Schachmatt mit der Hölle von caramel-bonbon ((KaRe) Sequel zu 'Schachmatt mit dem Himmel') ================================================================================ Kapitel 1: Tagebuch ------------------- Von Neugier erfüllt drehte er ein kleines in Leder gefasstes Buch in den Händen. Es war ihm bei seinem letzten Beutezug in die Hände gefallen. Dummerweise hatte er den Alarm ausgelöst, noch bevor er sein Ziel erreicht hatte, und musste sich gezwungenermaßen in einem Abstellraum verstecken, wo er sich zwischen uninteressanten Gegenständen gezwängt hingehockt hatte, bis es draußen sicher genug für ihn war, sich hinaus zu schleichen. Da entdeckte er dank seiner guten Augen ebendieses Büchlein unter einem Regal, verstaubt und vergessen. Ohne es weiter zu beachten, hatte er es eingesteckt. Wieso er es nicht einfach hatte liegenlassen, konnte er nicht sagen, denn Nutzen würde es ihm bestimmt keinen bringen. Andererseits würde es bestimmt auch niemand vermissen. In Gedanken versunken betrachtete er den ledernen Umschlag. Keine Inschrift unterrichtete ihn, was darin stehen könnte. Feine Risse durchzogen den Einband. Vorsichtig öffnete er das bröckelnde Lederbändchen, das es zusammenhielt, und schlug es auf. Die Seiten waren aus dickem Papier und bereits vergilbt, die Tinte, mit der fein geschwungene Buchstaben darauf geschrieben worden waren, verblasst. Es musste sehr alt sein. Eine Staubwolke löste sich von den Seiten, als er es einmal kurz durchblätterte und er musste unweigerlich niesen. Verärgert rieb er sich die Nase. Das hätte er sich eigentlich denken können. Er legte das Buch weg. Es war bereits spät und die Müdigkeit machte sich bemerkbar, er würde es sich morgen genauer ansehen. Gähnend erhob er sich vom Sofa und schritt mit schweren Füssen ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen und bettfertig zu machen. Doch kaum hatte er sich in der dicken Decke eingerollt, wollte sich sein Kopf partout nicht ausschalten lassen. Seine Gedanken kreisten um das kleine Buch, das im Wohnzimmer auf dem Salontisch lag. Zwanghaft versuchter er, sie in eine andere Richtung zu lenken, an etwas Langweiliges zu denken, und drehte sich auf die andere Seite. Es wollte ihm nicht gelingen, das Buch wog zu schwer in seinem Kopf. Grummelnd setzte er sich in seinem Bett auf und verfluchte seine Neugierde. Er konnte schlicht nicht widerstehen. Also schob er die Beine über die Bettkante und setzte die nackten Füße auf den Holzboden, schlich sich, ohne Licht zu machen, zurück ins Wohnzimmer. Einige Schritte vom Salontisch entfernt blieb er stehen. Da lag es. Stumm und sich keiner Schuld bewusst. Seufzend ließ er sich auf das Sofa fallen und griff nach dem ledernen Band, doch kaum hatte er es mit den Fingerspitzen berührt, zog er die Hand zögernd zurück. Irgendetwas hinderte ihn, er fühlte sich merkwürdig. Als wolle ein Teil von ihm nicht, dass er den Inhalt dieses Buches erfuhr. Frustriert schüttelte er den Kopf. Das lag bestimmt nur an seiner drückenden Müdigkeit. Den Gedanken ignorierend, hob er es hoch und ging zurück in sein Schlafzimmer, wo er sich auf das Bett legte und die kleine Nachttischlampe einschaltete. Das helle Licht trieb ihm die Tränen in die Augen. Er blinzelte sie weg und lockerte das Lederbändchen um das Buch, das er zuvor wieder verschnürt hatte. Bedächtig öffnete er den Umschlag und blätterte die erste leere Seite um. Dieses Tagebuch enthält die Memoiren von Kai Hiwatari, geboren 1532 „Heilige Scheiße“, flüsterte er erschrocken. Ehrfurchtsvoll blätterte er zur nächsten Seite, begann, die ersten Zeilen zu entziffern. Ein milder Frühlingsmorgen begrüßte uns in den neugeborenen Tag. Meine dümmliche Cousine gab eine ihrer gehäuften Gartenfeste. Dies war der Märztag dieses Jahres, als ich Ihn das erste Mal erblickte, allerdings nicht als geladener Gast meiner Cousine, anstelle dessen besaß Er die Ungehobeltheit, in meine Bibliothek einzudringen. Einige Tage zuvor hatte ich das unsagbare Glück, ein altes Artefakt zu ersteigern, um dies eine Sage kreiste. In den Büchern stand nur wenig. Es war ein Schachspiel, dessen Wert der Vorbesitzer nicht zu würdigen wusste. An besagtem Tag erschien besagter junger Mann ungefragt in meiner Bibliothek und stellte mir Fragen über das Artefakt. Mir schien, Er wisse Dinge darüber, die nicht in den Büchern zu finden waren und ich sollte Recht behalten. Er forderte mich zu einer Partie heraus; selbstverständlich beherrschte ich dies Spiel. Mit jeder seiner geschlagenen Figuren – die Bauern ungeachtet – erzählte Er mir einen weiteren Teil der Geschichte. Ich schreibe sie hier nieder. ‚Es waren einmal ein Engel und ein Dämon, sie stritten sich. Sie stritten sich um den rechtmäßigen Titel der Disziplin des Spiels, denn jeder von ihnen hatte jeweils gleich viele Spielsätze gewonnen, egal, um welche Art des Spiels es sich handelte, sie schienen sich ebenbürtig. Da sie beide das Spiel liebten, entschlossen sie, ein Spiel zu gestalten, das noch nie jemand vor ihnen gespielt hatte, ein Brettspiel mit einer kleinen Armee. Sie erschufen gemeinsam ein Schachspiel aus Mondstein und Onyx, der Sockel, auf dem es stand wie ein kleiner Tisch, hochgehalten von kleinen Menschenfiguren aus Silber, die es priesen als etwas Heiliges. Doch der Sinn war nicht die Freude des Spiels selbst. Einzig wollten sie sich besiegen, um so der ganzen Welt endlich zeigen zu können, wer denn nun der wahre Meister der Spiele war.’ Unsere Partie endete in einem Patt, was Ihn nachdenklich werden ließ und mich etwas ärgerte. Er ging daraufhin und ließ mich grübelnd zurück. Auf der darauf folgenden Seite war in sehr feinen Linien das zuvor beschriebene Schachspiel gezeichnet, jedes letzte liebliche Detail war erkennbar. Angestrengt betrachtete er die Zeichnung. Er war unglaublich müde. Er erkannte die kleinen Gesichter der Menschenfiguren, die das Schach empor hoben, sah, wie sie es bewundernd anblickten. Unbemerkt fielen ihm die Lider zu und er träumte von einem Engel und einem Dämon, die sich stritten. Als er früh am nächsten Morgen aufwachte, brannte das Licht noch immer und das Tagebuch war ihm aus der Hand gefallen, zusammengeklappt lag es auf der Matratze. Mit aufgerissenen Augen starrte er die Decke an. Hastig grapschte er nach dem Buch und blätterte zu der Seite mit der Zeichnung und starrte darauf. Das konnte doch nicht möglich sein. Dieses Schachspiel hatte er schon einmal gesehen. Am Abend zuvor war er viel zu erschöpft gewesen, dies zu bemerken, doch praktisch noch im Halbschlaf waren ihm die Schuppen von den Augen gefallen. Dieses Schachbrett stand in einem der Museen der Stadt. Er blickte auf die Uhr. Wenn er sich beeilen würde, kam er gerade pünktlich zur Türöffnung. Achtlos warf er die Bettdecke über die Matratze und zog sich die erstbeste schwarze Hose und das weiße Hemd vom Vortag an, band sich unordentlich die Haare zusammen, während er auf der Zahnbürste rum kaute. Schnell schlüpfte er in die Schuhe und gleichzeitig in den grauen Mantel und musste feststellen, dass das etwas schwierig war und seinen Gleichgewichtssinn forderte. Kaum war er zur Tür hinaus, bemerkte er, dass er das Buch vergessen hatte, also drehte er nochmal um, steckte es sich in die Manteltasche und machte sich endlich auf den Weg. „Ich wusste es!“, jubelte er, als er vor der Vitrine stand, hinter deren Glas das Schachspiel gesichert war. Die Leute um ihn herum sahen ihn fragend an, doch das war ihm egal. Er zog das Buch aus der Tasche und schlug es auf, um die Zeichnung mit dem realen Gegenstand zu vergleichen. Es stimmte alles überein, jedes noch so kleine Detail. Doch es war noch viel schöner anzusehen als das Abbild. Der Mondstein funkelte bläulich und der schwarze Onyx verschlang jeden Lichtschimmer. Engelsgleich und dämonengleich. Es war wunderschön. „Faszinierend, nicht wahr?“, sagte eine Stimme neben ihm. Überrascht blickte er zur Seite. Der Mann neben ihm jedoch hielt den Blick auf das Schach gesenkt, sodass seine Haare die Augen verdeckten. Auch er schaute wieder auf das Spiel. „Ein Jammer, es in einem Glaskasten zu sehen“, hörte er ihn murmeln und fragend blickte er ihn an. Der Mann drehte den Kopf zu ihm und seine Augen weiteten sich, als er in das tiefe Rot blickte. Doch gleich darauf verengten sie sich zu Schlitzen. „Was meinen Sie damit?“, fragte er. „Dieses Schach gehört nicht in einen Glaskasten gesperrt“, kam die Antwort so leise, dass er sich etwas näher zu ihm lehnen musste, um ihn zu verstehen. Doch was er damit meinte, verstand er noch immer nicht. „Warum nicht? Es ist faszinierend, wie Sie gesagt haben“, entgegnete er, doch die einzige Antwort darauf war ein etwas überheblicher Blick und eine hochgezogenen Augenbraue. „Vergessen Sie, was ich gesagt habe“, murmelte der Fremde und drehte sich um. Er sah ihm nach, wie er stolz von dannen zog, sein weißer Schal wehte leicht hinter ihm her. „Arroganter Mistkerl“, raunte er und wandte seine Aufmerksamkeit erneut dem Schachspiel in der Vitrine und dem kleinen Buch zu. Es dauerte beinahe einen Monat, während dem ich einige Nachforschungen betrieb, bis Er wieder in der Bibliothek auftauchte, unbefugt, selbstverständlich. Zugestanden hatte ich nicht mehr mit Seinem Erscheinen gerechnet und war trotzdem angenehm überrascht, Ihn erneut zu sehen. Während Er die Figuren zu einem erneuten Spiel aufstellte, nutzte ich die Gelegenheit, ihn etwas genauer zu mustern. Er hatte sehr ungewöhnliche Augen, geschlitzt, und ein solch helles Hellbraun hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich muss gestehen, dass Er etwas Übernatürliches an sich hatte, eine sinnliche Schönheit strahlte er aus. Einzig die Narbe an seinem Kinn störte diese nahezu Perfektion. Mit zusammengezogenen Augenbrauen las er die letzten Zeilen nochmals. Stirnrunzelnd blickte er auf und auf die gläserne Vitrine, die sein Gesicht spiegelte. Geschlitzte, fast gelbe Augen blickten ihm entgegen und er hob eine Hand an sein Kinn, welches eine kleine Narbe zierte, von der er sich nicht erinnern konnte, wie er sie sich zugezogen hatte. Äußerst merkwürdig. Kopfschüttelnd machte er einige Schritte zu einer Bank, auf der er sich niedersetzte, um das Buch vor seine Augen zu halten und weiterzulesen. Das war lediglich ein dummer Zufall. Wir spielten also eine weitere Partie, Er nahm sich erneut die schwarzen Figuren, während ich die weißen zugeteilt bekam. Er erzählte mir, dass der Engel stets mit den mondsteinernen Figuren spielte, der Dämon mit den Onyxfiguren, was zwar in den Büchern stand, jedoch nie bestätigt wurde und lediglich als Vorurteil galt. Danach zählte Er nur noch die vielen gespielten Partien auf, die stets in einem Patt endeten. Unsere Partie endete ebenfalls in einem Patt, so wie das letzte Mal und Er wurde merkwürdig schweigsam und sein stets amüsiertes Lächeln verschwand. Irgendetwas schien Ihn nachdenklich zu stimmen und es ärgerte mich, dass ich nicht wusste, was es war. Als er gehen wollte, lud ich ihn zum Tanzabend ein, den meine Cousine zwei Wochen später gab. „Wie informativ“, murmelte er sarkastisch und ließ das Buch auf die Knie sinken, starrte derweil auf die gläserne Vitrine, die nun einige Schritte von ihm entfernt stand. Er seufzte und erhob sich. Der Hunger hatte sich bei ihm bemerkbar gemacht, doch als er in seinen Taschen nach Kleingeld fingerte, musste er feststellen, dass es für etwas Anständiges zu Essen nicht reichen würde. Schulterzuckend machte er sich zum Café des Museums auf und bestellte sich einen Kaffee. Als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre und ohne dass es irgendjemand bemerkt hätte, steckte er sich ein Brötchen und einen Apfel in die Manteltasche, zahlte lächelnd und mit einem charmant gesprochenen Dank den Kaffee und setzte sich an einen Tisch neben dem Fenster, wo er das Buch wieder aufschlug und in das Brötchen biss. Zum Ball kam Er selbstverständlich zu spät, was mich jedoch keinesfalls ernsthaft überraschte. Es dauerte auch nicht lange, da befanden wir uns schon wieder in der Bibliothek. Wir verzichteten auf eine weitere Partie Schach, da wir beide wussten, wie es geendet hätte und so erzählte er mir einen weiteren Teil der Geschichte. Selbstverständlich nicht ohne Gegenleistung. ‚Der Engel und der Dämon lieferten sich immer mehr Spiele und immer wieder schaffte es keiner der beiden, den anderen zu besiegen, egal, wie oft sie es wiederholten. Sie waren sich ebenbürtig, aber niemals wären sie auf die Idee gekommen, dass das Schicksal vielleicht gar nicht wollte, dass der eine den anderen besiegte. Der Engel und der Dämon jedoch wollten nicht glauben, dass keiner der beiden siegen dürfte und so forderten sie sich erneut zu einem letzten Spiel heraus.’ Während Er mir dies erzählte, zog er enge Kreise um mich und schaute mich stets intensiv an und ich musste das prickelnde Gefühl in meinem Bauch ignorieren. Stattdessen fragte ich Ihn, was geschehen war. ‚Nichts. Es war nie zu diesem letzten Spiel gekommen’, antwortete Er mir jedoch nur lächelnd, doch als ich nachfragte, wieso, wollte Er mir nichts mehr weiter erzählen. Auch die Frage, wieso Er offensichtlich als Einziger so viel über dieses Schachspiel wusste, wollte Er mir nicht beantworten. „Und die Gegenleistung?“, murmelte er in Gedanken versunken vor sich hin, irgendwie hatte diese Geschichte es doch noch geschafft, seine Neugierde zu wecken. Er setzte die Tasse Kaffee an die Lippen und nahm einen Schluck, während er weiterlas. Was Er als Gegenleistung forderte, fand ich schnell heraus, als Er begann mich zu verführen. „Oh!“, stieß er aus und hätte sich beinahe an dem Kaffee verschluckt. Hustend starrte er auf die geschwungenen Wörter, die Augen aufgerissen. „Ich glaube, ich möchte nicht weiterlesen“, nuschelte er und schob das Buch etwas von sich weg. Seine Wangen fühlten sich heiß an. Kopfschüttelnd versuchte er, die Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen und biss in den Apfel. Doch sein Blick schweifte immer wieder zurück auf die aufgeschlagene Seite, wo er aufgehört hatte zu lesen. „Ach verflucht!“, keifte er und zog es wieder zurück zu sich, gespannt las er die weiteren Zeilen. Nach einer Weile suchten wir mein Schlafgemach auf und ich war äußerst froh, dass sich alle Gäste im Ballsaal befanden. In der Tat sollte dies eine unvergessliche Nacht bleiben. Erst in den frühen Morgenstunden erinnerte Er mich daran, wieso dies geschehen war und beantwortete mir die zuvor gestellte Frage. ‚Dem Engel wurden die Flügel ausgerissen und dann verbannten sie ihn aus dem Himmel, da es nicht in ihrer Würde stand, sich zu streiten. Der Dämon hingegen wurde von seinem Herrscher selbst in die Unterwelt gesperrt, damit er den Engel, der von nun an auf der Erde weilen musste, nicht aufsuchen konnte. Er verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, das einzige, was bei einem Dämon eine Narbe hinterlassen konnte, die einzige Schande für einen von Seinesgleichen.’ Seine Hand schnellte zu seinem Kinn. „Au“, entwischte es seinem Mund. Doch auch der Engel tat ihm irgendwie leid. ’Doch eines hatten sie nicht mehr bemerkt, ehe es zu spät war, ehe sie die beiden bestraften. Der Engel, gefangen in einer Menschengestalt, musste es vergessen, der Dämon musste damit leben, das war die schlimmste ihrer Strafen.’ Ich muss eingestehen, dass mich diese Geschichte keinesfalls kalt ließ. Im Gegenteil fühlte ich mich eher merkwürdig betroffen, was ich mir aber nicht zu erklären vermochte. Seine Gesichtszüge waren traurig geworden, als er dieses brutale Schicksal las. Etwas schnürte ihm die Kehle zu und er spürte einen Stich in seinem Herz und als er die Hand hob, um die Finger in den Stoff seines Hemdes zu klammern, merkte er, dass sie zitterten. Tief atmete er durch, um sich etwas zu beruhigen, dann las er weiter. Er ging kurz danach und ließ mich mit so vielen Fragen alleine. Und erst nach vielen Tagen, in denen ich mir diese Geschichte immer und immer wieder durch den Kopf gehen ließ und mich beinahe jede Nacht Alpträume heimsuchten, begann ich zu verstehen. Ich begann, eins und eins zusammenzuzählen. Den Schlag ins Gesicht des Dämons, der eine Narbe hinterlassen hatte und Seine Narbe am Kinn. Die ausgerissenen Flügel des Engels und meine eigenen Narben auf den Schulterblättern, die Er in dieser Nacht unweigerlich entdeckt hatte. Dass ich dieses Schachspiel so unbedingt haben wollte und Er mich kurz darauf heimsuchte. Dazu kam, dass Er offensichtlich alles über dieses Schach wusste. Ich wollte es erst lange Zeit nicht glauben, es erschien mir lächerlich. Doch trotz all dem Zweifel war dies die einzige Schlussfolgerung. Er war der Dämon aus den Geschichten. Und ich war der Engel. „Was? Soll das ein Scherz sein? So was gibt es nicht!“, zeterte er vor sich hin. Das konnte und wollte er nicht glauben. Angesäuert schob er das Buch erneut von sich und sah aus dem Fenster. Blumen blühten im den museumseigenen Garten, um die sich ein Gärtner liebevoll kümmerte. Eine Weile sah er ihm zu, während er seine Gedanken schweifen ließ, doch schon bald fokussierte er sich selbst in dem Glas und er sah die hellen, geschlitzten Augen und die feine Narbe am Kinn. „Ach verflucht!“, seufzte er und zog das Buch wieder her. Er war einfach zu neugierig, wie das Ganze ausging, und was schadete es schon, auch den Rest noch zu lesen, auch wenn er weder an Engel noch an Dämonen oder sonstigen übernatürlichen Kram glaubte. Es war bereits Spätsommer, als ich Ihn endlich wiedersah. Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet und die Geschichte beinahe als Farce abgetan, doch Sein letzter Satz bestätigte mich schließlich in meinen Annahmen. ‚Der Engel und der Dämon hatten sich ineinander verliebt.’ Ja, das hatten wir uns in der Tat. Viele Erzählungen und Träume später erinnerte auch ich mich wieder und ich wusste, es war keine erfundene Geschichte, es war alles wahr. Da Er mich nun gefunden und ich mein Schicksal angenommen und mein Bewusstsein wiedererlangt hatte, schworen wir uns, uns im nächsten Leben wieder zu treffen. Denn Er war sterblich geworden, in dem Moment, als ich die Erkenntnis erlangte. Und so verbrachten wir die Tage von nun an zusammen und holten nach, was uns gestohlen worden war.’ „Verrückt“, seufzte er kopfschüttelnd. Sein Blick fiel erneut auf das Spiegelbild im Fenster, doch er ignorierte es geflissentlich. Stattdessen nahm er einen Schluck seines bereits kalten Kaffees und blätterte noch einige Seiten weiter. Doch zu lesen gab es nichts mehr, nur noch einzelne skizzierte Bilder eines Mannes. Eines Mannes mit langen dunklen Haaren und geschlitzten Augen und unter den Skizzen las er immerzu denselben Namen. Rei. Fassungslos starrte er auf die Seite. Das konnte nicht sein. Er sah sich selbst. Und sein Name stand da auf den Seiten. Er schlug das Buch zu. Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. Sein Gehirn musste sich einen Scherz mit ihm erlaubt haben. Vorsichtshalber öffnete er das Buch erneut, doch die Skizzen waren immer noch da und sie sahen ihm noch immer verblüffend ähnlich. „So ein Schwachsinn“, murmelte er und schlug das Buch erneut zu, erhob sich und stopfte es in seine Manteltasche. Als er an der Vitrine vorbeging, warf er noch einen Blick auf das Schachspiel. Die Worte des Fremden kamen ihm in den Sinn, dass es ein Jammer sei, es in einem Glaskasten zu sehen und noch während er durch die Eingangshalle des Museums schritt, hatte er einen Entschluss gefasst. Er würde einen weiteren Beutezug ausüben. Diese Nacht. Kapitel 2: Schach ----------------- Es war ihm ein Leichtes, in das Gebäude einzubrechen. Er war schon viele Male drin gewesen und nach jedem Diebstahl, der früher oder später entdeckt werden musste, wurden die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, doch nie dort, wo die eigentliche Schwachstelle war. „Was hast du vor?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm, die er irgendwie schon einmal gehört hatte. Erschrocken drehte Rei sich um und erblickte den Mann, der am Vormittag neben ihm gestanden und das Schachspiel angeschaut hatte. „Was zum-! Was geht Sie das an?“, keifte er und blickte ihn misstrauisch an. Der andere lächelte ein kaltes Lächeln. „Wenn du das vor hast, was ich denke, dann geht es mich sehr wohl etwas an“, sagte er berechnend und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Hausmauer. „Sie waren es doch, der gesagt hat, es wäre ein Jammer, das Schach in einem Glaskasten zu sehen“, giftete Rei zurück, langsam wurde er sauer, dieser Idiot versaute ihm noch seinen geplanten Einbruch. „Natürlich, das ist noch immer meine Meinung, aber es zu klauen“, seufzte der andere und er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, das im nächtlichen Licht silbern schimmerte. „Hören Sie, wenn Sie etwas dagegen haben, dann halten Sie mich auf und rufen Sie die Polizei oder die Nachtwache, ansonsten wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich einfach weitermachen ließen“, versuchte Rei geduldig zu bleiben. Was fiel diesem Kerl ein, was dachte er, wer er war, dass er ihm so kam. „Tu, was du nicht lassen kannst“, seufzte der Fremde jedoch nur. Fragend blickte Rei ihn an, zuckte jedoch dann mit seinen Schultern und wandte sich erneut seinem Vorhaben. Geschickt kletterte er an dem Seil hoch in den dritten Stock. Das Schachspiel befand sich zwar im Erdgeschoss, doch auch da würde er irgendwie hinein gelangen. Lautlos kletterte er über einen schmalen Sims etwa zur Mitte der Fassade. Dort hatte die Verwaltung ihr Büro und die Sekretärin öffnete in der Regel immer das Fenster, bevor sie nach Hause ging und wie er sich gedacht hatte, war das Fenster einen Spalt breit geöffnet. Es fiel ihm nicht schwer, die Verriegelung durch den Spalt aufzumachen und das Fenster aufzustoßen. Leichtfüßig glitt er hinein und durchquerte das kleine Zimmer, huschte durch die Tür, an den Wächtern vorbei, die sowieso schläfrig und unachtsam waren, in das Erdgeschoss. Es war stockdunkel im Raum, einzig die Lichter der Taschenlampen der Wächter erleuchteten hie und da eine Plastik oder auch nur Fußboden. Aber er brauchte kein Licht, seine Augen waren zu gut. Schnell hatte er das Schloss der Vitrine geknackt und nur kurz hielt er das Schachspiel in den Händen, um es schließlich in seinen Sack zu verstauen, den er immer auf seine Beutezüge mitnahm. Den Rest interessierte ihn nicht und so huschte er durch die Tür der Cafeteria, wo er sich eine Praline aus einem Schälchen auf einem Tisch stibitzte und einfach das Fenster öffnete und daraus verschwand, um dann über den Zaun zu klettern. Siegessicher grinsend schritt er die Straße wieder hinauf. Dort stand noch immer der Fremde an die Wand gelehnt. Augenverdrehend wollte er an ihm vorbeigehen, doch der Mann streckte einen Arm aus und hielt ihn auf. „Hat es sich gelohnt?“, fragte er mit trockener Stimme. „Klar doch!“, grinste Rei triumphierend. Auch auf das Gesicht des Fremden stahl sich ein kleines schiefes Grinsen, wurde aber sofort wieder ernst. „Du hast etwas, was mir gehört.“ Perplex starrte Rei ihn an. Er hatte keine Ahnung, was er damit meinen könnte. Doch ehe er fragen konnte, hörten sie von Innen laute Stimmen, anscheinend war der Diebstahlt bereits bemerkt worden. „Das ging ja schnell“, grummelte Rei. „Dann sollten wir besser verschwinden“, meinte der Fremde und wandte sich zum Gehen, Rei nickte bloß und folgte ihm, da er in die gleiche Richtung gehen musste, was ihn ärgerte. Doch weit kam er nicht, denn der Fremde drehte sich plötzlich um, packte ihn an den Schultern und knallte ihn gegen eine Hausmauer. „Was zum Teufel soll das?“, fauchte Rei ihn an und schubste ihn weg. Das war die Höhe. „Wer sind Sie überhaupt?“ Der Fremde starrte ihn an und seine roten Augen bohrten sich in die seinen und er konnte es nicht beschreiben, doch er hatte das Gefühl, diese Augen zu kennen. „Ich bin Kai Hiwatari und du hast mein Tagebuch“, raunte der Fremde. Reis Augen weiteten sich, als er erfasste, wo er den Namen schon mal gehört, in diesem Falle gelesen hatte. Er blinzelte. „Du siehst aber nicht aus wie vierhundertachtzig Jahre“, wollte er ihn veräppeln und prustete los. „Vierhundertneunundsiebzig“, korrigierte er ihn und seine Stimme war so eisig, dass Rei sofort verstummte, „und eigentlich wurde ich in der Zwischenzeit wiedergeboren.“ Ungläubig und mit einer hochgezogenen Augenbraue starrte Rei ihn an. Sein rechter Mundwinkel zuckte. Doch dann besann er sich, was in dem Buch stand. „Aber, das ist unmöglich!“, versuchte er sich selbst zu überzeugen, doch weiter kam er nicht, denn der Fremde hatte sich ohne die kleinste Vorwarnung nach vorne gelehnt und drückte die Lippen auf seinen Mund, den er vor Schreck geöffnet hatte. Protestierend krallte er ihm die Finger in die Schultern um ihn wegzuschieben, doch er scheiterte kläglich. Sein Körper spielte nicht mit. Als ob ein Teil seines Gehirns nicht mehr unter seiner Kontrolle stand. Er fühlte die Zunge in seinem Mund, fühlte die Hände auf seinem Körper und ihm wurde unglaublich heiß. Doch er wollte sich wehren. Und seinen Willen würde er durchsetzen. All der Verstand, der ihm noch übrig geblieben war, kratzte er zusammen, ballte die Hand zur Faust und schlug zu, so fest er konnte. Kais Lippen wurden weggerissen, doch er blieb an Ort und Stelle und rieb sich lediglich das Kinn. „Du hasst es noch immer, die Kontrolle zu verlieren, unglaublich, Rei“, murmelte Kai und ein Lächeln legte sich auf die Lippen. Doch Rei war auf etwas ganz anderes aufmerksam geworden. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte er keifend und versuchte, irgendwie zwischen diesem Irren und der Wand zu entkommen. Doch Kai stütze nun auch die andere Hand an der Mauer ab und ließ den Kopf hängen. „Du hast doch das Tagebuch gelesen, Rei, und auch die Bilder gesehen, kannst du nicht eins und eins zusammenzählen?“ seufzte er tadelnd und Rei fühlte sich sofort schuldig. „Natürlich habe ich das, aber wieso sollte ich diesen Schwachsinn glauben, der da drin steht? Das ist ein schlechter Witz, weiter nichts!“ Irritiert und wütend zugleich stieß er Kai von sich und stürzte einige Schritte von ihm weg, warf ihm noch einen letzten, zweifelnden Blick zu, dann rannte er nach Hause, ohne sich auch nur noch einmal umzublicken. Kai seufzte. „Wieso hast du dann das Schachspiel gestohlen, Rei?“ Als Rei zuhause war, zog er sich ohne Umschweife aus und legte sich ins Bett, zog die Bettdecke weit über seinen Kopf und zwang sich, zu schlafen. Doch auch als die Sonne aufging und es draußen hell wurde, konnte er noch immer kein Auge zu tun und so stand er auf und zog die Vorhänge zu. Sein Blick fiel auf den Sack mit dem Schachspiel drin und irgendwie wurde er das Gefühl nicht mehr los, dass es ihn anklagte. Nicht, dass er jemals ein schlechtes Gewissen gehabt hätte nach einem Diebstahl. Es war zum verrückt werden. So sehr er sich auch auf etwas anderes versuchte zu konzentrieren, so tauchte stets wieder das Bild dieses Mannes vor seinem geistigen Auge auf, das kühle, emotionslose Gesicht dieses irren Fremden, der sich selbst Kai nannte und der behauptete, vierhundertneunundsiebzig Jahre als zu sein und ihn zu kennen. Und da war da dieses komische Tagebuch, das ihm gehörte und in dem sein eigenes Ebenbild gezeichnet worden war. Und dann diese Geschichte. Sollte sie tatsächlich wahr sein, was Rei keinesfalls auch nur ansatzweise glaubte, dann würde das ja heißen, dass dieser Kai der Engel war und er selbst der Dämon. Das war lächerlich. Dieser Kerl war alles andere als ein Unschuldslamm, geschweige denn ein Engel. Waren Engel nicht so etwas wie heilige Gesetzeshüter? Dann hätte er ihn doch vom Diebstahl abhalten sollen und ihn erst recht nicht geküsst. Das hatte eher was mit einem Dämon gemein. Rei schnaubte und Anbetracht der Tatsache, dass er sowieso nicht mehr hätte schlafen können, erhob er sich von seinem Bett und kramte in der Tasche des Mantels, den er zuvor einfach achtlos zu Boden hatte fallen lassen, nach dem Tagebuch. Es ließ ihn einfach nicht los. Er schlug die Seiten mit den Skizzen auf. Und da waren sie wieder, diese feinen Linien, die sein Gesicht formten. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte er in den Spiegel, der an der Wand seines Zimmers hing. Jedes Detail stimmte. Die Augen, die Augenbrauen, die Nase, der Mund, die hohen Wangenknochen, die Fransen, die ihm ungezähmt ins Gesicht hingen, die feine Narbe am Kinn. Er hatte sich nie gefragt, woher er diese Narbe hatte. Er war damit aufgewachsen und hatte immer angenommen, dass er als Kind einmal gestürzt war. Er hätte auch keine Eltern mehr gehabt, die ihm hätten sagen können, was passiert war. Sein Blick fiel auf eine weitere Skizze, auf der sein Ebenbild schief lächelte. Nur zu gut kannte er dieses schiefe Lächeln. Er trug es selbst oft. Etwas, was die Frauen schwach werden ließ. „Nein“, sagte er plötzlich und die Lautstärke erschreckte ihn selbst, das Buch fiel ihm aus den Händen. Die Lippen zusammenpressend betrachtete er das kleine lederne Buch noch ein letztes Mal, bevor er sich abwandte und es einfach liegen ließ. Nein, er wollte nicht zulassen, dass er vielleicht doch noch mit dem Gedanken zu spielen anfing, dass diese absolut lächerliche Geschichte wahr sein könnte. Er war lediglich übermüdet. Die darauffolgenden Tage verbrachte er damit, spazieren zu gehen. Er musste seinen Kopf lüften. Alpträume suchten ihn nun jede Nacht heim und erfüllten seinen Kopf mit Chaos und irrwitzigen Gedanken von diesem Engel und dem Dämon, träumte Dinge von sich selbst und diesem irren Fremden, die er niemals getan hatte und nicht einmal in den kühnsten Träumen freiwillig geträumt hätte. Es schienen wie Erinnerungsfetzen an ein altes Leben zu sein, so präzise und detailreich wie sie in seinem Gedächtnis hängen blieben. Kopfschüttelnd blieb er stehen und drehte sich abrupt um. Seit dem Treffen mit Kai fühlte er sich merkwürdig beobachtet, als würden dessen rote Augen jedem einzelnen seiner Schritte folgen. Es war unheimlich. Einmal hatte er sogar gerufen, er solle rauskommen, wenn er sich traue, doch natürlich war keine Antwort gekommen. Das wachsende Gefühl, paranoid zu werden, ließ ihn frustriert aufstöhnen. Es war nun schon einige Wochen her, seit er den Fremden das letzte Mal gesehen hatte. Wut machte sich jedes Mal in ihm breit, zusammen mit einer ihm unerklärlichen Erregung, wenn er nur daran zurück dachte, wie er ihn geküsst hatte. Er hatte sich damals kaum rühren können. Als würde er selbst es nicht zulassen, als wolle er tief in seinem Inneren von ihm geküsst werden und er erinnerte sich nur zu gut an die Träume, in denen er vor Leidenschaft beinahe vergangen war. Seufzend schloss er die Augen und rieb sich die Stirn. Wenn diese Träume so weitergingen, dann musste er vielleicht doch einen Psychologen aufsuchen, der seine freudschen Theorien ausbreiten und ihn analysieren konnte. Oder gleich zu einem Psychiater, der ihn der Schizophrenie diagnostizieren und ihm irgendein Medikament dagegen verschreiben würde. Doch er hielt nichts von Traumdeutung und dass er nicht wirklich schizophren war, wusste er selbst. Da würde auch das stärkste Medikament nicht helfen. Denn er bildete es sich nicht ein. Weder Kai, noch irgendetwas anderes. Das konnte er spätestens drei Tage danach eindeutig bestätigen, als er gerade die Tür zu seinem Zimmer im dritten Stock öffnete und den Raum betrat. Dort hockte Kai auf dem Fenstersims und sofort verfluchte er sich selbst, dass er das Fenster offen gelassen hatte. Mit zusammengekniffenen Augen warf er ihm funkensprühende Blicke zu. „Was willst du hier?“, keifte er und fragte sich gleichzeitig, wie er überhaupt hier hoch gekommen war. Auf jeden Fall nicht durch die Tür. „Mein Tagebuch holen. Aber da du es offensichtlich ständig bei dir trägst, hole ich mir eben das da“, sagte er trocken und hielt den Sack mit dem Schachspiel hoch, dem er zwar immer wieder böse Blicke zugeworfen, es jedoch nie ausgepackt hatte. „Was?“, fauchte er empört und schritt auf den Eindringling zu, der ihn nur schief angrinste. Nur einen halben Meter von ihm entfernt blieb er stehen und streckte die Hand nach dem Sack aus, da wurde er überraschend am Kinn gepackt. Kai zog ihn dicht an sein Gesicht. Das intensive Rot seiner Augen funkelte heimtückisch, bevor er ihn noch etwas näher zog und seine Lippen auf Reis presste. Rei keuchte auf und wollte ihn von sich stoßen, doch sein Körper gehorchte nicht. Es war, als würde er von einer ihm völlig fremden inneren Kraft getrieben, den Kuss zu erwidern. Sein Mund öffnete sich und er spürte, wie die Zunge des Fremden frech über seine Lippen leckte und sich langsam zwischen sie schob. Rei fühlte die Hitze in sich ausbreiten, fühlte dieselbe Leidenschaft und Erregtheit wie in seinen Träumen, nur tausendmal stärker. Sein Arm hob sich und seine Hand legte sich wie von selbst in den Nacken des Fremden, während er sich mit der anderen an dessen Handgelenk festklammerte. Sein Herz schlug furchtbar schnell. Seine Sinne waren beinahe vollkommen vernebelt. „Ach Rei, du wirst mir niemals widerstehen können.“ Es war, als hätten ihm diese Worte einen Schlag mitten ins Gesicht verpasst. Mit einem Mal wurde er sich wieder bewusst, wo er war und was er hier tat. Erschrocken und wütend riss er sich von den Lippen des anderen los und stieß ihn mit aller Kraft zurück. Wie in Zeitlupe sah er, wie Kai nach hinten kippte und ihm wurde bewusst, dass das Fenster noch immer offen stand. Doch Kais Lachen verwirrte ihn und er war hin und her gerissen zwischen Wut und Angst und bevor er einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, war Kai rücklings aus dem Fenster gefallen. „Kai!“, rief er und der Name hallte in seinem Kopf nach, als er mit ausgestreckten Armen zum Fenstersims preschte um hinunter zu blicken. Doch da war niemand. Einzig Kais Name und dessen Lachen hallte in seinem Kopf wieder, während er mit weit aufgerissenen Augen und Mund auf das Gras unter seinem Fenster starrte. Kapitel 3: Spiel ---------------- Der Ärger war grösser als der Schock. Er war wütend auf diesen Irren, der sich Kai nannte, weil er in seinen Augen irgendein krankes Spiel mit ihm spielte. Und er war wütend auf sich selbst, weil er sich gegen ihn nicht wehren konnte. Er war wütend und unsicher, weil sein Verstand ihm sagte, dass so etwas eigentlich nicht sein durfte. Nichts, was in den letzten Wochen passiert war, hätte sein dürfen. Er war wütend auf seinen Körper, der ihm nicht mehr zu gehorchen schien. Wütend auf sein Unterbewusstsein, das ihm Bilder projizierte, wann immer er sie nicht verdrängen konnte. Die Träume waren nicht verschwunden, doch sie hatten sich verändert. Es waren nun mehr flackernde Fragmente und Bruchstücke. Da waren immer noch der Engel und der Dämon, die Kai und ihm selbst bis aufs Haar glichen, und Schach spielten, doch dann plötzlich kam diese unglaublich beängstigende Unruhe auf, alles geriet durcheinander, er konnte beobachten, nein, er musste mit ansehen, wie Kai die schönen Flügel ausgerissen wurden, er schrie auf vor Schmerz, und dann fiel er und Rei versuchte, ihn zu retten, streckte die Hände nach ihm aus, doch es war zu spät, Kai fiel und fiel ins tiefe schwarze Nichts. Schweißgebadet und mit einem stummen Schrei auf den Lippen wachte Rei auf. Sein Atem ging schnell und ruckartig, sein Herz pochte in der Geschwindigkeit eines Libellenflügels, seine Hände zitterten. Er setzte sich auf und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, griff nach dem Glas neben dem Bett und trank es gierig aus, versuchte, seine ausgetrocknete Kehle zu befeuchten. Als er das Glas zurückstellte, streiften seine Finger kurz das Buch und er hielt inne. Dieses Buch hatte ihm nichts als Unheil gebracht. Schon mehrere Male hatte er es loswerden wollen, doch es brachte es nicht über sich. Er ignorierte es und schob die Beine über den Bettrand, stellte die nackten Füße auf den Boden. Tief atmete er durch, um sich zu beruhigen, bevor er sich erhob und er sich mit wackeligen Knien in das kleine Badezimmer begab. Großzügig schaufelte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann stützte er sich mit beiden Händen am Waschbecken ab, die Augen geschlossen, und das Wasser lief ihm über das Gesicht, er spürte, wie es sich einen Weg über seine Wangen zum Kinn bahnte, wie es von dort hinuntertropfte, der Schwerkraft der Erde hilflos ausgeliefert. Tief seufzend öffnete er die Augen und betrachtete sich im Spiegel. Dunkle Augenringe zeichneten sich ab, seine Wangen waren eingefallen. Er fühlte sich wie einer dieser Wassertropfen. Hilflos ausgeliefert in einem Spiel, dessen Regeln er nicht kannte. Er konnte nicht kontrollieren, wohin es ihn trieb, doch die Träume rissen ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn. Und Rei hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Er hasste es und er verfluchte sich dafür, dass er dieses Tagebuch in dieser Nacht nicht einfach hatte liegen lassen. Mit einem frustrierten Stöhnen stieß er sich vom Rand des Waschbeckens ab, löschte das Licht und legte sich zurück ins Bett. Es war viel zu früh um aufzustehen und doch wusste er genau, dass es ihm nicht gegönnt sein würde, in einen tiefen, entspannenden Schlaf zu fallen. Es war wie jede Nacht, seit Kai das letzte Mal hier war. Der Traum kehrte zurück, kaum hatte er die Schwelle des Schlafs überschritten. Doch diesmal waren es hauptsächlich Gefühle, hauptsächlich Eindrücke, die ihm beinahe die Luft abschnitten. Er fühlte Wut, in sich selbst und von außen, Hitze stieg rund um ihn auf, Worte wurden gesprochen, Worte, die anklagend klangen, voller Verachtung, dann spürte er einen kräftigen Schlag mitten ins Gesicht und sein Kinn schmerzte. Gegen seinen Willen wurde er an den Armen gepackt und in ein Verlies geworfen, es war dunkel und einsam und Verzweiflung überkam ihn, Verzweiflung darüber, dass er nicht bei dem sein konnte, den er liebte, Trauer und Hilflosigkeit übermannten ihn und er bebte am ganzen Leib. Rei atmete die frische, kühle Luft ein. Es war früh morgens und kaum jemand war unterwegs. Er hatte nicht mehr schlafen können. Die Träume schnürten ihm die Brust zu, wann auch immer er an sie dachte. Einschlafen wollte er nicht mehr. Doch das Chaos in seinem Kopf war beängstigend. Keine seiner Fragen wurden beantwortet. Und derjenige, der vielleicht im Stande gewesen wäre, ihm Antworten zu geben, tauchte nur auf, wann es ihm für richtig erschien. Er seufzte und schloss die Augen, wandte das Gesicht der morgendlichen Sonne zu, deren Strahlen sanft über seine Haut streichelte, als wolle sie ihn beruhigen, als wolle sie ihm sagen, dass alles gut werden würde. Doch der Grund, warum ihm wieder etwas wärmer ums Herz wurde, verschwand schlagartig und an deren Stelle war Schatten getreten, dunkel und kalt. Blinzelnd öffnete er die Augen und versuchte etwas zu erkennen, doch er sah lediglich eine Silhouette, die sich vom grellen Licht der Sonne abhob. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, die Person zu erkennen und stöhnte, als er die silbrig-grauen Haare und die roten Augen wiedererkannte. Das Leben wollte ihn verhöhnen. „Was willst du?“, fragte er unwirsch und er schloss die Augen wieder, wünschte sich, dass der andere vielleicht verschwand, wenn er ihn nicht mehr sehen konnte. Doch er hätte es besser wissen müssen, dachte er sich, als er spürte, wie Kai neben ihm auf der Bank Platz nahm. Er drehte den Kopf in seine Richtung und öffnete die Augen einen Spalt, blickte ihm fragend direkt in das höhnisch grinsende Gesicht. Grummelnd richtete er sich etwas auf. „Hör mal, ich weiß zwar nicht, was für ein das Spiel ist, das du mit mir treibst, aber hör auf damit! Okay? Hör einfach auf!“, spuckte er aus hob die Hände, um seine Worte mit heftigen Gesten zu unterstreichen. Er war wütend, er war einfach nur wütend, er wollte sich sein Leben nicht von einem dahergelaufenen Möchtegern-Engel kaputt machen lassen. Er hörte, wie Kai leise seufzte. „Das ist kein Spiel“, knurrte er und Rei rollte genervt mit den Augen, gab sich keine Mühe, es zu verstecken. „Dann erklär es mir! Was willst du von mir? Bist du ein verdammter Stalker, oder was?“, flehte Rei, er wollte doch einfach nur Antworten. Kai grinste schief, was Rei beinahe zur Weißglut brachte. Er schob den Unterkiefer nach vorne und verspürte das Verlangen ihn mit seinen bloßen Blicken zu erdolchen. „Für Außenstehende mag das in der Tat so aussehen. Aber ich brauche dir nicht zu sagen, wer ich bin, du weißt es schon“, meinte Kai mit seiner kühlen Stimme. Rei blickte ihn verständnislos an. Das war eben gerade nicht das, was er hören wollte. Er presste die Zähne aufeinander, um ihn nicht gleich anzuschreien. „Wieso sollte ich dir glauben?“, fragte Rei mit vor Beherrschung zitternder Stimme. „Wieso vertraust du mir nicht?“, stellte Kai die Gegenfragte und Rei hätte ihm dafür am liebsten den Hals umgedreht. „Du hast nicht gerade viel dafür getan. Vertrauen soll verdient sein, weißt du“, spuckte er aus und verschränkte stur die Arme vor der Brust. Abermals hörte er Kai leise seufzen. „Ach Rei, was muss ich denn tun, damit du mir vertraust?“, fragte er, mehr zu sich selbst. Verunsichert wandte Rei seinen Blick zurück zu Kai. Konnte sein, dass er es sich nur eingebildet hatte, doch er dachte, Verzweiflung in dessen Stimme zu hören. Und das machte ihn stutzig. „Sag mir die Wahrheit“, forderte Rei. „Du kennst die Geschichte!“ „Ich glaube diesen Schwachsinn nicht“, zischte Rei und musste sich stark zusammenreißen, nicht einfach aufzustehen und weg zu laufen. „Wenn es doch wahr ist“, stöhnte Kai auf und fasste sich an den Kopf, als hätte er Schmerzen. Rei starrte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Das ganze war einfach nur lächerlich. Er glaubte es nicht, er wollte es nicht glauben. Plötzlich wurden Kais Züge ganz sanft und er blickte ihn mit funkelnden Augen an, das Rot schimmerte warm und er streckte eine Hand aus, um mit zwei Fingern leicht über die Narbe an seinem Kinn zu streicheln. Die Berührung war zart und hinterließ ein Kribbeln auf der Haut. „Woher hast du diese Narbe, Rei?“, fragte Kai flüsternd, schaute ihm tief in die Augen. Rei schluckte. Er konnte diesen Blick nicht Aufrecht erhalten. „Ich bin als Kind hingefallen“, log er und drehte den Kopf weg. „Lügner“, hauchte Kai ihm ins Ohr und überrascht, wie nah dieser ihm plötzlich war, drehte er den Kopf zurück, starrte ihn mit geweiteten Augen an. „Der Dämonenfürst hat dich ins Gesicht geschlagen, weil du verhindern wolltest, dass man mir die Flügel ausreißt. Es ist das einzige, was bei Dämonen ein Mal hinterlässt.“ Reich schluckte hart. Kai war ihm immer näher gekommen, seine Hand hatte sein Kinn fest umschlossen und verhinderte, dass er zurückweichen konnte. Da war ein Ausdruck in seinen roten Augen, den er nicht beschreiben konnte. Vielleicht war es Dankbarkeit, Sehnsucht, Lust. „Ich habe dich vermisst, Rei“, hauchte er gegen seine Lippen und Rei war unfähig, sich zu bewegen. Wieder einmal schien sein Verstand keine Macht über sein Hirn, sein Unterbewusstsein zu haben. Seine Brust war wie zugeschnürt und er fühlte ein Ziehen in seinem Bauch, es war, als hätte er Bauchschmerzen, die nicht weh taten. Seine Lungenflügel flatterten, als er einatmete. Sein Kopf füllte sich mit Watte und er erschauderte unter Kais intensiven Blicken. Seine Lippen öffneten sich einen Spalt, voller Erwartung. „Ich-“, versuchte Rei etwas zu sagen, vielleicht sogar abzublocken, doch seine Stimme versagte. Zu nah war Kai, zu deutlich konnte er dessen Wärme spüren, den Atem auf seinen Lippen, zu deutlich konnte er seinen Duft wahrnehmen, diese ummantelnde Aura. Kai ließ seine Hand über sein Gesicht gleiten, den Kiefer nach hinten, er streichelte mit dem Handrücken über die Wange nach oben, strich ihm in der gleichen Bewegung eine verirrte Haarsträhne zur Seite, fuhr mit seinen Fingern über den Wangenknochen, wieder hinunter, zu seinem Mundwinkel und Rei kam ihm leicht entgegen, indem er den Kopf ein wenig zur Seite drehte und er spürte Kais Fingerspitzen hauchzart über seine Oberlippe tänzeln. Reis Lider flatterten und er legte den Kopf ein bisschen mehr nach hinten, atmete stockend durch den Mund aus. Sein Körper kribbelte, und ihm war so heiß, dass er befürchtete, jeden Moment zu verbrennen. Da war dieses Verlangen in ihm, das er sich nicht erklären konnte, das tausend Mal stärker war als in seinen Träumen, von denen Kai behauptete, dass sie wahr waren, dass sie ihm seine Vergangenheit zeigten und Rei war sich plötzlich nicht mehr so sicher, dass das alles Humbug sein sollte. Da war etwas in ihm, in seinem Kopf, das nicht nur Kai und dessen Berührungen kannte, sondern auch die Wahrheit. Und dieses Etwas wurde grösser, je mehr er zuließ, dass Kai ihn berührte, bis es groß genug war, um seine Meinung ins Schwanken zu bringen. Nur weil die Menschen nicht an Engel und Dämonen glaubten, hieß das noch lange nicht, dass es sie nicht gab, dass sie nicht existierten. Er fühlte, wie Kais Finger von seiner Oberlippe zur Unterlippe huschte und sie leicht nach unten drückte und er kam ihm nach, indem er seinen Mund leicht öffnete. Ein elektrisierender Schauer jagte durch seinen Körper und er bekam keine Luft mehr. Keuchend atmete er ein. Kai war ihm so nah. Und er bedachte ihn mit einem Blick, den ihn nur noch mehr erschaudern ließ. Er wusste nicht, konnte nicht sagen, wie lange sie auf dieser Bank saßen und dieses Spielchen spielten, die Zeit wurde ein unwichtiger, nicht mehr messbarer Faktor in einem Universum voller übermannender Gefühle. Worte, Sätze durchschweiften seine Gedanken, summten in seinem Kopf, waren so greifbar wie Nebelschwaden. Er erkannte die Stimmen, Kais Stimme. Und seine. ‚Was für ein Spiel treiben Sie hier eigentlich?’, hörte er Kai unwirsch fragen, erkannte darin seine eigene Frage, seine eigene Unsicherheit und erkannte sich selbst antworten. ‚ Ich treibe keine Spielchen.’ ‚Möchten Sie, dass ich Ihnen auch noch den Rest der Geschichte erzähle?’ Wieder er selbst. ‚Wie kommt es, dass Sie offensichtlich als einziger so viel über dieses Schach wissen?’ Kai. ‚Ich hatte mir gedacht, dass Sie leidenschaftlich sind, aber so fordernd.’ Seine Stimme, die so außer Atem klang. ‚Wie ist es möglich, dass Sie so erotisch sind?’ Kais flüsternde Frage. ‚Ich möchte Sie sehen können.’ Ein heißkalter Schauer übermannte ihn. Das klang alles so vertraut, als hätte er es schon einmal gehört. Er wollte, musste sicher sein, dass das stimmte. Mit vollem Willen hob er die Hand. Diesmal sollte er es sein, der freiwillig handelte. Er legte die Hand in Kais Nacken, fühlte die weichen, dunkelblauen Haare zwischen seinen Fingern hindurch gleiten, dann zog er ihn an sich, legte seine Lippen auf Kais. Er fühlte, wie Kai lächelte, vielleicht erleichtert, vielleicht triumphierend. Er spürte sein Herz, das beinahe einen Takt aussetzte und dann heftig gegen seine Rippen schlug. Er erschauderte, als Kais Lippen ihn leidenschaftlich zurück küssten und sein ganzer Körper kribbelte, als hätte er endlich Erlösung gefunden. Warum nur hatte er sich so sehr dagegen gesträubt? Warum nur war er darauf fixiert, dass diese Geschichte Schwachsinn war? Warum nur hatte er dieses Spiel nicht viel früher angefangen mitzuspielen...? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)