Heartbeat von Autumn (Kyman, Stenny, Creek, Tyde u. a. (KAPITEL 12 IST DA!!!)) ================================================================================ Kapitel 8: The Dark Angel: 1. Akt - Nevermore --------------------------------------------- Hallo, liebe Leser! Endlich habe ich das neue Kapitel fertig bekommen!^^ Allerdings kann es sein, dass das nächste noch länger auf sich warten lassen wird. Ich habe nämlich ab August ein Vollzeitpraktikum (nach einem halben Jahr Arbeitssuche, Hurra!!) und so sehr ich mich darüber freue, etwas für meine berufliche Zukunft tun zu können, ändert das nichts daran, dass ich jetzt fünf Tage die Woche jeweils acht Stunden lang beschäftigt sein werde, außerdem muss ich pendeln. Das heißt, ich kann nicht sagen, wann das nächste Kapitel erscheinen wird. Vielleicht schaffe ich es in meinem Drei-Monats-Schritt, vielleicht auch nicht. Das nur zur Info, damit niemand glaubt, ich hätte diese FF aufgegeben. Eine FF aufgeben ist etwas, das ich nur extrem ungern tue und ich möchte es nach Möglichkeit vermeiden. So, genug der Vorrede, jetzt wünsche ich Euch viel Spaß beim Lesen!^^ Kapitel 8: The Dark Angel: 1. Akt - Nevermore „Nicht da? Was soll das heißen, Cartman ist nicht da!?" Es war der Tag des 20. Oktobers, 9 Uhr 30 Ortszeit, offizieller Beginn des normalen Senior-Englischkurses an der Park High, und Kenny McCormick ärgerte sich soeben über seinen besten Freund, der offensichtlich schwänzte. Stan, der neben ihm saß, lächelte nachsichtig. „Das heißt, dass er nicht da ist. Und nach dem, was gestern passiert ist, kann ich‘s ihm nicht mal verdenken. Vielleicht braucht er Abstand zu Kyle." „Stimmt, das kann sein. Ich hab‘ ihn leider auch nich‘ mehr erwischt, sonst hätte ich noch mit ihm gesprochen. Apropos Kyle... wird er...?" „Sich bei dir entschuldigen? Ja. Es tut ihm leid, was er gesagt hat, ehrlich. Und ich bin sicher, dass ihm auch das mit Cartman leid tut, er ist nur zu stur, um es zuzugeben." „Der Käpt‘n ist nicht da?" Stan und Kenny wandten sich der Stimme zu, die aus der Reihe hinter ihnen gekommen war und Terrance Mephisto gehörte, dem Sohn des extrem exzentrischen Dr. Mephisto (ja, in South Park gingen verrückte Wissenschaftler als nur „extrem exzentrisch" durch). Er war früher ein berüchtigter Schläger gewesen, ehe er dem Footballteam beitrat und unter Coach Lanigans eiserne Faust geriet, die einen halbwegs anständigen Kerl aus ihm heraus prügelte (bildlich gesprochen). Gerüchten zufolge war er außerdem heimlich in Cartman verknallt, was seine einstmals besten Freunde, Billie und Fosse, dazu gebracht hatte, ihn fallenzulassen und sich Trent Boyett anzuschließen. Sie zählten auch zu Butters‘ größten Gegnern, da sie ihm vorwarfen, Terrance gegen seinen Willen „umgepolt" zu haben (eine Erklärung, die Terrance später ermunterte, die beiden Schwachköpfe in die nächstbeste Kloschüssel zu tauchen). Er spielte auf der Position des Tight End (gehört wie der Quarterback zur Offense und darf Pässe entgegennehmen. Ist ansonsten ein Allroundspieler, der je nach Situation entweder blockt oder den Ball fängt), war groß und erstaunlich flink. Man konnte ihn kaum als besonders hübsch bezeichnen, aber nachdem er sich von seinem Vater seine zusammengewachsenen Augenbrauen permanent hatte trennen lassen und auch sein Verhalten akzeptabel geworden war, hatte sich das allmächtig-finstere Gremium der Beliebtheitsskala (die Mädchen der Schülerzeitung) dazu durchgerungen, ihm den Wert 4 zu verpassen, „nettes Aussehen" (wofür Terrance dankbar war). Und man musste zugeben, dass sein schulterlanges dunkelbraunes Haar, das er sorgfältig pflegte, wirklich gut an ihm aussah. Im Moment wirkte der Besitzer dieser schönen Mähne allerdings besorgt. „Was ist mit ihm? Ist er krank?" „Nein, er schwänzt, weil er angepisst is‘. Er hatte ‘nen Zusammenstoß mit Kyle - und Kyle einen mit mir", erklärte Kenny und zog eine Grimasse. „Schon wieder? Kann ihn dieser Arsch nicht einfach in Frieden lassen?" „Hey, sprich nicht so über meinen besten Freund!" „Krieg dich ein, Marsh. Aus meiner Sicht ist dein ‚bester Freund‘ nun mal ein Arsch. Wenn er so schlau ist, wie er tut, warum springt er dann immer wieder auf den Käpt‘n an? Heißt es nicht, der Klügere gibt nach? Ja, der Käpt‘n hackt auf ihm rum, aber Broflovski macht genau das gleiche. Er ist kein wehrloses Opfer, klar? Obwohl er sich natürlich sonst immer wie ein verdammter Mr. Goody Two-Shoes aufführt, der kein Wässerchen trüben kann. Der ist auch nicht über jeden Verdacht erhaben, der scheinheilige Mistkerl. Aber zurück zum Käpt‘n: Ihr seid sicher, dass alles mit ihm in Ordnung ist?" Genau in diesem Moment betraten Billie Allen und Fosse McDonald das Klassenzimmer. Sie waren beide weder so groß noch so breit wie Terrance, machten dies jedoch mit ihrer Widerwärtigkeit mehr als wett. Sie postierten sich links und rechts von ihrem ehemaligen Anführer, als wollten sie ihn in die Zange nehmen und grinsten ihn höhnisch an. „Oh, hörst du, Fosse? Die Schwuchtel macht sich Sorgen um ihren Lover!" „Ist ja niedlich. Ich muss gleich kotzen." „Ich muss auch gleich kotzen", mischte Stan sich ein. „Ihr seid nämlich meine Lieblingsplagen: Die Blattern und die Pestilenz." „Halt die Schnauze, Marsh. Wir haben mit Mephisto gesprochen. Oder fühlst du dich verpflichtet, der Schwuchtel zu helfen, weil du selbst eine bist?" „Nein. Ich fühle mich verpflichtet, euch in den Arsch zu treten, weil ihr euch wie Volltrottel benehmt. Lasst ihn in Ruhe." „Und was willst du tun, wenn wir ihn nicht in Ruhe lassen, du Weltverbesserer?", fragte Billie und baute sich drohend vor Stan auf, der sich damit begnügte, gelangweilt eine Augenbraue nach oben zu ziehen. „Dann melde ich euch Mr. Elliot, unserem reizenden, freundlichen Englischlehrer, der es bedauert, dass man Schulen ohne Kerker für die Unartigen baut. Er wird entzückt sein, euch einen Monat Nachsitzen aufbrummen zu können." „Wenn du das wagst", knurrte Fosse und schob sich neben seinen Kumpel, „dann wirst du es bereuen, Marsh. Wir reißen dir den Arsch auf." „Wow. Wie einfallsreich. Da wäre ich nie draufgekommen. Die brutalen Schläger wollen mir den Arsch aufreißen. Zu Hilfe." Stans kühle Stimme und seine ungerührte Miene brachten seine Gegner sichtlich aus dem Konzept. Es wollte ihnen nicht in den Kopf, dass er sie nicht ernst nahm. Nun meldete sich auch Kenny zu Wort. „Niemand reißt einem meiner Freunde den Arsch auf, kapiert? Ich bin im Ghetto dieser Stadt aufgewachsen, ich hab‘ mehr Prügeleien hinter mir als ihr beide zusammen. Und wenn mir jemand wirklich auf den Sack geht, kämpfe ich nicht fair. Außerdem haben wir Kyle auf unserer Seite. Er beherrscht Judo. Wir sind nicht die Art von Typen, mit denen ihr es euch verscherzen solltet. Sonst noch was?" „Du riskierst ‘ne ganz schön große Klappe für einen armen Versager! Woll‘n doch mal sehen, wie tough du tatsächlich bist!" Billie holte aus, doch Terrance ging dazwischen und fing die heran schnellende Faust ab. „Mr. Elliot kann jede Sekunde hier sein. Ich schlage vor, ihr verzieht euch auf eure Plätze. Und falls ihr weiterstänkern wollt - ich kann euch gern nochmal ins Klo stopfen." Billie und Fosse wechselten einen Blick. „Fick dich, Alter." Damit verkrümelten sie sich an ihre Tische, gerade noch rechtzeitig, bevor Mr. Elliot zur Tür hereinstürmte. Wie die meisten Lehrkräfte an der Park High war auch er ein Unikat: Gekleidet in eine Hose, die aus bunten Flicken bestand, einen giftgrünen Poncho und Korksandalen zu blau-rot gestreiften Socken, erinnerte er mehr an einen verirrten Clown als an einen Englischlehrer. Er war in den Fünfzigern und trug eine Hornbrille auf der Nase, durch die seine Augen eulenartig vergrößert wurden. Am Anfang hatten seine Schüler noch geglaubt, leicht mit ihm fertig zu werden, doch das stellte sich bald als Trugschluss heraus. Mr. Elliot war sehr streng, legte extrem Wert auf Disziplin und scheute sich nicht, seine Schüler mit zwei gefüllten Wassereimern in jeder Hand in den Flur zu schicken, wenn sie den Unterricht störten. Sie durften dann Gewichtheben damit spielen - und Mr. Elliot überprüfte in unregelmäßigen Abständen, ob der Delinquent seine beiden Eimer auch schön oben hielt. Sein Spitzname lautete „The Iron Teacher". „Guten Morgen, Ladies und Gentlemen. Ziehen Sie nicht so ein miesepetriges Gesicht, Mr. McDonald, Sie kriegen höchstens Falten. Mr. Tucker, senken Sie Ihren Stinkefinger und stellen Sie sich in eine der hinteren Ecken des Zimmers, Gesicht zur Wand. Nein, keine Diskussion. Stinkefinger bedeutet bei mir, für den Rest der Stunde in der Ecke zu stehen, Mr. Tucker, und Sie wissen das. Falls Sie sich weigern, kann ich Ihnen auch eine Woche Nachsitzen anbieten, Ihre Entscheidung. Mr. Donovan, wenn dieser Taco, von dem Sie gerade abbeißen wollten, nicht sofort wieder in Ihrer Lunchbox verschwindet, wird er im Müll landen. In meinem Unterricht wird nicht gegessen und nur dann getrunken, wenn Sie dehydriert sind. Und Sie, Mr. Thorn, nehmen bitte zur Kenntnis, dass es Ihnen nicht gestattet ist, mit einem Feuerball in meine Richtung zu zielen. Ja, Sie sind der Sohn Satans, aber das hier ist meine Klasse und was ich sage, ist Gesetz. Ich bin Ihre persönliche Hölle. Ihr Vater ist harmlos im Vergleich zu mir. Und was Sie betrifft, Mr. Tweak, hören Sie auf, zu hyperventilieren und entwickeln Sie endlich ein Rückgrat. Wir fangen an - mit der Überprüfung der Hausaufgaben." „Hausaufgaben? Was für Hausaufgaben!?" „Die, die Ihnen offenkundig entgangen sind, Mr. McCormick. Erstens: Das Auswendiglernen von Edgar Allan Poes berühmtem Gedicht ‚Der Rabe‘. Zweitens: Schriftliche Vorbereitung von Hintergrundinformationen. Drittens: Überlegungen zur Interpretation, ebenfalls schriftlich auf wenigstens einer halben Seite, formuliert in ganzen Sätzen, nicht in Stichpunkten. Hm...aus Ihren entgleisenden Gesichtszügen schließe ich, dass Sie nichts in dieser Art getan haben. Sie werden heute eine Stunde nachsitzen, Mr. McCormick. Außerdem dürfen Sie sich jetzt in die andere Ecke stellen, um über Ihre Vergesslichkeit nachzusinnen. Und was Sie beide angeht, Mr. Allen und Mr. McDonald, so bin ich mir durchaus im Klaren darüber, dass Sie nicht einmal wissen, wer Edgar Allan Poe überhaupt war. Sie finden die Eimer wie üblich im Schrank ganz hinten. Bitte auffüllen, mit in den Flur nehmen und gleichmäßig auf und ab bewegen, das stärkt die Armmuskulatur. Falls Sie sich mit dem lächerlichen Gedanken tragen, meine Anordnungen zu missachten, werde ich Ihnen Nachsitzen verpassen, bis Sie dreißig sind. Sollten Sie zu schwänzen versuchen, werden Sie von der Schule geworfen. Sollte Ihnen auch das nichts ausmachen, werde ich jeden Tag für eine Stunde zu Ihnen nach Hause kommen und Sie dort terrorisieren. Was ist, Sie sind ja noch da?" Billie und Fosse sausten davon, um die Eimer mit Wasser zu füllen, Kenny trottete seufzend in seine Ecke (er stand nicht das erste Mal da) und Mr. Elliots gnadenloser Blick der Vernichtung scannte die Klasse nach Opfern, die er ausfragen konnte. „Mr. Marsh, wie wäre es denn mit Ihnen? Seien Sie so freundlich und rezitieren Sie für uns die erste Strophe." Stan lächelte. Mr. Elliot konnte ja nicht wissen, dass er ein Fan von Poe war. Er hatte den Autor damals während seiner ersten Goth-Phase entdeckt und ihn anfangs nur gelesen, um dazuzugehören, aber bald schon hatte er Gefallen gefunden an den melancholischen Gedichten und den spannenden Kurzgeschichten. Ohne Zögern deklamierte er: „Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary, Over many a quaint and curious volume of forgotten lore — While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping, As of some one gently rapping, rapping at my chamber door. ‚‘Tis some visiter,‘ I muttered, ‘tapping at my chamber door — Only this and nothing more‘." Der Lehrer starrte ihn überrascht an. „Das war... das war gut, Mr. Marsh. Mal sehen, wie lange das anhält, wenn ich Sie die Strophen durcheinander abfrage. Versuchen Sie es mal mit, sagen wir, den Strophen Zehn und Siebzehn." „Aber gern", entgegnete Stan und fuhr fort: „But the Raven, sitting lonely on the placid bust, spoke only That one word, as if his soul in that one word he did outpour. Nothing farther then he uttered — not a feather then he fluttered — Till I scarcely more than muttered ‘Other friends have flown before — On the morrow he will leave me, as my Hopes have flown before.‘ Then the bird said ‚Nevermore.‘ ‘Be that word our sign of parting, bird or fiend!‘ I shrieked, upstarting — ‘Get thee back into the tempest and the Night's Plutonian shore! Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken! Leave my loneliness unbroken! — quit the bust above my door! Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door!‘ Quoth the Raven ‚Nevermore‘." Kenny gruselte sich ein bisschen. Er verstand herzlich wenig von Lyrik und Mr. Elliot, der von ihnen verlangte, Gedichte mit achtzehn Strophen auswendig zu lernen, war garantiert völlig übergeschnappt, aber Stans Vortrag war großartig. Seine tiefe, samtweiche Stimme passte zu der düster-traurigen Atmosphäre der Verse und er verstand es, sie richtig darzubieten. Kenny war fast erleichtert, dass es heller Tag war und die entsprechende Kulisse mit Nacht und Sturm fehlte, sonst hätte er sich an Stanley gekuschelt und... Halt mal. Er hätte sich an Stanley gekuschelt? »Das sind wohl Nachwirkungen von der Party... Ich meine, ich müsste lügen, wenn ich jetzt sagte, dass mir der Kuss am Arsch vorbeigeht. Tut er nämlich nicht... dabei war‘s noch nich‘ mal ‘n richtiger Kuss, nur ‘ne Berührung mit den Lippen. Stans Lippen...« Wieso dachte er immer noch daran? Es war angenehm gewesen, beinahe schön, doch das erklärte nicht den nachhaltigen Eindruck, den es auf ihn gemacht hatte. Küssen war für ihn ein nettes, aber letztendlich langweiliges Vorspiel ohne Bedeutung, das vom eigentlichen Sex nur ablenkte. Er pflegte weder seine One Night Stands noch seine One Week Girlfriends/Boyfriends zu küssen und er verstand das Theater nicht, das die meisten Teenager um ihren ersten Kuss machten, vor allem einen, der erstmal ohne Zunge auskam. War das nicht öde? Andererseits, warum beschäftigte ihn dann der Kuss, den er Stan gegeben hatte? Kenny grübelte den Rest der Stunde und fand keine Antwort. Um 11 Uhr 15 begann die Mittagspause. Kyle und Stan, die ihren Französischkurs und einen Vokabeltest hinter sich ließen, entdeckten ihren blonden Freund an einem Tisch an der Fensterfront und steuerten auf ihn zu. Er hatte den Kopf über sein Geschichtsbuch gebeugt und seufzte aus Gemütstiefen. Als Kyle sich räusperte, sah Kenny ihn erwartungsvoll an. „Es tut mir schrecklich leid, Ken. All diese Sachen, die ich gestern zu dir gesagt habe, hätte ich nicht sagen dürfen. Ich war gemein und unfair. Bitte verzeih mir." „Hey, nicht nötig, gleich die Schmalzkanone rauszuholen. Ein ‚Sorry, Alter‘ reicht dicke, solange du‘s ehrlich meinst. Und jetzt setz dich und zieh nicht so ein zerknirschtes Gesicht, da fang‘ ich ja an, mich zu schämen, dass ich dir eine reingehauen habe. Hilf mir lieber beim Unabhängigkeitskrieg, wir kriegen garantiert wieder einen Aufsatz auf‘s Auge gedrückt!" „Der Unabhängigkeitskrieg?", wunderte sich Stan. „Wart ihr nicht schon beim Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten?" „Ja, waren wir. ‚It‘ springt zwischen den Epochen hin und her, wie er lustig ist und hinterher ist er erstaunt, dass wir keinen geordneten Überblick in unserm Gehirn haben." „Verstehe. Apropos Geschichte - du hast mir nie erzählt, wie der Aufsatz ausgefallen ist, den du mit meiner Hilfe geschrieben hast. Vier Seiten waren es." Kenny fabrizierte ein schiefes Lächeln. „Ich hab‘ ein C gekriegt, die beste Note bisher in diesem Fach. ‚It‘ hat meine Rechtsschreibung gelobt und meine Argumente ‚positiv gewürdigt‘, wie in der Bemerkung stand, aber er hatte das Gefühl, nicht alle Formulierungen wären ‚aus meiner Feder geflossen‘. Was ja auch stimmt, einige Sachen hast du mir diktiert, Stan, und ich kann mich nun mal nich‘ so vornehm ausdrücken, du stammst aus ‘ner höheren Bildungsschicht und so, deine Texte klingen dementsprechend und meine... na ja, legen wir ‘nen großen Stein drüber und gut is‘. Wen interessiert schon Amerikanische Geschichte? Warum ist das ein eigenes Fach? Ich meine, ernsthaft, die USA hat etwa zweihundert Jahre Geschichte, ‘n paar Jährchen hin oder her. Verglichen mit anderen Ländern, die Tausende von Jahren auf dem Buckel haben, sind wir doch ‘n Zwerg." Kyle, erleichtert und dankbar, dass Kenny seine Entschuldigung angenommen hatte, stürzte sich sofort in eine historische Diskussion, während Stan den Kellner herbeiwinkte (ja, im Senior-Bereich der Cafeteria gab es zwei Kellner) und bestellte. Es wurde ein vergnügtes Mittagessen und Kyle war froh, dass Cartman schwänzte. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Cartman hatte Mut bewiesen, als er vor sämtlichen Gästen seine Gefühle offenbarte und obwohl Kyle sich dagegen wehrte, nötigte ihm das einen gewissen Respekt ab. Er verspeiste gerade seine Nudeln in Knoblauchsoße, als die Stimmung umschlug. „Du hast mich angerempelt." Bradley zuckte zusammen. Er hatte sein Essen nachwürzen wollen und hatte sich einen Salzstreuer vom Nebentisch stibitzt, weil der an seinem Tisch fast leer war. Als er sich umgedreht hatte, war er aus Versehen an einen großen Jungen gestoßen, der soeben an ihm vorbeiging. Ein harmloses Missgeschick, aber der Tonfall des Angerempelten verriet, dass es für ihn mehr war als das. Bisher hatte sich Bradley gut mit seinen Mitschülern verstanden, doch dieser da wirkte nicht wie einer, mit dem man reden konnte. Er war genauso groß und muskulös wie Cartman, mit einer blonden Geltolle auf dem Kopf und seine Arme waren bedeckt mit unheimlichen Tätowierungen wie Totenschädeln oder blutbefleckten Waffen. „Entschuldigung", wisperte Bradley erschrocken. „Entschuldigung!? Glaubst du etwa, das reich!? Du bist mir in die Quere gekommen, Arschloch, und ich hasse Leute, die mir in die Quere kommen!" „Und ich hasse Leute, die meine Freunde blöd von der Seite anmachen, Boyett!" Bradley atmete auf. Butters hatte sich zwischen ihn und den Schlägertypen gestellt und funkelte ihn zornig an. Leider war der andere nicht besonders beeindruckt. „Na sieh mal an, der schwule König unserer Schule, Mr. Fancy Pants persönlich! Aus dem Weg, Stotch, ich hab‘ deinem ‚Freund‘ die Fresse zu polieren!" „Weil er dich unabsichtlich angerempelt hat? Ich wusste gar nicht, dass du so empfindlich bist! Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan?" „...Sprich nicht in diesem mitleidigen Ton mit mir, du armseliges Würstchen! Er ist ‘n Neuer, oder? Er hat noch kein Willkommensgeschenk von mir gekriegt, eine schöne, schmerzhafte Abreibung. Man soll Verlierer wie ihn nicht warten lassen." „Ausgerechnet du hast den Nerv, andere als Verlierer zu bezeichnen? Was ist denn mit dir? Du bist zweimal durch die Abschlussprüfung gefallen und solltest mit zwanzig nicht mehr auf der High School sein! Deine Noten sind mies, deine Manieren auch und deine größten geistigen Höhenflüge bestehen darin, das Alphabet zu rülpsen und Leute zu verprügeln!" „Warum sollte ich mich anstrengen? Meine Eltern haben Geld genug, die können mich in jedes College einkaufen, wenn ich es wollte. Ich bin ein freier Mensch, Stotch, ich kann tun und lassen, was mir passt. Ein Langweiler wie du kapiert das nich‘, das is‘ mir klar!" „Deine Freiheit endet da, wo sie die Freiheit eines anderen beeinträchtigt. Oh ja, ich weiß, deine Eltern haben Geld und halten dich für ach so wunderbar und könnten dir für den Rest deines Lebens Unterhalt zahlen, ohne dass du je einen Finger krumm zu machen bräuchtest, aber das ändert nichts daran, dass du ein verwahrloster Mensch bist!" „Ich bin reich, du Stück Scheiße! Wenn du jemanden verwahrlost nennen willst, dann nimm McCormick, der is‘ das beste Beispiel!" „Kenny ist hundert von deiner Sorte wert, Boyett. Du bist emotional verwahrlost. Du liebst nichts außer dir selbst und verlangst doch ständig nach Aufmerksamkeit, wie ein kleines Kind, das mit dem Fuß stampft, wenn es seinen Willen nicht bekommt. Das Problem ist nur: Du bist inzwischen zu alt, um dich noch wie ein Kleinkind aufführen zu dürfen. Du tust mir leid, aber ich werde nicht zulassen, dass du deine Überlegenheitskomplexe an Bradley abreagierst!" Trents Gesicht lief vor Wut dunkelrot an. „Ich... tue dir leid!? Ich tue dir leid!?! ICH TUE DIR LEID!?! Ich brauche dein Mitleid nicht, du dreckige Schwuchtel!!" Seine mächtige Faust donnerte gegen Butters‘ Kinn und der Tänzer stürzte zu Boden. Bradley eilte zu ihm und half ihm wieder auf die Beine. „Butters, du blutest! Lass uns zur Krankenschwester gehen, bitte!" Stan, Kyle und Kenny schoben sich in den Vordergrund des Geschehens. Trent begrüßte sie mit einer verächtlichen Grimasse. „Was hast du eigentlich im Hirn, Boyett!? Ein Vakuum?! Warum man dich nicht längst von der Schule geworfen hat, ist mir ein Rätsel!" „Verreck doch, Broflovski. Kleine regelkonforme Streber wie du sind widerlich. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass ihr und Mr. Fancy Pants so ziemlich die einzigen seid, die dem Neuling helfen wollen? Alle anderen glotzen nur dümmlich oder zücken ihre Handys, um das Ereignis ja nicht zu verpassen. Wisst ihr Schwachköpfe denn nicht, dass Zivilcourage uncool ist? Dass man riskiert, selbst zum Außenseiter zu werden, wenn man für Außenseiter einsteht?" „Warum hältst du nicht einfach dein verdammtes Maul?", fragte Butters und wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel. Bradley umfasste immer noch seine Hand. „Wir sollten wirklich zur Krankenstation gehen, Butters. Komm mit, bitte. Wir können ja dem Direktor Bescheid sagen... nur lass uns weggehen!" Der blonde Schönling musterte seinen Freund. Er hatte Angst, weit mehr, als bei vier Beschützern nötig war. Ob ihn das hier an ein schlimmes Erlebnis in seiner alten High School erinnerte? Er wirkte so... so furchtsam und hilflos. Butters musste an jene Zeit zurückdenken, da er selbst noch der Prügelknabe seiner Mitschüler gewesen war und hatte plötzlich das Bedürfnis, Bradley in seine Arme zu schließen und nie wieder loszulassen. „Ich soll... mein verdammtes Maul halten? Was für eine Sprache, Stotch! Ich bin sicher, dein Daddy wäre schockiert, wenn er dich hören könnte! Aber der ist ja sowieso schockiert, egal, was du tust! In seinen Augen bist du ‘ne Schande für die Familie - wie jede Schwuchtel!" In der nächsten Sekunde wirbelte Butters einmal um die eigene Achse. Sein Fuß kollidierte seitlich mit Trents Gesicht und die Wucht des Tritts schleuderte ihn nach hinten, direkt in eines der dekorativen Lorbeerbäumchen. Billie und Fosse sprangen hinzu, um ihrem Anführer aufzuhelfen, doch dieser stieß sie verärgert beiseite. Sein Kopf dröhnte. Er spürte seine linke Gesichtshälfte anschwellen und schmeckte Blut in seinem Mund. Sein Blick ruhte auf Butters, der ihn kalt und unbewegt anstarrte, wie eine Statue. „Kumpel, du bist sowas von Badass", sagte Kenny bewundernd. Butters schenkte ihm ein Lächeln, dann wandte er sich an Trent: „Du hast recht, Boyett. Ich bin schwul." Er machte einen Schritt in seine Richtung. „Ich sammle Hello Kitty." Weitere Schritte. „Ich tanze Ballett." Noch ein paar Schritte. „Ich liebe extravagante Kleidung." Jetzt stand er vor ihm, packte ihn am Kragen und zog ihn auf die Füße. Trent fühlte die körperliche Kraft dahinter mit Unbehagen. „Don‘t. Fuck. With. Me." Damit ließ er ihn los und die drei Rowdys suchten das Weite, nicht ohne eine freundliche Schlussbemerkung von Billie: „Dieser Arsch! Eins is‘ sicher: Ich hab‘ noch nie so ‘ne miese kleine Schwuchtel gesehen!" Worauf Butters lässig erwiderte: „Wahrhaftig? Und ich habe noch nie gesehen, dass der Müll sich selbst rausbringt." „Ich erwürge ihn!!" „Is‘ ja gut, Trent, lass uns gehen, sonst hetzt er uns noch seinen Harem auf den Hals...!!" Butters rümpfte die Nase und nahm an seinem Tisch Platz, Bradley hockte sich ihm gegenüber. Eine Weile aßen sie schweigend, bis Bradley schüchtern murmelte: „Danke, Butters. Es war sehr mutig von dir, mir zu helfen." „Mutig? Das war doch nicht mutig, sondern selbstverständlich. Seit wann ist man mutig, wenn man einem Idioten die Meinung sagt?" „Nun ja, seit die meisten es vorziehen, die gaffende Menge zu sein? Weißt du, an meiner alten Schule gab es auch so einen Kerl, der alles und jedem das Leben zur Hölle gemacht hat, der nicht in sein Weltbild passte. Er hat mich beschimpft, meine Sachen ruiniert, mich oft verprügelt... kurz, er hat mich gemobbt auf Teufel komm raus. An manchen Tagen habe ich mich nicht mal in die Schule getraut und hab‘ mich in meinem Zimmer eingeschlossen..." „Hat denn niemand etwas dagegen unternommen!? Die Lehrer, der Direktor, deine Freunde? Deine Eltern?" Bradley schien in sich zusammenzufallen. Er legte das Besteck beiseite und krampfte die Hände ineinander. Er sah Butters nicht an, während er leise seine Geschichte erzählte: „Ich... ich hatte keine Freunde. Jedenfalls keine, die das Wort verdient hätten. Ich meine, ein echter Freund ist für dich da, wenn es dir scheiße geht, oder? Er ist nicht nur vorhanden, wenn du obenauf bist, er kümmert sich auch um dich, wenn du ganz unten bist. Bringt er das nicht fertig, war er niemals wirklich dein Freund. Und in diese Kategorie gehörten die beiden Jungs, mit denen ich meine Zeit verbracht habe. Sie waren die einzigen, die noch mit mir abhängen wollten, nachdem ich mich geoutet hatte." „Aber das spricht doch für sie." „Leider nein. Sie haben sich über meine Homosexualität genauso lustig gemacht wie alle anderen. Vielleicht meinten sie es nicht boshaft, aber warum konnten sie, als meine Freunde, nicht einfach die Klappe halten? Habe ich sie aufgezogen, weil sie hetero sind? Nein, warte, das geht ja gar nicht, hetero ist die Norm und über die Norm kann man sich nicht lustig machen. Ich vergaß." Die Bitterkeit in seiner Stimme war für Butters schmerzlich zu hören. „Sie haben mir auch nie geholfen, wenn mich der Schläger, Jack hieß er, durch die Mangel gedreht hat. Klar, hinterher haben sie mich aufgesammelt, aber sie haben Jack nie aufgehalten, nie einen Lehrer geholt, der es hätte unterbinden können, keinen Versuch gemacht, ihn gemeinsam zu überwältigen... Sie warteten ab. Sie warteten immer nur ab!! Und dann, als es mir zu viel wurde und ich ihnen gesagt habe, was ich von ihrer sogenannten ‚Freundschaft‘ halte... haben sie mich fallengelassen. Wie durfte ich, die arme, bedauernswerte Schwuchtel, es wagen, ihre Freundschaft abzulehnen? Wer war ich denn schon?! Welches Recht hatte ich, irgendetwas von ihnen zu fordern? ‚Du bist ein Verlierer, Stokes, und wirst immer einer bleiben!‘ ‚Wir haben uns mit dir abgegeben und das ist der Dank?‘ Diese falschen, verlogenen, scheinheiligen Arschlöcher!!" Ein Schluchzen schüttelte ihn. „Und die Lehrer? ‚Das gehört alles zum Erwachsenwerden dazu. Das beruhigt sich wieder.‘ ‚Sie sollten sich lieber Sorgen um Ihre Noten machen, Mr. Stokes. Schülerrangeleien sind Ihr kleinstes Problem.‘ ‚Sprechen Sie mit Ihren Eltern, die sind für sowas zuständig.‘ Sie haben alle die Augen geschlossen, sich die Ohren verstopft und den Mund nicht aufgemacht. Nichts Schlechtes sehen, hören oder reden, dann existiert es nicht. Dann existiert es nicht!!" Tränen rannen ihm über das Gesicht und tropften auf seine zitternden Hände. Butters stand auf und lotste Bradley aus der Cafeteria, fort von all den neugierigen Blicken. Er fand eine dunkle Nische unter der Treppe zum ersten Stock, wo sie sich verbergen konnten. „So, hier ist es besser. Was... was war denn mit deinen Eltern? Haben sie nichts getan?" „Was glaubst du wohl!? Meine Eltern haben mich wegen ‚unerfreulicher Tendenzen‘ mit acht Jahren in ein verdammtes Entschwulungscamp gesteckt! ‚Unerfreuliche Tendenzen‘, so hat unser Gemeindepfarrer es genannt! Weil ich mit meinen Stofftieren ‚Vater-Mutter-Kind‘ gespielt habe und nicht ‚Cowboy und Indianer‘! Weil ich keinen ‚starken Wachhund‘ als Haustier wollte, sondern ein ‚wehrloses Kaninchen‘! Weil ich in meiner Freizeit Geige spielen wollte und nicht Baseball!" „...Das ist nicht dein Ernst?" „Doch! Unser Pfarrer war total paranoid und meine Eltern haben ihn hochgehalten als leuchtendes Beispiel für ein erstrebenswertes Leben! Sein Tod war einer der Gründe, warum wir weggezogen sind, meine Eltern konnten den neuen Priester nicht akzeptieren. Er war ihnen zu... liberal, schätze ich. Dabei glaube ich, dass unser alter Pfarrer selbst schwul war." „Wäre nicht das erste Mal der Fall. Oft sind diejenigen, die am lautesten schreien, genau das, was sie verachten, weil sie selbst zu feige sind, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Aber trotzdem, du bist gemobbt worden! Die Gründe sind unerheblich, hat deine Eltern nicht die Tatsache an sich aufgeregt? Waren sie nicht entsetzt, dass ihr Sohn so behandelt wird?" „..." „Du... hast es ihnen nicht gesagt?" „...Ich vertraue meinen Eltern nicht. Sie sind... seltsam. Sie leben wie in einer Art Blase und alles muss schön und perfekt sein. Etwas Unangenehmes oder Unerwünschtes ignorieren sie einfach. Und wenn sie es nicht ignorieren, reagieren sie völlig übertrieben und machen das ganze Wohnviertel närrisch, wie bei der Sache mit dem Entschwulungscamp. Die gesamte Nachbarschaft wusste davon und wurde in ihre Panik mit hinein gezogen. Sie haben sich aufgeführt, als wäre ich ein Aussätziger mit einer tödlichen Krankheit! Und sie haben pausenlos die Bibel zitiert! Du brauchst dich nicht zu wundern, dass ich im Camp ein halbes Wrack war!" „Das die Bibel zitiert." „Ja, das die Bibel zitiert." Bradley lächelte unter Tränen. Butters konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er zog den anderen in eine innige Umarmung und strich ihm tröstend durch das goldbraune Haar. Bradley war verblüfft, schmiegte sich jedoch bald an seinen Freund und lauschte versonnen dem Klopfen seines Herzens. Bei ihm fühlte er sich angenommen und beschützt. Und auch Stan, Kyle und Kenny waren bereit gewesen, für ihn einzustehen. Er musste keine Angst mehr haben. Nach drei weiteren Tagen wurde allmählich klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Cartman schwänzte gelegentlich mal einen Tag, aber kaum mehrere hintereinander. Obwohl er nicht unbedingt gern zur Schule ging, war er doch inzwischen diszipliniert genug, um regelmäßig zu erscheinen. Im Sekretariat hieß es, es läge keine Krankmeldung vor. Kenny und Stan fingen langsam an, sich Sorgen zu machen und auch Kyle konnte eine wachsende Unruhe nicht leugnen. Am meisten störte ihn Cartmans Abwesenheit in Fremdsprachiger Literatur, weil er niemanden mehr hatte, mit dem er kontroverse Debatten führen konnte. Wendy, Gregory und Token, die sich am häufigsten an den Diskussionsrunden beteiligten, waren im Regelfall seiner Ansicht, und so begann er, sich zu langweilen. Cartman war nicht da, also gab es niemanden, mit dem er sich in einen echten Disput verstricken oder den er mit seinen Argumenten beeindrucken konnte. Nicht, dass er Cartman beeindrucken wollte... ... ... Na ja... vielleicht ein bisschen. Auch am Wochenende rührte sich Cartman nicht, er ging nicht ans Telefon, beantwortete keine SMS und als Kenny bei ihm zu Hause klingelte, gab niemand ein Lebenszeichen von sich. Am siebten Tag endlich störte man Kyle und Stan in AP Biologie und Kenny in Astronomie. Mrs. Hill, die stellvertretende Direktorin, holte sie aus dem Unterricht und geleitete sie ins Allerheiligste der Park High, das Büro von Principal Grenville Sinclair. Mr. Sinclair war dreiundfünfzig Jahre alt und ein Mann von imponierender Statur. Er besaß breite Schultern, ein sonnengebräuntes Gesicht mit vielen Lachfältchen, einen erstaunlich üppigen graumelierten Haarschopf und ein markantes Kinn. Er trug gewöhnlich Anzug und Krawatte und hatte ein großes Herz für die Sorgen und Probleme seiner Schülerschaft. Als Kyle, Stan und Kenny sein Büro betraten, entdeckten sie, dass der Direktor nicht allein war: Cartmans Mutter Liane, unordentlich gekleidet, mit wirren Haaren und ohne Make-up, hockte auf einem der Besucherstühle und rang verzweifelt die Hände. „Mrs. Cartman, Erics Freunde sind da." Liane drehte sich um und die Jungen sahen, dass sie geweint hatte. Sie lief auf sie zu und packte Kyle, der ihr am nächsten stand, an den Armen und schüttelte ihn. „Wo ist er?! Wo ist mein Poopsiekins?! Er ist nicht zu Hause!! Hat er euch nichts gesagt?! Was ist mit ihm passiert?! Versteckt ihr ihn vor mir?!" Sie brach erneut in heftiges Schluchzen aus und Mr. Sinclair legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. „Beruhigen Sie sich bitte, Mrs. Cartman. Erzählen Sie den Jungs, was Sie mir erzählt haben." „Also gut... Ich habe mein Baby das letzte Mal gesehen, als er zu Stans Party ging. Ich... ich war... bei der Arbeit, deshalb kam ich selbst erst gegen ein Uhr nach Hause. Ich dachte, er wäre schon im Bett und so bin ich auch schlafen gegangen." „Sie haben nicht überprüft, ob er in seinem Bett ist?" „Mein Sohn ist fast erwachsen, Sir. Ich hielt es nicht für nötig. Ich war außerdem... nun ja, ich war nicht sehr... nüchtern." „Ich verstehe. Und am nächsten Tag?" „Ich habe bis Mittag geschlafen, wie meistens. Normalerweise hinterlässt mir Eric einen Zettel, auf dem steht, was er zum Essen für mich vorbereitet hat... Reste von gestern, Fertiggerichte, manchmal auch etwas, das er am Morgen gekocht und in den Kühlschrank gestellt hat. Ich kann es mir dann warm machen. Auf dem Zettel steht auch, ob er Training hat oder arbeiten muss, damit ich weiß, wo er ist. Er schreibt immer seine Handynummer dazu, weil ich sie ständig vergesse oder verliere... Aber diesmal war kein Zettel da. Es war kein Zettel da!!" Ein Anflug von Panik schlich sich in ihre Stimme. „Ich habe auf ihn gewartet... die ganze Nacht... aber er ist nicht heimgekommen!" „Warum haben Sie nicht sofort die Polizei informiert?" „Die Polizei?", wiederholte Liane in einem Ton, als hätte sie noch nie davon gehört. „Ich weiß nicht, ob sie mir geholfen hätte. Ich habe nämlich eine Akte... wegen kleinerer Vergehen..." „Kleinerer Vergehen?" „...Diebstahl. Drogenbesitz. Kleinigkeiten, wie ich schon sagte. Dieser Herr von der Polizei war nicht sehr nett zu mir, also wollte ich nicht mit ihm reden." „Mrs. Cartman, zu diesem Zeitpunkt war Ihr Sohn seit über 24 Stunden verschwunden. Die Polizei ist verpflichtet, nach Ablauf dieser Frist eine Suche einzuleiten. Das war am Mittwoch Morgen. Heute ist Montag. Sie sind erst heute in mein Büro gekommen. Warum?" Liane blinzelte Mr. Sinclair verständnislos an. „Ich... ich musste..." Sie zögerte, ihr Blick flirrte vom Direktor zu den wie erstarrt lauschenden Jugendlichen und wieder zurück. „Ich musste zuerst... meinen Schock verarbeiten, Sir. Ein wenig Whiskey wirkt dabei Wunder. Und dann hatte ich auch noch ein paar wichtige Kunden, die durfte ich nicht verprellen. Und das Wochenende, Sir! Das Wochenende ist immer so... so... nun ja, stressig. Ich habe Hochbetrieb. Meine Kunden erwarten, dass ich Ihnen all meine Aufmerksamkeit schenke... sie zahlen gut dafür! Da habe ich Eric... da habe ich ihn... wohl einfach... vergessen." „Natürlich", entgegnete Mr. Sinclair mit enormer Anstrengung. Er war selbst Vater und dieser Mangel an Verantwortungsgefühl und elterlicher Fürsorge schockierte ihn über die Maßen. Er kannte Mrs. Cartmans Lebensumstände und bezweifelte keine Sekunde, dass sie ihren Sohn liebte, doch wie viele suchtkranke Menschen reagierte sie mit Flucht und Verdrängung, ihr Mutterinstinkt zugedeckt von einer Masse aus ungesundem, übersteigertem Egoismus. Eric Cartman war seit letztem Montag nicht mehr zu Hause gewesen. Das war eine Katastrophe. „Ich habe Sergeant Yates verständigt, er wird den Fall untersuchen. Hoffentlich." Wie aufs Stichwort klopfte es an der Tür und Sergeant Yates betrat die Szene. Er war im Großen und Ganzen kein übler Kerl und galt als einer der fähigsten Polizisten South Parks, was leider keine besondere Kunst war. Ein Drittel des Departments war zu faul, ein Drittel zu unterbelichtet und das Drittel, das weder faul noch unterbelichtet war, war zu korrupt. Bis auf den Chef des Departments, Sergeant Yates und zwei, drei andere nahm praktisch niemand den Job wirklich ernst. Und Ernst allein war unglücklicherweise noch kein Garant für gute Polizeiarbeit. Yates würde ermitteln, aber wie und mit welchem Erfolg, das stand in den Sternen. Er hatte zwei Kollegen im Schlepptau, die sich um die Zeugenaussagen kümmern sollten und bombardierte Mr. Sinclair mit Fragen. „Wo waren Sie gestern zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht?" „Bitte? Bei mir zu Hause, fragen Sie meine Frau. Aber ist das überhaupt von Interesse?" „Alles ist von Interesse!", schnarrte Sergeant Yates. „Welche schmutzigen Geheimnisse haben Sie? Sind Sie mit der Verdächtigen verwandt, verwitwet, verschwägert? Ist Sie Ihre Geliebte?" „Erlauben Sie mal, was fällt Ihnen...?" „Unterbrechen Sie nicht meine Gedankengänge, ich kombiniere! Du da, Blondschopf! Du siehst heruntergekommen aus! Bist du ein Ghetto-Kid?" „Also... also, hören Sie mal...!" „Schau nicht so empört, ich muss jeder Spur nachgehen! Bist du drogenabhängig? Arbeitest du als Dealer? Oder als Pimp für Prostituierte?" Kenny würdigte ihn keiner Antwort, was Sergeant Yates jedoch nicht aufhalten konnte. Er fragte den Jungen weiter aus, als hätte er einen echten Tatverdächtigen vor sich, bis Kyle, der immer noch Mühe hatte, die Situation zu erfassen, lautstark explodierte. „WAS SOLL DIESER ZIRKUS!?! KÖNNEN SIE NICHT RICHTIG ERMITTELN, SIE MÖCHTEGERN-DETEKTIV!?! CARTMAN WIRD VERMISST UND SIE TREIBEN HIER DUMME SPIELCHEN, SIE AUFGEBLASENER, INKOMPETENTER VOLLTROTTEL!!! ICH KÖNNTE SIE...!!!" „Na, na, na, Bursche, nun reg‘ dich nicht so künstlich auf. Selbstverständlich habe ich einen Verdacht, was mit deinem Freund passiert sein könnte. Es ist sogar ein ziemlich guter Verdacht, auch wenn ich keine richtigen Beweise habe. Ich vermute, dass Eric Cartman von dem ‚Right Hand‘-Killer entführt wurde. Er ist vielleicht sogar schon tot." Bei diesen Worten stieß Liane einen Schrei aus und brach erneut in Tränen aus. Mr. Sinclair hielt sie fest und warf dem Polizeibeamten einen angewiderten Blick zu. „Ich wollte Sie damit nicht erschrecken, Madam, aber wir müssen alle Eventualitäten berücksichtigen. Das schließt den Tod des Opfers mit ein. Da wir noch keine Leiche gefunden haben, ist es allerdings wahrscheinlicher, anzunehmen, dass er noch am Leben ist. Der ‚Right Hand‘-Killer versteckt seine Leichen nicht." „Mein Baby... mein Baby...!!" Kenny wurde es zu bunt. „Und da stehen Sie noch hier rum!? Mein bester Freund schwebt in Lebensgefahr und Sie stellen uns unnötige Fragen!? Warum zum Teufel ist fast jede öffentliche Autorität in dieser Stadt ein verdammter Witz!? Machen Sie Ihren verfluchten Job!!" „He, keine Unverschämtheiten, du Bengel!!" Kyles Wut war verraucht und einer dumpfen Betäubung gewichen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und stierte zu Boden, sein Herz von kalter Angst umklammert. Er wusste nicht, was er denken sollte. Es hatte eine Zeit gegeben, da er selbst Cartmans Tod herbeigesehnt hatte. Er schämte sich entsetzlich, aber noch tiefer als die Scham saß seine Furcht, ihn zu verlieren, so widersprüchlich und unlogisch das auch war. Und die letzte Erinnerung, die Cartman an ihn haben würde, wäre die Bloßstellung auf der Party. „Ich liebe dich, Kyle. Ich brauche dich, so, wie Pflanzen den Regen brauchen. Du bist meine Luft zum Atmen, die Sonne an meinem Himmel. Du machst alles besser - du machst mich besser. Du hast mir meine Fehler, meine Schwächen, meine Irrtümer und meine Dummheiten aufgezeigt. Du hast mir ein Gefühl eingeflößt, das ich vorher nicht kannte, ein Gefühl, das begonnen hat, mich zu verändern. Du hast mein Herz zum Leben erweckt." Cartman. Cartman, der möglicherweise... Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Ihm war schlecht. Plötzlich erhob sich eine klare, beherrschte Stimme über den Tumult: „Sergeant Yates, haben Sie es schon einmal mit dem ‚Untergrund‘ versucht?" Der Angesprochene musterte Stanley argwöhnisch. „Was weißt du denn vom ‚Untergrund‘?" „Der ‚Untergrund‘ ist das beste Informationsnetzwerk, über das diese Stadt verfügt. Auch bekannt unter dem Namen ‚Nevermore‘. Warum wenden Sie sich nicht dorthin?" „Was soll das bringen? Zugegeben, die anonymen Hinweise, die wir bekommen haben, waren immer korrekt, aber wie sollen wir jemandem vertrauen, der uns bis auf ‚Untergrund‘ oder eben ‚Nevermore‘ keine Namen nennt und unsichtbar bleibt? Deshalb kann man sie auch nicht kontaktieren, ihr Verhalten zeigt deutlich, dass sie direkte Zusammenarbeit verweigern. Das ist sehr unseriös." „Und warum stört Sie das, unseriös, wie Ihr eigenes Team ist? ‚Nevermore‘ könnte sehr nützlich für Sie sein." „Nein danke, kein Bedarf." Mrs. Hill kam herein und erkundigte sich, ob Stan, Kyle und Kenny in den Unterricht zurückkehren könnten. Mr. Sinclair betrachtete seine Schüler, schüttelte den Kopf und ordnete an: „Mr. Marsh, Mr. Broflovski und Mr. McCormick sind mit sofortiger Wirkung vom Unterricht befreit. Mrs. Cartman sollte zur Krankenstation gebracht werden. Übernehmen Sie das bitte, Beverly, ich kann hier im Moment nicht weg." Mrs. Hill nickte und stützte Erics aufgelöste Mutter. Mr. Sinclair war sich sicher, dass die Krankenstation der Park High der beste Aufenthaltsort für sie sein würde. Er hatte kein Vertrauen zu den Fachidioten im Hell‘s Pass. „Nun zu Ihnen, Sergeant..." Damit schloss sich die Tür des Direktors hinter den drei Freunden, die zunächst eine Minute lang still im leeren Korridor standen und anschließend verzagte Blicke miteinander tauschten. Dann sagte Kenny kurz und überzeugend: „Fuck." „Ich kann es nicht glauben...! Cartman... verschwunden!", flüsterte Kyle und sein Magen verkrampfte sich. Er hatte das Gefühl, jede Sekunde speien zu müssen. „Was für eine beschissene Situation! Dieser Dummkopf von einem Sergeant wird Cartman garantiert nicht finden! Er hat den ‚Righ Hand‘-Killer nur ins Spiel gebracht, weil der im Moment unsere Stadt unsicher macht und groß nach ihm gefahndet wird! Aber Beweise, um seinen Verdacht zu untermauern, hat er keine!" „Es spricht aber auch nichts dagegen, Stan." „Nein, doch das hilft uns nicht. Wir können nicht warten, bis Mr. ‚Unfähig-ist-mein-zweiter-Vorname‘ in die Gänge kommt. Es ist schlimm genug, dass Cartman seit Montag Abend nicht mehr gesehen wurde. Ja, es gibt noch keine Leiche, aber wir wissen nicht, wie lange das noch der Fall sein wird - und je länger wir diskutieren, umso weniger Zeit zum Handeln werden wir haben. Yates hält ‚Nevermore‘ für unseriös und unkooperativ, dabei sind sie unsere einzige Chance. Folgt mir." „Alter, wovon redest du eigentlich? Hast du den Verstand verloren? Woher kennst du eine geheimnisvolle Untergrundorganisation, die anonyme Hinweise an die Polizei verteilt?" „Ganz einfach, Ken. Ich habe sie gegründet." „WAS?!" „Sag das nochmal!" Stan ging nicht auf die perplexe Reaktion seiner Freunde ein, er rannte aus dem Schulgebäude, zum Parkplatz, sprang in sein Auto und zündete den Motor. Kyle und Kenny schwangen sich auf den Rücksitz und der Schwarzhaarige brauste mit Vollgas zu seinem Haus. „Was sollen wir hier?" „Wartet kurz, ich muss mich umziehen, sonst werden wir nicht reingelassen." „Was is‘ los!? Wer soll uns wo reinlassen? Wieso umziehen?!" Keine Antwort. Der Blond- und der Rotschopf glotzten ihrem Kameraden hinterher, als hätte er zugegeben, der illegitime Sohn des Präsidenten zu sein. Keiner von beiden begriff auch nur annähernd, was gerade passierte. Sie verstanden zwar, dass Stan Cartman retten wollte, aber sein Verhalten erschien ihnen reichlich merkwürdig. „Was ist mit ihm? Was soll das heißen, er hat dieses ‚Nevermore‘-Ding gegründet? Will er uns verarschen? Ich finde das nicht komisch." „Ich weiß nicht, Ken, er meint das alles wirklich ernst, glaube ich. Und hey, es ist Stan. Er würde nie einen von uns im Stich lassen, auch Cartman nicht. Er muss einen Plan haben. Außerdem hat er recht, Yates können wir vergessen." „Klar, der Sergeant ist ‘ne Null, trotzdem benimmt sich Stan irgendwie... bescheuert." Sie warteten volle zehn Minuten und Mr. Oberplayboy wurde langsam ungeduldig. „Wo bleibt diese Schnarchnase?! Erst totaler Aktionismus und jetzt hocken wir hier rum...!" „Ich bin keine Schnarchnase, Kenneth." Kyle klappte der Mund auf vor Staunen. Kenny ebenfalls, doch sein Staunen vermischte sich mit dem süßen Kribbeln, das ihn befiel, sobald Stan seinen vollen Namen mit diesem sexy Unterton aussprach. Während er den anderen anstarrte, kroch besagtes Kribbeln aus seiner Magengegend eine Etage tiefer. Kein Wunder. Stan trug ein schwarzes Lederoutfit: Kniehohe Stiefel, eine eng anliegende Hose und einen langen Mantel, der in der Mitte von einem mit silbernen Nieten besetzten Gürtel zusammengehalten wurde. Die Schnalle stellte einen silbernen Raben dar. Unter dem Mantel trug er... nun, nichts, die geschmeidig-muskulöse Brust war entblößt; einzig die beiden silbernen Kettchen, die über dem Bauch die beiden Hälften des Mantels miteinander verbanden, beschränkten die freie Sicht ein wenig. Um den Hals war in mehrfachen Windungen ein Lederband geschlungen, die Augen hatte Stan mit schwarzem Kajal betont. „Wow, scharf! Das sieht so ähnlich aus wie mein..." Kenny biss sich erschrocken auf die Lippen und schwieg. „Das sieht so ähnlich aus wie dein... was?" „Ach, nichts! Ich hab‘ nur laut gedacht! Also, was soll dieses heiße Goth-Outfit, Stan?" „Das ist notwendig, um bei ‚Nevermore‘ vorgelassen zu werden. Und nennt mich bitte nicht mehr ‚Stan‘, während ich in diesen Klamotten stecke. Ich bin ‚Raven‘." „Raven? Was ist das, dein Codename?" „Du sagst es, Kyle." „Das... das war ein Scherz, St... Raven." „Ja, und in der Zwischenzeit ringt Cartman vielleicht um sein Leben. Wenn man in dieser Stadt etwas richtig gemacht haben will, muss man es immer selbst tun. Das war schon in unserer Kindheit so. Wir sind uns doch einig, dass wir auf die Hilfe der Polizei pfeifen können, oder?" Kyle und Kenny wechselten einen Blick und nickten. „Gut. Dann los... und Jungs? Lasst um Himmels Willen mich reden." „Ist gebongt. Was kommt als nächstes? Dein Hybridvehikel ist in Wahrheit das Batmobil?" Damit konnte Raven nicht dienen, aber das kleine Auto erfüllte auch so seine Aufgabe. Eine Viertelstunde später parkten sie in einer Seitenstraße und Raven führte seine hochgradig verwirrten Freunde in einen winzigen Laden mit dem klangvollen Namen „Das Strickhäuschen". Innen wirkte alles so ordentlich und altmodisch-gemütlich, dass man den Eindruck hatte, man wäre durch ein Zeitportal gegangen und im Viktorianischen England wieder herausgekommen. Das Goth-Mädchen, das lustlos hinter der Kasse lümmelte, war ein grober Stilbruch, allerdings fiel sie in dem Halbdämmer, der im Geschäft herrschte, nicht großartig auf. Sie sah nicht auf, als Raven an ihre Theke trat. „Du bist neu, oder?" Sie gähnte, ohne aufzublicken. „Yeah. Mein Name ist Lisa. Was darf‘s sein?" Er deklamierte: „Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter, In there stepped a stately Raven of the saintly days of yore; Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he; But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door — Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door — Perched, and sat, and nothing more." Jetzt kam Leben in das Mädchen. Sie hob ruckartig den Kopf, starrte Raven überrascht an, erkannte ihn offensichtlich und machte eine schnelle, ungeschickte Bewegung, die eine Art Verbeugung zu sein schien. „Du bist Raven? Oh mein Gott, die anderen haben mir so viel von dir erzählt! Ich hätte nie gedacht, dass ich dich mal persönlich kennen lernen würde! Was kann ich für dich tun?" „Zuerst möchte ich gern deinen Codenamen erfahren." „Ebony." „Ebony. Würdest du mich bitte zu ‚ihm‘ bringen?" „Direkt? Das geht nicht. Normalerweise muss vorher ein Termin mit Dark Lady vereinbart werden, bevor irgend jemand zu ‚ihm‘ vorgelassen wird." „Sag ihr, dass Raven ihn sprechen möchte. Das sollte genügen." Lisa alias Ebony verschwand eilig hinter dem Perlenvorhang, der das Lager vom Verkaufsraum trennte und blieb eine ganze Weile fort. Schließlich betrat Dark Lady die Szene, besser bekannt unter dem Namen Henrietta Biggle, das bis dato einzige Mädchen der Goth-Clique, bevor Ebony hinzugekommen war. Sie war neunzehn Jahre alt und hatte ein paar Kilo zu viel auf den Hüften, war aber dennoch eine attraktive Person, die sich vorteilhaft zu kleiden verstand (wenn auch hauptsächlich in Schwarz). „Raven, welch unerwartete Ehre", sagte sie hoheitsvoll. „Welcher Anlass bringt dich her?" „Ein Freund von mir ist in Gefahr. Ich brauche eure Hilfe." „Natürlich. Was ist mit diesen beiden Konformisten da hinter dir?" „Die gehören zu mir." „Nun gut, wenn das so ist, dürfen sie der Audienz beiwohnen. Ich hoffe aber, dass du dir im Klaren darüber bist, dass es durch deine Anwesenheit böses Blut geben könnte. ‚Er‘ und Vampire sind sich immer noch nicht... sehr zugetan." „Das habe ich befürchtet." Dark Lady führte sie durch den Perlenvorhang und sie gelangten in einen Raum, der nur aus Regalen mit Schachteln für Wolle, Stricknadeln und sonstigem Handarbeitskram bestand - bis sie eines der Regale zur Seite schob wie eine Tür und eine Wendeltreppe in den Keller zum Vorschein kam. Der Korridor, der sich an die Treppe anschloss, war spärlich erhellt und besaß die anheimelnde Atmosphäre eines Minenschachts. Dark Lady hielt vor der letzten Tür am Ende des Ganges und klopfte. „Wer ist da?", meldete sich eine tiefe Stimme. „Raven will dich sprechen." „..." „Soll ich ihn wegschicken?" „...Nein. Nein, lass ihn herein." Sie öffnete die Tür und ließ die drei Besucher passieren. Das Zimmer, das sich ihnen präsentierte, war eine Mischung aus Empfangssaal und Detektivbüro. An der Stirnseite unter dem Kellerfenster stand ein kolossaler Schreibtisch und davor ein antik wirkendes Sofa mit schwarzem Polster. Die linke Wand war mit Büroschränken vollgestellt, an der rechten prangte eine überdimensionale Straßenkarte von South Park, die mit roten, gelben oder grünen Fähnchen gespickt war, daneben hing eine Pinnwand mit Phantombildern von gesuchten Verbrechern. „Okay, allmählich wird‘s unheimlich", meinte Kenny. „Wo sind wir hier?" Derjenige, der hinter dem Schreibtisch saß, antwortete ihm: „Willkommen, Gentlemen. Wir sind die Schatten der Nacht, die Kämpfer in der Dunkelheit. Wir sind der geduldete, aber ungeliebte Rivale unserer Polizei. Wir sind die mit den besseren Ergebnissen. Wir sind eure letzte Hoffnung. Wir sind die schützende Kraft im Untergrund. Wir sind die Männer und Frauen in Schwarz. Wir sind ‚Nevermore‘." „...Hä?" „Ich dachte, deine konformistischen Freunde wären ein wenig intelligenter, Raven." „Und ich dachte, du wärst inzwischen ein wenig toleranter, Curly." Curly, der Anführer der Goths und Leiter von „Nevermore", war zwanzig Jahre alt und hatte mit Hängen und Würgen seinen Schulabschluss geschafft, nachdem ihm Stan/Raven mehrmals gut zugeredet hatte. Er war groß und etwas mager, mit dunklen Augen und prachtvollem schwarzen Haar, das in einer langen wallenden Locke über seine rechte Gesichtshälfte fiel (daher sein Codename). Er sah sehr elegant aus, trug er doch einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd mit weißer Krawatte. „Du bist ja immer noch so schlagfertig, mein Freund", stellte Curly schmunzelnd fest und erhob sich. „Ich gebe zu, dein rebellischer Geist hat mir ein bisschen gefehlt." Er kam näher und umfasste Raven zärtlich am Kinn. „Eigentlich... hat er mir... sogar sehr gefehlt." „Curly, bitte. Ich bin nicht hier, um mich euch wieder anzuschließen." Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein zweiter schwarzgekleideter Jüngling stürmte ins Chefzimmer. Er war in Curlys Alter, sein Outfit war allerdings durch kräftige rote Akzente aufgepeppt und sein schwarzes Haar hatte er im Nacken grün gefärbt. Dark Lady gab ein „Oh Shit" von sich, Curlys Miene verdüsterte sich. „Vampire!", rief er unfreundlich. „Was im Namen von Cthulhu hast du hier zu suchen!?" „Ich bin ebenfalls ein Mitglied von ‚Nevermore‘, du kannst mich nicht einfach ignorieren! Warum hat mir niemand gesagt, dass Raven zurück ist!?" „Weil du dann eine Szene gemacht hättest... also genau das, was du jetzt gerade tust. Weshalb ist es für dich von Interesse, ob Raven da ist? Er ist ein Ex-Goth, kein Ex-Möchtegernvampir und untersteht daher meiner Verantwortung." „Wie kann er dir unterstehen, wenn er ein Ex-Anführer ist? Die gelten als ranggleich! Und überhaupt, es geht hier nicht um Ex-Goth versus Ex-Vampir, sondern um Ex-Freund versus Ex-Freund! Denkst du, ich sehe tatenlos zu, wie du ihn mit Beschlag belegst?!" „Haltet die Klappe, ihr beiden verhinderten Romeos!" Raven baute sich zwischen den Kontrahenten auf und stemmte verärgert die Hände in die Hüften. „Ich bin hergekommen, weil ein Freund von mir in Lebensgefahr schwebt, nicht, um mir eure Eifersüchteleien anzuhören! Victor...", wandte er sich an Curly, dem es vor Schreck, dass Raven seinen richtigen Namen benutzt hatte, die Sprache verschlug, „...ich habe unsere gemeinsame Zeit sehr genossen, aber ich bin über dich hinweg. Tu mir einen Gefallen und hör auf, mir weiter hinterher zu trauern! Und was dich betrifft, Mike, wir waren nie ein festes Paar! Ich hatte dich gern wie einen Kumpel, mehr nicht! Wann kapierst du das endlich?!" Damit nahm er ungeniert in dem Lederstuhl hinter dem Schreibtisch Platz und Dark Lady bot ihm eine Zigarette an. Ohne ein Wort zu sagen, hielt er die Zigarette zum Anzünden hin und die Feuerzeuge von Curly und Vampire klickten gleichzeitig. „Danke, Jungs. Kommen wir nun zum Geschäftlichen. Eric Cartman ist seit letztem Montag verschwunden. Sergeant Yates ist der Meinung, er sei vom ‚Right Hand‘-Killer entführt worden, aber er hat keinerlei Beweise und kann seine Vermutungen durch nichts erklären. Das genügt nicht. Selbst, wenn sich herausstellen sollte, dass er recht hat, wir brauchen eine Spur, die auf Fakten und nicht auf Geratewohl basiert, eine Spur, der wir folgen können. Und wir brauchen Informationen bezüglich seines Aufenthaltsorts, falls er es wirklich war. Wie schnell könnt ihr das erledigen?" „Gib uns vier Tage, maximal fünf." „Das ist zu lang, Curly." „Hey, wir sind vielleicht die MIB von South Park, aber unsere Ausrüstung ist nicht halb so modern. Wir sind gut, zaubern können wir aber nicht. Die hiesige Polizei wird dir in vier bis fünf Wochen Material liefern, doch bis dahin ist Cartman toter als die Karriere von Tom Cruise. Wir sind deine beste Option." „Also schön. Der übliche Preis?" „Raven! Wie kannst du nur glauben, ich würde Geld von dir verlangen? Das ist natürlich ein Freundschaftsdienst! Außerdem wurden wir bereits von einem anderen Kunden gebeten, den ‚Right Hand‘-Killer aufzuspüren, wir arbeiten dran. Der Kerl ist ein Meister darin, seine Spuren zu verwischen, daher kann ich dir nicht versprechen, dass wir seinen festen Aufenthaltsort in vier Tagen finden werden - vorausgesetzt, er hat überhaupt einen festen Aufenthaltsort. Aber wir werden unser Bestes geben." Raven lächelte. „Das weiß ich. Danke." Er reichte Curly die angerauchte Zigarette und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. „Auf Wiedersehen, Victor." „Auf Wiedersehen... Stan." Vampire wurde beauftragt, Raven und seinen „konformistischen Anhang" hinauszubegleiten. Er führte sie schweigend bis in den Lagerraum, bevor er herausplatzte: „Warum musst du gehen!? Warum bleibst du nicht bei uns!? Ohne dich würde ‚Nevermore‘ nicht einmal existieren! Deine Regentschaft mag nur ein halbes Jahr gedauert haben, aber du bist eine Legende in unseren Kreisen! Du bist der einzige, der zwischen den Szenen hin- und herwechseln kann! Wir bewundern dich, wir...!" „Mike... ihr seid ein verschrobener, eigensinniger, liebenswerter Haufen und ich mag euch alle. Aber letzten Endes ist dies hier nicht mein Weg. Für mich ist die Welt zu farbig, um immer nur schwarz zu tragen. Lass mich gehen." Vampire seufzte. „Ich war in dich verliebt, Stan... und ein Teil von mir ist es noch. Du gehörst nicht zu den Männern, die man einfach so vergisst. Ich... ich wünsche dir viel Glück." Er drückte einen Kuss auf Ravens Hand, lächelte wehmütig und schob die Regaltür wieder hinter sich zu. Ebony empfing die Gruppe und brachte sie zum Geschäft hinaus. „Das war schräg", meinte Kyle und musterte seinen besten Freund von Kopf bis Fuß, als sähe er ihn zum ersten Mal. „Du kannst also problemlos dein Goth-Ich gegen dein ‚bürgerliches‘ Ich austauschen und umgekehrt, hast eine Art Spionagenetzwerk ins Leben gerufen, das offenbar tatsächlich Ergebnisse erzielt, und nebenbei sind da noch ein Ex-Freund und ein glückloser Rivale. Wann genau hattest du vor, mir das zu erzählen?" „Ich wollte es dir sagen, sobald es nötig wäre. Die Sache mit Curly und Vampire solltest du allerdings wissen, das habe ich damals lang und breit vor dir ausgewalzt." „...Ich erinnere mich an die Namen ‚Victor‘ und ‚Mike‘, ihre Alter Ego-Namen hast du nie benutzt, wenn du mit mir darüber gesprochen hast..." „Du scheinst sehr beliebt zu sein, besonders bei der Lockentolle und dem Typ mit dem giftgrünen Haar. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so begehrt bist!" Raven runzelte die Stirn angesichts Kennys aggressivem Tonfall. Der Blonde hatte seinen Mund zu einer Schnute verzogen (einer niedlichen Schnute, wie Raven zugab) und schien sich vornehmlich darüber zu ärgern, dass er nicht über die Anzahl von Stans Verehrern aufgeklärt worden war. „Ich bin dir über nichts, was ich tue, Rechenschaft schuldig, Kenneth. Wendy hat mich mit meiner Homosexualität konfrontiert, als ich es noch nicht akzeptieren konnte und deshalb bin ich in eine ernste Goth-Phase zurückgefallen. Curly war eine unerwartete Stützte für mich und so kam eben das eine zum anderen... auch Goths haben Hormone, weißt du?" Kenny streckte ihm die Zunge heraus. „Rede nicht mit mir, als ob ich ein Kleinkind wäre!" „Wenn du dich wie eines benimmst, ist dein Argument null und nichtig." Sie erreichten das Auto und Raven öffnete den Wagenschlag. „Überhaupt, mit welchem Recht richtest du über mich? Was geht es dich an, wie viele Männer mal mit mir zusammen waren oder sich für mich interessieren? Wieso stört dich das?" „...Ich... ich weiß es nicht..." „...Wie auch immer. Steigt ein." „Was machen wir jetzt?" „Warten. Schau nicht so angepisst, Kyle. Solange wir noch keine handfesten Informationen haben, können wir Cartman nicht helfen. Hoffen wir, dass Yates sich irrt und der Täter nicht der ‚Right Hand‘-Killer ist. Hoffen wir, dass ‚Nevermore‘ eine andere Spur entdeckt." „Und wenn Yates sich nicht irrt?" „Müssen wir beten", murmelte Kenny entrückt und starrte aus dem Fenster, an dem Gebäude und Straßen vorbeiflogen. „Denn dann ist Beten das einzige, was wir noch haben." And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting On the pallid bust of Pallas just above my chamber door; And his eyes have all the seeming of a demon's that is dreaming, And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor; And my soul from out that shadow that lies floating on the floor Shall be lifted — nevermore! Ja, die Goths sind die MIB von South Park (WIB im Fall von Dark Lady und Ebony) - weil ich sie dazu gemacht habe. Fragt mich bloß nicht, wie ich ursprünglich auf diese Idee gekommen bin, ich weiß es nicht mehr. Da die Polizei vor Ort so inkompetent ist, wollte ich eine Alternative einführen, aber ein simpler OC-Detektiv war mir dann doch zu schnöde. Und ja, außerdem wollte ich Stan in ein Lederoutfit stecken...*unschuldig pfeif* Wie es Cartman ergangen ist, werdet Ihr im nächsten Kapitel herausfinden, aber wie gesagt, wegen meines Praktikums weiß ich nicht, wie oft ich schreiben kann, das heißt, die Fortsetzung wird wohl eine ganze Weile auf sich warten lassen. Bleibt mir bitte treu bis dahin!^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)