Herbsttage von DivaLila ================================================================================ Kapitel 13: Wintereinbruch -------------------------- Marikus Schulter schmerzte. Vermutlich blutete er. Vorsichtig tastete er nach der pochenden Stelle am Hals und besah sich seine Finger im gemütlich warmen Licht der Nachttischlampe. Sie waren tatsächlich etwas rot. Ryou hatte ihn gebissen. Etwas anderes war ihm mit seinen ans Bettgestell geketteten Händen auch nicht übrig geblieben. Aber es war kein Biss aus Lust, das wussten sie beide. Der einzige Grund, warum Mariku den Kleineren nicht sofort schlug oder ebenfalls biss, war, dass er dafür viel zu perplex war. In seiner Hose pochte noch immer sein liebstes Stück, aber die Option „Sex“ war soeben in weite Ferne gerückt. Alles hatte so schön angefangen. Ein perfektes Vorspiel. Aber dann hatte der Weisshaarige etwas entdeckt. Einen Knutschfleck am Nacken Marikus. Und bevor sich dieser irgendeine Ausrede hatte einfallen lassen können, wurde er auch schon an die Kratzer an den Schulterblättern aufmerksam gemacht. Er würde den Bastard umbringen, der ihm die zugefügt hatte! Es war doch ein ungeschriebenes Gesetz, dass man bei einer Fickbeziehung keine Spuren hinterliess. Ryou hatte er das nicht mal erklären müssen. Aber irgendeiner dieser Wichser von heute Nachmittag... oh ja, der würde in der nächsten Zeit froh sein, überhaupt noch wichsen zu können, wenn Mariku fertig war mit ihm. „Gib mir den Schlüssel.“ Mariku störte sich nicht am Befehl. Zu sehr irritierten ihn die Tränen auf dem blassen Gesicht. Sie machten ihn wütend. Noch wütender. „Fick dich!“, spuckte er Ryou entgegen, zog seine Hose, die er bis zu den Kniekehlen heruntergezogen hatte, wieder vollständig an und schnappte sich sein T-Shirt und den Kapuzenpulli, die er sich zusammen über den Kopf gestreift hatte. Er stand auf und verliess zornig das Zimmer und kurz darauf das Haus. Ryou weinte still und lange. Er wollte nicht, dass ihn irgendwen hörte und vielleicht hereinkam. Was hätte er denn sagen sollen? Er lag nackt auf dem Bett, die Hände gefesselt, die Bettdecke weit entfernt auf dem Boden. Er wurde aber von so starken Wellen der Trauer übermannt, dass seine Bewegungen fahrig und zittrig waren – an Schlüsselerreichmanöver war vorerst nicht zu denken. Erst nach einigen Minuten hatte er sich soweit beruhigt, dass er sich so drehen konnte, dass er mit seinen Füssen den Nachttisch erreichte, wo sich der Schlüssel für die Handschellen befand. Mit einer für ihn erstaunlichen akrobatischen Leistung schaffte er es, den Schlüssel endlich in die Hände zu bekommen und mit einigen unbequemen Verrenkungen schaffte er es sogar, das Schloss aufzubekommen. Er rieb sich die schmerzenden Handgelenke, da begannen ihm schon wieder Tränen über die Wangen zu rinnen. Die Handschellen würden bestimmt blaue Flecken hinterlassen. Er war zumindest für die nächsten Tage gezeichnet, würde sich stets an diesen schrecklichen Moment erinnern. Warum hatte Mariku das getan? Ihn betrogen? Er war nicht so blauäugig, dass er von Knutschflecken auf etwas anderes schliessen würde. Mariku hatte nicht einfach mit irgendwem ein wenig geflirtet. Er hatte mit irgendwem geschlafen. Es gab mindestens eine andere Person, die er ebenso liebevoll lustbringend anfasste, wie Ryou selbst. Seine Hände zitterten. Mariku hatte ihm nie gesagt, dass er ihn liebte. Ryou hatte sich damit abgefunden, dass der Ägypter einfach kein Mensch vieler Worte war, er ihm aber doch sehr, sehr viel bedeutete. Sex bedingte doch Liebe, nicht? Und so sehr er es auch versuchte, er schaffte es nicht, anderer Überzeugung zu sein, als dass Mariku wirklich fremdgevögelt hatte. Er hatte ihn gebraucht. Und weggeworfen. Ryou hielt die erneut aufsteigenden Tränen nicht zurück. Er war enttäuscht und wütend. Aber vor allem enttäuscht. Wie hatte er nur so blind sein können und glauben, dass er irgendwem etwas bedeutete? Eigentlich musste er doch dankbar sein, dass wenigstens sein Körper schön war für die Augen eines anderen. Aber warum tat dann sein Herz so weh? Er war sich so sicher gewesen... Mariku war, was er wollte. Und jetzt? Er wollte ihn noch immer. Auch wenn es vielleicht die oft hinterher belächelte erste grosse Liebe war, auch wenn sie ihm unüberlegt in einem Moment absoluter Glückseligkeit über die Lippen gekommen waren: er bereute seine Worte nicht. Er liebte Mariku. Er war nicht blind. Und daher sah er auch, dass es so nicht weitergehen konnte. Von einem plötzlichen Entschluss gepackt stand er auf und durchsuchte sein Zimmer nach einem ganz bestimmten Zettel. Dank seinem Ordnungssinn fand er ihn bald, auch wenn er nicht mehr genau gewusst hatte, wo er ihn verstaut hatte. Ihm starrte eine Pro- und Kontraliste entgegen, die er langsam durchlas. Pro: - sieht gut aus - war mit mir Möbel kaufen - hat mich im Bus, nach unserer ersten gemeinsamen Nacht, nicht geküsst (ich wollte nicht) - Sex Kontra: - Zoff mit meinen Eltern - raucht - hat mich am Vortag vor unserer Nacht mitten im Bus geküsst (ich wollte nicht) - unhöflich - meine Eltern mögen ihn nicht - hat einen grausamen Fahrstil - kann nicht kochen (isst fast nur Fertigprodukte) - seine Freunde sind seltsam - meldet sich nie bei mir Hätte er doch nur damals Schluss gemacht. Vieles wäre ihm erspart geblieben. Er las sich die Liste erneut durch. Irrte er sich, oder hatte Mariku in letzter Zeit wirklich weniger geraucht? Und was zur Hölle war „meine Eltern mögen ihn nicht“ eigentlich für ein Grund? Sollten seine Eltern ihn nicht vollkommen unterstützen? Auch wenn er sich eines Tages als schwul oder bisexuell outen würde? Könnte er das schaffen? Die Kraft dafür aufzubringen? Andererseits, ihm hatte der Sex sehr gut gefallen. Mit wem an seiner Seite könnte er denn zu seinen homoerotischen Neigungen stehen, wenn nicht mit Mariku? Dieser hatte ja überhaupt keine Hemmungen diesbezüglich. Vielleicht musste er einfach damit leben, dass in der Schwulzenszene nicht monogame Beziehungen an der Tagesordnung waren? Es hatte zwar keine Ahnung von der Sache, aber das Klischee wäre auf jeden Fall bestätigt. Ganz harmlos war es ja doch nicht zugegangen, in dem einen Homoclub, wo er mit Mariku gewesen war. Und sogar da hatte er ja mit irgendeinem anderen geflirtet. Ryou schnappte sich einen Stift, strich „meine Eltern mögen ihn nicht“ von der Liste, fügte aber stattdessen „hat mich betrogen“ und „flirtet gerne fremd“ hinzu. Er betrachtete die niedergeschriebenen Worte und wieder kullerten Tränen über seine Wangen. Er war aber auch ein Idiot – bohrte in seinen eigenen Wunden. Aber er konnte nicht anders. Wie sollte er sich von Mariku trennen, wenn er die Wahrheit nicht sehen wollte? Beinahe war er schon wieder so weit. Er merkte, wie er bereits begann, Ausflüchte zu suchen. Was, wenn er Mariku nur missverstanden hatte und die dunklen Flecken an seinem Hals von einem Sturz oder ähnlichem kamen? Aber so naiv war er nicht. Nicht mehr Vor Mariku, da hätte er nicht einmal gewusst, wie Knutschflecken aussahen. Jetzt wusste er noch einiges mehr. Was er allerdings nicht wusste, war, wie es weitergehen sollte. Früher war es einfach gewesen. Schule, gute Noten, etwas Haushalt, seine Eltern zufriedenstellen. Er hatte nichts gegen sein altes Leben. Aber die unglaublich intensiven Gefühle, die ihn begleiteten, seit er den Ägypter kennengelernt hatte, die waren eine Sache für sich. Eine Sache, die er nicht missen wollte, auch wenn es vielleicht besser wäre für ihn. Mariku zündete sich gerade seine dritte Kippe an. Scheisse. Was war das denn gewesen? Und warum war er hier in dieser fucking Kälte? Warum vögelte er nicht gerade seinen Lieblingsarsch sondern sass unter dem Dach einer Bushaltestelle, seit es begonnen hatte, zu regnen? Frustriert drückte er seine Zigarette in die Sitzfläche der Bank, auf der er sass. Hübsche Brandflecken. Fuck. Warum war Ryou so eine Zicke und rastete gleich wegen einem Knutschfleck so aus? Seine Hände zitterten. Bei so vielen Zigaretten konnte es nicht Nervosität sein. Als ob. Mariku schnaubte. Er hasste es. Er hasste alles. Alle. Er schlug mit seiner Faust gegen einen der hübschen Brandflecken, leider war die Bank stärker. In ihm war diese riesige Lust, etwas zu zerstören. Alles. Er hörte ein Auto nahen. Anhalten. „Yo, Mariku!“ Fuck, das hatte noch gefehlt. Er hatte keine Ahnung, wer der Typ war, der ihm da aus dem geöffneten Fenster zurief, aber er erinnerte sich an seine Stimme. Und da sein Name genannt worden war, bleib eigentlich nur eine Schlussfolgerung: er hatte den Kerl irgendwann mal flachgelegt. Und gut sah er auch aus, so, dass er durchaus in sein Beuteschema passte. Warum sagte er diesen Wichsern eigentlich seinen richtigen Namen? Er zeigte dem Kerl den Mittelfinger. Mehr hatte der nicht verdient. Musste genau jetzt jemand kommen und ihn noch daran erinnern, dass er in etwa die halbe Stadt flachgelegt hatte? Okay, er übertrieb masslos, aber für Ryou musste es doch so wirken. Er war auch mal naiv gewesen. Nie so schlimm wie der Weisshaarige, aber eigentlich hätte er es wissen müssen. Der Erste war was besonderes. Sogar er konnte sich noch perfekt an seinen erinnern. Seinen Geruch, seinen Namen, seine Schwanzlänge – all das war irgendwo in seinem Hirn gespeichert. Ryou war sowas von selbst Schuld. Wenn er nicht mit Marikus Lebensstil klarkam, war das ja wohl ganz allein sein Problem. Mariku musste sich bestimmt kein schlechtes Gewissen einreden dafür, dass er sich nahm, was er wollte. Nie hatte er irgendwas von Liebe, Beziehung oder auch nur Gefühlen gefaselt. Und trotzdem hatte Ryou ihn lieb. Plötzlich fühlte er sich elend. Drei Tage. Drei elendig lange Tage, in denen Mariku nichts anderes tat, als in seinem Bett zu liegen und zu rauchen, wenn er denn die Motivation dafür aufbringen konnte. Er hatte einfach keinen Antrieb. Sein Handy lag neben ihm und jedes Mal, wenn es vibrierte, zuckte er zusammen. Guckte nach, wer ihm geschrieben hatte, nur um es wieder wütend auf die Matratze zu drücken, wenn es nicht Ryou war. Er wollte raus, seine Aggressionen abbauen, aber dann hätte er sich eingestehen müssen, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Dass er die neckischen Angebote, die er auf sein Smartphone erhielt, nicht ablehnte, weil er grade keinen Bock auf Sex hatte sondern weil er nur ihn wollte. Je mehr er sich selbst sagte, dass er einfach irgendwem das Hirn rausvögeln sollte, umso mehr wollte er nur Ryou. Beschissene Situation. Aber selbst er raffte, dass der Weisshaarige es nicht sonderlich positiv auffassen würde, wenn er ihn jetzt nach Sex fragte. Er zündete sich seine nächste Zigarette an. Bald wäre damit Schluss, entweder er musste raus und neue kaufen, oder er liess es bleiben. Noch vier Stück im Päckchen. Beim Anzünden dachte er daran, wie Ryou das Gesicht verziehen würde, wenn er jetzt hier wäre. Er verscheuchte den Gedanken und rauchte extra genüsslich. Danach schlurfte er trotzdem ins Badezimmer und putzte sich die Zähne. Zurück in seinem Zimmer stellte er fest, dass sich Ryou tatsächlich gemeldet hatte. „Wir müssen reden. Passt dir nächsten Freitag Abend?“ Verdammt, was erlaubte sich dieser Bengel, ihm eine so mehrdeutige Nachricht zu schreiben. Oh, wie er reden hasste. Wobei die Phrase „wir müssen reden“ doch sehr eindeutig war. Wie wollte Ryou Schluss machen, wenn sie noch nicht mal zusammen waren? Es kotzte ihn an. Dem Weisshaarigen fiel es schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Er fürchtete sich vor Freitag. Noch immer wusste er nicht, was er Mariku eigentlich sagen wollte. Immerhin hatte der einer Aussprache zugestimmt. Das war nämlich Ryous grösste Sorge gewesen. Zuerst hatte er ihn ewig auf eine Antwort warten lassen und danach hatten sie unendlich lange hin und her geschrieben, um die genauen Details zu besprechen. Als Ryou ein gemütliches Café als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, wählte Mariku den Stadtpark als idealen Ausspracheort. Im Spätherbst war dies eine ziemlich kalte Angelegenheit, und so widerprach Ryou. Der Ägypter blieb jedoch stur. Er schickte eine ziemlich aggressive Antwort zurück und da beschlich Ryou das Gefühl, dass Mariku das Gespräch mit so wenig Zuhörern wie möglich hinter sich bringen wollte, Er hütete sich, den Verdacht zu äussern. Und so bekam letzten Endes Mariku sein Willen. Doch noch waren es 28 Stunden, 14 Minuten und etwa 30 Sekunden, bis sie sich treffen würden. Wobei er locker zehn Minuten addieren konnte, Mariku kam schliesslich immer zu spät. Seine Nervosität wurde praktisch von Minute zu Minute schlimmer. Inzwischen war er sauer auf sich selbst. Hätte er doch bloss nicht so überreagiert und Mariku gebissen. Hätte er Ruhe bewahrt und ihn ruhig drauf angesprochen, wären sie jetzt nicht in dieser Situation. Was, wenn der Ägypter Schluss machte? Allein der Gedanke daran liess Ryou beinahe verzweifeln. Er selbst überlegte zwar auch, ihr Verhältnis zu beenden, aber das war einfach was anderes. Wenn Mariku Schluss machte, war das viel schlimmer, als wenn er es selbst tat. Es durfte einfach nicht sein. Mariku hatte sich mal wieder in die Schule bequemt, nachdem der Klassenlehrer angerufen hatte. Ausserdem hatte er eh nichts besseres zu tun. Jetzt, wo es langsam richtig kalt wurde, konnte er nicht mit seinen Kumpels irgendwo draussen rumhängen. Einkaufszentren waren ihm aber zu doof. In seinem Zimmer hielt er es sowieso nicht mehr aus, es stank, sah chaotischer aus als sein tatsächlich extrem hohes Toleranzniveau diesbezüglich es zuliess und er musste sowieso raus und neue Kippen kaufen. Im angetrunkenen Zustand machte Schule sogar so etwas wie Spass. Er brachte zwar eine ganze Reihe von Lehrern und Lehrerinnen auf die Palme und wurde dafür vor die Tür gestellt, aber immerhin reichte der Unterricht, dass er einschätzen konnte, in welchem Fach er Probleme bekommen würde. Wie seine Mitschüler noch immer schlechter Englisch konnten als er, blieb ihm schleierhaft. Alles in allem war er aber optimistisch gestimmt. Bisher hatte es immer irgendwie gereicht, immer nur haarscharf, aber das war ihm eh einerlei. Diesmal würde es wohl kaum schlechter laufen. Nein, was seine Stimmung trübte war nicht die Schule. Auch nicht seine Mutter, die nach dem Anruf des Klassenlehrers plötzlich das Gefühl hatte, eine gute Mutter müsse ihren Sohn jeden Abend nach der Schule und den einzelnen Stunden befragen. Er hatte keine Lust, Ryou zu treffen. Er wollte, dass sie so weitermachten wie bisher. Viel Sex und ab und zu gemeinsam etwas unternehmen. Ausserdem würde er in Zukunft darauf achten, dass kein anderer Spuren hinterliess. Aber vielleicht würde sich etwas ändern. Ziemlich sicher würde sich was ändern. Ryou wollte schliesslich reden. Das bedeutete, er wollte etwas ändern. Als der Freitag gekommen waren, stiegen beide missgelaunt aus ihren Betten. Weder Ryou noch Mariku hatten Lust, sich in irgendeiner Form aus dem Haus zu begeben und wären am liebsten den ganzen Tag in die warme Decke gekuschelt geblieben. Während sich ersterer zusammenriss und einredete, dass der Tag bestimmt schneller vorbeiginge, wenn er im Unterricht sass, legte sich der Zweite nach einem Gang zum Klo wieder hin und schlief noch ein paar Stündchen. Als er Nachmittags aufwachte, hatte es sowieso keinen Zweck mehr, sich irgendwie anzustrengen. Nach der Schule flitze Ryou nach Hause, duschte lange und heiss, um sich mental auf die Kälte vorzubereiten, die ihn draussen wieder begrüssen würde. Dann zog er seine Lieblingsjeans, ein weites T-Shirt und seinen wärmsten Pullover an. Seine Kleidung sollte ihm ein behagliches Gefühl von Wärme und Bequemlichkeit vermitteln. Er brauchte jedes Körnchen Wohlbefinden, dem er irgendwie habhaft werden konnte. Das anstehende Treffen lag ihm schwer auf dem Magen und so nagte er lustlos an einer Scheibe Brot herum. In der Küche war Amane am Werke – sie war so freundlich gewesen und hatte Ryou das heutige Kochen abgenommen. Er hatte sie zwar beinahe auf Knien anflehen müssen und ihr versprochen, nächste Woche ihr Lieblingsessen zuzubereiten, aber das war es wert. Für ihn war unglaublich wichtig, dass er nach dem Treffen mit Mariku Zeit hatte zum Nachdenken und vielleicht auch um sich auszuweinen, je nachdem, was dabei herauskam. Und diese Zeit blieb ihm nicht, wenn er am nächsten Tag Schule hätte. „Ryou?“ Seine Mutter hatte soeben die Küche betreten. Ihr Tonfall liess nichts Gutes vermuten, und er zuckte zusammen. Hoffentlich dauerte das nicht allzu lange, er musste bald los. Mit einem unschuldigen „Was ist?“ drehte er sich um und sah ihr in die Augen. „Dieser Bekannte von dir... Merek oder so...“ „Mariku“, half Ryou seiner Mutter auf die Sprünge. „Ja, jedenfalls, der war letztens bei dir zu Besuch, nicht?“ „Ja, war er.“ Worauf wollte seine Mutter hinaus? Hatte sie etwas bemerkt? Irgendetwas schien ihr auf jeden Fall unangenehm zu sein, so, wie sie sich aufführte. Vielleicht waren sie doch zu laut gewesen? Oder er hatte einen Spermafleck übersehen auf seinem Bett? Und zusammen mit den Kondomen, die er immer in Karopapier einwickelte, damit es nach einer missglückten Schulaufgabe aussah, war vielleicht Verdacht aufgekommen? „Kannst du ihm bitte ausrichten, dass er bitte die Schuhe im Eingang lassen sollte?“ Ryou fiel ein Stein vom Herzen. „Ja, klar mach ich!“ Nach einem kurzen Moment des Schweigens, in dem nur die Kochgeräusche von Amane zu hören waren, setzte er nach: „Tut mir leid, Mama.“ „Schon okay, mein Grosser. Ich urteile nicht darüber, mit wem du deine Zeit verbringst, aber ich möchte nicht, dass du die Schule vernachlässigst.“ Die Aussage hinter dem Satz war so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was seine Mutter eigentlich gesagt hatte. Sie hiess seinen Kontakt mit Mariku nicht gut. Es gab ihm einen leichten Stich ins Herz. „Oh, ich muss noch Zähneputzen, bevor ich losmuss!“ „Wohin gehst du eigentlich?“, fragte seine Mutter nach. „Ins Kino mit Mariku und ein paar seiner Freunde.“ Eine Lüge, aber er hatte nun wirklich keine Lust, von seinem Herzschmerz zu erzählen. Beim Verlassen der Küche grinste ihn Amane wissend an. Wie erwartet kam Mariku zu spät. Mehr als die von Ryou prophezeiten zehn Minuten. „Sorry, viel Verkehr. Hab ewig gebraucht, um 'nen Parkplatz zu finden.“ Ryou nickte, mehr als Zeichen, dass er gehört hatte, was ihm als Entschuldigung gebracht wurde, als dass er den Umstand wirklich entschuldigte. War doch logisch, dass Freitag Abend die Strassen verstopft waren. Ausserdem durfte Mariku nicht Auto fahren. Seine Finger hatte er um einen Pappbecher geschlungen – als sich abgezeichnet hatte, das Mariku zu spät wäre, hatte er sich eine heisse Schokolade geholt. Nicht, dass es viel genutzt hatte: er fror gottserbärmlich. Das alles nur, weil Mariku es nicht mal für nötig befunden hatte, ihn per SMS drüber aufzuklären, wie viel zu spät er denn kommen würde. Den Zorn darüber legte er in seinen Blick, als er nun den Ägypter ansah, der vor ihm stand. „Hey.“, begrüsste der Weisshaarige trotzdem unsicher. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Warum hatte er sich das nicht früher überlegt? Er hatte sich zig Szenarien ausgedacht, verschiedenste Gesprächsverläufe ausgemalt aber nie hatte er sich überlegt, wie er sich bei der Begrüssung verhalten sollte. „Hey.“, wiederholte Mariku mit einem Augenzwinkern und beugte sich vor, um Ryou einen schnellen Kuss zu geben. Dann grinste er ihn schief an. „Wollen wir?“ Ryou trank die letzten Schlucke seiner Schokolade, dann setzten sie sich in Bewegung. Sie betraten den Stadtpark, der in der Dämmerung eine mystisch gefährliche Aura ausstrahlte. Ohne Mariku an seiner Seite wäre der Kleinere um diese Uhrzeit niemals hineingegangen. Langsam gingen sie beide nebeneinander her und schwiegen. Sie folgten einem Kiesweg. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit – denn auch wenn es hier einige Strassenlaternen gab, so war es doch nicht so beleuchtet wie auf der Strasse mit all den Restaurants und Werbungen. Ryou dachte angestrengt darüber nach, was er jetzt sagen sollte. Er wusste, er musste anfangen. Mariku war nur wegen ihm hier. Doch er konnte nicht anfangen... sein Mund war ausgetrocknet, seine Lippen spröde und sein Hirn war wie leergefegt. „Na, wie war den Tag?“ Überrascht hob der Weisshaarige den Kopf. Mariku schaute gerade aus, jedoch musste er es gewesen sein, der die Frage gestellt hatte. War ja sonst niemand hier. „Uhm... ganz okay, denke ich. Nichts spezielles eben.“ Der Ägypter grummelte nur, jedoch klang es irgendwie bestätigend. Es gab Ryou den Mut, den er brauchte. Er griff nach Marikus Hand, die er in seiner Hosentasche vergraben hatte und verschränkte ihre Finger miteinander. „Du hast ja ganz kalte Finger!“, stelle der Blonde erstaunt fest und steckte ihre beiden Hände in die Tasche seiner dicken Winterjacke. „Ist wirklich sehr kalt geworden“, entschuldigte sich Ryou, setzte dann aber nach: „und irgendwer hat mich lange warten lassen.“ „Ich kann auch wieder gehen“, knurrte Mariku aggressiv zurück. „So hab ich das nicht gemeint!“, erwiderte Ryou, beinahe panisch. „Weiss ich doch.“ Der Ägypter grinste und lehnte sich zum Kleineren, um ihm einen Kuss auf die Schläfe zu drücken. „Wie soll das mit uns weitergehen?“ rutschte es in diesem Moment dem Weisshaarigen raus. Einen Moment später hätte er nicht mehr den Mut gehabt, die Frage zu stellen. Mariku wurde wieder ernst, beschleunigte seine Schritte, hielt jedoch die Hand Ryous fest. Das gab ihm den Mut, den er brauchte. Denn auch wenn der Ägypter nichts sagte, so war er doch auch nicht von ihm zurückgewiesen worden. Er führte aus: „Weisst du, Mariku... ich... ich mag dich wirklich sehr sehr gerne. Und ich will dich nicht einschränken oder so... aber es verletzt mich, wenn du mit anderen Männern schläfst.“ „Bei Frauen würd's dich nicht stören?“ Der Ton klang aggressiv, aber auch defensiv. Ryou wusste er konnte weiterreden. „So meinte ich das nicht und das weisst du auch. Ich... für mich ist Sex einfach was besonderes. Und ehrlich, ich liebe... Sex mit dir.“ „Ich auch, Sweety...“, hauchte Mariku verführerisch. „Also wie soll es weitergehen?“ „Damit, dass ich deinen Arsch nur ficken darf, wenn ich alle anderen in Ruhe lasse?“ „Vulgär ausgedrückt: ja.“ Der Blonde seufzte: „Hör zu, Ryou: das geht einfach nicht. Ich würde das vielleicht ein, zwei Wochen durchhalten. Und egal wie geil der Sex ist, den wir beide haben, es reicht mir nicht. Und wenn du es mir verbietest, werde ich es erst recht tun.“ Es tat weh. Es tat wirklich weh. Aber besonders mit dem letzten Satz hatte der Weisshaarige gerechnet. Er kannte Mariku inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er ein Autoritätsproblem hatte. „Also gibt es keine Zukunft für uns?“ „Ich habe absolut nichts dagegen, weiterhin mit dir zu vögeln. Du hast ein Problem, nicht ich.“ Auf eine verquere Art und Weise machte das sogar Sinn. „Ich will so nicht weitermachen. Ich bin eifersüchtig auf die anderen Männer.“ „Eifersüchtig sind nur die ohne Selbstbewusstsein.“ „Also würde es dir überhaupt nichts ausmachen, wenn ich mit anderen Kerlen ins Bett steigen würde?“ Daraufhin schwieg Mariku. Sie gingen noch immer Hand in Hand durch den Park, sahen sich jedoch nicht an. Ryou betrachtete die Sterne. Mariku beobachtete die kahlen Äste, deren Zweige sich im Wind leicht bewegten. „Ich weiss es nicht. Klar bin ich liebend gerne dein Hauptfick, aber ich würde mich auch auf jedes Mal freuen, wenn ich das nicht wäre.“ Diese Antwort überraschte den Kleineren. Er hatte erwartet, dass Mariku ein typischer Macho wäre, der sofort die Wände hochgehen würde, sollte Ryou sich auf einen anderen einlassen. „Wirklich?“, frage er sicherheitshalber doch nach. „Wirklich. Vermute ich. Oder hattest du schon einen anderen?“ „Nein“, dementiere er schnell. Mariku drückte kurz seine Hand, Ryou erwiderte. Sie wandten ihre Gesichter einander zu und sahen sich einige Sekunden in die Augen, bis der Weisshaarige sich vorbeugte und sein Gegenüber küsste. Die Wärme tat gut. Als sie sich wieder lösten, fragte Mariku: „Warum schläfst du denn eigentlich nicht mit anderen? Bist du nicht neugierig?“ Wieder war es an Ryou, überrascht zu sein. So hatte er das noch nie betrachtet. Nach einigen Momenten Bedenkzeit flüsterte er dann: „Schon, aber Sex ohne Gefühle... das geht irgendwie nicht für mich.“ „Du hattest noch nie das Bedürfnis mit jemandem in die Kiste zu hüpfen, den du nie geliebt hast?“ „Naja, das Bedürfnis vielleicht schon, aber das ist ja nicht dasselbe, wie es dann tatsächlich zu tun.“ „Für mich schon“, hielt der Ägypter dagegen. „Also jetzt rein theoretisch: wenn ich dich die nächste 20 Jahre ficken wollte... dann würde dir das reichen?“ Mit seiner freien Hand boxte Ryou Mariku in den Oberarm, was diesem natürlich nicht weh tat, schon gar nicht durch die gefütterte Jacke. „Woher soll ich das denn wissen? Ich weiss ja nicht mal, wie es mit uns weitergeht! Wie kannst du da von 20 Jahren reden?“ „Womit wir wieder am Anfang wären.“ Beide seufzten zeitgleich und mussten daraufhin lachen. „Also, dann stelle ich hiermit eines klar“, begann der Blonde, „ ich will dich. Aber ich will auch andere. Im Moment habe ich mich auf dich eingelassen und habe nichts dagegen, das auch in Zukunft zu tun. Wenn du das auch willst, bleibt dir die Wahl: Willst du von den anderen Männern wissen oder nicht?“ Ryou nagte an seiner Lippe. Was sollte er da sagen? Er wollte nicht wissen, wen Mariku noch so mit sich ins Bett nahm. Aber genauso wollte er, dass sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Schwierige Entscheidung. Aber er sah ein, dass er Mariku Sex mit anderen erlauben musste, weil dieser ihn ansonsten verlassen oder betrügen würde. Er hatte die Wahl. Er erinnerte sich daran, was er Mariku gesagt hatte, an dem Abend in der Schwulenbar. Er hatte ihn schon mal darauf angesprochen und Mariku hatte damals positiv reagiert. Also fasste Ryou sich ans Herz und fragte: „Und wenn ich einfach dabei wäre?“ „Wie, wo dabei?“ Mariku runzelte die Stirn. „Mit den anderen Männern. Also so... Dreier eben... könntest du damit leben?“ Die Antwort kam schneller als erwartet: „Klar kann ich das. Ich hab eh Bock, das mal mit dir auszuprobieren.“ „Aber kannst du dann auf Alleingänge verzichten?“ „Ich kann dir nicht versprechen, dass es nicht passieren wird. Aber ich kann mein Bestes geben und es versuchen.“ „Ernsthaft?“ „Nein, ich erzähle dir hier irgendeinen Mist, damit ich dich gleich flachlegen kann.“ Mariku streckte ihm die Zunge raus und leckte ihm dann über die Wange. „Wäähhh!“ Angewidert wischte sich der Kleinere den Speichel von der Wange. „Du bist so ein Idiot!“ „Ah, und das merkst du erst jetzt?“ „Nein, es ist mir nur wieder aufgefallen“, gab Ryou scherzhaft zurück, dann wurde er wieder ernst. „Ehrlich, ich weiss nicht, ob das so klappen würde. Aber ich denke, ich kann damit leben, wenn ich dabei bin.“ „Also versuchen wir es einfach mal.“ Es war eine nüchterne Feststellung. Der Weisshaarige nickte. Das war ein Kompromiss, mit dem er leben konnte. Er hatte die Wahl getroffen. „Du bist dir aber schon bewusst, dass ich vielleicht auch mal mit mehr als einem anderen Mann gleichzeitig schlafen will?“ Nein, dessen war er sich nicht bewusst gewesen... war Mariku so unersättlich? Oder experimentierfreudig? Blöde Frage, natürlich war er das. „Hm, wir müssen damit ja nicht gleich anfangen.“ Der Ägypter pflichtete ihm bei. „Langsam wird's aber wirklich scheisskalt... komm, lass uns zurückgehen.“ Und auch wenn sich Ryou geschworen hatte, nie wieder mit Mariku in ein Auto zu steigen, so tat er es doch. Sie fuhren zum Ägypter nach Hause, doch angekommen in der Garage blieben sie vorerst im Auto und sowohl Mariku als auch Ryou hatten das Gefühl, dass der Sex irgendwie leidenschaftlicher, roher und ehrlicher war als sonst. Später duschten sie gemeinsam und Mariku stellte einmal mehr unter Beweis, wie unersättlich er war. Während Ryou seine Wange an die kalte Duschwand gepresst hatte und das heisse Wasser seinen erregten Körper vor Kälte schützte, fühlte er tief in sich drin die Überzeugung wachsen, dass er stark genug war, um den Vorbehalten seiner Eltern gegenüberzutreten. Seine schulischen Leistungen waren noch immer genauso gut wie früher, bevor er Mariku kennengelernt hatte. Das musste als Anfang für die Akzeptanz für seine Beziehung einfach reichen. Er blickte nach hinten, zu Mariku, der heiser stöhnte und das bestärkte ihn nur noch in seiner Überzeugung. Als sie beide fertig waren, machten sie sich noch einmal sauber und hüllten sich dann in grosse, flauschige Badetücher. Der Spiegel im Badezimmer war überzogen mit Kondenswasser und auch sonst war es sehr neblig im Raum. Sie mussten wohl wirklich lange geduscht haben. Schnell zogen sie wieder ihre Kleidung an, in der restlichen Wohnung war es nämlich nicht so warm, da Marikus Mutter Heizkosten sparen wollte und nur so wenig wie nötig heizte. Gemeinsam gingen sie in die Küche, wo der Blonde ein Bier aus dem Kühlschrank nahm und auch Ryou eines anbot, doch der hatte sich schon am Wasserkocher zu schaffen gemacht und suchte sich jetzt eine Teesorte aus. Während er wartete, dass das Wasser kochte, stand er ans Fenster und blickte hinaus in die von Lichtern erhellte Nacht. Mariku trat hinter ihn, küsste seinen Nacken und umarmte ihn dann. Laut schrie Ryou auf als er merkte, wie ihm das kalte Bier gegen die Seite gedrückt wurde. Er gab dem Ägypter eine Kopfnuss, der nur laut lachte. Jedoch stellte er die Dose auf die Ablage und kam dann zurück, küsste sanft die Schläfe seines Kleinen und blieb leicht an ihn gelehnt stehen. Ryou war bezaubert von diesem Moment, er war richtig, richtig glücklich und zufrieden. „Ich liebe dich“ Doch diesmal antwortete Mariku nicht. Er, der immer das letzte Wort haben wollte, schwieg. Still zog er Ryou an sich, küsste ihn zärtlich verlangend und als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit lösten und ihre Augen wieder öffneten, tanzten glitzernd die ersten Schneeflocken vom Himmel und hüllten die Stadt langsam in einen weissen Schleier. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)