das Rad des Rollstuhls vom Boden abhob, aber da war es schon zu spät. Er wollte sich schnell wieder hochziehen, doch durch die rasche Gewichtsverlagerung kippte der Rollstuhl nun endgültig zur Seite. Es tat einen dumpfen Knall, als das schwere Gerät auf die harte Wiese aufschlug. „Aah-“ Yuuichi spürte ein plötzliches Stechen in den Beinen, verursacht durch die ruckartige Bewegung und gefolgt von einem pochenden Schmerz. Er drückte sich mit den Armen vom Boden ab, aber viel mehr konnte er alleine auch nicht tun. Doch in diesem Moment war ohnehin längst das Aufsichtspersonal auf ihn aufmerksam geworden. „Um Himmels Willen!“, hörte er die Stimme einer Krankenschwester rufen. Als er aufblickte, sah er die junge Frau und eine ihrer Kolleginnen angerannt kommen. „Wie ist das denn passiert?“, fragte eine von beiden entsetzt. In diesem Moment kam Tsurugi mit zwei Getränkedosen in den Händen aus der Tür des Gebäudes zurück in den Garten. Er riss die Augen auf, als er aus der Entfernung die Krankenschwestern um seinen Bruder stehen sahen. „NII-SAN!“ Die Dosen fielen klappernd zu Boden, als Tsurugi losrannte. Als er an dem Baum ankam, hatten die beiden Schwestern den Rollstuhl längst wieder aufgestellt. „Hast du dir wehgetan?“, fragte die eine Schwester Yuuichi besorgt und ignorierte Tsurugi vollkommen. Die andere jedoch drehte sich erbost zu ihm um. „Und wo hast du gesteckt? Du kannst ihn doch nicht einfach so alleine hier sitzen lassen!“, fuhr sie ihn an. Tsurugi konnte nichts sagen. Er stand nur sprachlos da, die Augen immer noch vor Schock geweitet. „Nein, alles in Ordnung“, beruhigte Yuuichi derweil die besorgte junge Frau, die vor ihm stand und ihm die Sicht auf seinen Bruder versperrte. Doch seine Antwort schien der Krankenschwester nicht zu genügen und sie fragte lieber noch weiter nach. „Hast du irgendwo Schmerzen? Brauchst du etwas?“ „Wie verantwortungslos! Weißt du, was da hätte passieren können?“, raunte die aufgebrachte Pflegerin Tsurugi derweil weiter an. „Ich sagte doch, mir fehlt nichts. Es ist nichts passiert. Mir geht es gut.“ Yuuichi beugte sich zur Seite, um einen Blick auf Tsurugi zu erhaschen. Er sah den schockierten Ausdruck in den Augen des Jüngeren. „Wenn deine Eltern das wüssten…“ „Er wollte doch nur kurz was zu Trinken ho-“, begann Yuuichi erneut, Tsurugi zu verteidigen, doch die Krankenschwester hörte ihm gar nicht zu. „Vielleicht sollte ich mal ein ernstes Wörtchen mit ihnen reden. Wie soll dein Bruder so denn bitte genesen?“ „Das reicht nun aber wirklich, hören Sie doch-!“, mischte Yuuichi sich wieder ein. Doch in diesem Moment hielt Tsurugi es nicht mehr aus. Der Kloß in seinem Hals schnürte ihm die Kehle zu und er hatte das Gefühl, zu ersticken. Gleichzeitig wollte er einfach nur auf der Stelle losheulen. Sie hatte Recht. Schon wieder war es seine Schuld, dass Yuuichi etwas passiert war. Wieso nur? Wieso passierten diese Dinge? Er wollte doch, dass es ihm gut ging. Er wollte ihm helfen und für ihn da sein. Stattdessen stürzte er ihn immer wieder ins Unglück. Wahrscheinlich brachte er ihm tatsächlich Pech. Wahrscheinlich wäre es besser für ihn, wenn er ihn in Ruhe lassen und nie wieder sehen würde. Tsurugi schluckte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Nägel gruben sich in die feuchte Haut seiner Handflächen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte sich auch gar nicht rechtfertigen, denn es stimmte ja, was die Krankenschwester gesagt hatte. Er hätte Yuuichi nicht alleine lassen dürfen. Es war seine Schuld. Ganz allein seine Schuld. Genau wie damals. Er hielt es nicht mehr aus. Schlagartig drehte er sich um und rannte davon. „Ah?!“ Yuuichi schreckte auf. „Kyousuke!“, rief er ihm nach. „Kyousuke, warte doch!“ Doch Tsurugi rannte weiter. Wegrennen… Darin hatte er neuerdings wirklich Übung. Doch jetzt fühlte er sich noch schrecklicher, als nach diesem Kuss. Der Kuss… Sein Herz zog sich schmerzlich zusammen, als er daran dachte. Von wegen Verdrängen! Der Weg zu ihm nach Hause war ihm kürzer vorgekommen als sonst. In seinem Kopf herrschte das reinste Chaos. Er konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Er konnte nicht aufhören zu zittern. Sein Herz wollte nicht aufhören zu rasen. Und das Bedürfnis, einfach in Tränen auszubrechen, ließ sich nur schwer unterdrücken. Als er die Haustür geöffnet hatte, hörte er schon die Stimme seiner Mutter aus der Küche. „Kyousuke, da bist du ja! Das Essen ist gleich fe- huh?“ Die Frau brach ihren Satz ab, als sie nur das Geräusch der Zimmertür hörte, die mit einem lauten Knall zugeschlagen wurde. In seinem Zimmer warf Tsurugi sich aufs Bett, gab endlich diesem verdammten Drang nach und begann zu weinen. Seine Finger krallten sich in das Kopfkissen. Das Kissen, welches vorher seinem Bruder gehört hatte. Es war peinlich, dass er so daran hing. Er sollte allmählich wirklich aus diesem Alter heraus sein. Früher, da war es normal gewesen, dass er zu ihm ins Bett gekrochen war. Früher, als sie noch klein gewesen waren. Und er war oft zu seinem großen Bruder ins Bett gekrochen. Ganz egal wie oft er lautstark verkündet hatte, dass er keine Angst vor einem Gewitter hatte. Oder vor dem schwarzen Mann. Oder vor Mördern, Geistern und Gespenstern… Am Ende war er doch immer zu Yuuichi unter die Bettdecke gekrochen. Vor ihm war es in Ordnung gewesen, Schwäche zu zeigen. Yuuichi hatte das verstanden. Er war immer für ihn da gewesen. Immer! Bis zu diesem Tag… Aus dem Weinen war schnell ein verzweifeltes Schluchzen geworden. Tsurugi wusste nicht mehr weiter. Nach und nach schien alles um ihn herum in sich zusammen zu fallen. Alles, was ihm wichtig war. Wieso machte er immer alles nur noch schlimmer? Wieso tat er Yuuichi so weh? Und wieso konnte er diese verdammten Gefühle nicht einfach abstellen? Er würde ihn noch ganz verlieren, wenn er so weiter machte. Nein, das durfte nicht passieren! Das durfte auf gar keinen Fall passieren! Seine Fingerknöchel schmerzten. Er biss sich auf die Lippen. „Nii-san…“ Er vermisste ihn jetzt schon. Dabei war er noch keine halbe Stunde zu Hause. Er wäre jetzt viel lieber bei ihm gewesen. Er wollte von ihm umarmt und getröstet werden. Yuuichi war gut im Trösten. Niemand war darin besser als er. Er wollte bei ihm sein… Eine Weile war vergangen, in der Tsurugi wie versteinert auf dem Bett gelegen hatte. Die Tränen waren auf seinen Wangen angetrocknet. Er fokussierte starr einen Punkt am Bücherregal gegenüber und schniefte leise. Er schaffte es noch immer nicht, seine Gedanken zu ordnen. Immer wenn ihm während des Nachdenkens auffiel, dass er sich im Kreis bewegte und kein Stück vorankam, wollte er erneut losheulen. Er drückte das ohnehin schon ziemlich platte Kissen an sein Gesicht. Der Stoff roch schon lange nicht mehr nach Yuuichi. Aber er hatte sich an dieses Kissen gewöhnt. Es hingen Erinnerungen daran. Wenn das dämliche Raimon-Team wüsste, dass er eine Art Kuschelkissen hatte… Niemand würde ihn je wieder ernst nehmen. Aber im Moment interessierte das Raimon-Team ihn herzhaft wenig. Alles, was ihn interessierte, war Yuuichi. Hoffentlich ging es ihm gut. Er hatte wegen dieser zickigen Krankenschwester nicht einmal mitbekommen, was genau passiert war. Hoffentlich hatte Yuuichi sich nicht wehgetan. Tsurugi hatte sich nicht einmal entschuldigt. Ihm fiel auf, dass er sich gerade in der gleichen Situation befand, wie vor einigen Tagen schon einmal. Etwas Folgenschweres war passiert. Er war zu Hause. Getrennt von seinem Bruder. Verzweifelt. Und er hatte keine Ahnung was er nun tun sollte. Nur, dass dieser klitzekleine Kuss als Auslöser für dieselbe Situation ihm nun wirklich nichtig vorkam. Der Kuss. Schon wieder dieses plötzliche Kribbeln, wenn er daran dachte. Er konnte sich nichts vormachen. Er hätte ihn zu gerne noch einmal geküsst. Allein bei dem Gedanken daran, wurde ihm warm. Er wollte ihn richtig küssen. Nicht nur für eine Millisekunde. Sondern lange. Ausgiebig. Innig und… das war schon zu viel für sein Vorstellungsvermögen. Verdammte Scheiße! …anders konnte man es wirklich nicht beschreiben. Er musste an etwas anderes denken. Aber das war leichter gesagt als getan. Um genau zu sein versuchte er das nun doch schon seit Stunden. Oder? Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht so spät, wie er gedacht hatte. Er hörte im Flur das Telefon klingeln und kurz darauf seine Mutter reden. Was sie sagte, verstand er nicht. ~ "Yuuichi, Schatz! Schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?", sprach die Mutter der beiden Geschwister derweil in den Hörer und lief mit dem Telefon zurück in die Küche, wo sie gerade mit dem Abwasch beschäftigt war. Es machte sie gar nicht glücklich, dass ihr jüngerer Sohnemann mal wieder nicht zum Abendessen erschienen war. Wer kochte schon gerne ganz umsonst? Aber sie hatte es auch längst aufgegeben, ihn dazu zu bewegen. Man brauchte keinen Erziehungsratgeber, um zu wissen, dass gegen die Pubertät einfach alle Eltern machtlos waren. "Haben dir die Plätzchen geschmeckt, ja?“, fragte sie ihren Ältesten am Telefon. „...Ich komme am Samstag wieder vorbei." Natürlich hätte sie gern wieder beide Söhne bei sich zu Hause gehabt. Nicht zuletzt, weil Kyousukes Verhalten so enorm umgeschlagen war, seit Yuuichi nicht mehr bei ihnen war. "Kyousuke? Ja, der ist in seinem Zimmer. War er heute bei dir? ... Ach, du weißt doch, er redet ja kein Wort mit mir!" Sie seufzte lautstark und wirkte sichtlich gestresst, während sie das Telefon zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt hatte und die Töpfe mit einem Tuch abtrocknete. "Ihr habt doch nicht gestritten, oder? Er wirkte ziemlich aufgebracht, als er nach Hause kam. Aber ich wollte ihn erst mal in Ruhe lassen..." Sie legte das Geschirrtuch beiseite, räumte die trockenen Töpfe in den Schrank und nahm das Telefon wieder in die Hand. "Natürlich. Warte, ich geb ihn dir." Mit diesen Worten ging sie zurück auf den Flur. Als es an der Tür klopfte, wunderte Tsurugi sich nicht wirklich. Früher oder später kam seine Mutter immer nach ihm sehen, wenn er mies gelaunt nach Hause kam. Sie wirkte auch längst nicht mehr sonderbar verletzt, wenn er sie ohne Erklärung wieder raus warf. Wenn er schlecht gelaunt war, hatte er logischerweise keine Lust zu reden. Schon gar nicht mit seiner Mutter und schon gar nicht über so etwas. Das Telefonklingeln von zuvor hatte er schon wieder vergessen. Erst als seine Mutter - ohne seine Antwort abzuwarten, denn sie wusste, dass sie ohnehin keine bekommen würde - das Zimmer betrat, und ihm das Telefon hinhielt, fiel es ihm wieder ein. Er hatte sich in der Zwischenzeit aufgesetzt und hoffte sehr, dass seine Augen nicht allzu gerötet aussahen, als er sie fragend ansah. "Yuuichi ist dran", sagte seine Mutter. Tsurugi rutschte das Herz in die Hose. Na toll! Das hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Wieso musste er jetzt anrufen? Und wieso rief er nicht wie sonst auch auf seinem Handy an, wo Tsurugi ohne Fremdeinmischung entscheiden konnte, ob er dran ging oder nicht? Ts! Wahrscheinlich genau deswegen. Yuuichi war ja nicht dumm. Er wusste längst, dass Tsurugi eh nicht an sein Handy gehen würde. "Sag ihm, ich hab jetzt keine Zeit", antwortete Tsurugi seiner Mutter und machte keine Anstalten, ihr das Telefon abzunehmen. Irritiert ließ die Frau den Arm wieder sinken. "Keine Zeit?", fragte sie. "Du scheinst mir nicht gerade beschäftigt zu sein." "Ich kann jetzt nicht, okay?", fuhr er sie etwas lauter an. In seinem Kopf waren bis eben noch Ausreden wie "Ich bin duschen" oder "Ich mach Hausaufgaben" gewesen, aber ihre Einmischung machte ihn in diesem Moment so wütend, dass es ihm egal war, ob Yuuichi am anderen Ende der Leitung hören konnte, was er sagte, oder nicht. Die Stirn seiner Mutter legte sich in tiefe Sorgenfalten. "Kyousuke, was ist denn los? Habt ihr euch gezankt? Jetzt stell dich nicht so an und geh ans Telefon, wenn dein Bruder schon extra anruft!" "ICH SAGTE NEIN!", schrie er sie an. Die Augen seiner Mutter weiteten sich. Angeschrien hatte er sie noch nie. Zumindest nicht so wie jetzt. Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, der übersetzt werden konnte mit "Das hat noch ein Nachspiel, junger Mann!" und verließ dann kopfschüttelnd den Raum. Vor der Tür blieb sie stehen, nahm den Hörer wieder ans Ohr und seufzte lautstark. "Tut mir leid, Schatz..." Yuuichi saß in seinem Bett im Krankenhaus und hielt das Telefon fest in der Hand. "Ist schon okay", sagte er leise. "Ich hab's mitbekommen. ... Macht nichts. ... Ja, kein Problem. Ich ruf ein andermal wieder an.“ „Einfach unmöglich wie er sich aufführt“, maulte die Mutter der beiden Jungs. „Ich weiß nicht, was ich noch machen soll, wirklich. Soll ich ihm wenigstens etwas von dir ausrichten?“ Yuuichi gab sich alle Mühe, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als er antwortete. „Nein wirklich, ist schon in Ordnung“, sagte er. „War eh nicht so wichtig. ... Sei nicht zu streng mit ihm. ... Ich dich auch, Mama. Tschüss!" Das Krankenhaustelefon klapperte, als Yuuichi den Hörer auflegte. Er seufzte und fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch die Haare. Dann starrte er nachdenklich auf seine Bettdecke. Kyousuke ging nicht ans Handy. Zu Hause bekam er ihn auch nicht ans Telefon. Und irgendetwas sagte Yuuichi, dass sich sein Bruder hier im Krankenhaus die nächsten Tage ganz sicher nicht blicken lassen würde. Es war zum verrückt werden. Dachte dieser Egoist eigentlich auch nur einmal daran, wie Yuuichi sich dabei fühlte? Dass ihn dieses ständige Aus dem Weg gehen vielleicht auch belastete? Nur seinetwegen machte Tsurugi sich seit Jahren Vorwürfe. Immer und immer wieder. Und nach dem, was heute vorgefallen war, erst recht. Seinetwegen konnte Tsurugi nicht so Fußball spielen wie er wollte. Seinetwegen ging es seinem kleinen Bruder schlecht. Und es gab absolut gar nichts, was er dagegen tun konnte. Nicht einmal mit sich reden ließ Tsurugi. Wann immer Yuuichi es ernsthaft versuchte, wich er aus. Und er selbst? Er war hier ans Bett gefesselt. Er konnte ihm nicht einfach nachlaufen und ihn festhalten, wenn Tsurugi mal wieder davonlief. Dabei hätte Yuuichi genau das so gerne getan. Er wollte, dass Tsurugi endlich aufhörte, sich die Schuld zu geben. Er wollte ihm sagen, dass er ihn damals aus freiem Willen aufgefangen hatte und nicht aus Pflichtbewusstsein. Und dass er es immer wieder tun würde. Selbst wenn er wüsste, dass es ihm die Beine brechen würde. Selbst wenn er nie wieder laufen könnte. Er würde es wieder und wieder in Kauf nehmen. Solange es Tsurugi nur gut ging... Er hatte es getan, damit es ihm gut ging. Aber das tat es ja offensichtlich nicht. Hatte er seine Beine also ganz umsonst geopfert? Yuuichi rutschte im Bett etwas nach unten und legte sich hin. Er streckte den Arm nach dem Lichtschalter aus und löschte das Licht im Raum. Sein rechtes Bein pochte kurz, beruhigte sich jedoch wieder als er zur Ruhe kam. Er blickte in der Dunkelheit an die Zimmerdecke. Im Krankenhaus herrschte Totenstille. Er wäre jetzt so viel lieber zu Hause gewesen. Auch nach so langer Zeit hatte er noch oft Heimweh. Er gab sich stark, wann immer Tsurugi ihn besuchte. Er wollte ihn nicht noch mehr belasten und immerhin war Tsurugi sowieso der, der ihm die meiste Kraft gab. Aber manchmal überkam es ihn einfach und er wünschte sich nichts sehnlicher, als zu Hause in seinem eigenen Zimmer und seinem eigenen Bett schlafen zu können. Besonders nachts, wenn er wach in dem weißen Krankenhausbett lag. Dieser sterile Raum wirkte für ihn nach wie vor nicht sonderbar heimelig, ganz egal wie sehr er versuchte, sich daran zu gewöhnen. Seine Gedanken wanderten wieder zu dem Anruf. Sein kleiner Bruder wollte also mal wieder nicht mit ihm reden. War ja nichts Neues in letzter Zeit. Was war nur mit ihm los? Seine Mutter mochte das alles getrost auf die Pubertät schieben, aber damit konnte man ja wohl kaum alles so einfach rechtfertigen. Besonders nicht... Yuuichi legte nachdenklich die Fingerspitzen an die Lippen. Einen Kuss. Ein Kuss auf den Mund. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Klar, er hatte seinen kleinen Bruder auch schon geküsst. Öfter sogar. Auf die Wange, auf die Stirn... im Sandkasten, im Planschbecken... Nein, um so etwas ging es hier nicht. Was viel interessanter war, als der Kuss an sich, war diese seltsame Atmosphäre seit dem. Diese... Spannung, die da gewesen war. Ein winzig kleines Küsschen war kein Grund sich viele Gedanken zu machen. Aber das war viel mehr gewesen. Er fragte sich, ob er der einzige war, der das so sah. Womöglich irrte er sich ja. Aber schon allein Tsurugis Verhalten danach bestätigte ihn eigentlich in seiner Annahme. Warum sonst hätte Tsurugi so fluchtartig abhauen und sich Tage lang nicht melden sollen, wenn da nicht mehr dahinter steckte? Das machte keinen Sinn. Also hatte es etwas zu bedeuten. Aber... was? Es machte ihn wahnsinnig, so ahnungslos sitzen gelassen zu werden. Er hatte keine Ahnung, was er Tsurugi sagen wollte, wenn er ihn erstmal dazu gebracht hatte, mit ihm zu reden. Nein, vielmehr was er ihm sagen SOLLTE. Das was... von einem großen Bruder erwartet wurde, als der Vernünftigere von beiden. Fest stand nur, dass er mit ihm reden wollte. Es machte ihm Angst, nicht wissen zu können, ob ihm der Ausgang dieses Gesprächs gefallen würde. Aber alles war besser, als diese Ungewissheit. Er fühlte sich so hilflos. Was sollte er noch machen? Allzu viele Möglichkeiten, sich mit Tsurugi auszusprechen, ließ dieser ihm ja nicht. Moment mal! Plötzlich kam Yuuichi eine Idee. Es war zwar nicht gerade die netteste, aber... Er tastete in der Dunkelheit nach dem Nachttisch und fand sein Handy darauf. Eilig tippte er eine SMS und las dann mehrmals die wenigen geschriebenen Wörter. Er zögerte. Das war wirklich ganz schön gemein. Sollte er das wirklich machen? Er warf einen Blick auf die Uhranzeige des Handys. Es war spät geworden. Wahrscheinlich zu spät. Seufzend speicherte er die ungesendete Nachricht als Entwurf ab und legte das Handy zurück. Er würde Tsurugi noch eine Chance geben. Vielleicht überraschte er ihn ja und meldete sich Morgen einfach von selbst. Yuuichi glaubte es zwar nicht, aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt. Und somit hatte die Vernunft wieder einmal gesiegt. So wie es meistens bei ihm der Fall war. Vernunft... ts! Diese Charaktereigenschaft war wohl das einzige, was Yuuichi davon abhielt, seine Gedanken an diesen flüchtigen Kuss zu vertiefen. Gesagt, getan. Es war ein Phänomen, dass man immer, wenn man sich vornahm, nicht an etwas zu denken, erst recht daran denken musste. Und zudem, dass die Gedanken sich nach dieser Einsicht auch nicht so leicht wieder verdrängen ließen. Wollte er das überhaupt? Er wusste nicht was er wollte. Manchmal hasste er sich selbst dafür, dass er immer nur mit dem Kopf dachte und nie auf sein Gefühl hörte. Und manchmal – immer dann, wenn es um Kyousuke ging – schallten die Alarmglocken viel lauter als sonst und die Vernunft sagte ihm deutlich, dass er keine andere Wahl hatte. Keine andere Wahl... als nicht über Küsse nachzudenken. Nicht über bestimmte Atmosphären oder Spannungen. Nicht über Berührungen. Und schon gar nicht über Gefühle dieser Art. Er schluckte schwer. Wie immer deprimierten ihn diese Gedanken unglaublich. Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair, dass ausgerechnet er ihm so unglaublich viel bedeutete. So viel mehr als jeder andere Mensch auf der Welt. Dass er ausgerechnet ihn – seinen eigenen Bruder – so sehr liebte. ~ Der Abpfiff ertönte laut und hallte in dem großen Trainingsgebäude der Raimon Jr. High wider, als das Training des Teams an diesem Tag beendet wurde. Die drei Managerinnen des Fußballclubs verteilten Getränkeflaschen an das Team. Um genau zu sein verteilten Aoi und Midori die Flaschen an die Flaschen, während sie die Neuling-Flasche Tenma lobpreisten und Akane ihren Abgott, den Flaschen-Captain Shindou anbetete. Tsurugi verdrehte etwas genervt die Augen. Ab und an tat ihm dieser Typ ja fast schon leid. Er ließ sich auf der Bank nieder und wischte sich mit einem Handtuch über die Stirn. Eine gute Sache hatte das Training ja schon. Es lenkte ab. Das implizierte jedoch auch, dass die Ablenkung mit Beendigung des Trainings wieder vorüber war. Er hatte das Feld noch nicht einmal ganz verlassen, da waren die Gedanken an den gestrigen Tag auch schon wieder da. Er hatte gestern Nacht kaum ein Auge zu bekommen. Das erste, was er sich an diesem Morgen hatte anhören dürfen, war ein äußerst penetrantes und für die frühen Morgenstunden fiel zu lautes: „Guten Morgen Tsurugi! Dusiehstabermüdeaus! Konntestdunichtschlafen? Ichkonnteauchkaumschlafen! IchwarvielzunervösweilichmichsoaufdasTraininggefreut…“ Ungefähr da hatte er abgeschaltet. Das war das einzig Vernünftige, was man tun konnte, um den Anfällen unermüdlicher Lebensfreude eines gewissen Teamkameraden zu entkommen. Dass seine Laune sich an diesem Tag also weit unterhalb der Grenze des Erträglichen befand, war wohl verständlich. Er kippte sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und sah dann zu, dass er in die Umkleide kam, bevor die wild gewordene Horde dort einfiel. Mit etwas Glück war er weg, bevor man ihn wieder nerven konnte. Er hatte gerade die Umkleide betreten, als er das Geräusch eines vibrierenden Handys hörte. Zuerst ignorierte er es, doch als er näher an seine Tasche trat, merkte er, dass es sein eigenes Handy war, welches da klingelte. Er schluckte. Das war bestimmt Yuuichi. Er wühlte in seiner Tasche, auch wenn er nicht vorhatte, den Anruf abzunehmen. Als er das Handy schließlich fand, war der Vibrationsalarm längst wieder verstummt. Mit Blick auf das Display stellte er fest, dass es gar kein Anruf gewesen war, sondern eine SMS. Von Yuuichi natürlich. Rasch überflog er den kurzen Text. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und seine Finger verkrampften sich um das Handy. Nein! Nein, bitte nicht! Er warf das Handy zurück in die Tasche, griff sich dieselbe und stürzte Hals über Kopf aus der Umkleide. Auf dem Flur kamen ihm die anderen Teammitglieder entgegen und sahen ihn verwirrt an, als er wortlos an ihnen vorbei hetzte. „Na nu, was ist denn mit dem los?“, fasste Shinsuke in Worte, was alle anderen sich schweigend fragten. Doch da war Tsurugi längst aus ihrem Blickfeld verschwunden. ~ Yuuichi saß in seinem Bett und las, als plötzlich die Zimmertür mit so einer Wucht aufgerissen wurde und gegen die Wand daneben knallte, dass er erschrocken zusammenzuckte. Im Türrahmen stand niemand geringeres als sein kleiner Bruder – was ihn nach diesem lautstarken Auftritt nicht mehr überraschte. „Nii-san!“, keuchte Tsurugi atemlos. Es tat einen erneuten Schlag, als er die Tür hinter sich wieder zuknallte. Yuuichi kniff die Augen zusammen. Na hoffentlich gab das nicht gleich noch Ärger vom Personal. Tsurugi hatte jedoch ganz andere Sorgen. Aufgeregt rannte er zum Bett und packte seinen Bruder bei den Schultern. „Geht es dir gut? Tut dir was weh? Was ist denn passiert? Kannst du-“ „Kyousuke!“, unterbrach der Ältere ihn lachend, während er geradezu durchgeschüttelt wurde. „Kyou-suke! Hey!“ Er griff die Handgelenke des Jüngeren und drückte sie sanft von sich. „Beruhige dich! Mir geht es gut. Mir fehlt nichts. Es ist alles in Ordnung.“ Sichtlich verwirrt ließ Tsurugi schließlich von ihm ab und sah ihn fragend an, während er sich langsam auf den Stuhl neben dem Bett setzte. „Aber du… du bist doch… Du hast doch geschrie-“ Und da fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Seine Stirn legte sich in Falten. „Du hast mich doch nicht-“ „Dich angelogen?“, beendete Yuuichi seinen Satz lächelnd. „Doch, genau das hab ich.“ Wie er das sagte. Mit diesem bezaubernden, unschuldigen Lächeln. Wie konnte jemand mit so einem Lächeln auf den Lippen knallhart eine Lüge zugeben? Richtig! Niemand konnte das. Niemand außer ihm. „A-a-aber-!!!“, stammelte Tsurugi vollkommen überfordert. Natürlich war es in diesem Fall gut, dass Yuuichi ihn nur angelogen hatte, aber trotzdem! Er hätte es ihm nicht zugetraut. Umso entrüsteter war er nun. „Ich wusste, du würdest sofort herkommen, wenn ich schreibe, dass ich gestürzt bin“, erklärte Yuuichi sich. „Es tut mir leid. Ich weiß, das war gemein von mir.“ „GEMEIN?!“, platzte es aus Tsurugi heraus. „Gemein nennst du das? I-ich wär fast von nem LKW überrollt worden, weil ich bei Rot über die Straße gerannt bin!!!“ „Oh…“, machte Yuuichi kleinlaut. Oh…. Oh! OOOHHHHH?!!! Das war so typisch! So unfassbar. So… einmalig. So… so… Tsurugi konnte es nicht einmal in Gedanken beschreiben. Aber es war diese ruhige Art an Yuuichi, die er über alles liebte, auch wenn sie ihn manchmal – so wie jetzt – wahnsinnig machen konnte. „Aber was hätte ich denn tun sollen?“, fuhr Yuuichi fort und sah ihn nun so mitleidig an, dass niemand auf der Welt ihm für diese fragwürdige Art von Notlüge hätte böse sein können. „Du wolltest ja nicht ans Telefon gehen. Und irgendwie musste ich doch mit dir reden.“ Tsurugi seufzte und versuchte sich zu beruhigen. Sein Bruder hatte ja Recht – wie so häufig. Es war seine eigene Schuld gewesen. Na Hauptsache, es ging Yuuichi gut. Ging es doch, oder? Tsurugi dachte an gestern. Nun, wo er eh schon hier saß, gab es wohl keine Möglichkeit mehr, sich zu drücken. „Hast du dir wehgetan?“, fragte er kleinlaut. „Gestern, mein ich.“ Yuuichi schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete er. „Alles halb so wild.“ „Es tut mir so leid!“, sagte Tsurugi schnell. „Das war nur meine Schuld, Ich hätte dich niemals alleine lassen dürfen. Ich hätte aufpassen müssen und-“ Tsurugi verstummte, als er plötzlich Yuuichis Hand spürte, die sich sanft auf seine Wange legte. Er blickte von der Bettdecke auf, die er bis dahin betreten angestarrt hatte und sah in Yuuichis Gesicht. Seine Augen. Sein liebevoller Blick. Tsurugi spürte, wie sein Herz schneller schlug und es fühlte sich zu allem Überfluss auch noch so an, als würde er gerade knallrot anlaufen. Hoffentlich tat er das nicht wirklich. „Ssscht“, machte Yuuichi leise. „Es ist nicht deine Schuld. Weder das gestern, noch, dass ich hier liege. Nichts davon ist deine Schuld.“ „Aber-“ „Nichts aber!“, unterbrach er ihn. „Hör mir jetzt endlich mal zu, Kyousuke. Ich will dir etwas erzählen.“ Seufzend gab Tsurugi sich geschlagen und klappte den Mund zu, obwohl er eigentlich schon zu erneutem Widerspruch angesetzt hatte. „Vor einer Weile, da… hatte ich einmal einen Albtraum“, begann Yuuichi. Tsurugi hatte keine Ahnung worauf sein Bruder hinaus wollte, doch er entschied sich die Klappe zu halten und zuzuhören. „Ich hab von diesem Tag geträumt. Dem… Unfall.“ Tsurugi senkte den Blick wieder und starrte auf das Bettlaken. Er spürte, wie Yuuichis Hand begann, ganz leicht über seine Wange zu streicheln. Es machte ihn nervös. Aber es war zu angenehm, als dass er es ihm verwehrt hätte. „Um genau zu sein, habe ich geträumt, wie ich zu dem Baum gerannt bin, um dich aufzufangen. Aber dann…“ Tsurugi horchte auf. Bis hierhin kannte er die Geschichte ja. „Aber dann bin ich gestolpert und hingefallen. Ich konnte dich nicht auffangen.“ Yuuichis Finger zitterten leicht, das konnte Tsurugi spüren. Schließlich gab er dem Drang nach, hob die eigene Hand an sein Gesicht und legte sie auf die seines Bruders. „Nii-san…“, murmelte er leise. „Das war der schlimmste Albtraum, den ich je hatte“, fuhr Yuuichi fort. „Du hättest bei diesem Sturz ums Leben kommen können, verstehest du?“ Natürlich verstand er das. Und er hatte sich nicht zu selten gesagt, dass es besser gewesen wäre, als dafür verantwortlich zu sein, dass sein Bruder nicht mehr laufen konnte. Doch dann sagte Yuuichi etwas, was ihn erneut aufblicken ließ. „Das hätte ich auch nicht überlebt.“ Tsurugi sah ihm in die Augen. Das sanfte Lächeln war verschwunden. Stattdessen sah er ihn nun vollkommen ernst an. „Ich hätte es mir niemals verziehen, wenn ich dich verloren hätte, Kyousuke“, sagte er streng. „Niemals, hörst du?“ Tsurugi spürte, wie sich seine Kehle zuzuschnüren schien. Er atmete tief ein. „Es ist gut so wie es ist“, begann Yuuichi erneut. „Meine Beine werden wir schon wieder hinkriegen. Aber ein gebrochenes Genick lässt sich nicht wieder zusammenflicken, weißt du?“ In diesem Moment kam Tsurugi sich unglaublich dämlich vor. Es war ja nicht so, dass ihm all diese Gedankengänge nicht schon zig tausend Male gekommen wären. Aber aus Yuuichis Mund klangen sie ganz anders. Erst Yuuichis Stimme und seine Worte sorgten für diesen negativen Nachgeschmack und machten ihm deutlich, wovon sie hier eigentlich sprachen. Er hätte tot sein können. „Würdest du wirklich wollen, dass ich mir den Rest meines Lebens solche Vorwürfe hätte machen müssen?“, fragte Yuuichi ihn. „Ist es da nicht besser, so wie es jetzt ist? Du musst dir keine Vorwürfe machen. Ich kann ja geheilt werden. Also ist alles in Ordnung, oder etwa nicht?“ Wenn er tot wäre, dann hätte er Yuuichi auch für immer verloren. War es also wirklich besser, zu leben und das Leid seines Bruders in Kauf zu nehmen? Das kleinere Übel, sozusagen… War das nicht egoistisch? Er konnte es nicht sagen. Er war froh, am Leben zu sein, ganz egal wie oft er eben jenes verteufelte. Letztendlich war es natürlich besser, als gar nicht mehr da zu sein. Nicht mehr bei ihm zu sein… „Kyousuke…“ „Hm?“ Tsurugi blickte sich unschlüssig um. Er versuchte unbewusst, Yuuichis Blick auszuweichen, doch allmählich gingen ihm die Fixpunkte aus. Natürlich blieb das nicht lange unbemerkt und der Druck von Yuuichis Hand auf seiner Wange wurde fester. Und dann stellte Yuuichi die Frage, vor der Tsurugi schon seit Tagen solche Angst gehabt hatte. Sie kam so urplötzlich und vollkommen zusammenhanglos, dass Tsurugi der Atem stockte. „Warum hast du mich geküsst?“ Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Er hatte nicht erwartet, dass Yuuichi diesen Kuss so spät doch noch ansprechen würde. Er hatte sich fast schon sicher gefühlt, weil Yuuichi bis jetzt so getan hatte, als hätte er sich nichts weiter dabei gedacht. Hatte er aber offensichtlich ja doch. Verdammt! Und nun? „Ich…“, begann Tsurugi zögernd und eigentlich nur, um das bedrückende Schweigen im Raum wenigstens kurz zu unterbrechen. Was er sagen sollte, wusste er allerdings nicht. Sein Herz raste vor Nervosität. Ihm wollte partout keine plausible Ausrede einfallen. „Ich…“ Soweit war er bis eben schon gekommen. Allmählich wurde es wirklich peinlich. Er hörte Yuuichi enttäuscht seufzten. Enttäuscht. Ja, er klang ganz eindeutig enttäuscht. Aber wieso? Was erwartete er denn bitte zu hören? „Weil ich es wollte“, platzte es schließlich aus Tsurugi heraus. Yuuichis Augen weiteten sich. Er hatte nicht damit gerechnet, doch noch eine Antwort zu bekommen. Auch wenn diese nun nicht besonders aussagekräftig war. Besser als gar keine. „Reicht das nicht?“, fragte Tsurugi etwas patzig, als Yuuichi nicht auf seine Antwort reagierte. Er blickte auf und sah in Yuuichis überraschtes Gesicht. „Zwing mich bitte nicht dazu, es auszusprechen“, fügte er leise hinzu. Und damit war es eigentlich klar. Mit diesem Satz hatte er es im Prinzip schon gesagt. Die drei verbotenen Worte. Er kannte seinen Bruder. Er wusste, dass er es auch so verstehen würde. Und darum hatte er auch Angst vor der Reaktion, die nun folgen würde. Eine Moralpredigt über fehlinterpretierte Gefühle, Pubertät, Richtig und Falsch, die Normen ihrer verdrehten Gesellschaft und weiß der Geier was sonst noch. Allesamt jedenfalls Dinge, die ihn herzhaft wenig interessierten. Aber immerhin war er darauf vorbereitet. Genau dieses Szenario hatte sich in seinem Kopf schließlich schon mehr als einmal abgespielt. Umso verwirrter war er, als sich ein sanftes Lächeln auf Yuuichis Lippen legte und er ihn regelrecht erleichtert anblickte. Er hatte ja keine Ahnung, welcher Gewissenskonflikt innerhalb der letzten Sekunden im Schnelldurchlauf in Yuuichis Kopf stattgefunden hatte. Aber nun schien der Ältere zu einem Entschluss gekommen zu sein. Einem Entschluss, den Tsurugi bis heute nicht hatte fassen können. „Ich dich auch“, sagte Yuuichi leise. „Was?“ Tsurugi blickte ihn verstört an. Bitte was hatte er da eben gesagt? „Ich sagte, ich dich auch.“ War ja nicht so, dass es akustisch nicht bei ihm angekommen wäre. Er… konnte nur den Zusammenhang im ersten Moment nicht richtig deuten. Yuuichi hatte aber schon verstanden, worauf Tsurugi mit seiner Bitte, nicht weiter nachzufragen, hinaus gewollt hatte, oder etwa nicht? Der kurze Moment der Stille, der darauf gefolgt war, hatte jedenfalls so gewirkt. Aber das konnte doch nicht sein, dass er das gleiche meinte, wie sein Bruder, oder etwa doch? Tsurugi verstand die Welt nicht mehr. „Ab-“, begann er, doch weiter kam er nicht. Yuuichis Hand, die bis dahin auf seiner Wange geruht hatte, griff ihn im Nacken und zog ihn näher. Tsurugi beugte sich nach vorn und stützte sich mit dem Arm neben Yuuichi auf dem Bett ab. Er fühlte sich an einen bestimmten Augenblick von vor ein paar Tagen erinnert. An diesen Tag im Krankenhaus, kurz bevor er… - ihn küsste. Tsurugi riss die Augen auf. Um ein Haar hätte er sich reflexartig losgelöst, doch dann drang die Information darüber, was hier gerade passierte, glücklicherweise noch rechtzeitig zu seinem vernebelten Geist vor. Yuuichi küsste ihn. Er. Ihn. Nicht etwa anders herum. Auf den Mund! Tsurugi blinzelte unsicher. Yuuichis Augen waren geschlossen. Es sah ungewohnt aus, sein Gesicht so nah vor sich zu haben. Ungewohnt aber… nichts, woran er sich nicht zu gerne gewöhnt hätte. Trotzdem hielt er es für besser, die Augen zu schließen. Er wollte sich einzig und allein auf dieses Gefühl konzentrieren. Yuuichis warme Lippen, die zuerst ruhig auf seinen gelegen hatten und nun anfingen, sich leicht zu bewegen. Ab und zu lösten sie sich minimal, nur um sich dann wieder mit Tsurugis zu verschließen. Und wieder. Und wieder. Ein paar Mal streifte er seine Nasenspitze. Tsurugi spürte ganz leicht Yuuichis Atem auf seiner Haut. Yuuichi atmete schneller. Ob er nervös war? Ob er diesen Kuss genauso genoss wie er selbst? Tsurugi begriff es nicht ganz, aber allein der bloße Gedanke, dass Yuuichi diese verdrehten Gefühle, die er solange versucht hatte zu verdrängen, womöglich teilte, bereitete ihm Gänsehaut und Herzklopfen zugleich. Er spürte Yuuichis Finger in seinem Nacken, die ihn sanft kraulten. Und dann tat er etwas, wovon er nie erwartet hätte, dass er den Mut dazu überhaupt aufbringen würde. Aber die Situation war zu einmalig, um sie nicht vollkommen auszukosten. Also nutzte er den nächsten Moment, in dem sich Yuuichis Lippen leicht von seinen lösten und leckte mit der Zungenspitze über Yuuichis Unterlippe. Der Laut, der seinem Bruder daraufhin entwich, war zu süß, um ihn in Worte zu fassen. Ein leises, überraschtes „Mh!“ Überrascht, ja. Aber keinesfalls abgeneigt. Und verdammt erregend, wie Tsurugi feststellen musste. Etwas fordernder als bis eben drückte er seine Lippen auf die des Älteren. Und wieder brachte er seine Zunge ein, schob sie mit sanfter Gewalt zwischen Yuuichis Lippen und spürte schließlich Yuuichis Zungenspitze an seiner. Sein Atem ging immer schneller und allmählich wurde ihm verdammt warm. Er rutschte vom Stuhl auf das Bett, sehr darauf bedacht, den Kuss dabei auf keinen Fall zu unterbrechen. Wieder hörte er Yuuichi leise seufzen. Diese Geräusche raubten ihm den letzten Funken Selbstbeherrschung. Yuuichi merkte, wie verlangend und ungestüm dieser Kuss allmählich wurde, doch es schien ihn nicht zu stören. Im Gegenteil. Er überließ seinem kleinen Bruder nur zu gerne die Führung. Je weiter Tsurugi sich über ihn beugte, desto mehr rutschte Yuuichi im Bett nach unten, bis er schließlich mit dem Kopf ins Kissen sank, die Arme um Tsurugis Nacken gelegt und ihre Lippen noch immer versiegelt. Tsurugi hätte am liebsten ewig so weiter gemacht. Das hier war um einiges besser, als alles, was er sich je nachts unter seiner Bettdecke vorgestellt hatte. Und zugegeben – das war so einiges gewesen. Allen voran jedoch Dinge, die er Yuuichi besser trotz aller Intimitäten nicht in absehbarer Zeit auf die Nase binden sollte. Doch so sehr er Yuuichis weiche Lippen auf seinen auch genoss, er wollte mehr. Er wollte diese vertraute Stimme hören, die sonst immer so beherrscht und ruhig klang. Also löste er schließlich den Kuss und erntete dafür einen ratlosen Blick der ihm erneut einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Diese warmherzigen, sanften Augen. Er liebte sie so sehr. Er liebte alles an ihm. Es war idiotisch, sich das nicht eingestehen zu wollen. Wie konnte man diesen Menschen überhaupt nicht lieben? Er war sich sicher, dass er das nie begreifen würde. Sanft strich er mit der freien Hand über Yuuichis Wange und vergrub sie schließlich in seinen Haaren, ehe er den Kopf etwas senkte und die Lippen an seinen Hals legte. „Hmm…“, seufzte Yuuichi und zog reflexartig die Schultern hoch. Doch dann neigte er den Kopf zur Seite, schloss die Augen und ließ die zärtlichen Liebkosungen zu. Er spürte Tsurugis Zunge, die leicht über seine nackte Haut fuhr und ihm eine angenehme Gänsehaut bescherte. Es fühlte sich zu gut an, um an dieser Stelle aufzuhören. Verboten gut. Er hatte noch nie so etwas gefühlt. In ihm drin kochte es längst. Als er sich dazu entschlossen hatte, zum ersten Mal auf sein Herz zu hören und seinen Bruder geküsst hatte, da hatte er an einen einzigen Kuss gedacht. Einen sehr schönen, aber wahrscheinlich auch schnell endenden Kuss. Keinesfalls an das hier. Und vor allem nicht an eine Situation, die solch eine erhitzte Stimmung mit sich brachte. Nur war es jetzt zu spät, sich darum Gedanken zu machen. Und wirklich stören tat es ihn nicht. Nein, eigentlich störte es ihn nicht im Geringsten. Er genoss es. Mehr noch! Er wollte es. Er streichelte mit der einen Hand über Tsurugis Rücken nach unten bis zum Bund des Trikots, welches der Jüngere noch immer trug, da ihn die SMS in der Umkleidekabine vom Umziehen abgehalten hatte. Langsam fuhr Yuuichi unter den Stoff und über die weiche Haut. Die andere Hand vergrub er in den dichten Haaren. Er spürte, wie Tsurugi die Luft tief einsog und gegen seinen Hals keuchte. Erneut durchströmte ihn diese Hitze. Er drückte Tsurugi an sich. „Kyousuke…“, entwich es ihm etwas atemlos. Tsurugi konnte nicht aufhören. Selbst wenn er es gewollt hätte – was absolut nicht der Fall war – er hätte es jetzt längst nicht mehr gekonnt. Nicht jetzt, wo Yuuichi unruhig atmend und mit geröteten Wangen unter ihm lag. Das war zu viel für ihn. Niemand konnte erwarten, dass er sich bei solch einem Anblick beherrschen konnte. Wer hätte das schon gekonnt? Er reckte den Kopf und leckte mit der Zungenspitze über Yuuichis Ohr. „Ah!“ Yuuichi spannte sich an. Es kitzelte. Aber es fühlte sich gut an. Tsurugi wusste, wie man jemandem den Verstand raubte, soviel war klar – woher auch immer er dieses Wissen nahm. Er ließ die Hand, die bis dahin durch Yuuichis Haare gestrichen hatte, über sein Gesicht und seinen Hals wandern und öffnete schließlich nach und nach die Knöpfe seines Pyjamas. Yuuichi fröstelte, als sein Oberkörper entblößt wurde und er spürte, wie die Nervosität wieder anstieg. Doch Tsurugi hatte den Kopf so schnell wieder gesenkt, dass Yuuichi gar keine Zeit blieb, weiter darüber nachzudenken. „Hng….“ Ein ziemlich hoher Ton entwich ihm, dicht gefolgt von einem atemlosen Keuchen, als Tsurugis Zunge über seine Brustwarze leckte. Sein Brustkorb hob und senkte sich immer schneller. Und schließlich spürte er, wie das Kribbeln, welches er die ganze Zeit schon wahrgenommen hatte, die Stelle zwischen seinen Beinen erreichte. Na toll! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Spätestens jetzt war es wohl an der Zeit, aufzuwachen und dieses Spielchen zu beenden. Und zwar bevor sein Bruder merkte, was er mit seiner talentierten Zunge da bei ihm verursacht hatte. Doch ehe Yuuichi sich versah, war es genau dafür auch schon zu spät. Tsurugi konnte nicht anders, als kurz in der Bewegung inne zu halten, als sein Arm zufällig eine bestimmte Stelle berührte. Er widerstand dem Drang aufzublicken und die Situation damit für seinen Bruder noch peinlicher zu machen. Und peinlich war es ihm ganz sicher, das merkte Tsurugi auch ohne ihm in diesem Moment ins Gesicht zu sehen. Er zögerte. Er wusste nicht so recht, was er machen sollte. Was er wollte, das war klar. Gar keine Frage. Er hatte oft genug dem inneren Bedürfnis widerstanden, einfach über Yuuichi herzufallen wie ein wildes Tier. Nun war die Gelegenheit zum Greifen nah. Nein, viel mehr noch – so nah, wie sie wahrscheinlich nie wieder sein würde. Aber… wollte Yuuichi das auch? Oder ging das zu weit? Tsurugis Gedanken überschlugen sich binnen Sekunden. Viel mehr Zeit würde er auch nicht darauf verschwenden. Er würde schon herausfinden, ob Yuuichi es wollte oder nicht. Ganz einfach! „Ah! Kyousuke!“, stöhnte Yuuichi perplex und stützte den Arm auf das Bettlaken, so als wolle er sich aufsetzen, als Tsurugi ihm so plötzlich die Hose herunterzog. Tsurugi hob den Kopf und blickte zu ihm auf, jedoch ohne sich selbst aufzurichten. Er sah ihn an, sagte jedoch nichts. Wenn Yuuichi wollte, dass er aufhörte, dann musste er das nur sagen. Tsurugi hätte niemals etwas gegen seinen Willen getan. Aber er hatte auch nicht das Gefühl, dass Yuuichi das, was er vorhatte, nicht wollte. Yuuichi sah ihm in die Augen. Diesen Blick hatte er noch nie zuvor gesehen. So… verlangend, begierig. Dieses Gefühl… Das war es also, was Kyousuke für ihn empfand. Und wahrscheinlich auch der Grund für sein merkwürdiges Verhalten in der letzten Zeit. Wie lange hatte er schon versucht, es vor ihm geheim zu halten? Länger als Yuuichi selbst? Nein, Schluss damit! Er begann schon wieder darüber nachzudenken. Genau das hatte er sich doch vorgenommen, nicht zu tun! Er ermahnte sich selbst und schüttelte die Gedanken bei Seite. Dann lächelte er sanft und strich mit der Hand über Tsurugis Wangen und schließlich über seine Lippen. Sein Herz schlug noch einmal schneller, als er sich über die Situation erneut im Klaren wurde. Er würde sich ihm hingeben. Er wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht was. Ganz egal was, alles schien falsch und würde nur den Moment ruinieren. Also sagte er nichts, sondern vergrub die Hand erneut in Tsurugis längst zerzausten Haaren und drückte ihn nur ganz leicht tiefer. Diese stumme Zustimmung genügte Tsurugi völlig. Er strich mit den Fingerspitzen sanft über Yuuichis Bauch nach unten und senkte schließlich den Kopf zwischen seine Beine. „Haaah!“ Yuuichi stöhnte auf und streckte den Rücken durch, als Tsurugis Zunge ihn an dieser Stelle liebkoste. Seine Finger gruben sich in Tsurugis Haare und er legte den Kopf in den Nacken. Er hätte am liebsten die Beine etwas weiter gespreizt, aber er schaffte es nicht. Er fühlte sich vollkommen ausgeliefert, aber das war egal. Dieses eine Gefühl übertrumpfte alles. Es fühlte sich heiß an, wann immer Tsurugi die Lippen um ihn schloss und er ihn in den Mund nahm und kalt, wenn sein Atem über die feuchte Haut blies. „Hmm…“ Yuuichi krallte die Finger seiner freien Hand neben sich in das Laken. Er hielt es jetzt schon kaum noch aus. Aber es fühlte sich so gut an. Viel zu gut, um es so schnell enden zu lassen. Er drückte Tsurugis Kopf noch etwas tiefer. „Kyou…suke…!“ Er schluckte und legte den Kopf zur Seite. “Hng… Kyousuke, ich… AAAH!“ ~ Die warmen Sonnenstrahlen schienen in das stille Zimmer. Die Vorhänge waren am Abend zuvor nicht zugezogen worden. Ein paar Vögel waren schon wach und kündigten mit ihrem hellen Gesang den Anbruch eines neuen Tages an. Im Zimmer im zweiten Stock des Krankenhauses waren sie nur spärlich zu hören. Das Fenster war geschlossen. Aber das Gezwitscher reichte aus, um Tsurugi allmählich wach werden zu lassen. Müde und sehr langsam öffnete er die Augen und starrte auf den Nachttisch, der vom Bett aus direkt in seinem Blickfeld lag. Es kam ihm vor, als läge er eine halbe Ewigkeit so da und starrte nur gerade aus, während er darauf wartete richtig aufzuwachen. Als es so weit war, dämmerte es ihm schließlich. Er blinzelte ein paar Mal ungläubig und blickte an der Schulter, an der sein Kopf ruhte, nach oben. Die Augen seines Bruders waren noch geschlossen. Er lag ruhig da und atmete leicht durch den Mund. Apropos… Tsurugi leckte sich über die Lippen. Kein Zweifel. Das war kein Traum. Es war wirklich passiert. Die Erkenntnis jagte ihm schlagartig einen Schauer durch alle Glieder. Einen ziemlich angenehmen Schauer. Er sah erneut in Yuuichis schlafendes Gesicht. So bildschön. Einfach vollkommen. Er war perfekt. Er war schon immer perfekt gewesen und würde es immer sein. Tsurugi kam sich ziemlich bescheuert vor, so etwas Peinliches zu denken und versuchte die Gedanken fortzuwischen, was sich als schwieriger erwies, als er angenommen hatte. Sein Herz hämmerte wie verrückt, allein beim Anblick seines schlafenden Bruders. Er konnte nicht aufhören daran zu denken, was gestern Abend passiert war. Er dachte an ihr Gespräch. An Yuuichis Worte. Und nicht zu vergessen… Tsurugi musste unweigerlich grinsen. Ja, das war gut. Sehr gut sogar. Besser, als er je zu träumen gewagt hätte. Und damit meinte er nicht nur gewisse… Tätigkeiten, sondern einfach alles! „Ich dich auch“, hallte es in seinem Kopf wider. So deutlich, als hätte Yuuichi es gerade eben in diesem Moment noch einmal gesagt. „Ich dich auch…“ Er streckte sich und küsste Yuuichi sanft auf die Wange. „Ich liebe dich“, flüsterte er dann leise. Es tat gut. Es hatte etwas… Befreiendes, es endlich zu sagen. Etwas… Erlösendes. Erst als er die Hand auf Yuuichis Wange legte und mit den Fingern darüber streichelte, rührte Yuuichi sich. „Mhh-“, murmelte er, streckte sich unter der Bettdecke und rieb sich die Augen, ehe er sie öffnete. Oh Gott, ob er überhaupt wusste, wie niedlich er war? Tsurugi konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Es war, als müsse er auf einen Schlag all die negativen Emotionen der vergangenen Wochen ausgleichen. „Guten Morgen“, flüsterte er leise, nachdem Yuuichi sich mit dem Oberkörper zu ihm gedreht hatte. „Guten Morgen, Kyousuke“, antwortete Yuuichi mit sanfter Stimme. Seine Augen sahen ihn noch etwas verschlafen an. Tsurugi zögerte kurz, doch dann beugte er sich zu ihm und küsste ihn ganz leicht auf die Lippen. Yuuichi lächelte und sah ihm in die Augen. Eine Weile lagen sie stumm da und sahen sich einfach nur an. Tsurugis Hand streichelte unter der Decke leicht über Yuuichis Oberarm. Er wusste nicht, was er sagen sollte oder ob er überhaupt irgendetwas sagen sollte. Er wollte am liebsten für immer so liegen bleiben. Und er wollte ihn küssen. Am liebsten ununterbrochen. Er setzte gerade genau hierzu an, als vom Gang aus plötzlich Stimmen zu hören waren. Yuuichi schreckte auf. „Frühstück!“, sagte er knapp. Das reichte für Tsurugi schon, um zu verstehen. Mit einem Mal saß er kerzengerade und warf einen Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch. „Shit!“, zischte er dann, stolperte regelrecht aus dem Bett und richtete sein zerknittertes Trikot. Mit einem Blick an sich hinunter stellte er fest, dass er so unmöglich das Zimmer verlassen konnte, also rannte er zu seiner Sporttasche, die er gestern so liebevoll in die Ecke des Zimmers gedonnert hatte, zog auf dem Weg dorthin das Trikot über den Kopf und stolperte um ein Haar über die Bettkante. „Kyousuke!“, rief Yuuichi, der seinen Bruder vor dem geistigen Auge bereits mit der Nase auf dem harten Fußboden hatte kleben sehen. „Mach langsam!“ „Jaah, verdammt“, antwortete Tsurugi hektisch, während er den Gürtel seiner Hose schloss und die verschwitzten Sportsachen achtlos in die Tasche stopfte. „Du sollst nicht fluchen“, tadelte Yuuichi ihn. „Jaaaah“, erwiderte Tsurugi noch etwas länger gezogen, dann stolperte er zurück zum Bett, streckte die Arme aus und legte die Hände auf Yuuichis Wangen. „Ich-“, begann er, doch dann versagte ihm plötzlich die Stimme. Mit offenem Mund kniete er da auf dem Bett, hielt Yuuichis Gesicht in beiden Händen, starrte ihn an, als habe er ihn noch nie zuvor gesehen und… brachte keinen Ton mehr heraus. Was zum-? Was war denn jetzt los? Er hatte es doch vor nicht einmal mehr fünf Minuten schon einmal gesagt. Und da hatte es ihn nicht einmal einen Funken Überwindung gekostet. Hatte er nicht eben sogar noch gedacht, dass es etwas sehr Erleichterndes gehabt hatte, es endlich auszusprechen? Wieso stellte er sich dann jetzt auf einmal so an? Nur weil Yuuichi ihn jetzt so ansah? Nur weil er jetzt… wach war? Er atmete tief ein. Sein Mund öffnete sich noch etwas weiter und schloss sich dann ohne jeglichen Laut wieder. Doch Yuuichi lächelte sanft, so als verstünde er genau, was Tsurugis Problem war. Damit war er ihm dann wohl einen Schritt voraus. Yuuichi zog die Hände unter der Bettdecke hervor und legte sie ebenfalls auf Tsurugis Wangen. „Ich dich auch“, sagte er dann. Tsurugi stockte. Sein Herz raste. Und allmählich begriff er. Er konnte es nicht sagen. Er konnte nicht ansatzweise in Worte fassen, was er für ihn empfand. Ich liebe dich. Pah! Das war doch gar nichts. Das war doch… lächerlich! Das hier war viel, viel, VIEL mehr! Und er war nie gut mit Worten gewesen. Kein Wunder also, dass ihm nicht die passenden einfallen wollten. Aber Yuuichi verstand ihn trotzdem. Er war der einzige, der ihn immer verstand. Wortlos zog Tsurugi ihn näher und drückte erneut ihre Lippen aufeinander. „Ich komm zu spät“, murmelte er dann. „Ich muss los, ja?“ „Ja“, sagte Yuuichi leise. „Bis heute Abend.“ „Bis… dann.“ ~ Auf dem Gang kam Tsurugi eine Krankenschwester mit einer Akte in der Hand entgegen, einen Essenswagen sah er nirgends. Aber egal, Hauptsache er wurde nicht erwischt. „Hey da!“, rief die Schwester ihm nach. „Renn hier nicht so!“ Doch da war er ohnehin schon um die Ecke verschwunden. Und heute war er so gut gelaunt, dass ohnehin nichts auf der Welt seine Stimmung hätte trüben können. Nachdem er das Krankenhausgelände verlassen hatte, dauerte es keine zwei Minuten, bis er eine laute Stimme seinen Namen rufen hörte. „Heeee~y Tsurugi!“ Als er stehen blieb und sich umdrehte, kamen Tenma, Shinsuke und Aoi auf ihn zugelaufen. Sein erster Gedanke war, ob diese Quälgeister in ihrem Leben nichts anderes zu tun hatten, als ihm hinterher zu spionieren. Aber dann fiel ihm wieder ein, was er wenige Sekunden vorher noch gedacht hatte. Nichts und niemand würde ihm heute die Laune verderben! „Guten Morgen!“, begrüßten die drei ihn, als sie bei ihm angekommen waren. Und rechneten eigentlich schon mit einer patzigen Antwort – wenn überhaupt. Doch stattdessen… „Morgen“, nuschelte Tsurugi so freundlich, wie er nur konnte. Das war… nicht so besonders freundlich, aber er gab sich die allergrößte Mühe. Tenma und Shinsuke sahen sich irritiert an. Aoi zuckte mit den Schultern. Doch dann lächelten sie und folgten Tsurugi, der – die Hände selbstverständlich in den Hosentaschen vergraben – weiterging. „Und, kommst du heute zum Training?“ „Weiß nicht…“ „Ach komm schoooon!“ „Ja, denk schon.“ „Jippie! Die anderen werden sich bestimmt auch freuen. Shindou hat gesagt…“ ~ Zur gleichen Zeit im Krankenhaus. Yuuichi saß auf seinem Bett und starrte auf das Foto in seinen Händen. Darauf waren Kyousuke und er zu sehen. Ihre Mutter hatte sie damals auf einem Spielplatz fotografiert. Damals… als er noch laufen konnte… Er hätte es trotzdem jeder Zeit wieder getan, ihn aufgefangen. Er würde ihn wieder und wieder auffangen und ihn festhalten. Selbst wenn alle seine Knochen brechen sollten. Kyousuke war das Wichtigste überhaupt. Er fuhr mit den Fingern sanft über das Glas des gerahmten Fotos. „Kyousuke…“ Was in dieser Nacht passiert war, hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Darüber war er sich vollkommen im Klaren. Seine Vernunft sprach mehr als deutlich zu ihm. Und trotzdem bereute er es nicht. Er hatte so lange mit sich gehadert. Und er hatte zugesehen, wie Tsurugi diesen stillen Kampf ebenfalls ausgefochten hatte. Tag für Tag. Sie hatten beide schon viel durchgemacht. Es war doch nicht zu viel verlangt, wenigstens eine einzige Nacht lang zusammen glücklich sein du dürfen, oder? Dieses vollkommene Glück zu spüren… Yuuichi lächelte bitter. Er war der Ältere von ihnen beiden. Er hätte die Notbremse ziehen müssen. Aber er hatte es nicht getan. Sei’s drum! Was spielte es eigentlich für eine Rolle? Sie waren Brüder, und wenn schon? Eines Tages würden diese Gefühle ganz von alleine verschwinden. Kyousuke würde sich in jemanden anderen verlieben. Und Yuuichi würde weiter sein Bruder sein. Das war das einzige, was sich niemals ändern würde. Welche gemeinsamen Erlebnisse sie bis dahin miteinander schufen… war das denn wirklich so wichtig? Sie taten doch niemandem damit weh. Außer sich selbst… Eines Tages… Yuuichi schluckte. Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, nichts da! Es war gut. Alles war gut und alles würde gut sein, nachdem… Sie hatten einander und das war alles was zählte. Niemand konnte ihnen das nehmen. Niemand-! „Yuuichi-kun?“ „Ah?“ Yuuichi blickte auf. Er hatte nicht gehört, wie die Tür sich geöffnet und jemand den Raum betreten hatte. Nun standen sein Krankenpfleger und eine Schwester neben seinem Bett. „Wie fühlst du dich heute? Alles in Ordnung?“, fragte der junge Mann. Yuuichi nickte, auch wenn die Nervosität sein Herz zum Rasen brachte. „Ja, alles bestens.“ „Sehr gut.“ Der Pfleger lächelte freundlich. „Dann wollen wir allmählich, ja?“ „…Ja.“ „Ich bringe dich jetzt in den OP. Es ist alles vorbereitet und du bekommst dort gleich die Narkose.“ Yuuichi nickte und ließ sich in den Rollstuhl helfen. Er dachte an den letzten Besuch seiner Eltern und die guten Neuigkeiten. Als er erfahren hatte, dass man ihn schon bald operieren können würde, da hatte er diese Information zuerst gar nicht richtig verarbeiten können. Erst langsam hatte er realisiert, was das bedeutete. Wenn alles gut ging, dann würde er danach wieder richtig laufen können. Natürlich nicht sofort. Aber nach einer Weile und mit etwas Training. Und dann… würde er aus dem Krankenhaus entlassen werden. Endlich! Er würde wieder ein ganz normales und selbstständiges Leben führen können. Ohne ständige Hilfe bei den einfachsten alltäglichen Dingen. Die Geldsorgen seiner Eltern würden endlich ein Ende haben. Und Kyousuke… er würde sich endlich keine Vorwürfe mehr machen müssen. Er hatte seine Eltern gebeten, Kyousuke nichts von der Operation zu sagen. Er wusste, dass die Aufregung seines Bruders ihn nur noch mehr anstecken würde. Nein, so war es besser. So wusste Kyousuke von nichts. Und die Überraschung würde riesig werden. Yuuichi hatte Angst. Er hatte Zweifel. Aber er hatte die ganzen letzten Wochen versucht so wenig wie möglich darüber nachzudenken. Und nun dauerte es nur noch ein paar Minuten bis die Narkose ihn am Denken und Grübeln hindern würde. Und wenn er aufwachte, dann… „Keine Sorge“, hörte er die vertraute Stimme der Krankenschwester, die neben dem Rollstuhl herlief. „Es wird alles gut laufen.“ Sie hatte Recht. Er musste sich keine Sorgen machen. Die Operation würde ein voller Erfolg sein. Er machte sich ganz umsonst verrückt. Yuuichi atmete tief ein und schloss die Augen. „Bald… Kyousuke…“ ~ ENDE ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)