Heartbeat von Autumn (Kyman, Stenny, Creek, Tyde u. a. (KAPITEL 12 IST DA!!!)) ================================================================================ Kapitel 12: Wechselnde Gezeiten ------------------------------- Hallo, liebe Leser! Ja, wahrhaftig, ein neues Kapitel. Es tut mir sehr leid, dass es so lange gedauert hat und ich wollte diese FF eigentlich auch schon aufgeben und abbrechen, aber dann habe ich mich dagegen entschieden. Das letzte Jahr war ziemlich bescheiden, insbesondere in privater Hinsicht und ich hatte weder Lust noch Inspiration zum Schreiben. Ich hoffe, dass dieses Kapitel, das bisher längste dieser Story, ein bisschen für die lange Wartezeit entschädigt. Ich weiß nicht, wann ich den nächsten Teil fertig haben werde, aber ich habe wieder den festen Entschluss, diese FF zu vollenden. Ich möchte mich bei allen bedanken, die Favos und Kommentare hinterlassen haben und ich würde mich sehr über etwas mehr Feedback freuen. Und nun wünsche ich Euch viel Spaß beim Lesen! Kapitel 12: Wechselnde Gezeiten Freunde sind unsere Schutzzäune. Wir bemerken oft erst, dass sie nicht mehr da sind, wenn wir ins Leere greifen und abstürzen. - Peter Sereinigg Clyde Donovan rieb sich die schmerzenden Augen, blinzelte mehrmals und erkannte schließlich die Person, die vor ihm saß: Mrs. Jenkins, die ein strenges schwarzes Kostüm trug und hinter ihrem massiven Schreibtisch thronte wie ein Hoher Gerichtshof. Was machte er hier? Hatte er was angestellt? Warum hatte man ihn dann nicht zu Principal Sinclair geschickt? Und wieso sah dieses Büro genauso aus wie eine Gefängniszelle? „Also, Mr. Donovan", begann Mrs. Jenkins in einem Ton, der ihm den Schweiß ausbrechen ließ, „ich gehe davon aus, dass Sie eine engere Auswahl von drei Colleges getroffen haben...?" „...Hä?! Colleges!? Auswahl!? ...Na ja, äh...öh...drei...?" „Haben Sie bereits einen Termin für die Aufnahmeprüfung festgelegt?" „...Nicht...nicht so richtig...?" „Haben Sie wenigstens einen Aufsatz für die Anmeldung verfasst? Oder auch zwei?" „Ich...ich habe noch gar keinen Aufsatz...!" „Was ist mit Empfehlungsschreiben Ihrer Lehrer?" „...Nö....?" Es gab ein fürchterliches Getöse, Donner grollte, Blitze zuckten, der Schreibtisch wuchs zu gigantischen Ausmaßen an und Mrs. Jenkins mit ihm. Ihre Stimme hallte schaurig von den kahlen Wänden wider, als sie den entsetzten Clyde anbrüllte: „DANN HABE ICH MICH WOHL GETÄUSCHT, MR. DONOVAN!! ICH DACHTE, SIE WOLLTEN AUFS COLLEGE GEHEN UND ETWAS MIT IHREM LEBEN ANFANGEN!!" Ein Strudel tat sich unter ihm auf und zog ihn unbarmherzig in die dunkle Tiefe. Er konnte nicht einmal schreien; nur ein hilfloses Krächzen kam aus seinem Mund, ehe der Sog ihn verschluckte und er in unergründlicher Finsternis versank... ~~ 6 Uhr 10 ~~ „Nein, nein, nein!!" Er strampelte wild mit den Beinen, seine Bettdecke flog zur Seite und er riss die Augen auf, schwer atmend und desorientiert. War das... sein Zimmer? Da war seine Spielekonsole... der Porno, den er gestern abend angeschaut hatte (Basketball Boys XXX)... sein Hefter, in dem er Back- und Kochrezepte aus dem Internet sammelte... sein Laptop... das Poster seiner Lieblingsbaseballmannschaft links neben dem Bücherregal... doch, das sah alles sehr vertraut aus... Ein Traum. Besser gesagt ein Alptraum. Clyde packte sein Kissen und vergrub sein Gesicht darin, um ein bisschen zu heulen, ganz leise. Seit Tagen kannte sein Vater kein anderes Gesprächsthema mehr, immer wieder erklärte er voller Stolz wie „sein Kleiner" auf ein gutes College gehen würde, um Betriebswirtschaft zu studieren und danach das Familiengeschäft zu übernehmen. Kein Wort darüber, ob Clyde das auch wollte. Kein Wort darüber, ob es das war, was sich Clyde für seine Zukunft wünschte. Kein Wort. Kein einziges verdammtes Wort...!! »Ich brauche mich echt nicht zu wundern, dass mich diese Collegescheiße sogar bis in meine Träume verfolgt! Meine Interessen spielen gar keine Rolle, Dad starrt nur auf seinen eigenen Bauchnabel! Ich meine, klar, es ist nicht so, dass ich ihn enttäuschen will, aber dass er nicht einmal fragt, dass er meine Begeisterung fürs Kochen nicht ernst nimmt...!« Er fühlte sich wie ausgekotzt. Konnte er keine Erkältung vorschützen und sich für den Rest des Tages in seinem Bett verkriechen? Aber nein, seine Mutter würde ihm höchstens ein ekelhaftes Hausmittel verabreichen oder ihre übliche Diagnose stellen: „Mein Sohn, du leidest wie gewöhnlich an Einbildung!" Zum Teufel. Er wollte nicht in die Schule, denn jetzt fing das Abschlussjahr an, so richtig...na ja, das Abschlussjahr zu sein. Die meisten seiner Freunde und Mitschüler diskutierten fast nur noch über Universitäten und Colleges; welcher Studiengang zu ihnen passte, welche Aufnahmekriterien man zu erfüllen hatte, wie viel es kosten würde (zu viel, das war so sicher wie das Amen in der Kirche), ob Stipendien verfügbar waren... lauter solches Zeug, über das Clyde nicht nachdenken mochte. Nicht allein deshalb, weil ihn sein Vater in ein Korsett aus Erwartungen einzwängen wollte, sondern weil College gleichbedeutend war mit Lebewohl. Junge Amerikaner zogen in der Regel von zu Hause aus, wenn das Studium begann. Viele von ihnen wählten Unis in einem anderen Bundesstaat (Stans Schwester zum Beispiel, die in New York war), und die jeweiligen Institute besaßen oft eigene Apartmentkomplexe oder sonstige Unterbringungsmöglichkeiten für ihre Studenten. Große Entfernung, neue Erfahrungen, neue soziale Zirkel und neue Freunde versetzten alten Freundschaften häufig den Todesstoß. Was würde von Craig, Tweek, Token und ihm bleiben, wenn sich ihre Wege trennten? Craig hatte sich schon seit der Junior High von ihrer Gruppe entfernt, Tweek hatte die Kameraden in seiner Schwimmmannschaft, mit denen er abhing, Token hatte die Jungs vom Basketball und Clyde sein Baseballteam... Natürlich, Token und er trafen sich regelmäßig, sie waren beste Freunde, aber... wie lange noch? Wann genau hatte ihr Quartett angefangen, auseinanderzubrechen? Hätten sie es verhindern können? Und dann Stan, Kyle, Kenny und Cartman... warum waren ausgerechnet sie immer noch so... so eingeschworen, während sich andere Freundschaften um sie herum auflösten? »Was haben wir falsch gemacht? Hätte ich mehr mit Craig reden sollen? Er ist so auf sein Image als cooler und harter Kerl fixiert, dass ich vermutlich gar nichts erreicht hätte... Ich könnte bessere Gespräche mit seinem Meerschweinchen führen! Okay, ich verstehe, dass ihm das alles sein Alter eingetrichtert hat... ein Mann zeigt keine Gefühle und ist ein Schlappschwanz, wenn er es doch tut...wie ich, zum Beispiel... Ist das der Grund, warum sich Craig von mir zurückgezogen hat? Weil ich ihm nicht Manns genug bin? Shit! Wenn das stimmt, ist er ein noch viel größerer Trottel als ich dachte!« Er fuhr sich durchs Haar und seufzte. Wieder dachte er an Token, mit dem zu reden so viel einfacher war. Ihm konnte er immer sein Herz ausschütten und er nannte ihn auch nie ein Weichei, wenn er emotional wurde, ganz im Gegensatz zu Craig. Sein Blick fiel erneut auf den Porno, sein Gesicht lief knallrot an und er tauchte zurück ins Kissen. Bisher hatte er sich nichts dabei gedacht, aber ja, er hatte eine Schwäche für schmutzige Filmchen, die im Sportmilieu spielten. Basketball Boys XXX war, wie der Titel verriet, ein Schwulenporno, der sogar mit ein bisschen Handlung aufwarten konnte und Clyde fand den Hauptdarsteller irre sexy. Er hatte es sich also gestern Abend gemütlich gemacht, die Kleenexpackung neben sich, und hatte eine ziemlich gute Zeit, bis... bis...bis sein dummes, viel zu aktives Hirn mitten in einer Sexszene den Protagonisten in seinem Kopf gegen Token austauschte! Dabei war er gerade so schön aktiv, und dann erschien Token vor seinem inneren Auge, nackt, hart, und Clyde... »...Fuck, fuck, fuck, warum bin ich gekommen, verdammte Scheiße?! Ich meine, ich war ohnehin kurz davor, aber an Token zu denken, während ich...! Er ist mein bester Freund! Ich kann doch nicht...! Ich kann nicht...!« Okay, gut. Token war attraktiv. Und athletisch gebaut. Und er hatte diese herrlichen schwarzen Haare. Und diese supersamtigen Augen. Und diese unglaublich wohlgeformten Hände. Und diese langen Beine...oh, und diese wirklich, wirklich tollen Hüften... »Nein, was ist denn in mich gefahren!? Ich stehe auf Butters, oder nicht?! Den gibt‘s oft genug in meinen Fantasien, Token hat da rein gar nichts zu suchen! Ah, mein armer Kopf...!« Der Wecker auf seinem Nachtkästchen begann zu klingeln. Er zuckte zusammen und schaltete das Ding missmutig aus. Zeit zum Backen blieb damit nicht mehr, schade. Dafür waren da noch seine selbstgemachten Pop-Tarts vom Sonntag! Er würde eine Schachtel voll mitnehmen und an seine Mitschüler verteilen, um die allgemeine Laune etwas zu verbessern. Er stand auf. Zwanzig Minuten später trudelte Clyde in der Küche ein, wo ihn seine Mutter mit einem Kuss begrüßte und einen Teller mit Pfannkuchen auf seinem Platz abstellte, dazu eine Flasche Ahornsirup. Betsy Donovan war genauso ein Süßschnabel wie ihr Sprössling. „Wo ist Dad?" „Der ist schon im Laden." „Um halb sieben?" „Er bekommt heute eine größere Lieferung Winterstiefel und eine Reihe exklusiver Turnschuhe. Magst du ein paar von deinen Pop-Tarts zum Frühstück? Wenn nicht, werde ich mir den einen oder anderen genehmigen, sie sind köstlich." „...Findest du? Ehrlich?" Betsy betrachtete ihn eindringlich. „Weißt du, ich glaube, dein Vater wäre von deinem Talent sehr viel leichter zu überzeugen, wenn du davon überzeugt wärst." Er hielt im Sirupgießen inne und runzelte die Stirn. „Was... was meinst du damit?" „Du bist eitel, was dein Aussehen betrifft..." „...Bin ich nicht...!" „Sag das deinem Pflegemittelarsenal im Badezimmer. Wo war ich? Ach ja! Aber aus irgend-einem Grund bist du nicht eitel, was deine Fähigkeiten angeht. Ich kann noch so oft deine Koch- und Backkünste loben, oder dein gutes Baseballspiel oder dein ausgeprägtes Zahlenverständnis; Mathematik liegt dir, was du definitiv nicht von mir hast..." „Mom, bitte!" „...Und schon ziehst du diese abwehrende Miene und tust, als wäre das alles überhaupt nicht wahr. Clyde, wenn du nicht hinter dem stehen kannst, was dir Freude macht, wenn du dein Licht immer unter den Scheffel stellst, anstatt selbstbewusst zu sagen: Ja, in dieser Sache bin ich echt spitze, wie soll dich dann jemand ernstnehmen? Ich kenne die Argumente deines Vaters. Kochen ist nur dein Hobby, würdest du es professionell betreiben, würdest du schnell die Lust daran verlieren; du brauchst Kenntnisse über die Lagerung von Lebensmitteln, über Inhaltsstoffe, Bakterien, verschiedene Garmethoden und französische Fachbegriffe; du wirst nicht nur kochen, sondern auch für die Verwaltung von Lagerbeständen verantwortlich sein, für den Einkauf, die Menüplanung, die Preiskalkulation... Das Kochen allein genügt nicht, weil dein Traumberuf weit mehr enthält als nur das. Und da hat er recht, mein Sohn. Hast du auch nur einmal über die Nachteile des Jobs nachgedacht? Die langen Arbeitszeiten, beispielsweise? Und die damit verbundene Schwierigkeit, eine Beziehung zu führen? In der Gastronomie hast du am Wochenende nicht frei, im Gegenteil; und an Feiertagen wie Weihnachten oder Silvester musst du ebenfalls arbeiten. Überstunden sind an der Tagesordnung und werden häufig nicht vergütet, was mich zum nächsten Nachteil bringt: Stress. Was ist, wenn Dutzende von Leuten gleichzeitig bestellen und natürlich möglichst schnell bedient werden wollen? Was ist, wenn ein Kellner eine falsche Bestellung aufgibt und der Koch den Fehler ausbügeln muss? Ewig am heißen Herd stehen, in Stoßzeiten dreizehn bis vierzehn Stunden durchackern... Ist es das, was du willst?" Trotzig schaufelte Clyde einen großen Bissen Pfannkuchen in sich hinein. Sein Schweigen sprach Bände. „Mein Schatz... wenn du einen Traum hast, musst du ihn gegen Skeptiker verteidigen können, besonders, wenn ein Elternteil unter ihnen ist. Koch ist einer dieser Berufe, für die du dich auch tatsächlich berufen fühlen musst, weil er echte Leidenschaft und echte Hingabe verlangt. Überzeuge deinen Vater von deinen Absichten! Beweise ihm, dass du genug Leidenschaft und Hingabe für diesen Job mitbringst! Sonst wird er nicht aufhören, daran zu zweifeln - und bis jetzt warst du nicht sehr überzeugend." Er ließ hilflos die Gabel sinken. „Ich weiß nicht, wie... Ich wollte Dad den Schwarzen Peter zuschieben und es dabei belassen... aber das wäre zu einfach, was?" Betsy nickte. „Ich will ihn nicht enttäuschen, Mom. Andererseits... vielleicht stimmt es, was du sagst. Vielleicht muss ich ihn erst überzeugen... und mehr noch, vielleicht muss ich mich selbst davon überzeugen, mein Hobby zum Beruf zu machen. Du hast den Finger nämlich auf die Wunde gelegt: Ich habe Angst, dass ich meine Begeisterung einbüßen werde, wenn ich mich für die professionelle Schiene entscheide. Wie soll ich...?" „Nun, du könntest probeweise in einem der Restaurants in South Park arbeiten. Wir haben das Denny‘s, das Red Robin, City Sushi, City Wok, Ronny‘s Diner, Bennigan‘s, Whistlin‘ Willy‘s, Taco Bell, IHOP und sicher noch andere, die mir gerade nicht einfallen. Und in Tokens Viertel gibt es diesen teuren Nobelschuppen, Le Château, wo ich nicht mal die Speisekarte verstehe. Für deine angestrebte Karriere wäre das eigentlich ideal." „Was? Die Speisekarte nicht zu verstehen?" „Quatsch! Ein Praktikum in dem Nobelschuppen! Token und seine Familie sind Stammgäste, oder? Könnten sie nicht ein gutes Wort für dich einlegen?" „Mom!!" „Was denn?! Fragen kostet nichts!" Clyde rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. „Aber wenn das so ein total schickes Restaurant ist, passe ich da mit meinen mittelmäßigen Manieren garantiert nicht hin..." Betsy holte ein paar der selbstgemachten Pop-Tarts aus dem Kühlschrank und schob sie kurz in die Mikrowelle, um sie aufzuwärmen. Als das vertraute „Ping" ertönte, drapierte sie die Gebäckstücke dekorativ auf einem Teller und stellte ihn zwischen sich und ihrem Sohn ab. „Du wirst es nie herausfinden, wenn du es nicht wenigstens versuchst, mein Schatz. Ist Token nicht dein bester Freund? Ich bin sicher, wenn du ihn darum bittest, wird er sich im Le Château erkundigen. Was hältst du davon?" „Und das College?" „Es gibt welche, die eine Kochausbildung anbieten. Oder du gehst direkt auf eine Schule für Kulinarische Künste. Wenn du deinem Vater zeigst, dass du es schaffen kannst, wird er nichts dagegen haben. Also hör auf, ihn in die Schublade des verständnislosen Erwachsenen zu stecken, um deine eigenen Zweifel zu rechtfertigen! Natürlich nimmt er deinen Berufswunsch nicht ernst - du hast ihm keinen Grund dazu gegeben. Was mich betrifft... ich glaube nicht, dass ein Leben inmitten von Schuhen das Richtige für dich ist." „...Tse! Für wen ist das schon was!" „Clyde. Das will ich nicht gehört haben. Dein Vater ist gelernter Schuhmacher. Er ist ein Handwerker, der es durch harte Arbeit zu etwas gebracht hat. Nur weil in deinen Träumen keine Fußbekleidung vorkommt, heißt das nicht, dass du das Recht hast, die Leidenschaft und Hingabe eines anderen geringzuschätzen!" „..." Er sah seine Mutter bewundernd an. Feingezeichnete Brauen, eine etwas schiefe Nase, tiefe Grübchen in den Wangen und ein Schmollmund, der in diesem Moment einen sehr energischen Zug trug. Von ihr hatte er seine braunen Haare und seine haselnussbraunen Augen geerbt. Langsam stand er auf und umarmte sie. „Du bist super, Mom. Danke. Ich rede heute mit Dad." „Das wirst du, mein Schatz. Und jetzt... welchen Pop-Tart willst du?" ~~ 7 Uhr 30 ~~ Unterrichtsbeginn. Token Black saß mit gedrückter Laune in Fremdsprachiger Literatur und dachte wütend und traurig zugleich an den Anruf seiner Großmutter Cora. Er hatte gehofft, sie würde nur anrufen, um nach der Familie zu fragen... wie es allen ging, ob Dads Auto endlich repariert worden war, welche Zukunftspläne ihr Enkel schmiedete... derlei Dinge. Aber nein...! „Ich rufe an, um euch mitzuteilen, dass ich Weihnachten nicht zu euch kommen werde. Ich habe diese Stadt sowieso nie gemocht und es immer für eine Fehlentscheidung deines Vaters gehalten, dorthin zu ziehen. Unseresgleichen kann unter Weißen nicht leben, Token! Deine angeblichen Freunde werden dich früher oder später fallenlassen. Es wird Zeit, dass du sie vergisst und nach New York zurückkehrst. Du bist intelligent und ehrgeizig, anders als diese Hinterwäldler, deren Gegenwart du ertragen musst! Ich nehme an, Bob und Linda haben dir den Umgang mit diesem Pack verboten? Besonders mit dem, den du mir bei meinem letzten Besuch vorgestellt hast; wie hieß er nochmal? Cliff? Clive? Kann nur stammeln und mich dumm anglotzen! Du bist diesen geistig Minderbemittelten haushoch überlegen, Token! Ich verstehe nicht, warum du darauf bestehst, mit ihnen umzugehen!" Und er, er, der stolz war auf seine Selbstbeherrschung, auf seine Disziplin, darauf, dass er sogar in verrückten Situationen seine Fassung zu wahren verstand... war explodiert. Er hatte ihr all das entgegengeschleudert, was er sonst immer herunterschluckte, all das, was er zur Erhaltung des Familienfriedens nie laut ausgesprochen hatte. „Verdammt, Grandma! Glaubst du wirklich, ich begreife deinen Zorn nicht, oder deine Verzweiflung?! Aber dieser sinnlose Hass... Grandpa hätte das nicht gewollt! Was mit ihm passiert ist, war schrecklich, doch deswegen alle Weißen zu verteufeln, ändert genauso wenig! Wird die Lage der Schwarzen in diesem Land dadurch besser? Macht das Grandpa wieder lebendig? Und wage es nicht, meine Freunde als Hinterwäldler und Pack zu bezeichnen, nur weil sie nicht so viel Geld haben wie wir! Oder hat das auch etwas mit ihrer Hautfarbe zu tun!? Und sein Name ist Clyde, Grandma! Clyde Donovan! Du kennst ihn überhaupt nicht, also steht dir kein Urteil zu! Aber natürlich, seine Gefühle können unmöglich aufrichtig sein, unsere jahrelange Freundschaft ist für dich nur ein Irrtum, der korrigiert werden muss! Das ist alles, was du siehst! Was weißt du schon?! Hast du Basketball mit ihm gespielt, mit ihm gelernt, ihm zu einer guten Note gratuliert, ihn beim Baseball angefeuert?! Hast du je seine Tränen getrocknet, seine Blessuren versorgt, seine Hand gehalten, sein Lächeln erlebt?! Hast du ihn umarmt, mit ihm herumgealbert, mit ihm über Gott und die Welt geredet?! Nein, hast du nicht!! Du hast keine Ahnung!! Es ist mir ganz egal, ob du Weihnachten zu uns kommst oder nicht! Bleib von mir aus in New York! Wir brauchen dich nicht! ICH brauche dich nicht!" Damit hatte er aufgelegt. »Oh Gott, was habe ich da nur gesagt! Klar war ich wütend, aber mein Ausbruch hat Grandma sicher nicht zum Einlenken bekehrt! Warum bin ich so... so unfähig, ihr zu helfen? Sie war früher ein fröhlicher, offener Mensch... sie anzubrüllen wird die Mauer, hinter der sie sich verbarrikadiert hat, kaum einreißen. Aber Clyde zu beleidigen... musste das unbedingt sein?!« Zugegeben... er war ziemlich empfindlich, wenn es um seinen besten Freund ging. Zu hören, dass jemand so über ihn sprach...! Er blickte zu dem hinreißenden Jungen hinüber, der neben ihm saß und sich nach Kräften bemühte, ihn zu ignorieren. Was war bloß los mit ihm? Während ihnen Mrs. Jenkins verschiedene neue Bücher präsentierte, aus denen sie ihre nächste Lektüre auswählen sollten, schrieb Token eine Nachricht, faltete das Papier zusammen und warf es geschickt auf das Pult des Braunhaarigen. Clyde erlitt fast einen Herzschlag. Nervös musterte er den anderen, ein zartes Rosa kroch in seine Wangen und er las die Botschaft: Ist alles in Ordnung, Kumpel? Ich habe den Eindruck, dass du mir ausweichst. Habe ich etwas falsch gemacht? Fühlst du dich nicht wohl? Ach Token...! Was konnte er darauf antworten? „Ich habe an dich gedacht, als ich mir einen runtergeholt habe und bin jetzt schwer verunsichert in deiner Gegenwart"?! Warum nur hatte das passieren müssen?! Und warum war er so lieb und besorgt? Warum war er so süß und so sexy? »Das ist nicht fair! Meine beschissenen Hormone werden noch unsere Freundschaft zerstören! Ich meine... es sind nur meine Hormone, nicht wahr? Da ist nicht mehr dahinter... richtig? Ich mag ihn nicht auf diese Art. Butters ist mein Schwarm! Und er - ist - nicht - Butters!« Der Märchenprinz schien sich indessen eher für diesen Bradley zu interessieren. Der Typ war sehr nett und mochte Butters ganz offensichtlich, weshalb Clyde nicht annähernd so eifersüchtig war, wie er erwartet hatte. Es störte ihn schon, dass sich der blonde Schönling hauptsächlich dem Neuen widmete, doch er konnte es ihm auch nicht ernsthaft übelnehmen. Die beiden hatten sich einfach gern. Und er hatte Token gern. »NEIN!! Fuck, sei nicht so dämlich, Hirn! Das war das erste und einzige Mal, dass mir bei ihm einer abgegangen ist, weil... weil... weil Basketball und so! Basketball bedeutet Token, er ist schließlich der Kapitän, deshalb habe ich plötzlich an ihn denken müssen! Genau! Ich denke bei Heteropornos ja auch oft an Bebe, also ist das alles... normal! Ja, normal! Es heißt nicht, dass ich Tokens nackten Körper an meinen gepresst haben will! Oder seine Hand an meinem... stop, stop, stop!!! Schluss, aus!! Ich will das nicht!!« „Mr. Donovan? Ist Ihnen schlecht?" Clyde erstarrte. Mrs. Jenkins, die ihm aus seinem Alptraum noch in lebhafter Erinnerung war, stolzierte auf ihn zu und befühlte seine Stirn. „Fieber haben Sie nicht, aber Sie sehen erhitzt aus. Überhaupt wirken Sie sehr verkrampft und Ihre Bewegungen sind fahrig... das gefällt mir nicht. Mr. Black, bringen Sie Mr. Donovan auf die Krankenstation, damit die Schulschwester ihn durchcheckt!" „Das ist nicht nötig!" „Was nötig ist, entscheide ich, Mr. Donovan - und Sie sehen nicht gut aus." „...Tu ich nicht!?" „Du lieber Himmel, Sie wissen, was ich meine. Wenn die Schwester nichts findet, umso besser. Ich möchte nur kein Risiko eingehen, falls einer meiner Schüler krank sein sollte. Darf ich bitten, Mr. Black?" Token erhob sich zögernd und führte Clyde nach draußen. Sie sprachen kein Wort, bis sie die Krankenstation erreicht hatten, wo ein Schild verkündete, dass Schwester Goodwin gerade im Sekretariat sei und gleich zurück sein würde. „...Na toll. Warum bin ich nicht überrascht? Und abgeschlossen ist auch! Fuck!" Er trat gegen die Tür, die sich jedoch völlig unbeeindruckt zeigte. Token packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. „Clyde... was ist los? Du bist normalerweise nicht so aggressiv. Ich kann keine Gedanken lesen, okay? Wenn du nicht mit mir redest, kann ich dir nicht helfen. Was bedrückt dich?" „...Token...!" Uh oh. Er kannte diesen aufgewühlten Blick. Jede Sekunde würde er losheulen. Auf diese Weise konnte Clyde all seine aufgestauten Emotionen loswerden und sich seinen Frust von der Seele waschen. Und er würde ihn festhalten. Wie immer. Fast automatisch schlang er seine Arme um die bebende Gestalt des Kleineren, der seinerseits die Arme um Tokens Nacken legte und sich fest an ihn schmiegte. Leises Schluchzen folgte. „Es tut mir leid...! Es tut mir so leid! Ich bin furchtbar... bitte verzeih mir! Sorry, sorry, sorry!" „...Wofür entschuldigst du dich?" „..." „Ist es so schlimm?" „...Ich habe was Perverses gemacht..." Der Schwarzhaarige hätte ihn beinahe losgelassen. „Clyde!! Wenn das wieder eine deiner peinlichen Masturbationsfantasien ist, will ich nichts davon hören!! Ich begreife sowieso nicht, warum du dich genötigt fühlst, sie zu beichten! Du hast doch sonst keine Skrupel!" „...Ich... ich hab‘ an dich gedacht!!", brach es aus Clyde hervor, der sein vor Scham dunkelrotes Gesicht in Tokens Brust verbarg und feuchte Flecken auf sein Hemd weinte. „...Pardon...?" „...Beim Wichsen...ich ...ich... habe... dabei an dich gedacht...an dich...!" „...Du... hast... du hast... was?" Clyde. Auf seinem Bett. Vermutlich von der Taille abwärts entblößt, die Beine gespreizt, die schönen Augen in Verzückung geschlossen, während seine Hand sein steifes Glied streichelte... bis sein Orgasmus ihn mit sich riss, Tokens Name auf seinen Lippen... „Nein!!" Diesmal stieß er ihn von sich, entsetzt über das Bild, das sich in seinem Kopf geformt hatte. Er atmete schwer. Nein. Nein! Das war unmöglich! Er konnte nicht dermaßen heftig nur auf die Vorstellung reagieren...?! Im gleichen Moment bemerkte er die Tränen und der Schmerz und die Angst in Clydes Antlitz schlitzten sein Herz auf wie ein scharfes Messer. „...Ich wusste, du würdest mich widerlich finden...! Na, von mir aus, tu dir keinen Zwang an! Ich finde mich ja selbst widerlich deswegen! Mein bester Freund sollte sowas nicht in mir auslösen! Und trotzdem kriege ich es nicht aus dem Kopf! Was läuft da plötzlich falsch mit mir!?" „Clyde! Da läuft gar nichts falsch...!" „DOCH!!! Dass mein Körper deinetwegen abgeht, ist verdammt falsch!! Eigentlich ist alles falsch!! Craig mutiert zum einsamen Wolf, der South Park bei der erstbesten Gelegenheit verlassen wird, weil ihm außer an seiner Schwester an niemandem sonst was liegt... Tweek kümmert sich praktisch ausschließlich ums Familiengeschäft und sein Schwimmteam und wird nach seinem Studium irgendwo anders eine Zweigstelle eröffnen... und du? Du wirst auf irgendeine berühmte, schweineteure Uni abzischen und eine steile Karriere ansteuern... als Geschäftsmann oder als Arzt oder als Anwalt oder als Basketballstar, was weiß denn ich... Jedenfalls wirst du fortgehen! Und während Craig und Tweek vielleicht wieder kommen, werden dich keine zehn Elefanten in diese Stadt zurückbringen! Du bist zu ehrgeizig, zu klug, zu begabt, um hier zu versauern! Auch zu reich, du kannst dir das College locker leisten! Aber ich? Ich werde den Laden meines Vaters übernehmen und mein Dasein zwischen Schuhcreme und Schnürsenkeln fristen, ohne euch! Ohne euch... ohne dich!" Token blinzelte und spürte eine unglaubliche Erleichterung in sich aufwallen. Das also war der tiefere Grund für Clydes abweisende Haltung. Er fürchtete, seine Freunde zu verlieren... und mit einer gewissen Bestürzung wurde ihm bewusst, dass dies durchaus nicht weithergeholt war. Ihre Clique hatte den Test der Zeit nicht bestanden. Craig hatte sich eingemauert wie seine Großmutter; Tweek war ohne das Zutun seiner Freunde aufgeblüht, nämlich durch seine Arbeit und die Verantwortung für seine Mannschaft; in die Beziehung zwischen Clyde und ihm hatte sich eine ungewollte sexuelle Komponente eingeschlichen... und das nicht erst seit heute, wenn er ehrlich war. Er dachte an jenen Basketball-Samstag, an dem der Wunsch in ihm aufgekeimt war, den anderen zu küssen. Überhaupt, er mochte es, Clyde zu berühren. Sein weiches Haar, seine sanften Hände, sein süßer Mund... ... ... ... Oh. Oh. Er brauchte eine volle Minute, um zu begreifen, dass sich der Brünette zurück in seine Arme geworfen hatte. „Warum müssen wir erwachsen werden?", flüsterte er. „Warum müssen wir uns trennen, nur um eine dumme Ausbildung zu machen? Ich hasse das!" „...Veränderungen gehören zum Leben. Und kannst du dich nicht glücklich schätzen, ein Talent zu haben, das dir das Planen deiner Zukunft erleichtert? Du glaubst, ich würde auf eine ‚berühmte schweineteure Uni abzischen‘? Wenn du mir vorher sagst, was ich dort soll? Ich weiß nicht, was ich studieren möchte. Meine Eltern haben klare Vorstellungen, genau wie du. Jura, Medizin, Betriebswirtschaft, Finanzwesen, Physik oder Chemie... diese Fächer wurden mir schon vorgeschlagen... und ich zucke nur mit den Schultern und verspreche, darüber nachzudenken. Immer ohne Ergebnis. Ich habe keinen speziellen Traum, kein konkretes Ziel. Für meine Eltern ist das eine Enttäuschung. Soviel zu meiner Begabung und meinem Ehrgeiz." Er klang bitter. Clyde wischte sich die Tränen ab und sah hoch. Sein Atem stockte, als Tokens dunkle Augen die seinen trafen und das gesamte Verlangen des gestrigen Abends überflutete ihn von neuem. Sein Körper spannte sich an und unter einer gewaltigen Anstrengung löste er sich aus der Umklammerung. Die zwei jungen Männer standen sich gebannt gegenüber, ihre Blicke ineinander versunken, und beide schienen nicht recht zu wissen, ob sie nun weglaufen sollten oder... oder was? „Guten Morgen, Jungs! Was kann ich für euch tun?" „Woah!! Ach, Sie sind‘s...!" Schwester Goodwin war Anfang vierzig, rundlich, vergnügt, mit großen blauen Augen und rotblonden Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Rasch sperrte sie die Tür zur Krankenstation auf und verstaute den Karton, den sie bei sich hatte, in einem der Schränke. „So, die Lieferung der Medikamente wäre damit erledigt. Nun zu euch. Was gibt‘s?" „Ich...ich fühle mich nicht besonders", begann Clyde, kam aber nicht dazu, seine Symptome näher zu erklären, da Schwester Goodwin ohne langes Federlesen ein Fieberthermometer in seine Achselhöhle steckte und ihm gebot, still zu sein. „Hm...99.68 °F (= 37,6 °C). Sie haben leicht erhöhte Temperatur, Mr. Donovan. Ich möchte Sie vorsichtshalber bis zur dritte Stunde hier behalten, um sicherzugehen, dass Sie nichts ausbrüten. Legen Sie sich hin und ruhen Sie sich aus, ich gebe Ihnen noch ein fiebersenkendes Mittel. Und Sie, Mr. Black, seien bitte so freundlich und informieren die Lehrkraft der zweiten Stunde über Mr. Donovans Abwesenheit. Er soll schließlich keinen Ärger kriegen." „Klar. Was hast du gleich nochmal in der zweiten?" „Astronomie, bei Mr. Dean. Tja...wir... wir sehen uns dann in der Mittagspause?" Token erwiderte das schüchterne Lächeln. Das Chaos in seinem Inneren konnte es nicht beseitigen, doch es wirkte wie ein Balsam auf seine strapazierten Nerven. »Wir sind Freunde. Ich darf das nicht mehr vergessen. Was auch immer ich für ihn empfinde, er ist zuallererst mein Freund. Derjenige, dem ich am meisten vertraue. Derjenige, der mir am meisten vertraut. Diese unsichtbare Grenze, die ich vorhin gespürt habe...als er ...als er mich mit diesem brennenden Ausdruck in den Augen anstarrte...mich! ...Werden wir sie überschreiten? Will ich sie überschreiten?« „...Ja, Clyde. Wir sehen uns in der Mittagspause." ~~ 9 Uhr 45 ~~ Kenny McCormick gähnte hinter vorgehaltener Hand und krakelte Strichmännchen mit riesigen Brüsten in sein Heft. Und ab und zu mal einen Penis, wenn ihm danach war. Mr. Elliot laberte gerade irgendetwas über die erzählerische Raffinesse von „The Great Gatsby", aber es interessierte ihn herzlich wenig. Heute war der 4. November, der erste Besuchstag. Doktor Bradford hatte gestern bei Liane angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ihr Sohn aus dem Gröbsten heraus war und jetzt Besuch empfangen durfte. Mrs. Cartman hatte das sofort weitergemeldet. Sie war offensichtlich nüchtern genug gewesen, um die Nachricht zu erfassen und im Anschluss den Eltern Bescheid zu sagen, deren Kinder es anging. Er war rangegangen, als das Telefon geklingelt hatte (es funktionierte wieder, seit er im Cream‘N‘Fruit arbeitete und die Rechnung bezahlte), und ihre Stimme war bemerkenswert ruhig und deutlich gewesen. „Bist du das, Kenny? Wie schön, dich wollte ich sprechen! Stell dir vor, mein Eric ist auf dem Weg der Besserung! Man darf ihn besuchen! Ist das nicht wundervoll?" Wie glücklich sie geklungen hatte. Sie liebte ihren Sohn, daran gab es keinen Zweifel. Wenn er doch bei seiner eigenen Mutter auch so sicher hätte sein können...! Carol und Liane waren beide unzuverlässig, verantwortungslos und in ihren jeweiligen Süchten gefangen, aber Mrs. Cartman zeigte wenigstens hin und wieder, dass Eric ihr wichtig war. Von Carol konnte er das nicht behaupten. Nicht mehr. »Man könnte neidisch werden... Is‘ es wirklich zu viel verlangt, dass sich jemand mal um mich kümmert, anstatt andersrum? Stan und Kyle haben es gut, die wissen immerhin, dass ihre Eltern sie lieben... warum haben Stuart und Carol meine Geschwister und mich in die Welt gesetzt? Waren Karen und ich bloß ‚Ausrutscher‘, so wie Kevin?« Er hielt inne, warf ärgerlich den Bleistift auf sein Pult und radierte den Penis weg, den er soeben gezeichnet hatte. Was zum Teufel?! Wie konnte er hier herumhocken und jammern, wenn Eric endlich genug genesen war, um seine Freunde zu sehen? Er war echt ein toller Astralwirt! Er konnte fliegen und in Seelen hineinschauen und Gottes Urteil über Sünder vollstrecken, aber anstatt stolz darauf zu sein, badete er lieber in Selbstmitleid! »Ehrlich, Alter, was bin ich!? ‘N verfickter Feigling?! Gott hat gesagt, dass nur jene als Astralwirte ausgewählt werden, die dessen würdig sind: Selbstlose, tapfere Menschen von großer Leidensfähigkeit, die unbeirrt ihrer Aufgabe folgen und dem Druck standhalten. Hört sich verdammt kitschig an, is‘ aber eigentlich ‘n Megakompliment, weil... na ja, das is‘ so ungefähr die Charakterbeschreibung von Jesus? Und hey, ich hab‘ ‘nen coolen Bruder und ‘ne noch coolere Schwester, drei spitzenmäßige Freunde, ‘nen prima Job, ich darf zur Schule gehen und hab‘ ein Dach überm Kopf... Sehr viele Menschen haben nichts von all dem. Ich...« »Guten Morgen, Kenneth.« »...?! Gott? Yo, was geht ab, Kumpel? Wie komm‘ ich zu der Ehre?« »Ich habe vernommen, dass nun die Gespräche mit euren Collegeberatern anstehen. Hast du bereits einen Termin?« »...Ist das ‘ne ernstgemeinte Frage?« »Natürlich. Deine Eltern ignorieren es, daher versuche ich mich in ihrer Rolle.« »...Wow. Das is‘ irgendwie voll nett...nutzlos, aber nett.« »Nutzlos? Kenneth. Ich dulde es nicht, wenn meine Krieger auf Erden ihr eigenes Potential außer Acht lassen. Wie stellst du dir denn deine berufliche Zukunft vor? Was ist mit deinem großen Traum? Du musst anfangen, über diese Dinge nachzudenken, du machst nächstes Jahr deinen Abschluss!« Kenny rieb sich die Schläfe. College. Tse. Als ob. Er wusste zwar, dass es Studienkredite gab, von denen ein paar nicht zurückgezahlt werden mussten, aber selbst bei Universitäten ohne Elitestatus musste man mit Gebühren ab 15 000 Dollar pro Jahr (oder Semester!!) rechnen. Normalerweise sogar mehr als das. Außerdem waren Studienkredite oft auf bestimmte Beträge begrenzt, man war also meist gezwungen, mehrere auf einmal zu nehmen. Beendete man dann das Studium, hatte man eine Urkunde in der Hand und einen Berg Schulden am Hals. Es lebe Amerika. »...Ach so. Das leidige Geld.« »Ja, du Nullchecker! Das leidige Geld!!! Wenn du ‘nen Kredit für mich hast, der mir ein vierjähriges Studium an einer halbwegs guten Uni berappt, ohne dass ich was zurückzahlen muss, dann her damit! Ansonsten: Verpiss dich!« »Na, na, na, Kenneth... noch einmal: Was ist mit deinem großen Traum?« »...« »Nun?« »...Es ist ein Traum. Ein kindischer, naiver, unerfüllbarer Traum. Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, ihn zu träumen. Ich bin nicht blöd genug, um an den ‚American Dream‘ zu glauben. Ich glaube nur an die Macht des Geldes.« »Geld allein macht nicht glücklich, mein Krieger auf Erden.« »Ach nein? Einen trockenen Platz zum Schlafen, Nahrung, Getränke, Kleidung, all das kann ich nur mit Geld kaufen. Von Luxusartikeln wie Elektrogeräten, Autos oder Computern gar nicht erst zu reden! Oder Spielzeug, Bücher, Videospiele... was ist damit? Oder Medikamente, Untersuchungen, Operationen? Selbst Bildung und Kultur kosten Eintritt! Vielleicht würde ich gern mal ins Theater gehen? Aber es ist zu teuer und ich brauche stattdessen was Wichtigeres: Neue Schuhe oder eine warme Jacke; oder ich muss die Miete bezahlen... und den Strom, und das Wasser, und die Heizung, und das Telefon! Okay, wenn ich nur Geld hätte und keine Menschen um mich herum, die ich liebe und mit denen ich es teilen kann...ja, das wäre beschissen. In dem Fall macht Geld allein nicht glücklich. Aber kein Geld, das macht definitiv unglücklich! Und jetzt hau ab!« »Du bist erschütternd charmant heute... Hat deine generell unerfreuliche Laune etwas mit Gary Harrison zu tun und der Tatsache, dass er mit Stanley an seinem Spind stand und ihn auf die Wange geküsst hat? Ich meine, eure Spinde sind alphabetisch geordnet, und ‚Marsh‘ und ‚McCormick‘ liegen direkt nebeneinander...« Der Engelwächter verspürte den spontanen Drang, Gott zu erwürgen. Leider war das Erwürgen einer telepathischen Entität, deren Körper irgendwo im Höchsten Himmel residierte, nicht so einfach zu bewerkstelligen. Davon abgesehen wechselte Gott alle paar Tage die Gestalt, weil er den Formenreichtum der ganzen Schöpfung zur Auswahl hatte und es viel amüsanter fand, zu experimentieren, als sich auf das Klischee des alten Mannes mit Rauschebart reduzieren zu lassen. Er war auch des öfteren weiblich oder komplett geschlechtslos. Was zum Henker es ihn anging, dass der Mormonen-Bengel versucht hatte, Stans Gesicht einzusaugen, war ihm allerdings schleierhaft. »Oho...! Es war ein Küsschen auf die Wange, Kenneth. Kein Versuch, Stanleys Gesicht ‚einzusaugen‘, wie du das so hübsch nennst. Eifersüchtig?« Ach du heilige Scheiße! Erst kam Kevin mit dieser bescheuerten Idee um die Ecke, und jetzt auch noch Gott?! Seine mangelnde Sympathie für Harrison hatte absolut nichts damit zu tun, dass er einen seiner besten Freunde anschmachtete. Der Typ war bloß lästig. Er war ein bisschen zu spät dran. Wenn Karen ihn nicht aufgescheucht hätte, würde er wohl immer noch in seinen geflickten Kissenbezug schnarchen. Dass die Batterien des Weckers unbedingt heute ihren Geist aufgeben mussten! Er schlüpfte durchs Tor, bog in den Seniorkorridor ein und lief zu seinem Spind. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass Stan noch da war...oh. Und Harrison. Der hatte doch gar nicht die erste Stunde mit ihm zusammen!? „Hey, hallo, Ken! Wie geht‘s?" „Morgen, Stan! Alles klar, nur etwas aus der Puste." Die Schulglocke schrillte. Kenny beeilte sich, seine Bücher einzupacken... und da passierte es. Harrison lehnte sich vor und küsste den verblüfften Schwarzhaarigen. „...Gary! Wofür war das?" „Nur so. Du sahst gerade so... ich weiß nicht... küssenswert aus." „Dummkopf." Stan knuffte ihn sanft in den Arm, lächelte strahlend (Wow, was? Dieses Lächeln war ja... der reine Wahnsinn...) und zog den Mormonen mit sich fort. Fuck you, Harrison. Na fein, er hatte vielleicht ein wenig überreagiert. Es gefiel ihm halt nicht, dass dieser auf Künstlichkeit getrimmte, ekelhaft geschniegelte Idiot mit Stan rumhing! Er war zu... zu perfekt. Zu nett, zu attraktiv, zu höflich, zu talentiert, zu... zu...alles! Neben so einem musste Stanley ja zwangsläufig jeden anderen übersehen...! »Aber es ist eine bescheuerte Idee, sagt er!« »...Schnauze!« „Kenny? Was hast du? Du guckst so komisch." Whoops. Stimmt ja. Man sollte sich angelegentlich daran erinnern, dass Stan Marsh in Englisch neben einem saß. Fuck again. „Ich bin okay, Alter. Kein Grund, so besorgt aus der Wäsche zu schauen!" „Bist du sicher?" „Was kümmert‘s dich? Is‘ Harrison nich‘ wichtiger?" „...Was hat Gary damit zu tun? Er hat AP Englisch. Außerdem ist er nur ein Kumpel. Du bist einer meiner besten Freunde, da ist es doch logisch, dass ich mir Sorgen mache." Der Blondschopf rümpfte die Nase und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Wirklich! Nur ein Kumpel, hä? Wusste gar nich‘, dass man sich von Kumpeln abknutschen lässt!" Das betroffene Schweigen des Älteren nahm Kenny nicht zur Kenntnis. Er wusste ja selbst nicht, was plötzlich in ihn gefahren war; die Galle sprudelte einfach aus ihm heraus. Mit einer seltsamen Mischung aus Trotz und Vorfreude beobachtete er, wie Stans Züge diesen bedrohlichen „I‘m-not-gonna-take-your-bullshit"-Ausdruck bekamen, den er so sexy fand. „Was zur Hölle ist dein Problem?!" Ein lautes Räuspern ertönte. Ein Räuspern, auf das hin den beiden einfiel, dass Mr. Elliot anwesend war und unterrichtete. Und Mr. Elliot war nicht entzückt. „Mr. Marsh, Mr. McCormick, Sie stören seit drei Minuten meinen Vortrag, und da Sie offenbar nichts Konstruktives beizusteuern haben, gebe ich Ihnen sechzig Sekunden Zeit, meinen Klassenraum zu verlassen und vor der Tür auf das Ende der Stunde zu warten. Sie können aber auch zwei Nachmittage nachsitzen, wenn Sie das bevorzugen." „J-Jawohl!" „Is‘ gebongt, Sir!" Sie griffen nach ihren Rucksäcken und flohen nach draußen. Leider beruhigten sich die Gemüter vor der Tür nur unwesentlich. „Was ist denn los mit dir, Ken!? Ob du‘s glaubst oder nicht, Gary ist für mich nicht mehr als ein Kumpel!" „Er hat dich geküsst!" „...Das war doch nur eine nette Geste." „Harrison ist verknallt in dich, verdammt nochmal! Und du weißt das! Ich dachte, du gehst bloß mit ihm aus, um ihm einen Gefallen zu tun!?" „Das ist richtig. Er hat mich noch nicht ‚erobert‘, falls du das meinst. Und er wird auch nicht. Nächsten Samstag haben wir unser letztes Date. Wenn ich mich bis dahin nicht hoffnungslos in ihn verliebe, werde ich ihm sagen, dass der Versuch nicht geklappt hat und ich aufhören möchte. Ich schaffe es nicht, in Gary etwas anderes zu sehen als einen Freund. Gesten wie den Kuss oder mal Händchenhalten, das habe ich durchgehen lassen, weil ich darauf gewartet habe, dass sich meine Gefühle irgendwie verändern. Aber... aber es ist nichts passiert. Ich... ich... ah, fuck! Ich werde ihm das Herz brechen müssen..." „Wie tragisch!" Stanleys dunkelblaue Augen verengten sich zu Schlitzen und seine Stimme glitt zu dieser speziellen Tonlage herab, die merkwürdige Reaktionen in Kennys Magengegend hervorrief. Fehlte nur noch, dass er seinen vollen Namen damit aussprach... „Kenneth." Shit. Treffer, versenkt. „Ich verstehe dich nicht. Gary hat mich damals im Soccercamp auf den Mund geküsst. Ich habe euch davon erzählt. Da bist du nicht halb so ausgerastet wie jetzt. Was. Ist. Dein. Problem?" Gute Frage. Warum hatte er keine Antwort? »...Nun, ich könnte eine ziemlich zutreffende Vermutung äußern...!« »RAUS AUS MEINEM KOPF, DU ARSCH!!!« ~~ 11 Uhr 50, Mittagspause ~~ Tweek Tweak presste die Lippen fest zusammen und konzentrierte sich darauf, das Glas Saft, das er bestellt hatte, hochzuheben, ohne dass seine Hände zitterten. Er hatte sich dafür entschieden, seinen Koffeinkonsum noch weiter einzuschränken, um seine nervösen Attacken in den Griff zu bekommen. Ein Mannschaftskapitän, der erst einmal seine Panik bekämpfen musste, bevor er auf den Startsockel stieg, konnte man auf Dauer niemandem zumuten. Sein Team und auch der Coach waren sowieso unglaublich geduldig mit ihm. Sie alle respektierten sein Talent und seine Schnelligkeit, behandelten ihn aber nicht wie ein rohes Ei. Sie wussten, was er drauf hatte, und wenn ihm der Erfolgsdruck zu viel wurde oder sein Lampenfieber Überhand nahm, fanden sie immer Zeit, ihm Mut zuzusprechen. Er musste lernen, seine Anfälle zu unterdrücken. Das würde sein Durchhaltevermögen stärken und vielleicht seine athletische Leistung verbessern. Das Zittern ließ nach. Na also. Statt Kaffee trank er seit einer Woche nur noch heiße Zitrone, Wasser, Limonade oder Apfelsaft. Wurden die Entzugserscheinungen zu heftig, wich er auf Cola aus wie ein Raucher auf ein Nikotinpflaster. Die Schwimmsaison für die Jungs war zwar erst im Frühling, aber das hieß nicht, dass er seine Disziplin schleifen lassen konnte. Er hatte schon voriges Jahr geplant, seinen Konsum zurückzuschrauben, doch er war immer wieder schwach geworden. Diesmal nicht! Das hier war seine letzte Saison vor dem College, und er wollte sein Bestes geben! ... ... ... Ein bisschen einfacher wäre das alles natürlich, wenn seine Freunde ihm beistehen würden. Obwohl er sich inzwischen nicht mehr so sicher war, was genau ihn eigentlich noch mit Token, Clyde und Craig verband. Er schwärmte für Craig, weil er sein Selbstbewusstsein und seine Gelassenheit bewunderte, aber seine Gleichgültigkeit und seine kaltschnäuzige Art stießen ihn ab. Und während Token und Clyde fast immer zu seinen Wettkämpfen gekommen waren, war Craig das nie eingefallen. Warum saßen sie überhaupt an einem Tisch? Warum hatten sie einen Punkt erreicht, an dem er sich das fragen musste? Was war passiert? Wann war es passiert? Und warum hatte keiner von ihnen es bemerkt, bevor sie damit begonnen hatten, sich gegenseitig anzuschweigen? Sein Blick schweifte einmal durch die Runde. Craig, der stumpf und gelangweilt seine Suppe löffelte und jeden in seinem näheren Umkreis mit Nichtachtung strafte. Clyde, der es tunlichst vermied, Token anzusehen und seinen Taco mit einer Lustlosigkeit verspeiste, die beunruhigend war. Token, der sich genauso weigerte, Clyde anzusehen, hatte die Hälfte seiner Pizza nicht auf-gegessen und starrte abweisend aus dem Fenster. Wie konnte man mit drei anderen Personen zusammensitzen und sich trotzdem so völlig isoliert fühlen? Als Kinder waren sie gute Freunde gewesen; sie hatten miteinander gespielt, einen Haufen Unsinn angestellt, Abenteuer erlebt, Schwierigkeiten überwunden... ...Wo war das alles hin? Tweek ließ sein Besteck sinken. Jetzt war auch ihm der Appetit vergangen. Am Tisch gegenüber war die Stimmung weitaus positiver. Bradley Stokes, in hellgrünem Pullover mit Kürbismotiv, das lächelnde Antlitz von seiner goldbraunen Lockenpracht umrahmt, berichtete gerade aufgeregt davon, wie es ihm gelungen war, ein besonders kompliziertes Stück auf der Geige auswendig zu lernen. Butters war bezaubert. Das Leuchten seiner Augen, die lebhaften Gesten, mit denen Bradley seine Worte unterstrich und denen eine natürliche Anmut innewohnte, die klare, warme Stimme, seine Begeisterung und Ungezwungenheit... Es erinnerte ihn an jenen Moment, da Bradley ihm anlässlich seines Geburtstages ein Ständchen gebracht hatte. Wenn dieser hinreißende Junge Geige spielte, fiel jede Unsicherheit, jede Verkrampfung, jede Scheu von ihm ab. Er verwandelte sich in einen Magier, der von seiner persönlichen Bühne herunterregierte und seine Zuhörer in Bann schlug, ob sie wollten oder nicht. Er strahlte eine solche Energie aus, wenn er das Instrument in seinen schönen Händen hielt (oh, Bradleys Hände, diese eleganten, perfekten Künstlerhände...!), dass man gar nicht umhin konnte, fasziniert zu sein. Es ließ sich der Mann erahnen, der er eines Tages sein würde... und Butters ertappte sich bei dem Gedanken, dass er gerne an der Seite dieses Mannes durchs Leben gehen würde. „Ich war so glücklich, als ich es geschafft hatte, das Lied zum ersten Mal zu Ende zu spielen, ohne in die Noten zu schauen! Sogar Mom hat mich gelobt und sie ist fast nie zufrieden! Und Dad hat gesagt, weil ich mir so viel Mühe gegeben habe, darf ich einen Freund einladen! Ist das nicht toll? Wenn Eric zurückkommt, können wir mal ein Duett versuchen, dann wird es noch netter! Ich freue mich schon!" Die Brauen von Prince Charming wanderten überrascht in die Höhe. „Ich möchte nicht unhöflich wirken, aber... was hat Eric damit zu tun? Und seit wann nennst du ihn Eric?" „Na ja... ich nehme Geigenstunden bei Mrs. King." „Bei Mrs. King? Lily King, die den Karaokeladen in der Nähe vom Altersheim betreibt?" „Genau die. Sie geht selbst bald in Pension. Aber worauf ich hinauswollte: In einer Ecke ihres Wohnzimmers hat sie Fotos von ihren Schülern aufgehängt und dort habe ich eins mit unserem Quarterback entdeckt. Er war darauf noch jünger. Ich habe mich sofort nach ihm erkundigt und sie erklärte mir, dass Eric bei ihr Unterricht gehabt hätte. Unregelmäßig zwar, aber doch jahrelang. Seit ich das weiß, möchte ich gerne einmal mit ihm spielen." „Nein, sowas! Ich hatte wirklich keine Ahnung! Das ist so typisch für ihn! Wenn er glaubt, dass etwas seinem Image schaden könnte, verheimlicht er es! Nun, ich werde ihn heute besuchen, da werde ich ihm ein bisschen auf den Zahn fühlen. Vielleicht kann ich ihn dazu überreden, ein Duett mit dir zu wagen." „Das würdest du tun? Das wäre echt nett von dir! Eric... weißt du, Eric schüchtert mich immer noch ein. Es ist nicht nur seine Statur, auch seine ganze Art ist irgendwie..." „...‘schwierig‘, um es vorsichtig zu formulieren? Ja. Wer pausenlos Sonnenschein und Gänseblümchen braucht, sollte sich nicht mit ihm anfreunden. Aber vielleicht könntest du über die Musik einen Zugang zu ihm finden? Eric ist ein guter Kerl, sehr, sehr tief drin. Seit er sich über seine Gefühle für Kyle klargeworden ist, hat er sich als Mensch weiterentwickelt. Das ist nur gut für ihn, so schmerzhaft es auch sein mag." Bradley betrachtete Butters eindringlich. Er liebte seine Offenheit, seinen Mut, seine Lebenslust, seine Gabe, bis in die Herzen der Menschen zu blicken und zu akzeptieren, was er vorfand. Es tat manchmal sogar weh, ihn in all seinem Glanz und seiner Schönheit um sich zu haben, während man selbst so unscheinbar war. „...Wann soll ich kommen?" „...Wie... wie bitte? Wann du...? Was?" Butters lächelte überwältigend (wie immer. Etwas anderes als ein überwältigendes Lächeln hatte er nicht anzubieten, jedenfalls nicht aus Bradleys Sicht). „Na ja, du hast erwähnt, dass dein Dad dir erlaubt hätte, einen Freund einzuladen. Warum du mit siebzehn Jahren eine Erlaubnis dafür benötigst, lasse ich mal außen vor. Oder... war ich zu voreilig? Vielleicht möchtest du nicht, dass deine Eltern mich kennenlernen? Ich meine, ich passe bestimmt nicht in ihr Weltbild..." Ein schwuler Tänzer mit extravagantem Modegeschmack, der gern flirtete? Der erstaunlich reif und sexy wirkte, trotz seines jugendlichen Alters? Der unter dem Alias „Mustang" in einem Laden wie dem Raisins jobbte und der Präsident der Musical-AG war? „Für sie wärst du der Anti-Christ." „Oh je...so schlimm?" „Du bist offen homosexuell. Das allein wäre Grund genug, dich einzusperren! Oder dich zurück ins Camp zu schicken, damit man dich ‚umpolt‘! Du bist schwer krank, weißt du das nicht?" „...Schade. Also kann ich dich nicht besuchen?" Die Enttäuschung in seiner Stimme ließ den Violinisten aufhorchen. Er war es gewohnt, nicht für voll genommen zu werden, sodass Butters‘ ehrliches Interesse an ihm ihn stets aufs Neue verblüffte. Schließlich war er nichts Besonderes - durchschnittlich intelligent, durchschnittlich sportlich, durchschnittlich begabt... selbst sein Aussehen war durchschnittlich (weshalb er echt nicht kapierte, warum ihn das Beliebtheitsgremium der Schülerzeitung als eine 7, sehr attraktiv, eingestuft hatte)! Dass er überhaupt vom Star der Park High beachtet wurde...! „Es...es ist wohl besser, wenn du nicht kommst. Nicht unbedingt, weil ich meine Eltern schonen will, sondern weil ich Angst habe, dass sie dich beleidigen oder beschimpfen könnten. Gute Manieren sind nur gegenüber ‚normalen‘ Leuten zu erwarten." „Normal, he? Wie genau definiert man ‚normal‘? Wenn du mich fragst, jeder spinnt anders." Er zwinkerte Bradley zu, der das spitzbübische Grinsen erwiderte. »...Ja. Jeder spinnt anders. Ich wünschte, meine Eltern würden das endlich verstehen. Warum sind sie so verbohrt und engstirnig? Besonders zufrieden scheinen sie mit ihrem Leben nicht zu sein... oder liegt das an mir, ihrem ‚missratenen Sohn‘? Ich würde ihnen gerne helfen, die Welt mit anderen, freundlicheren Augen zu sehen... aber wie?« Zwei Tische weiter links saßen Kyle, Kenny und Stanley zusammen und beratschlagten sich. Kenny und Stan hatten sich darauf geeinigt, das Thema Harrison vorläufig zu ignorieren, da Eric Cartmans Genesung und die Besuchserlaubnis von größerer Bedeutung für sie waren. Nur Kyle konnte sich nicht recht entschließen, ob er erleichtert, glücklich oder verängstigt sein sollte. Cartman hatte sein Leben riskiert, um ihn zu schützen! Und er...? Er hatte ihn vorgeführt, ihn verletzt, und dennoch hatte Cartman...! Sein verzerrtes, leichenblasses Gesicht... das Blut überall... die Schmerzen, die er erduldet hatte... und seine Worte... „Ich hab‘s dir doch gesagt... Für einen Menschen, den ich liebe, würde ich alles tun. Sogar für ihn sterben, wenn es sein muss. Und ich liebe...!" »...‘Und ich liebe dich.‘ Das wolltest du doch sagen, nicht wahr, Cartman? Du verdammter Idiot! Für mich zu sterben, mich, den Typen, der dich nicht leiden kann...! Du bist ja verrückt! Verrückt und stur und egoistisch...und ...und tapfer... und stolz... und zäh...!« „Kyle, alles in Ordnung?" „Hey Kumpel, was is‘ los?" Der Rotschopf schreckte auf und wurde sich der Anwesenheit seiner beiden Freunde bewusst. „Es... es ist alles okay, Jungs. Echt. Ich... ich habe nur ein bisschen Schiss, Cartman wiederzusehen, nachdem ich... nachdem ich so ein Arsch war." „Sperr die Lauscher auf, mein Alter: Eric hat dir freiwillig das Leben gerettet. Niemand hat ihn dazu aufgefordert oder ihn dazu gezwungen. Es war seine Entscheidung, so zu handeln. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass er dich beschützt hat. Und was deine miese kleine Nummer auf Stans Geburtstagsparty angeht... er wird dir verzeihen, wenn du dich entschuldigst. Mach kein Drama daraus!" „Aber... aber...!" „Kein aber. Eric hat etwas Selbstloses getan. Das ist nicht einfach. Kaum ein Mensch ist je wirklich uneigennützig. Die Gier regiert die Welt, die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer. Deshalb heißt die Devise: Jeder für sich allein, nach mir die Sintflut. Im Ernst, Kyle - sei froh und dankbar, dass du jetzt nicht im Krankenhaus liegen musst und hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Rede mit Eric und gut is‘." „...Du hast recht..." „Natürlich habe ich recht! Eric ist mein bester Freund, ich kenne ihn. Und er liebt dich. Das ist eure Chance, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und nochmal neu anzufangen... nicht länger als Rivalen, sondern als Kameraden. So übel die ganze Geschichte mit Everett auch war, wenn sie euch hilft, eine richtige Freundschaft aufzubauen, war es das wert!" Kyle lächelte, sichtbar getröstet. Stan zeigte ein „Daumen hoch" und warf Kenny einen bewundernden, fast zärtlichen Blick zu. Momente wie diese erinnerten ihn geradezu schmerzlich daran, wie treu und hilfsbereit der Blonde sein konnte, und wie zynisch und rücksichtslos, wenn es ihm in den Kram passte. Sexbesessen. Mutig. Hedonistisch. Aufopferungsvoll. Gleichgültig. Entschlossen. Feige. Unbezähmbar. All das war er, eine widersprüchliche, anziehende, provokante Mischung, die mit herrlichen blauen Augen und einem unverschämt charmanten Grinsen gesegnet war. Kennys gefühlloses Verhalten gegenüber den Mädchen und Jungen, die er im Bett hatte und die ihm aufrichtige Zuneigung entgegenbrachten, missbilligte er sehr, aber er konnte auch verstehen, warum er trotz seines schlechten Rufs ein so erfolgreicher Playboy war. Abgesehen von seinem gewinnenden Äußeren besaß er eine... ja, eine verführerische Ausstrahlung. Nicht dieselbe Art von Ausstrahlung wie Butters, die verfeinerter, vornehmer, eleganter war; die seine hatte etwas Wilderes, Primitiveres an sich. Butters war wie das warme Leuchten eines glitzernden Kristallkronleuchters, während Kenny die lodernden Flammen eines großen Feuers verkörperte. Sogar sein Name passte dazu, denn „Kenneth" leitete sich von dem gälischen Namen „Cináed" ab, was „aus Feuer geboren" bedeutete (das wusste er von Ike, der mit seinem enorm hohen IQ über eine ebenso enorme Sammlung an Interessen und Wissensgebieten verfügte; eines davon war die Etymologie von Namen. „Stanley" zum Beispiel war altenglischen Ursprungs und bedeutete „Steinlichtung"). Aus Feuer geboren... wie der unsterbliche Phönix. Es ließ sich nicht leugnen, er zog andere Menschen an wie das Licht die Motten. Und sie verbrannten sich an ihm. ... ... ...Und manchmal... manchmal...fühlte sich auch Stanley wie eine dieser Motten. ...Fuck. „Wann wollen wir uns treffen, um Cartman zu besuchen?", unterbrach Kyle seinen Gedankengang und er schüttelte die irritierende Idee unwillig ab. Die Freunde diskutierten noch eine Weile und einigten sich schließlich auf halb acht. ~~ 14 Uhr, Sportunterricht der Neuntklässler ~~ Karen McCormick wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mrs. Taylor, ihres Zeichens Sportlehrerin und Coach des Cheerleaderteams, hatte die Freshmen mal wieder ordentlich auf Trab gehalten. Fünf-Minuten-Lauf, Klimmzüge, Liegestütze, Sprung übers Pferd, Handstand mit und ohne Hilfestellung, Radschlagen... sie schien den Unterricht des öfteren mit dem Cheerleadertraining zu verwechseln. Nicht, dass Karen per se etwas dagegen hatte - hier fühlte sie sich wenigstens gefordert und ernstgenommen und konnte mit ihren besser situierten und besser gebildeten Klassenkameraden mithalten -, aber sie hatte nachher noch eine Stunde Chemie! »Scheiße, ich werde sowas von einpennen! Dann kriege ich garantiert ein saftiges Nachsitzen aufgebrummt... und ich hasse Nachsitzen! Es sei denn, wir machen Experimente, das finde ich cool. Da schlafe ich vielleicht nicht ein, egal, wie fertig ich bin...! Wer war eigentlich so blöd, ausgerechnet Chemie auf den Nachmittag zu legen...!?« „McCormick!" Karen drehte sich um und ging zu der Lehrerin hinüber. Mrs. Taylor war eine attraktive Frau Mitte Dreißig, mit hohen Wangenknochen, einer kleinen Nase, vollen Lippen, dunkelbraunen Augen und glänzenden schwarzen Haaren, die zu einem unordentlichen Dutt gesteckt waren. Karen hätte zu gern gewusst, wie sie ihre Haare immer so toll hinbekam (das mit dem Glanz, nicht den Dutt), aber sie traute sich nicht, zu fragen, zumal Mrs. Taylor sie gerade sehr genau musterte. Hatte sie einen Fleck im Gesicht? Oder Ihr Oberteil verkehrtherum an? Warum wurde sie plötzlich begutachtet wie ein Pferd, das verkauft werden soll? „Ich habe dich beobachtet, McCormick. Du bist schnell, flink, hast eine ausgezeichnete Sprungkraft und eine hervorragende Körperspannung. Handstand ohne Hilfestellung ist für dich kein Problem und beim Radschlagen zeigst du eine gute Balance und Geschwindigkeit. Hast du schon mal daran gedacht, Cheerleaderin zu werden?" Das junge Mädchen riss die Augen auf und gab einen unartikulierten Laut von sich. „...Cheer... Cheerleader...?" „An deiner Kondition musst du noch arbeiten, und du bist etwas dünn, weshalb du mehr essen solltest, um Muskelmasse aufzubauen. Ansonsten hast du keine nennenswerten Defizite und mit dem nötigen Training und dem richtigen Ernährungsplan könnte aus dir ein Top-Cheerleader werden. Hättest du Interesse?" „Aber die Mannschaft ist doch voll besetzt!" „Ja, jetzt noch. Aber über die Hälfte des Teams besteht aus Seniors, die nächstes Jahr abgehen. Es ist Zeit für den Nachwuchs. Die Try Outs werden voraussichtlich im Mai stattfinden, möglicherweise auch im Juni. Also, was sagst du?" „Ich... ich weiß gar nicht... ich... Kann ich da ein paar Tage drüber nachdenken?" „Natürlich. Komm einfach in den nächsten Wochen beim Training vorbei und schau dir an, was wir machen. Wenn es dir gefällt, sprich mit Bebe. Sie kann dir die besten Ratschläge geben und weiß, wie man sich optimal auf die Try Outs vorbereitet." Bei der Erwähnung von Bebe verzehnfachte sich Karens Unsicherheit. Bebe Stevens, der Cheer Captain, die offizielle Schönheitskönigin der Schule, mit der sollte sie reden!? Bebe war beliebt, sexy, schick und eine super Athletin, kurz: Das totale Gegenteil von ihr. Sicher, sie war einigermaßen beweglich, aber sie konnte es doch niemals mit den Cheerleadern aufnehmen! „He, McCormick", durchdrang Mrs. Taylors ruhige Stimme ihren Anflug von Selbstzweifel, „alle Cheerleader haben mal klein angefangen. Noch ist kein Meister vom Himmel gefallen. Aber ich erkenne Potential, wenn ich es sehe. Es wäre schade, wenn du es nicht nutzen würdest. Sollte Cheerleading nicht dein Ding sein, suchst du dir eben einen anderen Sport aus. Du wärst zum Beispiel auch prima geeignet für Volleyball." Karen nickte und begann langsam zu begreifen, dass die Lehrerin ihr Angebot ernst meinte. Am liebsten hätte sie einen Luftsprung gemacht und Mrs. Taylor umarmt, doch sie besann sich rechtzeitig darauf, dass man die Pädagogenschaft nicht wie seinesgleichen behandelte. Daher bedankte sie sich höflich, ihr (vielleicht) zukünftiger Coach pfiff die Stunde ab und die Meute verteilte sich auf die Umkleidekabinen. »...Cheerleader! Cheerleader!!! Das ist der Wahnsinn! Ich kann‘s kaum erwarten, Kenny und Kevin davon zu erzählen!« ~~ 18 Uhr 15, South Park Erlebnisbad „Splash Lagoon"~~ „Warum sind wir gleich nochmal hier?", fragte Craig in einem Ton, der sich für seine Schwester Terry wie ein monotones Hypnosemantra anhörte. Dass er es fertigbrachte, bei einem derart normalen Satz so unglaublich lustlos und angeödet zu klingen, war nicht zu fassen. Er schien sich gefühlsmäßig immer mehr von seiner Umwelt abzukapseln... und obwohl sie seine Gründe nachvollziehen konnte, machte ihr das allmählich Angst. „Mensch, großer Bruder, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Ich meine, abgesehen von den üblichen Verdächtigen wie Dad oder dem Direktor und denjenigen, die es wagen, dich zu stören, indem sie existieren?" Craig stieß ein Grunzen aus und wiederholte seine Frage. Terry verdrehte die Augen, sah an der bunten Fassade des Erlebnisbades hinauf und erklärte obenhin: „Die Schwimmsaison für die Mädchen der Junior- und Senior High fängt bald an. Ein paar sind in meiner Klasse und wollen heute schon trainieren. Ich will zuschauen." „Wieso?" „Weil ich neugierig bin! Und weil ich auch mal in einer Schulmannschaft dabei sein will! Du hast keinen Bock auf gar nichts, von mir aus, aber ich möchte mich ausprobieren! Oder wenigstens zusehen, wenn ich darf! Jetzt sein kein Arschloch!" „Tse...!" »Warum muss Terry ständig an mir herumnörgeln? Ich weiß, dass sie es gut meint, aber ihre Ermahnungen nerven total. Nicht jeder ist ehrgeizig, also was soll‘s? Dad hat sich auch nie sehr angestrengt, echte Kerle haben das schließlich nicht nötig. Ich brauche keine Gefühlsduselei und nutzlose Träume... ich brauche nur mich selbst!« Das „Splash Lagoon" war, wie der Name verriet, das Badeparadies schlechthin in South Park. Neben einer imposanten Rutsche, die in ein riesiges Freibecken hinunterführte, gab es ein großes Innenbecken, zwei Saunen, eine Wellnessoase, ein Bistro, ein Café, diverse andere Rutschen, die mit Schlauchbooten oder Reifen zu befahren waren und ein etwas kleineres Trainingsbecken, das mit farbigen Bojen in Bahnen eingeteilt worden war. Dort hatten sich einige Mitglieder des Park-High-Schwimmteams versammelt. Obgleich die Wintersaison den Mädchen vorbehalten war, waren auch ein paar Jungen darunter, die den Auftakt mit ihren Kameradinnen begehen wollten. Terry nahm auf der Zuschauertribüne Platz und winkte einer Gruppe von vier Mädchen zu, die in schwarzen Badeanzügen steckten, die auf Hüfthöhe mit rot-weißen Streifen verziert waren. Alle vier winkten zurück; eine von ihnen ließ dem noch ein hingerissenes Augenrollen folgen, was Terry zunächst verwunderte, bis sie den Auslöser der schwärmerischen Reaktion entdeckt hatte: Den hübschen blonden Kapitän der Jungenmannschaft, Tristan William Edward Ernest Kendrick, kurz Tweek. Craig schien zu ersticken; jedenfalls machte er ein eigenartiges Geräusch, das sich anhörte, als hätte er irgendetwas in den falschen Hals bekommen. Seine Schwester runzelte die Stirn, und dann erinnerte sie sich daran, dass er Tweeks Wettbewerbe nie aktiv verfolgt hatte. Er hatte ihn also noch nie aus der Nähe in seinem „Schwimmermodus" gesehen und das war offensichtlich das Problem, denn... nun ja, Tweek war sexy. Zugegeben, sie verstand nicht wirklich viel davon, aber der durch das regelmäßige Schwimmen gestählte, geschmeidige Körper mit den feingemeißelten Muskeln war sehr... angenehm für die Augen und die Badehose überließ fast nichts mehr der Fantasie (er trug einen klassischen Jammer in denselben Farben wie die Mädchen, schwarz mit rot-weißen Seitenstreifen. Ein Jammer beginnt unter dem Nabel und endet über dem Knie). Die sanften braunen Augen und das strahlende Lächeln taten das übrige... oder gaben Craig den Rest, Terry war nicht sicher. Er wirkte außerordentlich... schockiert? „Liebes Schwimmteam", erklang Tweeks Stimme und ohne seine übliche Nervosität besaß sie einen unerwarteten Charme, „ich freue mich sehr, dass die neue Saison für die Mädchen begonnen hat." Allgemeiner Jubel, die Jungen klatschten dazu. „Leider hat eure Kapitänin eine schwere Erkältung und kann deshalb nicht hier sein. Sie hat mich gebeten, sie zu vertreten und sie hofft, dass sie beim nächsten Training wieder dabei sein kann. Hat noch jemand Fragen? Nein? Gut. Dann fangen wir an mit der Anwesenheitskontrolle..." Souverän? Check. Selbstbewusst? Check. Attraktiv? Check. Kein Wunder, dass Craig Zustände kriegte, er hatte ja generell Schwierigkeiten damit, Tweek als etwas anderes als eine Nervensäge wahrzunehmen. Jetzt lief er rot an. Vor Ärger? Verlegenheit? Scham? Terry war so an sein ausdrucksloses Gesicht gewöhnt, dass sie Mühe hatte, diese plötzliche und sichtbare Mimik einzuordnen. Was war in ihn gefahren, du heilige Scheiße?! „Tweek!!" Craig scherte sich nicht um die Fassungslosigkeit seiner Schwester, er hatte die Zuschauertribüne verlassen und stand nun wie eine Verkörperung ohnmächtiger Wut vor dem verblüfften Blondschopf, dessen Lächeln schlagartig erlosch. „...C-C-Craig!? Was tust du denn hier?! Warum siehst du so... angefressen aus?" „Was soll dieser Blödsinn, hä!? Und diese schwule Aufmachung!? Was kümmerst du dich überhaupt um diese Idioten, die ihre Zeit mit Wassertreten verplempern wollen?! Sollte ein Loser wie du sich nicht lieber in seinem Zimmer verkriechen und heulen wie jedes andere verdammte Weichei!? Du und dieser Sauhaufen, was habt ihr schon vorzuweisen!?" „...Großer Bruder! Was... was ist denn los mit dir?!" Das wusste er nicht. Er hätte es ihr gerne erklärt, und fand doch selbst keine Erklärung. Aus irgendeinem Grund brachte ihn diese ganze Situation fürchterlich auf; besonders Tweek, der ihn anglotzte als wäre er ein Nazi-Zombie aus dem Weltraum. Gleich würde er in sich zusammensinken und zittern, so wie es sich für ihn gehörte. Er hatte kein Recht, den Beifall einer Menge zu ernten. Er hatte kein Recht, so ruhig zu sprechen. Er hatte kein Recht, so gelöst und entspannt zu sein. Er hatte kein Recht... auf diese schönen Augen... Kein Recht auf dieses hellgoldene Haar... Kein Recht... auf diesen... diesen makellosen, kraftvollen Körper, der einen beinahe trotzig dazu aufforderte, ihn zu berühren... Er hatte nicht einmal geahnt... er... er... Er schluckte schwer, ballte die Fäuste. Seine Gedanken verlangsamten sich bis zum Stau. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Hier... Hier lief doch was falsch! Ein männlicher Körper interessierte ihn nicht! Männer allgemein waren nicht sein Ding! Sein Mund wurde trocken. Er registrierte undeutlich empörtes Geflüster, ein paar Buh-Rufe, und irgend jemand sagte „Verpiss dich, Arschloch! Lass den Captain zufrieden!" Sie... verteidigten Tweek? Natürlich... Tweek würde immer andere Leute brauchen, um im Leben zurechtzukommen. Er war schwach und hilflos. Er war... er war... „Was ist dein Problem, Tucker!?" ...Was war das? Tweek hatte ihn noch nie mit dem Nachnamen angesprochen... Ein zornig funkelnder Blick begegnete dem seinen, nicht mal die Spur eines Zitterns war zu sehen. „Was fällt dir ein, hier aufzukreuzen, unser Training zu stören und mich zu beleidigen?! Dieses Team hat hart für seine Erfolge gearbeitet, während du kaum deinen faulen Arsch hochbringst, um morgens aus dem Haus zu gehen! Schwimmen macht uns Spaß, egal, ob wir uns mit anderen messen oder nicht! Wir bestreiten Wettkämpfe, damit unsere Familien, unsere Freunde, unsere Schule, unsere Stadt stolz auf uns sein zu können! Während dein höchster Ehrgeiz nur darin besteht, fünf verschiedene Nuancen von Langeweile zu kultivieren! Der Unterricht ist dir gleichgültig, Sport ist dir gleichgültig, Clyde, Token und ich sind dir gleichgültig; ich glaube sogar, deine Zukunft ist dir gleichgültig!! Wenn überhaupt, interessierst du dich nur für dein Macho-Image und deine Schwester, und das ist verdammt wenig... und verdammt traurig! Was ist mit deinen Hobbys, deinen Wünschen, deinen Zielen!? Willst du bloß herumhängen, andere Leute fies anstarren und in deiner eingebildeten Überlegenheit baden!? Hast du gar keine Erwartungen an dein Leben?! Spitz die Ohren, Tucker: Du bist längst nicht so cool wie du denkst, und deine Null-Bock-Attitüde geht mir allmählich extrem auf die Nerven!! Warst du heute in der Cafeteria nicht da, als wir uns alle angeschwiegen haben?! Wir sind in unserem letzten Jahr an der High School, wir werden South Park in ein paar Monaten verlassen, die Freundschaft unserer Gruppe ist am Zerbrechen und es kümmert dich nicht!! Was zum Teufel läuft falsch bei dir?!" Craig öffnete den Mund, aber Worte kamen keine heraus. Tweek war wütend. Er hatte nicht gewusst, dass Tweek wütend werden konnte. »Wer... wer ist dieser Typ da vor mir? Er scheint nichts mit dem Jungen gemein zu haben, den ich kenne... oder von dem ich dachte, dass ich ihn kenne. Panikattacken, nervöse Anfälle, hastige Gesten, krasse Unsicherheit, das ist sein Ding. Er hatte Angst vor seinem eigenen Schatten, verfickt noch eins! Irgendwie kann ich mit dieser Version von Tweek nicht umgehen... diese Seite an ihm ist zu... zu... zu attraktiv...HÄ?! Nein, halt, falsch, falsch, falsch!! Ich stehe nicht auf Kerle, und besonders nicht auf paranoide Trottel!!« Wie sollte er reagieren? Seine „Coolness" half Craig nicht. Nicht mal ein bisschen. Es gab keine Vorlagen für eine solche Situation, kein Bad-Boy-Klischee, an dem er sich hätte orientieren können, um seine Richtung wiederzufinden. Noch immer sagte er nichts, stattdessen hängte sich sein vernageltes Gehirn an den schöngeschwungenen Lippen des Blonden auf und stellte auf Durchzug. Sie sahen weich und verführerisch aus... ... ... Oh, fick dich, Hirn!! Plötzlich spürte er eine kleine warme Hand, die sich in die seine schob und hörte ein leise gemurmeltes „Du bist ein Riesenidiot, Bruderherz!" Terry hielt ihn fest (und das war nötig, denn seine Beine fühlten sich an wie Götterspeise) und zog ihn energisch mit sich fort. „Entschuldige bitte, Tweek! Er ist... nicht ganz bei sich!" Damit verfrachtete sie das wandelnde Desaster zurück zum Eingang. Craig protestierte nicht. Es war, als wäre er in Ratlosigkeit und Verwirrung erstarrt. „So", meinte sie nach etwa fünf Minuten peinlichen Schweigens, die ihr Gegenüber wie hundert Stunden empfand, „du hast also was für ihn übrig, he?" „Was... was für ihn übrig? Spinnst du!? Ich hatte bloß... einen Aussetzer, das ist alles! So ein Weichei lässt mich völlig kalt!! Ich - stehe - nicht - auf - Jungs!!" Terry hätte ihn gerne gecraigt (zwei Finger, volle Breitseite), entschied sich aber dann doch lieber für einen verbalen Angriff. „Im Ernst, Bruderherz, so kann das nicht weitergehen! Du steckst so tief drin im Wandschrank, du bist fast in Narnia!" Er beantwortete ihre Feststellung mit einem erhobenen Mittelfinger. „Halt die Klappe." „...Das wäre überzeugender, wenn du weniger Ähnlichkeit mit ‘nem Radieschen hättest..." „...Halt die Klappe, Teresa, ich flehe dich an...!" „Ist ja gut..." ~~ 19 Uhr 30, Hell‘s Pass Hospital ~~ Kyle, Stan und Kenny standen vor dem Krankenhaus und blickten etwas unschlüssig an dessen grauer Fassade empor. Die Luft war kalt, aber nicht unangenehm schneidend, und es lag eine ruhige, friedliche Atmosphäre über allem, dekoriert mit Sternen und silbernem Mondlicht. „Los, Leute... rein mit uns." Am Empfang erfuhr die Gruppe, dass immer nur zwei Besucher pro Patient erlaubt waren, was zunächst Missstimmung auslöste. „Ich bedaure das", erklärte die diensttuende Schwester, „aber so lauten nun einmal unsere Vorschriften. Sie möchten Eric Cartman sehen, richtig? Zimmer 316, dritter Stock, linker Flügel. Es ist ausgeschildert. Bitte desinfizieren Sie Ihre Hände an dem Apparat dort drüben, bevor Sie sich zu ihm begeben." Wenig später standen die Freunde vor einer großen weißen Tür, auf der in schwarzer Blockschrift die Zimmernummer prangte und Kenny klopfte an. „Herein." „Stan und ich gehen zuerst rein, Kyle. Ist das okay?" „Klar ist das okay. Es dürfen ja eh nur zwei Personen sein. Sagt ihm aber, dass ich auch da bin." „Logisch." Sie öffneten die Tür. Kyle blieb allein im sterilen Flur zurück und hörte Cartmans Stimme, die glücklich seine beiden Kameraden begrüßte. Bei dem vertrauten Klang sprang sein Herz fast in seine Kehle, und er wich zurück, von seiner Erleichterung überwältigt. »Es... es geht ihm gut...! Er hat sich erholt... oder wird sich noch besser erholen...Oh, du... du... Was soll man nur mit dir machen...!? Den Kerl zu retten, der dich hasst...!« ... ... ... Hasste er ihn? Er war sich nicht mehr so sicher wie zu Beginn des Schuljahres. Jetzt war November. Konnten wirklich erst zwei Monate vergangen sein, seit Cartman ihm seine Liebe gestanden und seine Gefühlswelt ins Wanken gebracht hatte? Heute konnte er zugeben, dass er ihn attraktiv fand, ohne angewidert von sich selbst zu sein. Wenn er ehrlich war, er mochte keine spindeldürren Striche in der Landschaft. Er hatte immer für große Männer geschwärmt, welche mit Muskeln, mit breiten Schultern und Hüften, welche, die tatsächlich stark waren. Nicht wie die klassischen Bodybuilder, deren Körper nicht für Kraft gebaut waren, sondern für Aussehen. Nein, im Ernst, das hatte er in einem Medizinbuch gelesen, im Kapitel Anatomie. Männer, die bei Wahlen wie Mr. Universe auftraten, waren im Vergleich zu Männern in Strongman-Wettbewerben ziemlich schwach, weil fundamental verschieden gebaut. Der Mr-Universe-Look betonte Oberkörpermasse und eine schlanke Taille; sie waren auf Show ausgerichtet, nicht Stärke. Starke Männer besaßen beeindruckende Schultern und breite Hüften, weil sie bei ihrem Training die sogenannten Kernmuskeln des gesamten Torsos entwickelten, um Schädigungen der Wirbelsäule und der inneren Organe vorzubeugen, wenn sie Gewichte stemmten. Sie waren „big", wie Cartman... mit einem stabilen Brustkasten, kräftigen Armen und Beinen... und Kyle? Kyle gefielen die großen Jungs. »Hm...ich habe offensichtlich einen Typ...« Er seufzte. Heute konnte er außerdem zugeben, dass er seine persönliche Nemesis vielleicht doch gern hatte, jedenfalls irgendwie. In seinem Leben fehlte etwas, wenn er seine Krallen nicht an jemandem wetzen konnte, wenn niemand seine Meinungen oder Ideen hinterfragte, wenn niemand seine Intelligenz oder seinen Willen herausforderte. Er brauchte das, weil es ihn anspornte und dieses Feuer in seinem Inneren nährte, das sich seine Mutter weit weniger ausgeprägt wünschte. Er hatte sein Temperament und seinen Stolz von ihr geerbt, aber sie schien diese Eigenschaften an sich selbst nicht sehr zu schätzen. Das hing ohne Zweifel mit ihrem Leben in New Jersey zusammen, dessen sie sich schämte. Als sie seinen Vater kennenlernte, wollte sie nicht länger „S-Woww Titty Bang" sein (was er durchaus nachvollziehen konnte), aber deshalb von ihm zu verlangen, alles an sich zu verleugnen, das nicht ins Guter-Junge-von-nebenan-Schema passte? Er war dickköpfig und jähzornig und konnte gnadenlos und hinterhältig sein... doch der einzige, der ihn je bewusst damit konfrontiert hatte, war Cartman. »Du hast es mir immer ins Gesicht gesagt, wenn ich Scheiße gebaut habe... und weißt du was? Mit dir zu streiten macht Spaß. Du bist clever und schlagfertig, hast mehr Charisma als dir gut tut und du kannst so...so leidenschaftlich sein, wenn dir etwas wirklich wichtig ist. Du hast mich nicht unterkriegen können... und ich, ich habe dich nicht untergekriegt. Nach jedem Fall, den ich dir beigebracht habe, bist du wieder aufgestanden, beharrlich und entschlossen! Ich... ich will nicht mehr nur dein Gegner sein... ich will... Ich will dein Freund sein...« Ungefähr zwanzig Minuten später ging die Tür, Stan und Kenny kamen heraus und schoben den Rotschopf in den Raum, bevor er sie nach ihrem Gespräch fragen oder gar zögern konnte. Das Zimmer war hell und freundlich, und auf dem Beistelltisch neben dem Bett standen ein hübscher Blumenstrauß (von Mrs. Cartman?), eine Hello-Kitty-Plüschfigur (definitiv Butters), eine kleine zuckergussrosa Pralinenbox mit dem Logo des „Weberstübchens" (wie nett von Petra), eine Packung doppelt gefüllter Oreo-Kekse (...Wendy?), ein paar Karten mit Genesungswünschen, Clyde Frog...Moment, Clyde Frog!? Der konnte ja nur von seiner Mutter sein, also musste jemand anderes den Blumenstrauß mitgebracht haben... aber wer? „Na, Kyle? Bewunderst du meine Trophäen?" Fast hatte er es vermisst, Cartmans Grinsen. Er war immer noch schrecklich blass, wirkte jedoch munter und aufmerksam. In der Hand hielt er einen niedlichen Stier aus Plüsch mit einem Football in den Hufen (eine Hommage an die Park High Bulls und das Schulmaskottchen), das Geschenk, das seine drei besten Freunde für ihn ausgesucht hatten. (Die Diskussion in der Shopping Mall erwies sich allerdings als... ein bisschen seltsam. Kyle: Wir kaufen den da, der wird Cartman gefallen. Kenny: Den Möchtegernstier? Der ist viel zu putzig, der geht höchstens als Kälbchen durch! Stan: Ja, er ist richtig zum Knuddeln... was er ja auch sein soll, er ist ein Plüschtier! Kenny: Du findest alles zum Knuddeln, was? Stiere, Eisbären, Wale... Mormonen... Kyle: ...Mormonen?!? Stan: ...Kenneth...! Kenny: ...Ist ja gut, schau nicht so! Gib her das Teil! Stan: *sehr genervter Seufzer* Kyle: ????? Er war davon überzeugt, dass er irgendetwas Bedeutsames verpasst oder übersehen hatte, aber die beiden weihten ihn leider nicht ein.) „Deine Trophäen, Blödarsch? Sonst noch was?" „Ah, ich stelle fest, dass du deine schlechten Manieren nicht verloren hast." „Nein, natürlich nicht. Das wäre langweilig." Nach dieser protokollgemäßen Eröffnung lächelten sie sich schüchtern an und Kyle nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Um seine Verlegenheit zu kaschieren, griff er nach einer der Karten und klappte sie auf. Ein Foto des Footballteams war darin und alle Mitglieder der Mannschaft hatten in unterschiedlichen Farben unterschrieben, auch Coach Lanigan (in Pink). „Wie schön. ‚Komm bald zurück, Captain!‘ Sie setzen ihre Hoffnungen in dich." Er schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, sie würden das nicht tun. Ich werde... ich werde ihnen nicht helfen können. Die Playoffs beginnen morgen, bis dahin bin ich garantiert nicht fit genug, um anzutreten. Das letzte Match ist am 28. November und ich weiß nicht, wie footballtauglich ich dann sein werde. Sieht so aus, als gäbe es für mich keine Postseason im Abschlussjahr. Schade. Ich hätte den Pokal gern ein viertes Mal geholt." „Das wirst du. Mit deiner Pferdenatur erholst du dich bestimmt schnell, du kannst sicher noch teilnehmen. Die erste Runde gewinnt das Team auch ohne dich." „Wegen der ersten Runde mache ich mir keine Sorgen. Von den 42 Mannschaften in unserer Footballkonferenz können sich nur sechzehn für die Playoffs qualifizieren, und die spielen nach Rangliste, Nr. 1 gegen Nr. 16, Nr. 2 gegen Nr. 15, und so weiter. Klar, man muss schon gut sein, um überhaupt die Playoffs zu erreichen, aber unser Gegner morgen ist Ridge View. Die waren noch nie vorher dabei und sind schwer am Durchdrehen weil sie gegen uns spielen sollen. South Park ist dreifacher State Champion in Folge, meine Jungs werden diese Anfänger wegputzen wie nichts. Sorgen bereitet mir nur einer: North Park. Da bricht man die Siegesserie einer Schule kaum dass man Quarterback ist, und schon werden die Leute empfindlich." „Nicht zu ändern." Sie schwiegen. Cartman streichelte nachdenklich den Plüschstier, während Kyle nervös auf dem Stuhl herumrutschte und sich den Kopf zerbrach, wie er am besten zu seiner Entschuldigung überleiten könnte. Einfach so damit herausplatzen wollte er nicht, aber... „...Es tut mir leid, Kyle." Huh? „...Äh... wie bitte? Hast du was gesagt, Cartman?" „Ich sagte: Es tut mir leid." „Warte... was tut dir leid? Wofür entschuldigst du dich?" „Das fragst ausgerechnet du? Ich entschuldige mich... für alles. Dafür, dass ich dich gegen deinen Willen geküsst habe. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich habe ungebeten deine persönlichen Grenzen überschritten und das ist nicht okay. Verzeih mir. Das wird nie wieder passieren." Kyle nickte stumm, völlig überrumpelt. »Musste er gerade die Küsse erwähnen? Ich stimme im Prinzip mit ihm überein, er hätte das nicht tun dürfen, aber... aber... Aber ich kann es nicht vergessen! Seinen Geschmack, seinen Duft, die Kraft seiner Arme, die Wärme seiner Lippen...!« „Ich möchte mich entschuldigen für meine Beleidigungen, für das Herabsetzen deiner Religion, dafür, dass ich... dass ich dir dein Leben zur Hölle gemacht habe. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, aber ich werde versuchen, ein besserer Mensch zu sein als früher. Das heißt, ich werde dich auch endlich so behandeln, wie es meinen wahren Gefühlen entspricht. Ich habe es satt, mich hinter meinem kindischen Hass zu verstecken, und ich bin es leid, dich ständig zu verletzen... das entfernt dich nur von mir. Ich weiß, dass du mich nie lieben wirst, aber ich wünschte, ich könnte wenigstens dein Freund werden, jemand, dem du vertraust..." „...Bitte, Cartman... sprich nicht weiter. Auch ich muss mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich dich auf der Party vorgeführt und gedemütigt habe. Ich hatte vielleicht guten Grund, nicht an deine Gefühle zu glauben, doch ich hätte das nicht gegen dich verwenden dürfen! Und ich... ich will nicht mehr dein Rivale sein! Ich meine, versteh mich nicht falsch, ich... streite gern mit dir, du bist eine Herausforderung, die mich zwingt, meine eigene Sichtweise zu überprüfen, und ich mag das...!" Er unterbrach sich, schöpfte nach Atem. Cartmans Augen waren groß vor Staunen, als könne er nicht fassen, was er da hörte. Kyle bemerkte es nicht, er war eher peinlich berührt von seinem hastigen Redeschwall, der so gar nichts gemein hatte mit den ruhigen Worten des Quarterbacks. Er fuhr fort: „Worauf ich hinaus will... wenn wir etwas an unserer Situation ändern wollen, müssen wir beide daran arbeiten. Kenny meinte heute zu mir, dass wir einen Schlussstrich unter unsere Vergangenheit ziehen sollten. Wir brauchen einen Neuanfang." „...Ja. Ja, das würde mir gefallen." Er schwieg eine Weile, lächelte schließlich. „Ich habe eine Idee. Ziehen wir unseren Schlussstrich." Er streckte dem Rothaarigen die Hand hin. „Mein Name ist Eric Cartman. Freut mich, dich kennen zu lernen. Wer bist du?" Kyle ergriff die dargebotene Hand und drückte sie fest. „Ich bin Kyle Broflovski. Es freut mich auch, dich kennen zu lernen." ~~ 21 Uhr 05, Marsh Residence ~~ Stan saß vor seinem Laptop und surfte im Internet. Offiziell hatte er immer noch Hausarrest (genau wie seine Freunde, eine Ausnahme gab‘s nur für die Schule und den Besuch im Krankenhaus), und er konnte es seinen Eltern nicht einmal verübeln, dass sie ihm welchen aufgebrummt hatten. Wer war schon begeistert, wenn der eigene Nachwuchs einen verrückten Mörder jagte!? Ohne Kennys fantastischen Einsatz hätten sie es sowieso nicht geschafft... »Er ist wirklich sehr tapfer... und ja, ich bin froh, dass wir Cartman gerettet haben. Er gehört nun mal zu uns. Hm... Kyle war ziemlich aufgeregt, als er aus dem Zimmer gekommen ist. Ich bin sicher, er wird mir bald erzählen, worüber er mit Cartman gesprochen hat. Es scheint jedenfalls gut gelaufen zu sein...« Er dachte daran, seine E-Mails zu checken, erwartete aber eigentlich nichts außer Spam, und war daher umso überraschter, als er eine Nachricht von seiner geheimnisvollen Bekanntschaft aus der Karaokebar entdeckte, der „Goldenen Stimme" von South Park. Cinder. Mehr als diesen Decknamen hatte er nicht, und das ganze Drama um den Serienkiller und die Entführung seines Kumpels hatte ihn davon abgehalten, sich näher mit dem Sänger zu beschäftigen. Er hatte ihm zwar seine Handynummer und seine Mailadresse gegeben, war aber nicht davon ausgegangen, tatsächlich etwas von ihm zu hören. Cinder, der sein Gesicht und seine Gestalt unter schwarzen Brillengläsern und übergroßen Klamotten verbarg und nur im Flüsterton redete, wirkte nicht wie jemand, der unbedingt Kontakt suchte. Er schien sich seines Talentes bewusst, jedoch nicht stolz darauf zu sein, was Stanley absolut nicht nachvollziehen konnte. »Ich erinnere mich noch genau an seinen Auftritt... eine Stimme, die einem durch und durch geht, einen auf Flügeln davonträgt, bis man meint, den Himmel berühren zu können... Warum sollte er sich versteckten? Wovor hat er Angst? So eine Stimme ist ein Geschenk... es wäre sehr schade, wenn er nichts damit anfangen würde. Mal sehen, was er schreibt...« Hallo Stan. Weißt du, eigentlich wollte ich dir gar nicht schreiben. Aber unser gemeinsamer Abend hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich mich entschieden habe, es doch zu tun. Ich habe nicht oft Gelegenheit, mich mit jemandem über Musik auszutauschen. Aktuelle Stars und Songs und so, das schon, aber die meisten Leute, zumindest in meinem Alter, haben nicht dieses Interesse an Musik als Kunstform. Ich liebe Oper und klassische Melodien genauso wie moderne Sachen, aber das versteht niemand in meiner Familie. Deshalb war es so schön, mit dir über all diese Dinge zu diskutieren. Europäische Folklore? Kein Problem für dich, ich musste dir nicht mal erklären, was „Fado" ist, das kanntest du schon. Die Vielfalt peruanischer Musik? Oder koreanischer Pop? ABBA? Sylwia Grzeszczak? Vivaldis „Vier Jahreszeiten"? Die fürchterliche Fortsetzung vom Phantom der Oper? Kannst du dir vorstellen, wie großartig es für mich war, jemanden zu finden, der versuchen möchte, die ganze Bandbreite dieses Wunders namens Musik zu erfahren, nicht nur die neuesten Charts? Jemanden zu finden, der sich für obskure Stile oder Künstler begeistern kann? Oder für ausländische Sänger und fremdsprachige Musicals? Mit dir darüber reden zu können, nicht befürchten zu müssen, dass du mich auslachst, weil ich etwas „Komisches" mag...Ich würde diesen Abend gern wiederholen. Entweder im Lily‘s oder im Funky Town, das überlasse ich dir. Bitte melde dich. Cinder »Ja... ich würde diesen Abend auch gern wiederholen...« Cinder war ein interessanter Typ. Seine Liebe zur Musik ließ sich in jeder Zeile spüren und Stan fühlte sich davon angezogen. Wer war er wohl in Wirklichkeit? Warum wollte er nicht, dass er ihn erkannte? Und wenn sie sich trafen, würde Cinder ein zweites Mal singen? Erneut in dieser Stimme zu ertrinken... das wäre herrlich... Während er seine Antwort verfasste, summte er leise vor sich hin. Er schlug den nächsten Samstag als Termin vor, und war so erfüllt von seiner Neugier, um nicht zu sagen Faszination für Cinder, dass er seine Verabredung mit Gary am selben Tag ganz vergaß... ~~ 23 Uhr, Stotch Residence ~~ Butters lag in seinem Bett und las eines seiner Lieblingsbücher. Er war glücklich, dass es Eric so viel besser ging und er hoffte, ihn bald wieder in der Schule zu sehen. Seine Frage nach dem Geigespielen hatte er stur ignoriert, aber irgendwann würde Eric auch diese Seite an sich zeigen. Vielleicht nicht ihm, doch das störte ihn nicht. „Auserwählter!" Er zuckte zusammen. Hatte ihn da gerade jemand gerufen? Leicht beunruhigt lauschte er in die Nacht hinaus, kam aber zu dem Schluss, sich geirrt zu haben. Er legte das Buch beiseite, löschte das Licht seiner Leselampe und kuschelte sich in seine gemütlichen Laken. „Auserwählter!" Licht an. „Wer ist da?!" Nichts. Es blieb alles still. Butters machte das Licht wieder aus und drehte sich auf die Seite. „Auserwählter!" „Verdammt, wer - ist - da!?" Er sprang aus dem Bett, eilte auf Zehenspitzen zum Schalter und das Licht im gesamten Zimmer flackerte auf. Diesmal war jemand da. „...Was zum...?! Wer sind Sie?! Wie kommen Sie hier rein?! Ich schwöre, wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei!!" Bei dem Eindringling handelte es sich um eine Dame. Sie hatte schwarzes Haar, das kunstvoll um ihren Kopf geschlungen war, und trug... eine römische Tunika mit purpurfarbener Toga!? In der linken Hand hielt sie einen trichterförmigen Flechtkorb, der mit Blumen und Früchten gefüllt war. Ein... ein echtes Füllhorn!? Was, was, was!?! „Ich erbitte Eure Verzeihung, Auserwählter." Sie verneigte sich. „Es war nicht meine Absicht, Euch zu erschrecken. Zürnt mir nicht, ich ersuche Euch!" Butters war ziemlich sicher, dass er träumte. Fremde Frauen pflegten sich nicht wie aus dem Boden gewachsen in seinen heimatlichen vier Wänden aufzupflanzen, schon gar nicht zu so vorgerückter Stunde. Und warum war sie antik gekleidet? „Hört mich an, Auserwählter! Wir bedürfen dringend Eurer Hilfe und Kraft! Ohne Euch und Euer Gefolge sind wir und Euer Planet dem Untergang geweiht!" „...Halt, halt, halt. Wer sind Sie und warum sollte ich Ihnen auch nur ein Wort glauben!?" „Oh, natürlich. Wie unangemessen von mir! Mein Name ist Fortuna und ich bin die Göttin des Glücks und des Schicksals. Der Rat der Neun hat mich geschickt. Und ich bin gekommen, Euch mitzuteilen, dass großes Unheil über Imaginationland hereingebrochen ist." Butters schnappte nach Luft. „...Imaginationland?! Das heißt, das hier ist kein Traum...!? Von... von was für einem Unheil sprechen Sie? Wer ist diesmal der Feind?" Fortuna blickte ihn fest an. „Ich bedaure zutiefst, Euch sagen zu müssen, dass Ihr selbst jene Gefahr geschaffen habt, die uns nun bedroht." „...I-Ich...? Ich soll...?" „Auserwählter... habt Ihr Euch nie gefragt, wo die Fantasiefreunde Eurer Kindheit hingehen?" „...Nein? Bleiben sie denn nicht einfach in unserer Erinnerung, bis sie verblasst sind?" „Normalerweise schon. Aber manchmal... manchmal entwickeln diese Fantasien ein so starkes eigenes Bewusstsein, dass sie in Imaginationland gewissermaßen wiedergeboren werden. Die klassischen unsichtbaren Freunde sind dabei meist harmlos. Wenn sich ein Kind jedoch mehr ausdenkt als das... wenn es ein komplett anderes Ich kreiert, das es in vollen Zügen auslebt..." Er starrte sie an. Langsam begann er zu begreifen, wen sie meinte. Sie beobachtete, wie sich das Entsetzen in seinem Gesicht ausbreitete und nickte traurig. „Ja, Auserwählter. Er ist unser Feind. Euer mächtigstes Alter Ego. Professor Chaos." Ja, die nächsten drei Kapitel werden wieder eine Trilogie bilden, diesmal mit Imaginationland. Sie werden deshalb vermutlich auch verhältnismäßig lang werden... ich hoffe wirklich, dass ich das nächste Kapitel schneller schreibe als das hier. Wenn es Euch gefallen hat, sagt mir Bescheid, und wir sehen uns beim Auftakt zu "Imaginationland Episode IV" wieder. Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)