Herbsttage von DivaLila ================================================================================ Kapitel 5: Einkäufe ------------------- Einkäufe Ein extrem nervtötendes – von jedermann gehasstes – Geräusch hallte durch das Zimmer. Genervt knurrte Mariku in das Kissen, dass er im Arm hielt. Als er kapierte, dass das, was er da drückte, nicht Ryou war, nahm er den Gegenstand und schmiss ihn in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Leider verfehlte er den Wecker. Was war eigentlich mit Ryou? Mariku drehte sich zur Seite. Soweit er das erkennen konnte, schlief der andere noch. Okay. Das ging ja wohl gar nicht! Kurzerhand riss er die Decke an sich und schubste den Kleineren aus dem Bett. Kaum war der auf dem Boden angekommen, murrte er. Langsam richtete er sich auf und blinzelte orientierungslos. Dann nahm auch er den Lärm wahr und war sofort hellwach. Ja, das Pflichtbewusstsein meldete sich! Er ging zum Schreibtisch, knipste das Licht an – was Mariku dazu brachte, vollständig unter die Decke zu verschwinden – und schaltete den Wecker aus. Ryou streckte sich, gähnte einmal ausgiebig, dann griff er nach seinem Rucksack, packte seine Schulsachen aus. Ein Blick in den Terminkalender, und er wusste, was er noch zu erledigen hatte. Ein weiterer Blick auf den Wecker, und er erschrak: es war bereits 5:10 Uhr! Das bedeutete, er hatte den Wecker ganze zehn Minuten nicht gehört! Das war ihm noch nie passiert… also sofort mit den Hausaufgaben beginnen! Er setzte sich, kramte seinen Füller hervor und schlug das Geographiebuch auf. Nachdem er zwei Sätze geschrieben hatte, wurde er auch schon unterbrochen. „Du machst jetzt aber nicht ernsthaft Zeugs für die Schule, oder?“ „Doch, natürlich. Ich habe meine Hausaufgaben noch nicht fertig.“ „Mann, du bist echt krank. Draussen ist es noch dunkel! Normale Menschen stehen erst auf, wenn die Sonne aufgegangen ist.“ Ryou zog es vor, darauf nicht zu antworten. Normale Menschen machten sich etwas aus ihren Schulnoten. „Wie auch immer. Ich penn noch `ne Runde.“ Das war dem Weisshaarigen nur allzu recht, so konnte er sich besser auf seine Aufgaben konzentrieren. Die wunderbare Ruhe wurde allzu schnell wieder gestört, als vom Bett eine Stimme ertönte. „Muss auf Klo.“ „Gang runter, letzte Tür rechts.“ „Weiss ich. Streber.“ Oh. Da hatte jemand Ryous wunden Punkt getroffen. Wie sehr er es hasste, als Streber bezeichnet zu werden! Doch er zähmte seine Wut, wollte lieber die Zeit nutzen, in der er noch Ruhe hatte. Er ahnte, dass die vorbei sein würde, sobald Mariku wieder im Zimmer war. Der Ägypter und Ruhe waren zwei Dinge, die schwer vereinbar waren. Wenige Minuten später musste der Weisshaarige feststellen, dass er leider recht gehabt hatte mit seiner Vermutung. „Süsser, komm ins Bett. Lass uns noch ein wenig Spass haben!“ „Nein! Siehst du nicht, ich bin beschäftigt!“ „Aber ich weiss eine Beschäftigung, die viel mehr Spass macht.“ „Mir machen Hausaufgaben Spass.“ „Lüg nicht so frech, Jungchen!“ „Mariku, ich mache das wirklich gerne!“ „Ach, komm schon. Sex macht viel mehr Spass! Und ist zudem gut für die Figur!“ „Ja, du hast es auch echt nötig.“ „Stimmt, ich habe Sex verdammt nötig. Und zwar genau jetzt!“ Oh…! Er hatte das Wort ausgesprochen. Leicht beschämt dachte Ryou an das zurück, was mitten in der Nacht geschehen war. Es war schön gewesen, durchaus. Aber er hätte niemals von sich erwartet, dass er so etwas je tun würde. Und erst recht nicht mit einem Kerl wie Mariku, den er ganz nebenbei bemerkt vier Mal in seinem Leben getroffen hatte. Dreimal, wenn man ihre erste Begegnung nicht mitzählte, bei der sie kaum ein Wort gewechselt hatten. Aber er hatte sich so leicht gefühlt. Träumend. Der Weisshaarige errötete, als er daran dachte, dass er dabei gestöhnt hatte… und wie er gestöhnt hatte. „Ich habe aber keine Lust.“ Ein Grinsen schlich sich auf Marikus Züge. „Okay.“ Okay? Keine Widerworte mehr? Irgendwie traute Ryou dem Frieden nicht. Die ganze Sache wurde ihm noch suspekter, als der Blonde begann, in seinem Zimmer umherzugehen. „Was tust du da?“ „Was wohl? Da ein gewisser Herr sich nicht für mich interessiert sehe ich mir eben sein Zimmer an.“ So ganz zufrieden war der Weisshaarige zwar nicht mit der Erklärung. Er fühlte, dass da mehr sein musste. Allerdings war dies noch nicht mit Fakten zu verifizieren, also schob Ryou den Gedanken beiseite. Er widmete sich wieder seinen Aufgaben und einige Zeit gelang es ihm sogar recht gut, sich zu konzentrieren. Doch als er bemerkte, wie Mariku immer näher kam, war es mit der inneren Ruhe vorbei. Er fühlte sich wie ein junges Reh, das wusste, dass es von einem Rudel Wölfe umzingelt war. „Mariku? Was machst du?“ „Ich seh’ mir grad deine Bücher an.“ Okay. Irgendetwas führte er definitiv im Schilde. Wenn Ryou bloss drauf käme, was es war… Mariku würde sich nie und nimmer für Bücher interessieren, so viel war klar. Aber was wollte er? „Oh nein! Ups!“ Ryou sah aus dem Augenwinkel, wie etwas unter seinen Schreibtisch flog. „Sorry Süsser. Lässt du mich kurz vorbei? Mir ist eines deiner Lesezeichen heruntergefallen!“ Ohne eine Antwort abzuwarten schob er Ryous Stuhl beiseite und verschwand unter der Tischplatte. „Scheisse, ich kann es nicht finden!“ Ein dumpfer Knall war zu hören, als Marikus Kopf mit der Tischplatte kollidierte. „Autsch! Scheiss Tisch! Du kannst übrigens wieder ranrutschen… ich werde sowieso noch länger haben, bis ich das Ding wieder gefunden habe.“ „Ach lass es! So wichtig ist es jetzt echt nicht!“ „Nein, ich hab’s fallen gelassen, daher muss ich es auch wieder finden. Du kannst einfach weitermachen.“ Der Weisshaarige lächelte sanft in sich hinein. Süss! Mariku schien doch eine sanfte, liebevolle Seite zu haben. Auch wenn es etwas umständlich und unbequem war, so rückte Ryou wieder an den Schreibtisch und griff nach seinem Füller, nahm seine Arbeit wieder auf. Da spürte er sie. Die Hände an seinen Schenkeln. Die Zähne, die sich oberhalb seines Knies in das Fleisch gruben. „Mariku, was soll das?“ „Du musst Hausaufgaben machen! Also konzentrier dich darauf!“ Aber wie hätte er sich darauf konzentrieren können? Nicht, wenn die Hände weiter nach oben wanderten, ihn streichelten, langsam die Hose nach unten gezerrt wurde… … und dann fühlte er sie. Alles wurde heiss. Ryou riss seinen Oberkörper in die Senkrechte und seine Augen auf, als Mariku ihn mit seinen Lippen verwöhnte. Sofort verschwanden blasse Hände unter dem Schreibtisch, gruben sich in das blonde Haar. Es fühlte sich so wunderbar geil an! Er wollte mehr davon! Genau das hatte natürlich in der Absicht des Ägypters gelegen. Er grinste selbstzufrieden und schob den Stuhl mitsamt Ryou weg, kroch unter dem Schreibtisch hervor und grinste breit: „Na, hast du immer noch keine Lust?“ „Wegen dir komm ich zu spät!“ Hastig rannte Ryou durch das Zimmer, packte in Windeseile seine Schulsachen. „Ach ja? Wer hat vorhin den nach mehr geschrieen?“ Er zog es vor, darauf nicht zu antworten. Stattdessen griff er nach Marikus Hand und zog ihn mit nach unten, in die Eingangshalle, wo er Jacke und Schuhe anzog. „Ryou? Du hast ja gar nichts gefrühstückt!“ Der Blick seiner Mutter fiel von ihrem Sohn auf dessen Gast. Auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, Ryou fiel auf, dass ihre Mundwinkel leicht zuckten, so als ob sie eine Bemerkung fallen lassen wollte. „Tut mir leid, ich habe die Hausaufgaben heute Morgen nachgeholt. Da hab ich das Essen vollkommen vergessen!“ Es fiel ihm so unglaublich leicht zu lügen. „Möchtest du, dass ich dir was einpacke?“ „Das wäre sehr lieb, Mama. Kannst du mir das Lunchpaket für den Mittag auch noch gleich bringen?“ Mariku verdrehte die Augen. Als sich die beiden Teenager nach acht Busstationen trennten – Mariku musste umsteigen – ignorierte ihn Ryou nahezu. Im Bus waren weitaus zu viele Schüler, als dass er sich Intimitäten erlaubt hätte. Der Ägypter schien das überraschenderweise zu akzeptieren, er stieg ohne ein Wort des Abschieds aus, worüber der Weisshaarige mehr als nur erleichtert war. Er realisierte, dass er die ganze Zeit über stocksteif dagesessen hatte und lockerte sich etwas. Dabei fuhr ein leichter Schmerz von seinem Hintern die Wirbelsäule hinauf. Verstohlen sah er sich um, hoffentlich hatte niemand etwas bemerkt. Er seufzte auf. Er hatte wirklich Sex gehabt. Sogar zweimal. Auch wenn er sich dessen bewusst war, es so klar zu formulieren war nochmals eine ganz andere Sache, genau wie die Tatsache, dass er offensichtlich auf Männer stand. Irgendwie hatte er es immer gewusst und es überraschte ihn persönlich nicht weiter. Aber er sah sich nun damit konfrontiert, sich irgendwann outen oder rechtfertigen zu müssen. Für seine Eltern würde wahrscheinlich die Welt zusammenbrechen und seine Klassenkammeraden würden ihn bestenfalls zu meiden, schlimmstenfalls zu mobben beginnen. Er würde vorsichtig sein müssen. Zum Glück ging Mariku auf eine andere Schule, in einem anderen Stadtteil. Da war es nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand hinter ihre Beziehung käme. Ryous Herz setzte für eine Sekunde aus. Das durfte nicht wahr sein! Wie hatte er das nur vergessen können? Bei allem, was irgendwem heilig war… wie konnte er so dumm und vergesslich sein? Okay, vergessen hatte er es nicht, viel eher verdrängt… offiziell hatte er eine Freundin! Des Übels nicht genug, sie hatte Mariku gestern gesehen. Den Kuss… Hastig, mit zittrigen Fingern kramte er sein Handy aus der Tasche. Er war sowieso nicht der Schnellste, aber diesmal dauerte es ätzend lange, bis er die Nachricht geschrieben hatte, auch, weil er den genauen Wortlaut bestimmt zehnmal veränderte. „Ich würde gerne mit dir reden. Es tut mir Leid wegen gestern. Vielen Dank, bis gleich. Ryou“. Er war zwar nicht ganz glücklich mit der Nachricht, schickte sie aber trotzdem ab, wobei ihm einmal mehr in Sinn kam, dass er Marikus Nummer noch immer nicht hatte. Sein Mobiltelefon fest umklammert – hoffend, dass bald eine ihn beruhigende SMS eintreffen würde – betrat er das Schulgelände. Er betete inständig dafür, dass sie es niemandem erzählt hatte. Bitte, bitte nicht. Im Klassenzimmer war es laut, doch als er eintrat, wurde es augenblicklich still. Alles in Ryou schrie danach, dass er sich umdrehte und weglief. Aber das ging nicht. Er hatte Schule. „Hey.“ Da war sie. „Guten Morgen“, erwiderte Ryou freundlich, jedoch ohne sie anzusehen. „Tut mir Leid wegen gestern.“ „Ich habe deine SMS bekommen, lass uns das in der Mittagspause bereden. Hättest dich ruhig etwas früher melden können“, fügte sie dann doch etwas aggressiver hinzu, bevor sie sich abwandte und zurück zu ihren Freundinnen ging. Diese sahen Ryou einen Bruchteil einer Sekunde kalt an, dann wandten sie sich alle auf einmal ab. Panik brach in ihm aus. Sie wussten es. Wie anders wäre es zu erklären, dass sie ihn mit solchen Blicken betrachten? Er setzte sich, kramte seine Hefte hervor und versuchte, an seinen Hausaugaben zu arbeiten, die er heute früh nicht mehr geschafft hatte. Doch kaum eine halbe Minute später trat der Lehrer ein. Dadurch wurde Ryou erinnert, wie spät er heute gekommen war und insbesondere warum. Seine Wangen nahmen einen zarten Rotschimmer an. Er lächelte sanft. Auch wenn in seinem Leben grad alles ziemlich drunter und drüber ging: seine Grundstimmung war gut. Er dachte daran, wie schön es wäre, jetzt mit Mariku zusammen im Bett zu liegen, zu kuscheln und heissen Kakao zu trinken. Er musste schmunzeln, da in seinem Geiste das Bild seines Liebsten auftauchte, der eine Tasse dampfenden Kakao hielt und in eine rosarote, flauschige Kuscheldecke gehüllt war. Das passte so gar nicht. Einerseits beschäftigt mit solch wunderschönen Gedanken, andererseits aber auch mit solchen, die sich um das Gespräch in der Mittagspause drehten (vor dem sich Ryou mehr fürchtete, als vor jedem Sporttag in seinem Leben), beanspruchten seine Aufmerksamkeit vollständig. Er bekam kaum etwas vom Unterricht mit. So rauchte zwar sein Kopf, als es zur Mittagspause klingelte, gebildeter war er jedoch nicht. Ryou atmete tief ein, packte seine Sachen, erhob sich dann und wagte es, dem Mädchen, das auf ihn zukam in die Augen zu blicken. „Gehen wir irgendwo hin, wo wir ungestört sind?“ Er nickte. „Das oberste Stockwerk?“ Sie war einverstanden und so stiegen sie, beide bewaffnet mit ihrem Mittagessen, einige Treppen empor, dahin, wo sie üblicherweise Kunstunterricht hatten. Sie merkte sehr schnell, dass er nicht den Anfang machen würde. „Ryou.“ Sie seufzte. „Was fühlst du für mich?“ Auf diese Frage war er zum Glück vorbereitet gewesen. „Du bist mir sehr sympathisch.“ Eigentlich hatte er geplant, noch „aber ich liebe dich nicht“ hinzuzufügen. Doch das schaffte er nicht. Er hasste es, andere Menschen zu verletzen. „Liebst du mich?“ Er schwieg, was seinem Gegenüber Antwort genug war. Ryou studierte seine Fingernägel. Sie seufzte erneut. „Du machst es mir echt nicht leicht, weißt du das?“ „Entschuldige“, flüsterte der Weisshaarige. Er fühlte sich mies. Insbesondere, weil er eigentlich gerade sehr glücklich war. „Eine Entschuldigung reicht nicht. Aber okay, vielleicht habe ich auch einen Fehler gemacht. Ich hätte dich nicht so mit meiner Liebeserklärung überrumpeln dürfen.“ Ryou fiel ein Stein vom Herzen. Sie verurteilte ihn nicht, sondern hatte sofort erkannt, was sein Problem gewesen war. Doch plötzlich zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen. Nein. Bitte nicht. Er hasste es, wenn Menschen weinten. Zögerlich hob er seinen Blick auf ihr Gesicht. Es war von Tränen genetzt, die sie immer wieder wegwischte. Er sass da und wusste nicht, was er tun sollte. Letzten Endes legte er ihr freundschaftlich einen Arm um die Schulter. Sie liess sich nach vorne fallen und umschlang seinen Oberkörper mit ihren Armen. Minutenlang sassen beide in einer ziemlich unbequemen Position da, bis sie sich beruhigt hatte und erhob. Ryou bot ihr seine Serviette als Taschentuch an. „Danke.“ Sie tat ihm so leid. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie litt, doch trotzdem schien sie sich zusammenzureissen. Er konnte ihr echt dankbar sein. Sie schien nicht eine riesige Szene um ihre Trennung – und das war es letztlich – zu machen. Wie leicht könnte sie ein Drama um die ganze Geschichte spinnen? „Du, Ryou?“ Sie zupfte schüchtern an seinem Pullover. Sie wirkte so gar nicht wie das lebensfrohe Mädchen, als das er sie kannte – noch mehr schlechtes Gewissen. „Was denn?“ Er hatte das Bedürfnis, sie in seine Arme zu schliessen und vor allem Übel dieser Welt beschützen. Aber das wäre wohl eher kontraproduktiv. „Bist du schwul?“ Geschockt hielt er den Atem an. Er war sich im Klaren gewesen, dass sie ihn das fragen würde. Warum hatte Mariku ihn gestern auch einfach so, mitten im Bus, geküsst? Sie hatte es gesehen. Schliesslich hatte sie daneben gesessen – oder, viel eher, dazwischen. Er schüttelte den Kopf. Dann nickte er. Flehend sah er zu ihr auf. „Bitte, erzähl es niemandem.“ Sie lachte leise, dabei rannen ihr erneut Tränen über die Wangen. Sie putzte sich die Nase, schniefte noch ein paar Mal und sah dann zu Ryou, der inzwischen auch aufgestanden war. „Ich fühl mich grad echt beschissen.“ Das konnte sie laut sagen. Ihm ging es inzwischen genauso. „Aber na ja… was soll ich machen. Irgendwann wird mir ein besserer Typ als du über den Weg laufen.“ Sie streckte sich, kramte ihre Sachen zusammen und wandte sich ab. „Es tut mir Leid“, flüsterte er ein letztes Mal. „Das nützt mir auch nichts mehr.“ Dann hatte sie die Treppen erreicht und war verschwunden. Die nächsten Tage passierte nichts Aussergewöhnliches. Ryou hatte zwar jeden Morgen vor dem Betreten des Schulgeländes Panik, dass seine Mitschüler inzwischen wussten, dass er homosexuell war, aber bisher hatten sie sich vollkommen normal ihm gegenüber verhalten. Nur ein paar der Mädchen warfen ihm ab und zu wütende Blicke zu, aber das hatte er erwartet. Damit konnte er leben. Im Sportunterricht meinte eine Gruppe Jungs zu ihm, dass er ein absoluter Vollidiot sei, dass er sich von seiner Freundin getrennt habe. Immerhin war sie eine der heissesten Schnecken in ihrem Jahrgang. Wenigstens ficken hätte er sie doch können. Darauf antwortete Ryou nicht. Auch wenn er dachte, dass er lieber in der devoten Rolle war… Aber es hätte sowieso nicht zu ihm gepasst, wenn er gross über Sex geredet hätte. Sowas tat er einfach nicht. Aber an Sex denken, das tat er oft. Er sehnte sich nach seinem Freund. Er wollte Mariku noch besser kennen lernen, ihm so oft wie möglich nahe sein. Aber er zwang sich zu warten. Er wollte nicht zu anhänglich wirken - auch wenn die Nächte einsam und sein Bett kalt waren. Vier lange Tage später sahen sie sich wieder. Stürmisch fiel Ryou Mariku um den Hals, als dieser ihm die Wohnungstür öffnete. Sie versanken in einen langen, intensiven Kuss, der von Ryou beendet wurde, als er merkte, dass sie beobachtet wurden. Im Durchgang von Küche und Wohnzimmer war eine Frau stehen geblieben. Sie schien um die Vierzig zu sein, also nahm er an, dass es sich um Marikus Mutter handelte. Er liess seinen Liebsten los und stellte sich vor. Währenddessen hatte der Blonde seine Schuhe angezogen und wartete gelangweilt, dass der Kleine endlich fertig war. Aber er musste ja unbedingt noch Smalltalk mit seiner Mutter führen. Als ob die sein Leben irgendetwas anginge. Endlich war Ryou fertig und gemeinsam gingen sie nach unten. Im Gehen kuschelte sich der Weisshaarige an Marikus Seite. Doch entgegen Ryou Erwartungen wurde er nicht zum Eingang des Wohnblocks, sondern in die Garage geführt. „Was wollen wir denn hier?“ Fragend blickte er sich um, so, als ob er erwartete, die Antwort irgendwo in Leuchtschrift zu sehen. Allerdings konnte er sich Marikus Absichten ziemlich schnell zusammenreimen, als er gegen einen der Wagen gedrückt wurde und herrische Lippen sich über seinen Hals hermachten. Mariku war einfach unglaublich. Nicht im Bett – okay, das auch, aber darum ging es gerade nicht – sondern darin, Ryou dazu zu bringen, mit ihm zu schlafen. Hier, in einer Garage, wo jederzeit jemand vorbeischauen könnte, auf der Motorhaube eines schwarzen BMWs. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Aber es machte Spass. Warum also beklagen? Mariku schien auch auf seine Kosten zu kommen… Er grinste jedenfalls. Hand in Hand betraten die beiden Jugendlichen ein riesiges Möbelgeschäft. Nicht, dass Mariku freiwillig Händchen hielt. Aber in diesen kleinen, blassen Händen steckte mehr Kraft, als er erwartet hatte, und Ryou brauchte jetzt einfach etwas, woran er sich festhalten konnte. Er zitterte noch immer. Hatte er sich nicht geschworen, nie wieder zu Mariku ins Auto zu steigen? Warum hatte er es trotzdem getan? Na, weil ihm keine andere Wahl gelassen worden war! Kaum hatte beide ihren Höhepunkt erreicht gehabt, hatte Mariku ihn hochgehoben und zu „seinem“ Auto getragen. Die Fahrt war genauso schlimm gewesen, wie letztes Mal, nur dass der Blonde diesmal die Stereoanlage nicht ganz so laut aufgedreht hatte. Bald standen die beiden Teenager in der Abteilung, in der man Betten kaufen konnte. Eigentlich hatte Ryou direkt nach der Schule hingehen wollen, aber als er gestern Mariku angerufen hatte – natürlich auf das Festnetztelefon – bat dieser darum, mitkommen zu dürfen. Ja – er hatte wirklich darum gebeten! Warum genau war Ryou zwar etwas schleierhaft – war ja nur ein Bett – aber er freute sich, dass sein Liebster dabei war. Ganz dumm war der Weisshaarige auch nicht, er konnte sich schon denken, warum Mariku sich für sein neues Bett interessierte… aber eigentlich war ein Bett doch ein Bett. Sex konnte man in jedem haben. „Dein neues sollte auf jeden Fall grösser sein.“ „Wie?“ Irritiert blinzelte er. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sie inzwischen in der richtigen Abteilung angekommen waren. „Dein altes war ganz schön klein. Platz genug für ein grösseres hast du in deinem Zimmer ja.“ Mit undeutbarem Blick sah Ryou zu seinem Liebsten. Es freute ihn, was dieser gesagt hatte. Es klang so sehr nach einer gemeinsamen Zukunft. Danach, dass er noch viele Nächte bei ihm verbringen würde. Mit ihm. Was gab es schöneres? An seinen Freund gekuschelt einschlafen, erschöpft nach wildem Sex… er errötete und wandte den Blick ab. „Woran denkst du?“, amüsiert hob Mariku eine Augenbraue. „An gar nichts!“, antwortete Ryou etwas zu schnell und hob abwehrend die Hände. „Also an was Schmutziges.“ Schnell schüttelte er den Kopf. „Weißt du…“, Mariku machte eine Kunstpause, in der er Ryous Ohrmuschel mit der Zunge nachfuhr, „du musst nicht nur daran denken. Wir können es auch gleich hier treiben.“ „H..hier? Bist du verrückt?“ „Verrückt nach dir“, Mariku lachte leise, „scheiss Wortspiel.“ „Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Des Blonden Blick versuchte, die herangetretene Angestellte zu erdolchen. Mariku setzte an, in seiner kältesten Tonlage ein „Nein“ zu fauchen, doch Ryou kam ihm zuvor. „Nein, vielen Dank. Wir wollten uns zuerst etwas umsehen.“ Er packte Mariku am Handgelenk und zog ihn zu einem rustikalen Bettgestell aus Buchenholz. Ryou mochte es. Er wollte nichts, was sein Zimmer dunkler erscheinen liess. Doch Ryou wäre nicht Ryou, wenn er vor einer Entscheidung nicht alle Möglichkeiten mit Bedacht abwiegen würde – in diesem Fall: er sah sich alle Modelle an, nahm einige in die engere Auswahl und liess sich dann doch noch beraten, jedoch von einer anderen Dame, als jene, die ihn gefragt hatte. Ryou lächelte. Er fühlte sich wohl, auch wenn Mariku langsam sichtlich genervt war. Selbst Schuld, er hatte unbedingt mitkommen wollen. Okay, ein kleines bisschen schlechtes Gewissen machte sich schon in ihm breit, aber er traf hier gerade eine Entscheidung und die sollte wohl bedacht sein! Wenn sein Schatz was anderes erwartet hatte… nun, sie könnten ja bald das Bett einweihen. Und vor allem: sein allererster Möbelkauf schien glatt über die Bühne zu gehen! Bei allem, was Ryou das erste Mal anging, war er verdammt nervös. Daher war er persönlich auch ziemlich froh gewesen, dass Mariku mitgekommen war – alleine wäre es gut möglich gewesen, dass er vor dem Geschäft stehen geblieben wäre und es nicht geschafft hätte, einen Fuss hineinzusetzen. Aber vor seinem Freund hatte er sich eine solche Blösse nicht geben wollen – und dank dem war er ja auch so zittrig auf den Beinen gewesen, dass er schlicht andere Sorgen gehabt hatte. Ryou war kurz davor, sich für ein weiss lackiertes Bett zu entscheiden - das Gestell war simpel, bestehend aus einem schlichten Rahmen. Nur oben, beim Kopfende, da war horizontal über die ganze Breite eine Polsterung angebracht. Diese wäre super bequem, wenn er abends noch lesen wollte – da brauchte er nicht an die harte Wand zu lehnen. Doch plötzlich mischte sich Mariku ein. Der war eh erstaunlich still gewesen die ganze Zeit. Nicht mal seine Hände waren gross aufdringlich gewesen. Ryou hatte der Verkäuferin gerade mitteilen wollen, dass er gerne dieses eine Bett hätte – da schlangen sich zwei starke Arme um seine Körpermitte, zogen ihn eng an Mariku und dessen Mund machte sich eiligst daran, Ryous Hals zu malträtieren. Überrascht riss der Weisshaarige die Augen auf, sein Blick haftete noch immer auf dem Gesicht der Frau, die ihn so freundlich beraten hatte. Doch auch deren Gesicht zeigte jetzt Überraschung. Sie trat sogar einen halben Schritt zurück, als Ryou sich etwas drehte und seine Lippen mit denen des Blonden zusammenbrachte. „Meine Meinung zählt wohl gar nicht, was?“, knurrte Mariku in den Kuss. Ryou seufzte schwer. Letzten Endes hatte Marikus Meinung mehr gezählt als seine. Er hatte nicht nur ein breiteres Bett gekauft – und damit verbunden auch eine neue Matratze – sondern er war auch dem Wunsch seines Liebsten gefolgt, was das Modell betraf. Dieser Liebste verabschiedete sich jedoch plötzlich, nachdem sein Handy geklingelt hatte. Kurz drückte er Ryou einen Kuss auf, schon war er weg und überliess es dem Weisshaarigen, den Kauf abzuschliessen. Schon am nächsten Tag wurde also ein weiss lackiertes Metallbett geliefert, das an Kopf- und Fussende mit vertikalen Stangen geschmückt war. So ganz verstand Ryou nicht, warum sein Freund so scharf auf dieses Modell gewesen war. Mariku selbst hatte ja auch ein sehr einfaches Bett ohne irgendwelchen Schnickschnack… Naja – seine kleine Schwester schien ihn jedenfalls ziemlich zu beneiden um dieses Möbelstück. Sie verkündete sogleich, dass sie so eines zum Geburtstag geschenkt bekommen wolle. Sie legte sich auf das frisch bezogene Bett und seufzte wohlig. Die Matratze war so bequem! Ryou legte sich daneben und gemeinsam starrten sie an die Decke. „Du, Ryou?“ „Hm…?“ „Dieser Junge, der letztens bei uns war…“ „Mariku?“ „Wenn das dieser dunkelhäutige Schönling ist, dann ja…“ Ryou kicherte. „Schönling?“ „Findest du ihn etwa nicht unglaublich attraktiv?“ „Doch, klar. Ab…“, doch Ryou wurde von Amane unterbrochen: „Ha! Wusste ich’s doch! Er ist also dein Freund?“ „J…Nei… also, nun… es… ich…“ Ryous Stottern ging in einem Lachanfall von Amane unter. „Ehrlich, Bruderherz: du kannst noch immer nicht lügen.“ Sie kicherte wieder. Nervös biss Ryou auf seiner Lippe herum. Ob er fragen sollte? Sollte er? „Hast du denn… ich meine…“, er brach ab und hätte sich gleich darauf selbst schlagen können. So peinlich war die Frage nun wirklich nicht und er hatte bereits mit dem Satz begonnen, also würde er sie auch ganz aussprechen. „Hast du denn kein Problem damit, wenn ich… nun ja… schwul bin?“ Gegen Ende war er doch immer leiser geworden, doch Amane hatte in trotzdem verstanden. Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie leicht: „Warum sollte, ich damit ein Problem haben? Du bist garantiert nicht die erste homosexuelle Person in meinem Umfeld. Sie kicherte. „Ein Mädchen in unserer Klasse ist lesbisch. Am Anfang fand ich das komisch und auch irgendwie abartig, aber vor allem befremdend. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass sie gar nicht anders ist, seit dem Outing… seitdem verstehen wir uns wieder genauso gut wie vorher. Was allerdings nicht allzu viel heisst.“ Amane schwang ihre Beine vom Bett und nutzte den Schwung, um sich aufzurichten. Sie drehte sich zu ihrem Bruder und wuschelte ihm durch die Haare. „Mach dir nicht so einen Kopf darum. Das wird schon irgendwie…“ Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und stand auf und schlenderte zur Tür. „Ich mache mir grosse Sorgen wegen der Reaktion unserer Eltern…“, murmelte Ryou mehr zu sich selbst, doch Amane erahnte, was er gesagt hatte. Sie drehte sich noch einmal um und meinte: „Wenn unsere Eltern das rauskriegen, werden sie dich vermutlich lynchen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)