Heartbeat von Autumn (Kyman, Stenny, Creek, Tyde u. a. (KAPITEL 12 IST DA!!!)) ================================================================================ Kapitel 5: Romeo vs. Juliet --------------------------- So, da bin ich wieder!^^ Dieses Kapitel war eigentlich schon früher fertig, aber das wirkliche Leben hat einen eben nur allzu oft am Wickel, sodass man sich um andere Dinge kümmern muss, bevor man sich mit Fanfictions beschäftigt. In meinem Fall mit der Job/Praktikumssuche, da ich jetzt mein Studium beendet habe. Bisher habe ich nur Absagen kassiert, das ist frustrierend, aber nicht zu ändern. Was mich hingegen sehr freut, ist, dass fünfzehn Leute diese FF in ihre Favoritenliste aufgenommen haben!^^ *happy* Noch mehr freuen würde es mich allerdings, wenn ich etwas mehr Feedback bekommen würde, denn ohne die Favoritenliste wüsste ich nicht einmal, dass mehr als drei Leute diese Story lesen. Das nächste Kapitel ist schon geplant und wird voraussichtlich Tyde und Creek enthalten. Und nun viel Spaß beim Lesen!^^ Kapitel 5: Romeo vs. Juliet Es war halb sieben, als Eric Cartman unsanft aus seinen Träumen gerissen wurde. Er schaltete den Wecker aus, warf die Decke zurück und schleppte sich schlechtgelaunt ins Badezimmer. Er besprengte sein Gesicht mit Wasser und blickte in den Spiegel. Er hatte Ringe unter den Augen und sah überhaupt aus, als wäre er von einem Lastwagen überrollt worden. So fühlte er sich auch. Zwar hatte er Butters‘ Party früh verlassen, aber an Ruhe war nicht zu denken. Mit einer Schachtel Eiscreme und einer Riesenpackung Cheesy Poofs ausgestattet, hatte er sich vor den Fernseher gesetzt und sich von einem mehr oder weniger dümmlichen Programm berieseln lassen, bis es zwei Uhr nachts war. Während der ganzen Zeit lief er wie auf Autopilot, sein Gehirn befand sich in einer Art Schockzustand. Seine Mutter hatte sich nicht um ihn gekümmert, da sie einen Kunden hatte, was zu Erics unendlicher Begeisterung nicht zu überhören gewesen war. Wie er es hasste, wenn sie ihre Kerle zu Hause „bediente"! Nachdem er sich geduscht und angezogen hatte, ging er nach unten in die Küche, wo ihn Kaffeeduft und Cornflakes begrüßten. Den Mann am Tisch ignorierte er. Liane Cartman warf ihrem Sohn einen beunruhigten Blick zu und fragte mit gezwungenem Lächeln: „Eric, Schatz, du kennst doch den Herrn Doktor?" „Dr. Miller.", knurrte Eric unfreundlich in Richtung des Mannes, dem es sichtlich peinlich war, mit dem eigenwilligen Sprössling seiner Affäre konfrontiert zu werden. Besagter Sprössling nahm in eisigem Schweigen am anderen Ende des Tisches Platz, goss Milch über seine Cornflakes und zermanschte sie mit heftigen Bewegungen, ehe er sie zu essen begann. Liane wusste nicht, was sie tun sollte und so versuchte sie, eine Art Unterhaltung zu führen. „War es gestern nett auf der Party? Hast du dich gut amüsiert?" „Nein. Ich war um neun schon wieder hier, aber das hast du ja nicht mitgekriegt, du warst zu sehr mit dem Herrn Doktor beschäftigt." „...Oh. Das ist schade, Poopsie..." Seine Augen wurden zu Dolchen. Liane schloss erschrocken den Mund. „Nenn. Mich. Nicht. So." „Entschuldige, mein Kleiner. Was... was steht sonst so an?" „Was sonst so ansteht, Mom? Keine Ahnung. Warum sagst du es mir nicht?" Sie betrachtete ihn hilflos und zuckte die Schultern. Sie hätte ihn nach der Schule fragen können, aber sie wusste nicht, welche Kurse er belegt hatte. Sie hätte ihn nach dem Training und den nächsten Spielen fragen können, aber sie verstand nichts von Football und interessierte sich auch nicht besonders dafür. Sie hätte ihn nach seinem Job fragen können, aber sie vergaß immer wieder, wo und was er arbeitete. Sie hätte nach seinen Freunden fragen können, aber sie war gar nicht sicher, ob ihr Sohn noch welche hatte. Er war praktisch ein Fremder für sie. „Eric, Schatz..." „Weißt du was, Mom? Schenk es dir. Mein Leben geht dir sowieso am Arsch vorbei, also brauchst du auch kein Interesse dafür zu heucheln." Er klang nicht zornig, als er das sagte, nur resigniert. „Ich muss heute arbeiten. Kommst du allein zurecht?" „Aber ja." Mit anderen Worten: Vermutlich nicht. Eric wusste genau, dass seine Mutter die Kontrolle über ihr Leben schon lange verloren hatte. Sie war nymphomanisch, schien kaum eine Nacht ohne einen Mann im Bett verbringen zu können und verpulverte das Geld, das sie dadurch verdiente, für Drogen und Alkohol. Als er noch klein gewesen war, hatte sie einigermaßen selbstständig handeln können, doch ihre Angst vor dem Alleinsein und ihre damit verbundenen Süchte wurden mit den Jahren immer schlimmer. Je älter Eric wurde, desto häufiger lastete sie ihm ihre Pflichten auf; er musste nach und nach den kompletten Haushalt übernehmen und irgendwann selbst Geld herbeischaffen, um Lianes Verschwendung zu kompensieren. Er trug Zeitungen aus, verkaufte alte Spielsachen und Kleidungsstücke auf dem Flohmarkt oder half den Nachbarn, indem er auf ihre Kinder aufpasste, ihre Autos reinigte, den Rasen mähte und ihre Hecke stutzte. Am Anfang tat er es nur äußerst selten und ausgesprochen widerwillig, nicht sehr erpicht darauf, sein geruhsames und bequemes Dasein aufzugeben, bloß weil seine Mom nichts auf die Reihe kriegte. Er hatte schon genug Stress mit seiner Diät und dem verfluchten Training. Doch dann, eines Tages, er war etwa dreizehn Jahre alt gewesen, hatte er sie regungslos auf dem Sofa gefunden. Er rief den Notarzt, der sie ins Krankenhaus verfrachtete, wo man ihr den Magen auspumpte. Ein giftiger Cocktail aus Aufputschmitteln, Crack, gepanschtem Fusel und sonstiger Scheiße hatte sie ausgeknockt und beinahe getötet. Damals begriff er, dass seine Mutter nicht mehr eigenverantwortlich leben konnte, sie war auf Unterstützung und Betreuung angewiesen. Und wer kam dafür in Frage, außer ihrem eigenen Sohn? Er kippte einen Schluck Orangensaft hinunter. Natürlich, er hätte sich weigern können, hätte verlangen können, dass man sie in eine soziale Einrichtung steckte, aber er war minderjährig und wäre der Fürsorge einer Pflegefamilie anvertraut worden, wenn sein miserabler Ruf nicht von vornherein alle potentiellen Kandidaten vergrault hätte. Außerdem liebte er seine Mutter. Ja, sie hatte ihn schlecht erzogen, sie hatte ihn oft im Stich gelassen, sie hatte ihn belogen und betrogen, sie liebte ihn nicht genug, um für ihn das Kiffen, das Trinken oder das Anschaffen aufzugeben, sie konnte grausam ignorant und verantwortungslos sein...doch sie war und blieb die Frau, die ihn geboren hatte. Sie liebte ihn zumindest ein bisschen. Nur sie. Sonst gab es niemanden. »Fuck, werd‘ gefälligst nicht rührselig, Eric!!«, schimpfte er sich in Gedanken. »Du hast im Moment echt andere Probleme!!« Zum Beispiel Kyle. Ihm wurde beinahe übel, wenn er daran dachte, dass er dem Juden gestern seine Liebe gestanden hatte. Sein bestgehütetes Geheimnis, offenbart in einem Augenblick der Schwäche, der Wut, des verletzten Stolzes. Kyle, der ihn angesehen hatte, als wäre er noch wertloser als der Schmutz unter seinen Schuhsohlen. Kyle, der ihn anbrüllte, Kyle, der all seine Fehler aufzählte, Kyle, der ihm seinen Hass ins Gesicht schrie, ohne zu ahnen, dass er ihn bis auf‘s Blut peinigte. „Du widerst mich an, Cartman! Hörst du!? Du widerst mich an!!" »Kyle, du dummer, arroganter, durchtriebener kleiner Bastard... du bist alles, was ich verachte, alles, was ich hasse, alles, was ich nicht ertrage... Woher nimmst du nur die Kraft, mit der du dich mir entgegenstellst!? Woher kommt diese verdammte Furchtlosigkeit, dieser lächerliche Mut, dieser frustrierend starke Wille!? Wie kannst du es wagen, auf mich herabzusehen, wenn du doch der dreckige Jude bist!? Oh, ich schwöre, manchmal könnte ich dich umbringen für dein selbstgefälliges Grinsen!!« Er berührte seine Lippen und erinnerte sich an die Küsse, die er Kyle aufgezwungen hatte. Der erste war zärtlich gewesen, neugierig, tastend, suchend, da er noch so unsicher gewesen war, was er wohl vorfinden würde. Ein bisschen herumgeknutscht hatte er bisher nur mit Kenny, der sich als „Übungsobjekt" angeboten hatte, aber nichts hätte ihn auf die überwältigende Erfahrung vorbereiten können, die der Kuss mit Kyle für ihn gewesen war. »...Ach, Scheiße... alles, wovon ich je geträumt habe...anders kann ich es nicht beschreiben. Warum musste sein Mund so warm und weich und anschmiegsam sein und gleichzeitig so fest und trotzig? Ich habe ihn nur liebkost, denn überwinden konnte ich ihn nicht... zumindest nicht in diesem Moment. Ich hätte ihn kein zweites Mal küssen dürfen, jedenfalls nicht so grob und... und einnehmend. Aber ich war so wütend...! Da verrate ich ihm, dass ich sein Leben gerettet habe und das seiner Familie mit dazu und er hat nichts Besseres zu tun, als sich auf‘s hohe Ross zu setzen und das neunmalkluge Arschloch heraushängen zu lassen! Fuck!!! Warum er?! WARUM AUSGERECHNET ER, VERFICKT NOCHMAL!?!« Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, ein Zittern überlief seinen kräftigen Körper. Liane sah es, zog es jedoch vor, es zu ignorieren und wandte sich umso liebenswürdiger an ihren Stammkunden, den Herrn Doktor mit der dicken Brieftasche. Dr. Miller war verheiratet und Vater von zwei Kindern, fand aber nichts dabei, sich sein Vergnügen bei mehr als nur einer Frau zu holen. Eric verabscheute ihn deswegen. Männer, die mit einer Familie gesegnet waren und dieses Glück so leichtfertig riskierten, konnte er nicht begreifen. Männer wie sein eigener biologischer Erzeuger, der Frau und Kind hatte und trotzdem irgendeine billige Hure flachlegte, ohne sich um die Folgen zu kümmern. „Kann ich übermorgen wieder mit Ihnen rechnen, Jason?" „Nein, leider nicht, übermorgen ist mein zwanzigster Hochzeitstag, und ich habe Jennifer versprochen, sie ganz groß auszuführen. Sagen wir nächsten Freitag? Ich rufe Sie vorher an." „Gut, nächsten Freitag also. Eric, verabschiede dich bitte vom Herrn Doktor." „Verpissen Sie sich." „Eric! Das war sehr unhöflich von dir!" Er streckte ihr die Zunge heraus und fuhr fort, seine Cornflakes zu essen. Dr. Miller hielt es für unangebracht, noch länger zu bleiben, wenn Lianes Sohn einen derartigen Ton anschlug und entfernte sich eilig. Sie begleitete ihn zur Tür. Als sie zurückkam, war die Müslischüssel leer und Eric trank den Rest seines Orangensafts. „Du könntest ein wenig freundlicher zu meinen Bekanntschaften sein, Poo... eh, Darling." „Deine Bekanntschaften? Ja, klar. Deine ‚Bekanntschaften‘ meinen Arsch!" „Eric!!" „Sorry, Mom. Ich bin kein kleines Kind mehr, dem du was vormachen kannst. Tu, was du willst und mit wem du‘s willst, aber erwarte nicht von mir, dass ich deinen Kerlen Zucker in den Hintern blase." Er stellte die Schüssel und das Glas auf die Anrichte. „Bis dann." Er begab sich in sein Zimmer und packte seine Schulsachen, seine Sporttasche stand, bereits bis obenhin voll, neben seinem Bett. Während er Bücher und Hefte verstaute, geriet ihm auch sein Geldbeutel in die Finger. Er zählte gerade seine letzten Dollar, als sein Blick an den beiden Fotos hängenblieb, die er in einem der Fächer aufbewahrte: Sie zeigten Kyle, einmal im Grundschulalter, nett in die Kamera lächelnd, seine unvermeidliche Uschanka auf dem Kopf; das andere Bild war aktueller, Kyle in der Studierhalle, kurz vor dem Beginn der Sommerferien, vertieft in irgendeinen Schmöker. Er fuhr die Konturen seines Gesichts nach und drückte das Foto in einer plötzlichen Bewegung an seine Lippen. Ein arroganter Pinkel. Ein hilfsbereiter Freund. Ein nervtötender Besserwisser. Ein cleverer Bursche. Ein scheinheiliges Gerechtigkeitsapostel. Ein extremer Sturkopf. Ein hinterhältiger Mistkerl. Ein ehrgeiziger Streber. Ein willensstarker Gegner. Ein temperamentvoller Kämpfer. Ein stolzer Mann. So unberechenbar, so unbesiegbar, so unbezähmbar. Eine Herausforderung, eine Provokation, ein gefährliches Spiel mit hohem Risiko. Nichts hatte ihn je mehr gefesselt, mehr fasziniert, mehr gereizt als dieser Mensch, keinen Triumph hatte er je sosehr herbeigesehnt - und nie war er sich im Voraus seiner Niederlage so sicher gewesen. Er liebte ihn. Er konnte es nicht ändern. Es gab Dinge an ihm, die er nicht ausstehen konnte, die ihn wahnsinnig machten, und dennoch liebte er ihn. Es war wunderbar und schrecklich, schön und schmerzhaft zugleich. Das Gefühl war tief und dauerhaft und ging weit über eine bloße Teenagerschwärmerei hinaus. Nichts hatte es bisher abschwächen können. Mit einem Seufzer verstaute er die beiden Fotos wieder in seinem Geldbeutel, warf ihn in seinen Rucksack und zog den Reißverschluss zu. Zehn Minuten später brauste Eric Cartman auf seinem Motorrad in Richtung Schule. Kennys Abend und Morgen verliefen ebenfalls unangenehm. Die Party hatte bis halb eins gedauert und er hatte sich hinterher noch in eine seiner Lieblingsbars verkrümelt, wo er sich was Scharfes aufgerissen hatte. Leider stellte sich heraus, dass das hübsche Paar C-Cups schon vergeben und ihr Macker äußerst humorlos war. Einige Zeit später war er draußen vor der Eingangstür wieder zu sich gekommen, mit einer blutenden Nase und einem blühenden Veilchen auf dem linken Auge. Daraufhin hatte er das, was noch von ihm übrig war, nach Hause geschleppt und sich auf seinem Bett verkrochen (na ja, eher auf seinen zwei übereinander gestapelten Matratzen, ein richtiges Bett besaß er nicht). Karen, die letzte Nacht auch in ihren vier heimatlichten, katastrophal zugigen Wänden verbracht hatte, weckte ihn lautstark. „GROßER BRUDER!!!!" „...He, ich bin nicht taub, Schwesterherz!! Bist du vom wilden Affen gebissen, oder was!?" „Das ist mein dritter Versuch, okay? Du schläfst wie ein Toter... und du siehst auch genauso aus. Mit wem hast du dich diesmal geprügelt?" „Mit ‘nem eifersüchtigen Neandertaler. Kann ich riechen, dass die Tussi seine Freundin ist, wenn sie sich mir an den Hals schmeißt? Und dafür kriege ich dann die Fresse poliert! Seh‘ ich wirklich so schlimm aus?" „Ja. Scheiße, um genau zu sein." „Vielen Dank, Karen. Was täte ich nur ohne deinen Trost?" „Hör auf, den Boden mit Sarkasmus zu bekleckern, Ken, das ist mein Job. Du brauchst deine Nerven und dein Mundwerk für was anderes." „Nämlich?" „Für‘s Frühstück." Die Geschwister wechselten einen verständnissinnigen Blick, Kenny stand auf und gemeinsam gingen sie in die Küche. Ihre Eltern hockten dort auf ihren Billigplastikstühlen, Carol mit einem Joint zwischen den Lippen, ihr Gesichtsausdruck entrückt, die Augen glasig; Stuart leerte eine Flasche Bier, rülpste und warf sie achtlos hinter sich, wo sie mit der Wand kollidierte und in zahllose Scherben zersprang. Seine blutunterlaufenen Augen bezeugten die durchzechte Nacht. Karen holte ihren Rucksack aus ihrem Zimmer und packte aus, was sie von ihrem Aufenthalt bei Kevin mitgebracht hatte: Eine Packung Müsli, Milch, Wasser, Tee, etwas Brot, Butter und Obst (zwei Äpfel und eine Banane). Während sie schweigend den Tee aufbrühte, verteilte ihr Bruder das Müsli auf zwei Schüsseln und goss Milch darüber. „Mit Rosinen.", sagte er entzückt. Sie nickte lächelnd. „Car - ...ich meine, Mom? Willst du auch was?" Er hielt ihr die Packung unter die Nase, aber sie reagierte nicht. Schließlich versuchte er es mit einem Stück Brot und einem Apfel, doch Carol zuckte mit keiner Wimper. Sie war weit weg, wo sie sich nicht mit ihrem Elend befassen musste. Karen registrierte, dass Kenny sie beinahe mit ihrem Vornamen angesprochen hätte. „Mom" und „Dad"... diese Bezeichnungen schienen mit den Jahren immer unpassender geworden zu sein. Es fühlte sich nicht mehr richtig an, sie so zu nennen. „Dad? Hast du Hunger?" „...Was‘n das...?" „Ein Apfel. Oder magst du was vom Müsli? Oder ein Butterbrot?" „Ich will ‘n Bier." „Es ist keins mehr da, du hast die letzte Flasche gerade ausgetrunken. Wir haben Tee und ein bisschen was zu essen. Was willst du haben?" „Ein Bier." Er rülpse noch einmal, seine Augen wirkten fiebrig. Als er aufstieß, schlug Kenny sein schlechter Atem entgegen, eine widerliche Mischung aus Alkohol und Erbrochenem. Er hatte sich wohl mal wieder übergeben. „Wir haben kein Bier, Stuart.", zischte der Blondschopf, den Namen absichtlich betonend. „Und selbst wenn, du würdest keins mehr kriegen, du bist voll bis oben! Jetzt komm schon, mach den Mund auf, iss etwas Müsli..." Stuart schlug ihm den Löffel aus der Hand, erhob sich schwankend und brüllte: „Ich will mein Bier, du Drecksbalg!! Was soll ich mit dem Scheißdreck!?!" Kenny sprang auf, wich der Faust, die auf ihn zu raste, mit dem Geschick langer Erfahrung aus und beantwortete die Attacke mit einem eigenen, gut gezielten Schlag, der den Mann zu Boden schickte. Er beugte sich über ihn, um ihn unter die Lupe zu nehmen. Karen schenkte den Tee ein. „Ist er in Ordnung?", fragte sie beiläufig. „Ja, er ist bloß bewusstlos." Kenny spuckte aus. „Dieser Arsch ist so erbärmlich, dass sogar Mitleid für ihn zu schade ist! Den Schulabschluss hat er vergeigt, nichts anderes im Kopf als Drogen und ‚High‘ Life im wahrsten Sinne des Wortes, keine Perspektive, keine Ziele, kein Interesse für irgendwas, außer sich selbst! Nichts hat er auf die Reihe gekriegt, aber Carol schwängern, als sie vierzehn war, das konnte er! Warum dürfen eigentlich die ungeeignetsten Individuen Kinder in die Welt setzen?! Man braucht ein Staatsexamen, um Kinder zu unterrichten, aber jeder dahergelaufene Trottel kann sie zeugen, wenn er will! Gott, das ist so... so... ah, ich könnte kotzen!" Sie legte ihre Hand auf die seine und schob ihm eine der beiden Tassen zu, die Kevin gekauft hatte. Er nahm einen tiefen Schluck. „Etwas bitter. Du hast ihn zu lange ziehen lassen." „Tut mir leid." „Macht nichts. Er ist wenigstens warm." Stanley seinerseits, wurde vom Klingeln seines Handys aufgescheucht („I Kissed A Boy" von Cobra Starship). Er gähnte herzhaft und nuschelte: „Was is‘?" „Guten Morgen, kleiner Bruder! Alles fit im Schritt?" „...Shelly. Was fällt dir ein, mich zu dieser Unzeit anzurufen?" „Wieso Unzeit? Es ist halb neun!" „Ja. In New York, Eastern Standard Time. Hier in Colorado gilt Mountain Standard Time. Hier ist es erst halb sieben. Und tschüss." „STAN!! Jetzt leg‘ doch nicht gleich auf, verdammt! Ich muss unbedingt mit jemandem reden! Tony hat mit mir Schluss gemacht und..." Er unterdrückte einen Seufzer. Seine große Schwester, die nun schon im vierten Jahr am Queens College in New York City studierte, war früher eine aggressive kleine Furie gewesen, deren Lieblingsbeschäftigung darin bestand, ihren Bruder zu verprügeln oder sich auf seine Kosten bei ihren Eltern einzuschleimen. Er hatte sich nie wirklich gewehrt, weil er eine Heidenangst vor ihr gehabt hatte - bis ihm dann eines schönen Tages so richtig der Kragen geplatzt war. Er hatte sich eine Dokumentation über gefährdete Arten ansehen wollen, doch Shelly hatte ihn natürlich wieder stören müssen, mit irgendeiner ihrer schwachsinnigen Seifenopern. Eine Weile kämpften sie um die Fernbedienung, als sie plötzlich die Geduld verlor und ihn anschrie: „Pfoten weg, du Stück Scheiße!! Wen interessieren schon deine blöden Tiere?!" Sie boxte ihm in den Bauch und wechselte selbstzufrieden grinsend den Kanal. Aber diesmal dachte er gar nicht daran, einfach aufzugeben. Er hatte die Fernbedienung gepackt und war explodiert: „Wen nennst du hier ein Stück Scheiße, du geifernde Zicke!? Ich hab‘s satt, mir alles von dir gefallen zu lassen!! Entweder schaltest du freiwillig um oder ich bringe dich dazu!! Schau mich nicht so entgeistert an!! Du bist nichts weiter als eine eingebildete, unverschämte, hirnlose Kuh und es ist kein Wunder, dass dir deine Kerle abhauen!! Ich habe genug von deiner miesen Laune, deinem hysterischen Theater, deinem verdammten Tussigetue...genug von dir!! Fick dich, Shelly - fick dich!!" Er stieß sie heftig zurück, sodass sie vom Sofa fiel. Sie war völlig sprachlos gewesen und hatte ihm sogar gehorcht. Nach diesem Vorfall ging er immer häufiger als Sieger aus ihren Konfrontationen hervor und das einst so gespannte und unfreundliche Verhältnis zwischen den Geschwistern veränderte sich langsam. Sie begann, ihn trotz des Altersunterschieds als gleichwertig zu akzeptieren, er spürte ihre Eifersucht auf, die sie seit jeher für ihren kleinen Bruder empfunden hatte, sie lernte, seine ihr so wesensfremde Sensibilität besser zu verstehen und ihm gelang es, ihre brutal ehrliche, ruppige Art zu tolerieren. So kam es, dass Shelly und Stan bei jeder Abreise nach New York bewegt voneinander Abschied nahmen und einander aufrichtig vermissten. Allerdings hatte sie ihn nun auch zu ihrem persönlichen Kummerkasten ernannt und das bedeutete, dass sie ihn, wenn ihr etwas das Herz abdrückte, sofort anrief, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Obwohl das Heranwachsen ihre Angriffslust sehr gemildert hatte und sie sich längst nicht mehr so rüpelhaft benahm wie als Kind, fehlte ihr nach wie vor das richtige Händchen für Beziehungen, egal, ob sie freundschaftlicher oder romantischer Natur waren. „Also, Tony hat mit dir Schluss gemacht. Und diesmal wegen...?" „...Ich hab‘ ihn diese Woche nicht rangelassen." „Ihr seid seit drei Monaten zusammen und jedesmal, wenn du ihn mal ‘ne Weile nicht rangelassen hast, macht er mit dir Schluss. Was folgt daraus? Er hat das Problem, nicht du. Manchmal läuft‘s halt nicht. Das ist kein Grund, gleich die Beziehung in den Müll zu schmeißen. Oder ist es nur an Sex interessiert?" „Na ja, vielleicht...?" „Okay, Schwesterherz, ich weiß, dass du Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Bindungen hast, aber dein Männergeschmack ist auch nicht gerade der Hit. Warum sind es so oft Machos oder talentfreie Volltrottel? Gut, Liebe macht bekanntlich blind, aber du übertreibst es. Warum suchst du dir nicht einfach einen netten, anständigen Typen mit genug Rückgrat, der deine Launen aushält und fertig?" „Die netten und anständigen Jungs sind doch langweilig." „Nein, die netten und anständigen Jungs sind einfach nur nett und anständig. Das ist kein Makel, sondern eine Qualität, Shelly. Und außerdem heißt es ‚Stille Wasser sind tief.‘ Wenn du immer nur auf die Oberfläche starrst, kannst du natürlich auch nichts Überraschendes oder Neues entdecken. Freundschaft und Liebe haben etwas mit Kennenlernen, mit Austauschen, Zuhören, gegenseitiger Achtung und Verständnis zu tun - warum freundest du dich nicht mal mit einem Kommilitonen an, der dir gefällt? Jawohl, anfreunden. Es muss ja schließlich nicht von vornherein auf den sexuellen Aspekt hinsteuern. Und Idioten wie Tony gewöhnst du dir am besten ab, dann bleiben alle deine Nerven ganz!" „..." „Shelly? Bist du noch dran?" „...Du bist mein bester Freund, kleiner Bruder. Weißt du das eigentlich?" Er musste lächeln. Vor seinem geistigen Auge sah er seine Schwester in ihrer Studentenbude auf dem Bett liegen, eine Packung Taschentücher neben sich, während „Titanic" oder sonst ein zu Tränen rührender Schinken über den Bildschirm flimmerte (augenblicklich auf lautlos gestellt, natürlich). Als Tochter gutaussehender Eltern hätte sie eine hübsche, ja, sogar attraktive Person sein können, doch die Natur hatte ihr einen üblen Streich gespielt, unter dem sie auch heute noch litt: Die verschiedenen Details, die ihrem Vater und ihrer Mutter so hervorragend zu Gesicht standen, waren in Shellys Zügen unglücklich zusammengeworfen worden. Sie besaß den zarten, elegant geschwungenen Mund von Sharon, aber das kräftige Kinn von Randy, was ihr einen seltsam harten Ausdruck verlieh. Über ihren Augen thronten dichte Brauen, die an ihrem Vater eindrucksvoll waren, aber da sie die kleineren Augen ihrer Mutter geerbt hatte, passte das alles nicht recht zueinander und ließ sie verschlossen und einschüchternd wirken. Das war der Hauptgrund für ihre Eifersucht gegenüber Stanley, der immer ein anziehendes Kind gewesen war. Dennoch verfügte sie trotz ihrer Schwächen und schwierigen Eigenheiten über einen guten Kern. Man musste sich nur bemühen, ihn zu finden. „Ich weiß es. Ja, ich weiß es." Sie schwiegen eine Weile, bis sie neugierig fragte: „Und was ist mit dir? Hast du dir endlich einen Freund angelacht?" Er wurde puterrot. „Nein, hab‘ ich nicht!!" „Wieso nicht?" Ihre Verblüffung klang echt. „Du bist attraktiv, intelligent, ein toller Sportler, witzig, nett, selbstbewusst, charmant... und du willst mir erzählen, dass du dir noch keinen geangelt hast? Oder dich hast angeln lassen? Was ist denn mit diesem... wie heißt er nochmal? Der Kapitän deiner Mannschaft, dieser Mormone oder was er ist. Jerry Irgendwer." „Gary. Gary Harrison. Was soll mit ihm sein?" „Na, der fährt doch voll auf dich ab!" „Was?! Red‘ keinen Schwachsinn, wir sind Kumpel, mehr nicht! Die Sache im Soccercamp war nur ein... nur ein Versehen!" „Ich würde einen Kuss kein ‚Versehen‘ nennen..." Stan wand sich innerlich. Die letzte Woche der Sommerferien hatten sein Team und er in einem Soccercamp verbracht, zusammen mit einigen anderen Mannschaften aus verschiedenen kleinen Städten außerhalb von Park County. Es war lustig und aufregend gewesen; es galt, neue Leute kennen zu lernen, spannende Spiele zu bestreiten, alberne Streiche auszuhecken...und gewisse Erfahrungen zu machen. Zum Beispiel, ein Zimmer mit seinem Kapitän zu teilen. Das funktionierte auch ganz prima, bis... na ja, bis... ~~ Rückblende ~~ Stanley humpelte die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sein Zimmer lag und setzte sich dort schweratmend auf sein Bett. Warum dieses Arschloch von Nummer Elf keine Rote Karte gesehen hatte, wusste er immer noch nicht. Der hatte ihm doch ein Bein gestellt, mit voller Absicht! Sein weiß-rotes Outfit war total verdreckt, weil er bei seinem Sturz natürlich genau in einer Matschpfütze gelandet war, die man dem anhaltenden Regenguss zu verdanken hatte, dabei hatte er sich irgendwie den Fuß verstaucht und die Lippe aufgeschlagen. Er hatte nichts dagegen, wenn es mal hart wurde, aber das hier war die Schuld der gegnerischen Nummer Elf, die ein Mistkerl war und andere Spieler vorsätzlich fertig machte. Sowas hasste er. Er stakste zum Waschbecken hinüber und begann, sich das Gesicht zu waschen, als er ein zaghaftes Klopfen hörte. „Herein. Oh, du bist es, Käpt‘n..." Gary Harrison, siebzehn Jahre alt, mormonischen Glaubens, mit himmelblauen Augen und goldblondem Haar, war so gut erzogen, dass er sogar an seiner eigenen Zimmertür anklopfte. Stan schmunzelte, doch sein Anflug von Heiterkeit verebbte, als er Garys Gesichtsausdruck bemerkte. Er hatte ihn selten so wütend erlebt. „Dieser Bastard! Und dieser dämliche Schiedsrichter, hat der keine Augen im Kopf!? Ich hab‘ ihm in deinem Namen eine verpasst!!" „Dem Schiedsrichter?!" „Nein, der Nummer Elf! So ein... so ein Wichser, ehrlich!" Kraftausdrücke gebrauchte er auch nur in Ausnahmefällen. Er musste wirklich mächtig angepisst sein. Plötzlich jedoch wich der Zorn aus seinen Zügen und machte unverhohlener Besorgnis Platz. „Du meine Güte, du blutest ja! Das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen! Wie geht es dir? Kann ich dir etwas bringen, möchtest du etwas essen oder trinken oder..." „Beruhige dich, Gary, das sieht alles schlimmer aus, als es ist. Ich habe mir bei dem Sturz den Fuß verstaucht und die Lippe aufgeschlagen, aber das wird schon wieder. Die Hauptsache ist, dass du denen noch ein Tor reingedonnert hast! Wir haben gewonnen!" Das schien Gary nicht mehr besonders zu kümmern. Er holte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche, befeuchtete es und fing an, behutsam Stanleys aufgeplatzte Lippe zu betupfen. Von der intimen Berührung überrascht, wagte er nicht, sich ihr zu entziehen. Einen Moment lang glaubte er sogar, eine zarte Röte in die Wangen seines Kapitäns steigen zu sehen. „Gary...? Ist... ist... alles okay?" „...Du hast einen so schönen Mund, Stan", flüsterte der junge Mormone versonnen, als spräche er zu sich selbst. „Vielleicht sollte ich ihn gesundküssen, damit er schneller heilt..." „...Eh?" Warme Lippen küssten ihn sanft. Die Zeit blieb stehen. Stan wusste nicht, was er davon halten sollte. Es fühlte sich gut an, ja, und er mochte Gary...er mochte ihn sehr...aber nicht so sehr... oder? Er war schrecklich verwirrt und machte instinktiv eine ausweichende Bewegung, die Gary in die Realität zurückholte. Er blinzelte, sah den Schwarzhaarigen an, als wäre er ein Fremder, der ihm nicht vorgestellt worden war und wurde schließlich knallrot. „Oh, entschuldige bitte, Stan... ich... ich... weiß auch nicht, was über mich gekommen ist... Es tut mir entsetzlich leid!" Dann stürmte er wie von wilden Hunden gejagt davon. Stan stand da wie festgewachsen, völlig konfus und bestürzt. „Käpt‘n...!" ~~ Ende der Rückblende ~~ „Stan und Gary sitzen in ‘nem Baum, und k-ü-s-s-e-n sich, man glaubt es kaum!", trällerte Shelly in sein Ohr, was ihr ein lautstarkes „Schnauze!!!" eintrug. „...So empfindlich, Brüderchen? Du magst ihn also auch." Es war keine Vermutung, sie sprach es wie eine Tatsache aus. „Klar mag ich ihn, er ist mein Kapitän und wir verstehen uns ziemlich gut. Trotzdem. Seit dem... dem ‚Vorfall‘ geht er mir aus dem Weg. Wenn wir während des Trainings zusammen sein müssen, was sich nun mal nicht vermeiden lässt, beschränkt er unseren Kontakt auf das Nötigste. Das heißt doch, dass er die ganze Sache vergessen will, nicht wahr?" „Ja und nein. Das Problem ist wohl, dass er die Sache vergessen will, sie aber nicht vergessen kann, sonst wäre längst wieder alles beim alten. Ich glaube wirklich, dass er mehr in dir sieht als nur seinen Teamkameraden. Mehr als nur seinen Freund." Sie kam zu demselben Schluss wie Kyle, Kenny und Cartman, denen er ebenfalls von dem Kuss erzählt hatte (wobei Kyle mit brüderlichem Trost reagiert hatte, Cartman mit leisem Spott und Kenny mit überraschend kühler Zurückhaltung). Er würde der gefürchteten Konfrontation nicht ausweichen können. Er musste mit Gary reden. Was Kyle betraf, so war er entgegen seiner ursprünglichen Absicht nur bis elf Uhr geblieben. Seine Mutter verbuchte diesen Umstand als persönlichen Sieg über die Unvernunft ihres Sohnes und er ließ sie in dem Glauben. Seine „tieferen Gründe" hätten ihr noch weniger in den Kram gepasst als seine Homosexualität. Im Moment lag er wie erschlagen in seinem Bett und machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben, obwohl der Wecker bereits geklingelt hatte. Er wollte nicht in die Schule gehen. Normalerweise ging er gern dorthin, er war ein ehrgeiziger und fleißiger Schüler. Aber er wollte auf keinen Fall Cartman über den Weg laufen, nicht so kurz nach ihrer Auseinandersetzung und dem damit verbundenen Geständnis. Er hatte schlecht geschlafen, selbst in seinen Träumen von den Bildern des gestrigen Abends verfolgt, und er fühlte sich leer und verbraucht. So stierte er teilnahmslos an die Decke, bis das vorwitzige Gesicht seines Bruders in seinem Blickfeld auftauchte. „Übst du die Pose vom sterbenden Schwan oder was soll diese trübsinnige Miene? Du siehst voll fertig aus, als wäre ‘ne Herde Kühe über dich hinweggetrampelt. Ist auf der Party irgendwas Blödes passiert?" „Das geht dich gar nichts an!!" „Also ja. Und was?" Kyle ließ ein paar herzerfrischende Flüche vom Stapel. Ike zu entgehen war ein Ding der Unmöglichkeit - mit seinem IQ von 170 und seinen hohen analytischen Fähigkeiten durchschaute er alles und jeden, man konnte ihn weder belügen noch austricksen. Und wenn er sich einmal in einer Sache festgebissen hatte, mutierte er zur Jüdischen Inquisition. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas zu verschweigen. Und so erzählte er alles, stockend, langsam, bis zum unvermeidlichen Ende. Das erwartete Entsetzen blieb jedoch aus. „...Äh, Ike? Warum... warum flippst du nicht aus, oder so? Vielleicht hast du mir auch nicht richtig zugehört? Eric Cartman hat mich geküsst. Eric Cartman hat mir seine Liebe gestanden. Verstehst du? Möchtest du nicht wenigstens... ich weiß nicht... ein bisschen durchdrehen?" „...Er hat dir endlich gestanden, was er für dich empfindet? Sehr gut, das war echt überfällig." „WAS!?!" Kyle schoss in die Höhe und schüttelte seinen kleinen Bruder aufgeregt. „Was soll das heißen, überfällig!? Du hast... du hast es gewusst?! Du hast es gewusst und hast mir nichts davon gesagt?!" Ike befreite sich aus dem Griff, schwankte ein wenig und plumpste auf das Bett, wo er den Rest seines Gleichgewichts wiedererlangte. „Musst du immer so heftig reagieren, big bro? Da brummt einem ja der Schädel... Puh. Und ja, ich habe es gewusst. Ich sehe meine Mitmenschen ziemlich genau so, wie sie in Wirklichkeit sind und nicht so, wie sie allgemein gesehen werden bzw. gesehen werden wollen. Da bin ich wie Butters, er hat auch dieses Gespür. Ich halte Eric nicht nur für das Arschloch vom Dienst. Ich halte Kenny nicht nur für einen notgeilen Playboy. Ich halte Stan nicht nur für einen idealistischen Hippie. Ich halte Craig Tucker nicht für cool und Tweek Tweak nicht für schwach. Ich halte Clyde Donovan nicht nur für eine verweichlichte Heulsuse oder Token Black nur für ein wandelndes Klischee. Und dich, Kyle, halte ich weder für das völlig schuldlose Opfer von Erics Anfeindungen, noch für den unbescholtenen, ach so perfekten Vorzeigesohn, den unsere Mutter aus dir machen will, obwohl du durchaus dazu neigst, dir in beiden Rollen zu gefallen. Halt, sag nichts, lass mich ausreden! Die Welt ist nicht schwarzweiß, sondern sie ist aus unzähligen verschiedenen Abstufungen zusammengesetzt. Es ist schon seltsam, dass die meisten immer noch glauben, dass eine Tugend und ihr Gegenteil nicht in ein und demselben Menschen vereinigt sein können. Sie unterschätzen die Komplexität ihrer eigenen Natur. Es ist selten damit getan, nur eine Seite der Medaille zu betrachten. Butters hat recht. Gib Eric eine Chance. Er könnte dich überraschen... und ich mag ihn." Kyle musterte ihn sprachlos von Kopf bis Fuß. Ike war sehr schlaksig und etwas zu groß für sein Alter, mit wirren schwarzen Haaren und neugierigen grünblauen Augen. Er hatte einen breiten Mund und eine spitze Nase. Heute trug er seine dunkelblaue Jeans und das schwarze T-Shirt mit dem Konterfei Albert Einsteins, der die Zunge herausstreckte. Elf Jahre (oder elfdreiviertel, wie Ike gern betonte). Hochintelligent, sogar genial, stur, direkt und eigenwillig, bisweilen auch nervtötend, exzentrisch und sarkastisch bis dorthinaus - das war sein Bruder, ein kleines, kompliziertes, liebenswertes Wunder. „Du... du ‚magst‘ Cartman? Ist das dein Ernst?" „Klar. Einmal bin ich ein großer Fan von ihm als Footballspieler. Football ist eine meiner Lieblingsportarten, auch wenn ich selber nicht besonders gut bin. Aber Eric ist superklasse, der könnte in der Profiliga spielen. Sicher bekommt er ein Sportstipendium für‘s College. Okay, er kann ein Arschloch sein, das will ich gar nicht abstreiten, und seine antisemitische Attitüde geht mir gewaltig auf den Keks...andererseits ist er klug und selbstbewusst und stolz, er kann sich durchsetzen und lässt sich nichts bieten. Er hat einen sehr starken Willen. Und er mag kleine kuschelige Tiere, vor allem Katzen. Deshalb arbeitet er auch bei Mr. Pritchard." „Cartman hat einen Job bei Mr. Pritchard? Dem netten alten Herrn mit der Kleintierhandlung? Das hat er nie erzählt..." „Mir hat er es auch nicht erzählt, ich habe ihn nur durch Zufall mal im Laden gesehen. Ich glaube, er ist sein Assistent oder sowas. Logisch, dass er das nicht rumposaunt. Eric Cartman, Kapitän der Park High Bulls, Mr. Star-Quarterback persönlich, der sich um süße Katzen und flauschige Kaninchen kümmert? Das passt nicht zu seinem Image, also hält er dicht. Ich finde es niedlich." Kyle fand es eher absurd, er konnte sich seinen Rivalen einfach nicht als treusorgenden Pfleger vorstellen, obwohl er seine eklatante Schwäche für kleine Streicheltiere kannte. »Allerdings hätte ich mir auch nie vorstellen können, dass er mir seine Liebe erklären würde... also halte ich mich mit meinen Urteilen besser zurück... vorerst.« „Und nun steh auf, sonst verpasst du das Frühstück. Mom hat Waffeln gebacken und wenn du nicht runterkommst, esse ich sie dir alle weg!" „Das wagst du nicht!" „Wollen wir wetten?" Ike sprang lachend davon. Kyle, mit seinem Kissen als Wurfgeschoss, spurtete hinterdrein und erwischte den Jüngeren am Ende der Treppe, wo er ihn auf die Arme wuchtete und ihn auf die Stirn küsste. „Ich hab dich lieb, Ike." „Ich hab dich auch lieb, großer Bruder." Im Hause Stotch glich das morgendliche Beisammensein einem Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden. Linda, mit rotgeränderten Augen und ungekämmten Haaren, hing mit einem Ausdruck über ihrer Kaffeetasse, als wolle sie jede Sekunde speien. Stephen versteckte sich demonstrativ hinter seiner Zeitung und mampfte seinen schlabbrigen Toast. Als er seinen Sohn die Treppe herunterkommen hörte, ließ er seine Lektüre sinken, begutachtete missbilligend sein Äußeres und sagte vorwurfsvoll: „Leopold! Schon wieder so ein unmöglicher Aufzug! Kannst du dich nicht anständig kleiden? Was sollen denn die Leute denken?" Butters trug ein ärmelloses türkisfarbenes Hemd, von dem er nur die letzten drei Knöpfe geschlossen hatte, sodass sein schöner Oberkörper zu sehen war. Die Hose war weiß und wies an beiden Seiten je einen schmalen Schlitz auf, der am Hosenansatz begann und auf der Höhe des Knöchels endete. Unter dem Netzstoff, der die Schlitze ausfüllte, konnte man die nackte Haut erahnen. Als Schmuck hatte Butters ein schwarzes Halsband mit einem Namensanhänger aus goldenen Buchstaben gewählt („LEO"), dazu einen schwarzen Lederarmreif für den rechten Oberarm, der mit silbernen Nieten besetzt war, sowie einen einzelnen silbernen Ohrring für das linke Ohr, der die Form eines Dreiecks hatte. „Ehrlich gesagt, Stephen", erwiderte Butters ungerührt, „interessiert es mich einen Scheißdreck, was die Leute denken. Ich ziehe mich so an, wie es mir gefällt und basta." „Ich dulde nicht, dass mein Sohn wie eine männliche Hure herumläuft!! Die Hälfte der jungen Kerle in diesem Kaff sabbert dich an!!" „Oh? Du scheinst dich ja gut mit männlichen Huren auszukennen. Und tatsächlich, ich habe eine Menge Verehrer, was aber nicht automatisch heißt, dass ich mit jedem davon in der Kiste war. Ich bin noch Jungfrau, wenn du‘s genau wissen willst. Sicher, ich flirte gern, und es macht mir eine Menge Spaß, die Jungs zu necken, aber ist das gleich ein Verbrechen? Ich stehe wenigstens zu dem, was ich bin, anstatt mich selbst zu belügen, so wie du das tust! Hör also bitte auf, mir die Schuld und die Verantwortung für deine Komplexe aufzubürden! Ich habe genug davon! Und danke der Nachfrage, ich frühstücke heute in der Schule!" Damit schmierte er sich rasch zwei Butterbrote, klatschte Schinken obendrauf und steckte das Ganze in seine Brotbox, die sofort in seinen Rucksack wanderte. „Was fällt dir ein?! Du hast einen Monat Hausarrest, Leopold!!" „Du bist keine Respektsperson mehr für mich, Stephen, daher nehme ich auch keine Anordnungen mehr von dir entgegen. Habe ich Hausarrest, Mom?" Linda blickte einen Moment unschlüssig zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn hin und her. Dann verzog sich ihr Mund zu einer harten Linie. „Nein, mein Baby. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann und du keinen Unsinn anstellst. Pass aber trotzdem auf dich auf. Ich wünsche dir einen schönen Tag." Butters lächelte und küsste seine Mutter zum Abschied. Von seinem Vater verabschiedete er sich nicht. In der Diele schlüpfte er in seine kniehohen schwarzen Stiefel und hörte gerade noch, wie Stephen ärgerlich seinen Namen rief, bevor er das Haus verließ. »Weißt du was, Mistkerl? Fick dich!« An amerikanischen High Schools war eine wechselnde Stundeneinteilung unbekannt, man hatte fünf Tage die Woche die gleichen Stunden in der gleichen Reihenfolge, ihr individuelles Gepräge erhielten die Stundenpläne einzig durch die unterschiedliche Kurswahl des jeweiligen Schülers. Und von den sieben Kursen, die Kyle täglich besuchte, teilte er fünf mit Cartman, wobei es ihn nicht wenig erstaunt hatte, Mr. Quarterback ausgerechnet in seinen AP-Klassen anzutreffen. AP stand für „Advanced Placement" und diese Kurse behandelten die Themen des Faches mit wesentlich mehr Anspruch und Tiefe und stellten höhere Anforderungen als die normalen Kurse (oft hatten sie College-Level). Nur die besten Schüler besuchten mehr als eine AP-Klasse und Kyle weigerte sich noch immer, zu glauben, dass Cartman ebenfalls zu dieser Kategorie gezählt wurde. Seiner Meinung nach war er zwar nicht unintelligent, aber zu faul und desinteressiert, um auch nur einen dieser Kurse zu bestehen. Das Zusammentreffen der beiden Gegner erwies sich als vergleichsweise harmlos (zu Kyles unendlicher Erleichterung). Cartman redete ihn nicht an, mied jeglichen Blickkontakt und konzentrierte sich auf seine Arbeit und den Unterricht. Die Offenlegung seines Geheimnisses belastete ihn sehr und er brachte es nicht über sich, seinem geliebten Rivalen jetzt schon die Stirn zu bieten. Er hatte Angst. Eric hasste es, Angst zu haben, weil er es hasste, Schwäche zu zeigen. Er fühlte sich verletzbar und wehrlos, was seine ablehnende Haltung nur verstärkte. Die meisten Schüler machten an diesem Tag einen großen Bogen um diesen verwundeten Bären. Ein verwundeter Bär ist jedoch, wie jeder weiß, äußerst gefährlich - früher oder später musste die Bombe platzen. Es war 12 Uhr 30 und für Cartman und Kyle begann ihr AP-Englischkurs bei Mrs. Jenkins, den auch Butters, Token, Wendy, Gregory und Pip besuchten. Heute stand William Shakespeares „Romeo und Julia" auf dem Programm. Mrs. Jenkins, diesmal in einem knallroten Kostüm, marschierte die Reihen ihrer Gefreiten entlang und sagte: „Ich hoffe, Sie haben sich alle gut auf diese Sitzung vorbereitet und das Stück gelesen. Allgemein gilt ‚Romeo und Julia‘ als eine der berühmtesten Liebesgeschichten der Welt... und ich möchte nun, dass Sie Stellung dazu nehmen. Halten Sie das für gerechtfertigt? Wenn ja, warum, und wenn nicht, warum?" Wendy meldete sich. „Ja, Miss Testaburger?" „Also, um ehrlich zu sein, ich hatte... mehr erwartet. Natürlich ist es immer schwierig, ein Stück nur zu lesen, anstatt es aufgeführt zu sehen, so wie es ja eigentlich gedacht ist und wo Schwächen in der Handlung vielleicht nicht so auffallen. Aber wenn ich ‚Romeo und Julia‘ zum Beispiel mit ‚Stolz und Vorurteil‘ vergleiche, halte ich das Drama als Liebesgeschichte für eher unbefriedigend. Wenn man den tragischen Tod der beiden mal ausklammert, bleibt wenig übrig. Das gesamte Geschehen erstreckt sich lediglich über vier Tage! Und da soll mich dann die Romanze überzeugen? Es tut mir leid, aber nein. Sicher, die Szenen zwischen den Liebenden mit ihrer wunderbar schönen, lyrischen Sprache sind zweifellos beeindruckend, doch mir persönlich reicht das nicht. Zumal Romeo praktisch nie eine Sache zu Ende denkt und ständig übereilte Entscheidungen trifft, anstatt sich mal hinzusetzen und zu überlegen. Ich kann den Kerl nicht ausstehen." „Dazu möchte ich etwas sagen." „Bitte, Mr. Yardale." Wendy wandte den Kopf in Richtung Gregory und reckte herausfordernd das Kinn. Er schien es nicht zu bemerken. „Ich war auch ein wenig enttäuscht. Es gibt definitiv bessere Stücke von Shakespeare als ‚Romeo und Julia‘. Trotzdem denke ich, dass man die Protagonisten nicht verurteilen sollte. Romeo ist höchstens sechzehn und Julia erst dreizehn. Sie sind zu jung, als dass sie alle ihre Taten und Entscheidungen vernünftig überdenken würden. Sie wollen zusammen sein, das ist ihnen wichtig. Das kann man ihnen nicht vorwerfen." „Im Bezug auf Julia stimme ich dir zu, sie ist noch ein halbes Kind. Romeo hingegen ist meiner Ansicht nach alt genug, um Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen. Du bist nur ein Jahr älter als er, Gregory - würdest du dich an seiner Stelle auch so unbedacht verhalten?" Er sah sie verärgert an. „Nein. Ich bin ein sehr rationaler Mensch, ich lasse mich selten von meinen Gefühlen leiten. Romeo allerdings ist sehr emotional und außerdem verliebt. In diesem albernen Zustand ist man nicht zurechnungsfähig." Wendys Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ach, ist das so? Er denkt nicht nach, weil er verliebt ist? Das lässt nur einen Schluss zu, nämlich, dass es nicht Romeos Verstand ist, der ihn führt, sondern sein... etwas anderes." Einige Mädchen im Kurs kicherten und Gregory wurde rot; ob vor Zorn oder Empörung, ließ sich nicht eindeutig festlegen. „Das ist deine These. Zugegeben, Romeo benimmt sich die meiste Zeit wie ein Dummkopf, aber Julias ‚Tod‘ ist eine Katastrophe für ihn. Findest du es nicht edelmütig, dass er sich opfert, weil er ohne sie nicht sein kann?" „Nein. Er zieht sich feige aus der Affäre, wenn du mich fragst. Anstatt dafür geradezustehen, dass er Julia verführt und in eine überstürzte Ehe getrieben hat, bringt er sich lieber um. Er ist ein Jammerlappen, der mit den Konsequenzen seiner Handlungen nicht leben kann. Und Julia, obwohl sie insgesamt mehr Mumm beweist als Romeo, ist auch nicht ganz schuldlos. Gut, sie ist sehr jung, aber leider hat sie offensichtlich auch keinen Verstand, weil sie sich von Romeo beschwatzen lässt. Was tut er denn, um sie zu beeindrucken? Er umgarnt sie mit schönen Worten, das ist alles! Wie dichtete Odgen Nash so treffend in ‚The Romantic Age‘ über eine seiner Töchter?" Sie räusperte sich kurz und zitierte: „This one is entering her teens, Ripe for sentimental scenes, Has picked a gangling unripe male, Sees herself in bridal veil, Presses lips and tosses head, Declares she‘s not too young to wed, Informs you pertly you forget Romeo and Juliet. Do not argue, do not shout; Remind her how that one turned out." Gregory biss sich auf die Lippen und sagte nichts mehr. Wendy war außergewöhnlich belesen, nie um Worte verlegen und sehr direkt. Gott, er konnte diese Ziege nicht ausstehen! Warum musste sie, die ihn gedemütigt hatte, so hübsch und so klug sein? Mrs. Jenkins warf ihm einen wissenden Blick zu und schmunzelte. „Gut, wie ich sehe, entwickelt sich hier bereits eine lebhafte Diskussion. Weitere Meinungen? Wie wäre es denn mit Ihnen, Mr. Broflovski?" „Nun, ich finde auch, dass das Stück in manchen Punkten eher zu Shakespeares mittelmäßigen Werken zählt, es hat nichts von der überwältigenden Intensität des ‚Macbeth‘ oder des ‚König Lear‘. Dennoch sind die Szenen des Liebespaares zu Recht unsterblich geworden. Die Sprache ist wunderschön, reich an Bildern und Poesie. Und dass Romeo und Julia so jung sind, erhöht die Tragik ihres Schicksals. Ich glaube, Shakespeare wollte demonstrieren, dass wahre Liebe keine Grenzen kennt und sich nicht nach gesellschaftlichen Konventionen richtet." „Tse. ‚Wahre Liebe‘. Dass ich nicht lache." Kyle spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken rann. Langsam, fast wie in Zeitlupe, drehte er sich zu Cartman, dessen verächtlicher Blick eine einzige Provokation war. „Was ist dein Problem, Cartman?", stieß er hervor. „Willst du etwa behaupten, Romeo und Julia wären gar nicht verliebt gewesen?" „Genau das." „Bist du verrückt!? Sie sterben füreinander!" „Falsch. Sie sterben wegen einander. Das Stück ist keine tragische Liebesgeschichte. Ich halte es für eine Satire. Romeo und Julia sind, um es salopp auszudrücken, geil aufeinander, sonst nichts. Es geht um Lust, nicht um Liebe. Die meisten vergessen anscheinend gern, dass Romeo am Anfang der Geschichte ein Mädchen namens Rosaline anschmachtet. Er beklagt, dass sie ihm nicht ‚ihren Schoß geöffnet‘ habe und ihre Schönheit unter einem Nonnenschleier begraben will. Noch am selben Tag begegnet er Julia und schon ist Rosaline aus seinen Gedanken verschwunden. Die Begründung? Julia ist schöner als Rosaline. Wow. Romeo ist ja so tiefsinnig. Und Julia ist keineswegs besser als er. Sie heiratet einen Mann, den sie seit ein, zwei Tagen kennt und steigt gleich darauf mit ihm ins Bett. Im Ernst, Jude, das soll ich als reine, wahrhaftige Liebe auffassen?" Kyle war einen Moment sprachlos. Cartmans Meinung basierte tatsächlich auf dem Text. Er hatte ihn wirklich gelesen und empfand das geschilderte Geschehen nicht als romantisch oder glaubhaft genug, um den Tod des Paares als tragisch zu verstehen. „Ich... ich gebe zu, man... man kann es durchaus so sehen", erklärte er zögernd, „aber die Sprache, die Shakespeare verwendet, zeigt klar, wie die Rosaline-Episode gemeint ist. Er legt Romeo abgenutzte Modeformeln petrarkistischer Liebeslyrik in den Mund, die traditionell eine unerreichbare Dame zum Ziel hat. Erst, als Romeo Julia kennenlernt, entwickelt er seinen eigenen Stil, sein Ausdruck erhebt sich ins Poetische. Julia ist seine wahre Liebe, deshalb haben andere Frauen keine Bedeutung mehr für ihn. Er kann nicht ohne sie leben." „Und deswegen bringt er sich um. Wie bescheuert." „Halt die Klappe, Cartman, sowas kapierst du nicht!" „Was heißt hier: Sowas kapiere ich nicht? Seine übereilte Entscheidung, das Gift zu kaufen, sein daraus resultierender Tod, der Julia veranlasst, sich ebenfalls das Leben zu nehmen... was wäre passiert, wenn Romeo nicht in der Gruft aufgetaucht wäre? Das hätte Julia das Herz gebrochen, sicher, aber sie hätte eine Zukunft gehabt, sie hätte weitergelebt. Und Paris, der durch seinen Besuch an ihrem Grab eine große Zuneigung für sie beweist, hätte ihr ein guter Ehemann sein können, er wird von Shakespeare nicht als unsympathisch dargestellt. Im Gegenteil, er ist geduldig, freundlich und Julia aufrichtig zugetan, während Romeo einen unüberlegten, aufbrausenden, hormongesteuerten Idioten abgibt, der den armen Paris ersticht, obwohl er nichts mit dem Familienstreit zu tun hat und nur gekommen ist, um Julia zu betrauern. In dieser Szene ist Romeo ein Arschloch. Und dann der ach so berühmte ‚Liebestod‘ - tse, hör mir bloß auf! Sich umzubringen, weil man ohne den geliebten Menschen nicht mehr leben will, ist Unsinn. Das hat nichts mit Romantik zu tun. Sowohl Romeo als auch Julia wählen ihren Tod auf egoistische Weise. Romeo sagt sich: ‚Die Frau, die ich liebe, ist tot. Ich habe keinen Grund mehr, zu existieren. Was kümmert mich der Schmerz meines Freundes Benvolio? Was kümmert mich der Schmerz meiner Eltern?‘ Und Julia sagt sich: ‚Der Mann, den ich liebe, ist tot. Ich habe keinen Grund mehr, zu existieren. Was kümmert mich mein Verlobter Paris, der tot zu meinen Füßen liegt? Warum sollte ich um ihn trauern? Was kümmert mich der Schmerz meiner Amme? Was kümmert mich der Schmerz meiner Eltern?‘ Es interessiert sie nicht. Der Geliebte ist tot, das ist das Ende. Bullshit, wenn du mich fragst. Totaler Bullshit." Kyle fixierte ihn, seine grünen Augen funkelten. „Du hast nicht ganz unrecht und ich begreife deine Argumente. Aber egal, wie töricht und egoistisch dir der Tod von Romeo und Julia auch vorkommen mag, sie waren zumindest eines Opfers fähig. Du würdest niemals irgendetwas opfern, Cartman. Für niemanden." Eric starrte ihn an, schweigend. Dann erhob er sich, lauernd, leise, in bedrohlicher Ruhe und ging zu Kyles Platz hinüber. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Schreibpult ab und mit der anderen auf der Lehne des Stuhls, neigte sich vor und bannte den Rothaarigen mit dem lodernden Feuer in seinen Augen. „Für einen Menschen, den ich liebe, würde ich alles tun, Jude... sogar für ihn sterben, wenn es sein muss. Aber wenn ich für ihn sterbe, würde ich es tun, um sein Leben zu retten. Sollte er sich umbringen, weil er ohne mich nicht sein kann, so wäre mein Tod umsonst gewesen. Ich würde wollen, dass der geliebte Mensch, nachdem er getrauert und seinen Kummer verarbeitet hat, sein Leben weiterlebt und ein neues Glück sucht. Ich würde mich opfern, damit er leben kann - und nicht, damit er dieses Leben, das ich geschützt habe, einfach wegwirft. Ich erwarte nicht von dir, dass du mir das glaubst. Aber ich erwarte von dir, dass du dir nie wieder anmaßt, darüber zu urteilen, was ich tun oder nicht tun würde. Du kennst mich nicht, Jude. Du weißt nichts von mir." Damit kehrte er an seinen Platz zurück. Kyle wagte kaum zu atmen, er war verwirrt, wütend und unsicher. Was bezweckte Cartman mit diesem Theater? Wollte er ihm ein schlechtes Gewissen einreden? Sein Entschluss, ihm eine allerletzte Chance zu geben, geriet ins Wanken. Er konnte sich nicht mit diesem manipulierenden Arschloch anfreunden, er war zu... zu... zu Cartman eben! Auch wenn er sehr schöne Augen hatte... »Ah, Scheiße!! Ich hasse meine Hormone!!« „...Äh... ja... das war... aufschlussreich.", meinte Mrs. Jenkins in heiterem Tonfall, um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern. „Tatsächlich existieren in der Forschung zwei gegensätzliche Meinungen zu ‚Romeo und Julia‘. Die einen sehen es als die Geschichte einer großen Liebe, die Grenzen und Konventionen sprengt, die anderen als eine Satire, die mit dem Ideal der jungen, reinen Liebe aufräumt und aufzeigt, wo es enden kann, wenn sich Menschen blind ihren Leidenschaften hingeben. Für sie liegt die eigentliche Tragödie in dem alten, verhärteten Hass der beiden Familien, an dessen Ursprung sich niemand mehr erinnern kann und an dem trotzdem festgehalten wird." „Moment mal... soll das heißen, Cartmans Ansicht ist korrekt?", fragte Kyle verblüfft. „Es gibt Literaturwissenschaftler, die das Stück genauso auffassen?" „Natürlich. Literatur wird stets subjektiv gedeutet, Mr. Broflovski. Interpret A sagt dieses, Interpret B sagt jenes. Belegen sie es mit passenden Zitaten aus dem Text, ist beides möglich. In der Mathematik ergib eins plus eins immer zwei, aber in der Literaturwissenschaft existiert kein klares richtig oder falsch. Da kann eins plus eins vieles sein, nur nicht zwei. Gerade das macht die Beschäftigung mit Literatur ja so spannend. Es mag ein gewisser Konsens vorherrschen, wie dieses oder jenes Werk allgemein zu interpretieren ist, das ist jedoch keine zu hundert Prozent verbindliche Lösung. Sie tendieren im Falle von ‚Romeo und Julia‘ zu Sichtweise A, Mr. Cartman zu Sichtweise B. Beides ist legitim und völlig in Ordnung. Die in der neueren Forschung bevorzugte, weil gemeinhin als korrekter angesehene Interpretation ist allerdings die von Mr. Cartman und Miss Testaburger. Nicht umsonst hat ‚Romeo und Julia‘ den Ruf, das am häufigsten falsch verstandene Drama der Weltliteratur zu sein." „Aber...!" Kyle biss sich auf die Lippen und wünschte sich sehnlichst das Klingelzeichen herbei, damit er Cartman für sein triumphierendes, selbstgefälliges Grinsen erwürgen konnte. Um 13 Uhr 30 musste sich Kyle auf AP Calculus einstellen, während es sich Stanley Marsh in der Studierhalle gemütlich machte und mit seinen Hausaufgaben begann. „Yo Alter, was geht ab?" „Oh, hallo Kenny! Was ist denn mit dir passiert? Was soll die Augenklappe?" Kenny warf seinen Rucksack auf den Tisch (wobei die Hälfte des Inhalts heraus kullerte) und schwang sich auf den Stuhl, der Stan gegenüberstand. „Die Augenklappe versteckt mein hübsches Veilchen, ein Souvenir von letzter Nacht, als ich versucht habe, ‘ne heiße Braut abzuschleppen. Ihr Macker hatte leider was dagegen. Eifersucht ist echt eine blödsinnige Erfindung. Ich bin froh, dass ich noch nie eifersüchtig war." „Du warst noch nie eifersüchtig? Ehrlich?" „Klar. Ich kenne meine Sexpartner ja gar nicht. Wir vögeln und fertig. Da gibt‘s keinen Anlass zur Eifersucht, wofür ich dankbar bin. Weniger dankbar bin ich für meine Hausaufgaben. ‚It‘ verlangt so ‘n dämlichen Aufsatz von uns, über den Sezessionskrieg. Wir haben den besprochen... so irgendwie... aber bei ‚It‘ verstehen wir alle bloß Bahnhof. Außerdem durften wir uns ellenlange, gähnend langweilige Schilderungen über einen angeblichen Vorfahren von ‚It‘ anhören, der zu der Zeit gelebt haben soll. Komisch nur, dass das Ganze wie eine billige Kopie von ‚Vom Winde verweht‘ klingt!" „Wie lang soll der Aufsatz sein?" „Mindestens drei Seiten, wo ich doch noch nich‘ mal Grußkarten vollkriege. Wenn ich diesen verdammten Kurs nicht bestehen müsste..." „Warum hast du ihn überhaupt gewählt, wenn du das Fach hasst?" Kenny seufzte. „Ich hasse nicht das Fach, ich hasse die Lehrkraft, die es unterrichtet. Und was hätte ich sonst nehmen sollen? Ich brauche drei Credits im sozialwissenschaftlichen Bereich; zwei davon habe ich schon, ich hab‘ Weltgeschichte gemacht, bei Miss Watson, die total super ist, und dann noch Erdkunde, bei Mrs. Jenkins. Der Rest is‘ nix für mich. Politik, Wirtschaft, Soziologie, Recht oder gar Psychologie... bäh, da würde ich noch mehr abstinken. Wenn ‚It‘ seinen... ihren... Unterricht doch nur ein bisschen interessanter rüberbringen würde..." Stan betrachtete das blonde Häuflein Elend vor sich auf dem Stuhl, überlegte eine Weile und bot schließlich an: „Ich könnte dir Nachhilfe geben, wenn du willst. Ich war immer gut in Geschichte und vielleicht kann ich dir den Lernstoff besser vermitteln als ‚It‘? Ich weiß zwar nicht, ob ich das Zeug dazu habe, jemandem was beizubringen, aber einen Versuch ist es wert. Was meinst du?" Die Sonne ging auf. Kennys Mund teilte sich in einem überraschten, glücklichen, strahlenden Lächeln, das ein unwiderstehliches Leuchten in seine Augen zauberte. Er ergriff Stanleys Hände und drückte sie begeistert. „Das würdest du tun? Danke, Kumpel, das ist einsame Spitze!" Stan starrte auf ihre verschränkten Hände und fühlte sich plötzlich seltsam nervös. Er lächelte seinen Freund schüchtern an, und Kenny, gänzlich hingerissen von diesem Lächeln, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Ein Räuspern unterbrach die Situation. Es war Gary Harrison, dessen Blick die ineinander gelegten Hände streifte, ohne eine Veränderung in der höflich-freundlichen Mimik seines Gesichts auszulösen. Nur der Zug um seinen Mund schien energischer geworden zu sein. Er trug Jeans und sein weiß-rotes Spieleroberteil mit der Nummer Zehn. „Gary... wie gut, dass du da bist, ich wollte ohnehin mit dir sprechen." „Ich wollte auch mit dir sprechen, Stan. Es sei denn, ich störe gerade?" Kenny war versucht, „Ja, du störst!" zu sagen, schluckte es jedoch hinunter. Er konnte sich denken, worum es ging und so ließ er die Hände des Schwarzhaarigen missmutig los. Seine Sympathien für Gary musste man als minimal bezeichnen, obwohl er selbst nicht hätte erklären können, warum er den anderen nicht mochte. Er empfand eine starke Abneigung gegen ihn, deren Ursprung ihm ein Rätsel war, denn Harrison hatte ihm nie etwas getan. „Es geht vermutlich um... na ja, um die ‚Sache‘?" „Ja. Es geht um die ‚Sache‘. Ich kann nicht länger davor davonlaufen.", erwiderte Gary ernst. „Allerdings sollten wir das lieber unter vier Augen..." „Schon kapiert", brummte Kenny angesäuert, „Ich verzieh mich." Er sammelte seine Habseligkeiten auf, warf sich den Rucksack über die Schulter und verkrümelte sich in eine der hintersten Ecken der Studierhalle, wo er seinen neuen „Playboy" auspackte. Aus irgendeinem Grund gelang es ihm jedoch nicht, sich ausschließlich auf seine Bunnys zu konzentrieren, immer wieder ließ er das Heft sinken, um möglichst unauffällig in Richtung Stan und Gary zu linsen. Der Kapitän der Soccermannschaft saß jetzt auf dem Platz, den er freigemacht hatte, redete eifrig auf seinen Gegenüber ein und wirkte überhaupt reichlich nervös. Stanley ließ keinerlei Ungeduld erkennen, er hörte aufmerksam zu. Kein Wunder. Er war seit jeher ein guter Zuhörer gewesen, vertrauenswürdig und mitfühlend. In der Vergangenheit hatte seine sensible Art ein paar Leute dazu gereizt, ihn zu verspotten oder zu verprügeln (allen voran seine eifersüchtige Schwester), bis sie es eines Tages büßen mussten. Für Stan galt: Weiche Schale, harter Kern. Er war ein netter, fürsorglicher Mensch, der sinnlose Streitereien verabscheute. In seinem Zorn aber konnte er unberechenbar sein. Um ihn wirklich wütend zu machen, bedurfte es einiges - der Verhöhnung seiner Überzeugungen und Prinzipien, zum Beispiel. Er war nur schwer zu provozieren, doch wenn die Grenze überschritten war...dann war man am Arsch. Kenny würde niemals vergessen, wie Stan mit acht oder neun Jahren mehrere Walfängerschiffe unter Beschuss nahm und versenkte, um ein Exempel zu statuieren. Hatte man den Krug erst einmal zum Überlaufen gebracht, mutierte er zum Badass. Mit vierzehn, nach seinem unfreiwilligen „Ich-bin-eigentlich-noch-nicht-soweit"-Coming Out durch Wendy, schloss er sich ein zweites Mal den Goths an und wurde innerhalb weniger Wochen ihr neuer Anführer. Seine „Regentschaft" dauerte zwar nur ein knappes halbes Jahr, aber man munkelte, dass er auch heute noch Verbindungen zur Szene habe. Derartige Gerüchte festigten Stanleys Ruf als „der nette Kerl mit der dunklen Seite". Und mit seinem rabenschwarzen Haar und seinen durchdringenden dunkelblauen Augen passte er ziemlich genau zu diesem zugkräftigen Image. Ganz davon abgesehen, dass dem sonst so süßen Stan Sex-Appeal aus sämtlichen Poren tropfte, wenn er die Zähne zeigte. Kenny fand nichts heißer als das, nicht einmal seine vier geliebten „Bs", Bunnys, Butters, Bebe und Beyoncé. Und das Gespräch drehte sich um die „Sache", Harrisons Kuss. Dass sich dieser Pomadenjüngling so etwas überhaupt traute! »Hätte ich nicht gedacht, echt. Einfach so hinzugehen und Stanley zu küssen... der hat Nerven! Ich meine... ich meine, Stan knutscht nich‘ in der Gegend rum, er ist sehr wählerisch. Und dann hat er ja auch noch sein Handicap - wenn er jemanden mag, ist Küssen kein Problem, aber wenn er jemanden nicht mag und der will was, sollte man besser eine Kotztüte bereithalten. Andererseits ist ihm nicht schlecht geworden, als Harrison ihn geküsst hat... was bedeutet, dass Stan ihn mögen muss. Na toll.« Seine Stimmung verdüsterte sich rapide. Was war los mit ihm? Wenn ihn nicht einmal der aktuelle „Playboy" ablenken konnte... vielleicht wurde er krank? Oder hatte er etwas Falsches gegessen? Während Kenny leicht beunruhigt seine Stirn befühlte, brachte Gary unter Stottern sein Anliegen vor. „Stan... es... es tut mir sehr leid, dass ich... also, dass ich... deine Privatsphäre... nicht respektiert habe... und dass ich... na ja, dass ich dich gekü- ...gekü- ...geküsst habe... Ich hätte das nicht tun dürfen. Aber ich... ich... habe... dich gern. So richtig. Also, nicht, dass ich dich vorher nicht auch richtig gerngehabt hätte, jetzt ist es nur ...stärker... und ein bisschen anders." Sein Sprechen wurde hastig, sein Gesicht glühte wie eine rote Signalleuchte. „Ich weiß, du siehst in mir nur deinen Kapitän und Teamkameraden, aber ich... ich... ich..." Er holte tief Luft. „...aberichmöchtemehrfürdichseinundwürdedeshalbgernemalmitdirausgehenbitte." Der Satz kam als zusammenhängendes Ungetüm heraus und in einer Geschwindigkeit, als wolle Gary einen Rekord aufstellen. Stan verstand fast kein Wort. „...Hä?" „Ich sagte: Ich möchte mehr für dich sein und würde deshalb gerne mal mit dir ausgehen, bitte.", wiederholte der Mormone unter Aufbietung all seiner verbliebenen Nervenstränge. Seine Augen ruhten sehnsüchtig auf diesem ebenmäßigen Antlitz, das er so gut kannte. Ob nun glücklich, niedergeschlagen, enttäuscht oder fröhlich, es war ihm in mancher Hinsicht vertrauter als sein eigenes Spiegelbild. „Wenn du nicht willst, ist das natürlich auch okay!", beteuerte er eifrig, weil sein Angebeteter immer noch schwieg. Er wusste, dass Stan nicht in ihn verliebt war, aber er hoffte, dass er ihm wenigstens eine Chance geben würde. „Du... möchtest mit mir ausgehen?" „Ja." „Wohin?" „Keine Ahnung... ins Kino? Zum Tanzen? In ein Restaurant? Was dir gefällt." Erneut Schweigen. Endlich sagte Stan: „Gary... ich mag dich wirklich, doch nur wie einen Freund. Da du es dir aber so sehr wünschst, bin ich bereit, mit dir auszugehen. Ich weiß nicht, ob sich daraus etwas entwickeln könnte... ich will dir keine falschen Hoffnungen machen. Wir versuchen es, mehr nicht. Ist das in Ordnung?" „Ja!! Ich war ja nicht einmal sicher, ob du nach meinem...meinem ‚Ausrutscher‘ noch mit mir reden würdest. Wann hast du Zeit?" „Nächsten Samstag wäre prima. So gegen acht. Kannst du mich abholen?" „Ja. Also nächsten Samstag. Klasse!" Er wandte sich zum Gehen. „Oh, und Stan?" „Hm?" „Wir sehen uns beim Training?" Stan lächelte. „Natürlich, Käpt‘n. Wir sehen uns beim Training." Fünf Minuten nach Garys Abgang schlurfte Kenny zu seinem Platz zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen wie ein Sack Mehl. Eine Weile blätterte er in seinem Magazin, ohne seinen Gegenüber zu beachten. Dann fragte er so desinteressiert wie möglich: „Harrison und du hattet wohl einiges zu klären. Wie steh‘n die Aktien?" „Tja... ich schätze, ich habe ein Date." „Oh." Es war ein sehr deutliches Oh. „Sind Glückwünsche angebracht?" „Ich weiß nicht genau. Ich mag Gary, er ist ein wahnsinnig netter Kerl, er sieht gut aus und alles, aber ich habe ihn nie als... als Datingmaterial betrachtet, verstehst du? Immer nur als Kumpel. Vielleicht könnte ich lernen, ihn auf andere Art gernzuhaben, es könnte aber auch sein, dass es so bleibt, wie es ist. Und wenn es so bleibt, muss ich ihm das Herz brechen. Ich bin nicht scharf darauf, glaub mir. Schließlich will ich ihn ja nicht verletzen. Aber soll ich ihm was vorlügen? Das würde ihn erst recht verletzen." „Lieber ein Ende mit Schmerzen als Schmerzen ohne Ende, sag ich immer." „Wahrscheinlich hast du recht..." „Und jetzt entschuldige mich, ich geh draußen eine rauchen." Damit wirbelte Kenny davon, hinaus aus dem Schulgebäude, auf den Hinterhof, wo der allgemeine Raucherplatz war. Er warf den Rucksack zu Boden, zündete sich eine Zigarette an und nahm ein paar schnelle Züge, das Nikotin verschaffte ihm aber nicht die gewohnte Entspannung. Er starrte auf das Heft in seiner Hand, rollte es plötzlich zusammen und stopfte es in einer heftigen Bewegung in eine der Mülltonnen. Heute war ein Scheißtag. »Warum hat Stan bloß Training, warum?« Kyle hatte Kopfschmerzen. Es war Viertel nach drei, offizieller Schulschluss. Die Aktivitäten der zahlreichen Clubs und das Training der Sportmannschaften fielen in die Zeit danach, nur leider nicht immer günstig. Heute zum Beispiel hatte Stan Soccer, während Kyle erst morgen wieder Judo haben würde. Dasselbe galt für Football, er lief also Gefahr, Cartman auf dem Weg zum Parkplatz zu begegnen. In Stans Begleitung wäre es zu ertragen gewesen, aber so? Unbewusst beschleunigte er seine Schritte. Das einzig Gute an diesem verdammten Tag war die Tatsache, dass Mrs. Jenkins nicht die Inhaltsangaben eingefordert hatte, die Cartman und er gestern beim Nachsitzen hätten anfertigen sollen - Cartman hatte wie üblich geschwänzt und Kyle hatte Darmprobleme vorgeschützt und sich alle zehn Minuten auf die Toilette verdrückt, um die Stunde künstlich zu verkürzen. Bei dem diensttuenden Lehrer hatte es sich um ein staubtrockenes Fossil gehandelt, bei dem es Kyle nicht gewundert hätte, wenn er von einer Windböe zerbröselt worden wäre. Und diese Englischstunde! Er knabberte immer noch an dem, was Cartman gesagt hatte und ertappte sich dabei, wie er ihm zumindest im letzten Punkt zustimmte. Sich umzubringen, weil der Geliebte tot war, das war absolut nicht romantisch, das war Bullshit. Schmerz, Trauer, Kummer, das war verständlich, doch Selbstmord? Selbstmord war eine egoistische, feige Tat, nichts anderes. Wer wirklich liebte, würde niemals zulassen, würde niemals wollen, dass der geliebte Mensch sich tötete. Die Liebe von Romeo und Julia war zu verzehrend, zu ausschließlich, zu selbstbezogen, um im Leben bestehen zu können. Sie blendete die Welt aus...und man konnte nun mal nicht in der Welt existieren, wenn man sie ausblendete. Man durfte auch der Liebe nicht alles unterordnen. Er erreichte sein Auto und kramte in seinen Hosentaschen nach seinem Schlüssel. Nichts. Irritiert hielt er inne. Hatte er den Schlüssel vielleicht in seinen Aktentaschenverschnitt (Geschenk von Daddy) gesteckt? Er öffnete sie, durchwühlte sämtliche Fächer. Wieder nichts. Was zum Teufel...? „Suchst du das hier?" Natürlich. Wer sonst würde in der Umkleide lange Finger machen? Da stand er, breitbeinig, prahlerisch, mit diesem grässlichen Grinsen im Gesicht, und am Finger seiner erhobenen Hand baumelte der vermisste Autoschlüssel. Kyles Augen verwandelten sich in Speere aus Smaragd und durchbohrten Cartman. »Ah, deine Augen, Jude... was für fürchterliche Blicke du mit ihnen schleudern kannst!«, dachte Cartman bewundernd und verärgert zugleich. Er wusste, dass er unvernünftig, dass er noch nicht bereit war, sich nach alter Manier mit ihm anzulegen, aber sein Drang, Kyles Feuer zu entfachen, den Vulkan zum Ausbruch zu bringen, war einfach stärker als er. Er hätte schon bei „Romeo und Julia" die Klappe halten sollten, doch dazu war sein Rivale zu... zu... na ja, zu interessant. Belesen, scharfsinnig und sprachgewandt, konnte er jeden verbal auseinander schrauben, zielgerichtet und gnadenlos. Kyle zu widersprechen, hieß in den meisten Fällen, ein Gewitter heraufzubeschwören, wenn man sich nicht auf eine geschickte Verteidigung verstand. Kyle war... er war... wie ein Blitz. Eine elektrische Entladung, hell, leuchtend, doch in all ihrer Kraft und Majestät gefährlich. Das Feuer des Himmels, in seinem Wüten zerstörerisch und gewaltig, forderte Respekt für seine Stärke. Kyle. Der Name war wie Säure auf seiner Zunge. Oder wie Gift. Er machte ihn krank, verletzlich, angreifbar, schwach. Er ließ ihn leiden. Niemand sonst konnte das von sich sagen. „Ich nehme an, du willst den Schlüssel wiederhaben? Nun, vielleicht gebe ich ihn dir zurück, wenn du mich recht schön bittest." „Gib her." Das war keine Bitte, das war ein Befehl. „Wie unhöflich du bist! Aber von einer dummen, dreckigen Ginger-Jersey-Juden-Ratte habe ich auch nichts anderes erwartet. Wie lebt es sich eigentlich, wenn man weiß, dass man eine Beleidigung für die menschliche Rasse ist?" „Unsere Definition von dem, was eine Beleidigung für die menschliche Rasse ist, dürfte ziemlich unterschiedlich sein, Arschloch. Und jetzt gib mir den Schlüssel!" „Hm... nein. Deine schlechten Manieren enttäuschen mich, also werde ich ihn dir nicht geben. Aber ich habe heute meinen netten Tag. Du darfst ihn dir holen." Damit öffnete Cartman ohne mit der Wimper zu zucken Knopf und Reißverschluss seiner Jeans und ließ den Schlüssel vorsichtig in seine Boxershorts gleiten. Es fühlte sich unangenehm an, Kyles entgeisterter Gesichtsausdruck entschädigte ihn jedoch reichlich. „Was ist? Hast du Schiss?" „Das - ist - nicht - dein - Ernst!! Ich werde auf keinen Fall da reinfassen!!!" „Nicht? Wie schade." Cartmans Lächeln wirkte so unschuldig, als könne er kein Wässerchen trüben. Der Rothaarige zitterte am ganzen Körper, er stand kurz vor der Explosion. Er begriff genau, dass es seinem Feind weniger um den homoerotischen Aspekt als um die reine Demütigung ging. Er, Kyle, sollte sich erniedrigen lassen. Für einen Autoschlüssel. „Cartman... du bist und bleibst ein mieser Bastard! Du wirst dich nie ändern oder irgendwie weiterentwickeln! Ich würde dich anspucken, wenn mir meine Spucke nicht zu schade wäre! Du kotzt mich an, verstehst du!? Ich hasse dich! Und ich werde dich immer hassen!!" Er packte den anderen, warf ihn zu Boden und stellte einen Fuß auf seinen Brustkasten. Cartman rang nach Luft; seine Knochen knackten, alles tat ihm weh. „Gib. Ihn. Her." Jetzt war es eine Drohung. Der niedergestreckte Quarterback angelte den Schlüssel aus seinen Shorts, sah sich einen Moment um, grinste plötzlich hämisch und platzierte das gute Stück mit einem geschickten Wurf in einem malerischen Häufchen Hundekot. „So besser, Jude?" „Du...!!!" Das gesamte Gewicht lastete nun auf dem Fuß, das Atmen wurde anstrengend. Cartman biss die Zähne zusammen, umfasste den Fuß mit seinen großen Händen und versuchte, ihn von sich wegzudrücken. Kyle war zwar durchtrainiert und sehr kräftig, doch bei einem direkten Vergleich ohne Judotechniken zog er in der Regel den Kürzeren, so auch diesmal. Der Brünette hob den Fuß Zentimeter um Zentimeter, richtete sich langsam auf und stieß ihn endlich mit voller Wucht in den Staub. Kyle landete unsanft auf der Seite und schürfte sich den Arm auf. Der Hass in seinen Augen traf Eric wie eine gezackte Klinge; trotzdem kam ein verächtliches Lachen aus seiner Kehle. „Ich werde mich nie ändern oder weiterentwickeln, Mr. Neunmalklug!? Darf ich erfahren, in welcher Hinsicht du dich geändert hast? Du bist derselbe arrogante, eingebildete, scheinheilige Mistkerl, der du immer gewesen bist!! Selbstgerecht sitzt du auf deinem Schulprimusthron und beurteilst alles und jeden nach deinen persönlichen Kriterien - und wer ihnen nicht entspricht, hat Pech gehabt! Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass deine Kriterien vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss sind?!" „Das sagst ausgerechnet du?! Wenn jemand eine andere Meinung hat als du, ist er bei dir unten durch! Wer keine Lobeshymnen auf dich singt, ist nichts wert! Wirf mir also gefälligst nicht vor, ich wäre selbstgerecht!! Ich kümmere mich um die Probleme meiner Mitmenschen, obwohl ich selbst welche habe, während du...!!" „Probleme? Was hast du denn für Probleme!? Sicher, deine Mutter ist ‘n überfürsorglicher Kontrollfreak und dein Vater ein Pantoffelheld... aber sonst? Du stammst aus einer reichen Familie, du brauchst nicht mal einen Nebenjob, um dir dein verdammtes Auto, deine Klamotten oder deinen supermodernen Laptop leisten zu können, Daddy bezahlt alles! Du hast es nicht nötig, für dein Geld zu arbeiten, du machst keine Überstunden oder schuftest vier Tage die Woche bis spät abends, weil ein verantwortungsloser Elternteil deine sauerverdienten Kröten verpulvert! Du hast eine richtige Familie, mit Menschen, die füreinander da sind, die sich wirklich für dich interessieren, anstatt dich als unerwünschte Last zu betrachten! Klar gibt‘s Schwierigkeiten, aber du hast jemanden, der dir zuhört, jemanden, der dich nicht vergisst oder anlügt oder ignoriert! Ich kapier‘s nicht! Ich kapier‘s einfach nicht!! Du jammerst auf hohem Niveau, weißt du das!? Du siehst nicht, was du hast, und da du es nicht siehst, würdigst du es auch nicht...aber natürlich bin ich derjenige, der nichts dazugelernt hat...!" Kyle starrte ihn an. Du hast es nicht nötig, für dein Geld zu arbeiten. Du machst keine Überstunden. Du schuftest nicht vier Tage die Woche bis spät abends, weil ein verantwortungsloser Elternteil deine sauerverdienten Kröten verpulvert. Sondern ich. Ich muss für mein Geld arbeiten. Ich mache Überstunden, ich schufte vier Tage die Woche bis spät abends, weil meine Mutter meine sauerverdienten Kröten verpulvert. „Cartman... du..." Du hast eine richtige Familie. Du hast Menschen, die füreinander da sind, die sich wirklich für dich interessieren. Menschen, die dich nicht als unerwünschte Last betrachten. Du hast jemanden, der dir zuhört. Niemand vergisst, belügt oder ignoriert dich. Ich wurde vergessen. Ich wurde belogen und ignoriert. Meine Mutter hört mir nicht zu. Sie interessiert sich nicht für mich, sie ist nicht für mich da. Ich bin eine Last für sie und sie ist eine für mich. Wir sind keine Familie. Und wir werden nie eine sein. Kyle sagte nichts. In seinem Zorn hatte ihm Cartman indirekt mehr verraten, als er wohl je beabsichtigt hatte. Du hattest alles, was ich mir wünschte. Seine Worte von gestern! Erst jetzt wurde ihm klar, dass er damit recht hatte. Cartman reagierte auf seine Umgebung wie ein misshandeltes, in die Enge getriebenes Tier, das sich mit Zähnen und Klauen aggressiv gegen jeden verteidigte, der sich ihm näherte, aus Angst, erneut verletzt zu werden. Das war seine Art, sich zu schützen. Er hatte nichts anderes gelernt. Wieder stiegen Scham und Schuld in ihm hoch, doch er kämpfte sie nieder. Cartman als Menschen mit einem fühlenden Herzen zu begreifen, war ziemlich seltsam, geradezu unheimlich - und außerdem machte er es einem auch wirklich nicht leicht, ihn zu mögen. Wenn er ihn liebte, warum konnte er dann nicht nett zu ihm sein? Schweigend holte er ein Taschentuch aus seiner Aktentasche und puhlte angeekelt seinen Schlüssel aus dem Hundehaufen. „Du hast gesagt, du liebst mich und trotzdem bist du fies zu mir. Solltest du dich nicht lieber von einer besseren Seite zeigen?" „Was soll das bringen? Warum sollte ich mich anders verhalten als ich bin? Du würdest mich sowieso durchschauen. Ich bin gerne fies zu dir, weil ich es liebe, mit dir zu streiten. Hast du das immer noch nicht verstanden? Ich werde dich nie mit Samthandschuhen anfassen. Ich werde nie aufhören, dich zu ärgern und zu beleidigen. Ich liebe es, wenn du dich wehrst. Ich liebe es, wenn du mir etwas heimzahlst. Du lässt dir nicht die geringste Scheiße von mir bieten. Ich bin keiner von den Kerlen, die sich für die ‚Jungfrau in Nöten‘ begeistern. Jemand, der untätig herumsitzt und darauf wartet, von seinem Traumprinzen gerettet zu werden, kann mich mal am Allerwertesten. Ich finde Stärke anziehend. Willenskraft. Temperament. Schlagfertigkeit." »Ich auch.« dachte Kyle unwillkürlich, aber er behielt das für sich. „Ich werde nicht anfangen, dich anders zu behandeln, nur weil du jetzt über meine Gefühle Bescheid weißt. Ich bin ja immer noch ich. Aber ich gebe zu, dass ich... dass ich mich freuen würde, wenn du... vielleicht... möglicherweise... ein bisschen mehr Zeit mit mir verbringen könntest als bisher...?" Er wurde rot bei diesem Vorschlag. Kyle versuchte, den Anflug eines Lächelns zu unterdrücken, doch es misslang ihm. „Ich... ich weiß nicht recht. Ich werde es mir überlegen." Cartman, verwirrt, überrascht, erwiderte das scheue Lächeln. Allerdings nicht lange, denn das vertraute Organ von Mrs. Jenkins ließ sie herumfahren. Die Lehrerin war unversehens hinter ihnen aufgetaucht und musterte sie streng. „Oh... was können wir für Sie tun, liebe Mrs. Jenkins?" „Raspeln Sie kein Süßholz, Mr. Cartman. Und Sie ebensowenig, Mr. Broflovski. Wissen Sie, ich bin froh, dass ich Sie noch antreffe, ich habe nämlich ganz vergessen, Ihre Inhaltsangaben einzusammeln. Wenn Sie sie mir bitte aushändigen würden..." Shit. Und hier endet Kapitel 5! Es ist schon wieder so ein Monster... Verzeihung, dass ich Euch ständig so lange an den Bildschirm zwinge! *verbeug* Ich hoffe, es hat Euch gefallen, Kommis sind wie immer erwünscht!^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)