Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 13: Das Gesicht hinter der Maske ---------------------------------------- Joel war an diesem Morgen sichtlich verärgert, als er sich gemeinsam mit Raymond auf dem Weg zur Schule befand. Mit gerunzelter Stirn, die Hände in den Hosentaschen vergraben und fast schon stampfend, lief er neben Raymond her. „Mann, kaum aus dem Krankenhaus draußen, schicken die mich schon wieder in die Schule. Das ist unmenschlich!“ Seine Stimme verriet eindeutig, dass er nicht daran interessiert war, Gegenworte zu ernten, aber Raymond konnte sich diese dennoch nicht verkneifen: „Du musst aber auch bedenken, dass du der Sohn des Direktors bist – und anscheinend gibt es keinerlei medizinische Indikation, die dafür spricht, dass du zu Hause bleiben sollst.“ Joel schob schmollend die Unterlippe vor, zuckte allerdings mit den Schultern. „Ja, was auch immer. Ich muss das ja wohl oder übel tun, aber nicht einmal Christine kommt heute. Sie hat geschrieben, dass es ihr nicht gut geht. Was für ein blöder Tag.“ Es gab zwei Dinge, die Raymond an dieser Sache störten. Zum einen wusste er, dass Christine nur nicht kommen wollte, um ihm nicht gegenüberstehen zu müssen, nach dem, was sie am Tag zuvor gesagt hatte. Und zum anderen sagte es ihm, dass er allein für Joel nicht genug war und das verletzte ihn ein wenig, wenn er ehrlich war. Aber er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, während sie die Schule betraten und sich in ihrem Klassenzimmer auf ihre Plätze setzten. Die anderen Schüler warfen ihnen Blicke zu, die zwischen Spott und Gleichgültigkeit schwankten und nicht lange anhielten. Joel kümmerte sich nicht im Mindesten darum, Raymond schaffte das nicht so ganz. Um sich abzulenken, klappte er sein Pult auf, so dass ein Monitor und eine Tastatur zum Vorschein kamen und er den Computer einschalten konnte. Eigentlich gab es dafür keinen Grund, der Unterricht hatte noch nicht begonnen und er rechnete auch nicht mit einer Nachricht, da es niemanden gab, der ihm schreiben könnte, aber es gab auch nichts Besseres zu tun. Joel war in sein Handy vertieft, vermutlich, um Christine zu schreiben und beachtete seinen besten Freund nicht weiter, so dass dieser sich spontan fragte, ob er irgendetwas Falsches gesagt hatte, um ihn zu verärgern. Doch seine Gedanken wurden sofort von etwas anderem in Beschlag genommen, als der Computer hochgefahren war. Eines der Icons auf dem Hintergrund, der einer Unterwasserlandschaft ähnelte, blinkte und verriet Raymond somit, dass er tatsächlich eine Nachricht über das schulinterne Netzwerk bekommen hatte. Um herauszufinden, von wem sie kam, klickte er das Icon an und stellte überrascht fest, dass die Nachricht als Absender den Hauptserver aufführte – und der Inhalt ihm erklärte, dass offenbar jemand in den Server eingebrochen war und die Schüler deswegen zur erhöhten Sicherheit aufgerufen wurden. So ganz konnte Raymond allerdings nicht verstehen, warum jemand in einen Schulserver einbrechen sollte. Um den Lösungsbogen einer Prüfung zu kopieren? Um die Nummer eines anderen Schülers herauszufinden? Ihm erschien das alles viel zu aufwendig, aber er verstand auch nicht unbedingt sonderlich viel von Computern, wenn er ehrlich war. Er verwarf seine Gedanken und Überlegungen wieder, als sich die Tür öffnete und Mr. Fry eintrat. Nach den Ereignissen der letzten Tage war er ein äußerst angenehmer Anblick, denn er sah mit seinen ausgebeulten Hosen, dem ungebügelten Hemd und der unsauber gebundenen Krawatte so herrlich normal aus wie eh und je. Selbst sein braunes Haar wieder wieder einmal ungekämmt, so dass es aussah als wäre er eben erst aus dem Bett gekommen – und manchmal glaubte Raymond das sogar tatsächlich. An diesem Tag lächelte Mr. Fry gut gelaunt, als er vor die Klasse trat, was sogar Joel dazu bewegte, endlich von seinem Handy abzulassen. „Guten Morgen, ah, ich sehe, dass wir fast vollzählig sind, das ist schön.“ Die anderen Schüler beendeten ihre Gespräche und sahen sich um, nur um ebenfalls festzustellen, dass lediglich Christine fehlte, was bislang anscheinend noch keiner von ihnen bemerkt hatte, sie aber auch nicht weiter kümmerte. „Ich werde das aber gleich wieder ausgleichen“, fuhr Mr. Fry fort. „Wir haben nämlich eine neue Mitschülerin, die ab heute in diese Klasse geht.“ Ein leises Raunen ging durch die Anwesenden und mündete sofort in aufgeregtes Murmeln darüber, wie die Neue wohl wäre, wobei er besonders oft die Worte hübsch oder süß wahrnehmen konnte. Er warf Joel einen fragenden Blick zu, da er als Direktorensohn eigentlich mehr wissen müsste, aber dieser konnte ebenfalls nur mit den Schultern zucken. Wobei Raymond das nach den letzten Ereignissen gar nicht so sonderbar fand, er hätte da auch keine Nerven mehr für solche Trivialitäten besessen. Um die ratlosen Mutmaßungen zu unterbinden, gab Mr. Fry jemandem, der vor der Tür wartete, zu verstehen, dass sie eintreten konnte. Augenblicklich verstummten alle Anwesenden. Wie er gesagt hatte, war es ein Mädchen, das hereinkam. Sie trug eine dunkelblaue Jeans, die sicherlich schon weitaus bessere Tage gesehen hatte, so wie ein weißes Shirt, das allerdings von der roten Schuljacke zum größten Teil verdeckt wurde. Das alles war seltsamerweise das erste, was Raymond an ihr auffiel, vermutlich weil sie so dünn war, dass er sich für einen kurzen Moment fragte, wie sie die Ausbildung, in der es auch Kraft benötigte, schaffen wollte. Erst danach achtete er auf ihr hüftlanges schwarzes Haar – und dann bemerkte er ihre goldenen Augen. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass es sich bei ihr um ein Mitglied der Garou Society handelte und eine Sekunde lang befürchtete er, sie wäre diejenige, die hinter ihm her war. Doch er spürte keinerlei Feindseligkeit von ihr ausgehen und ihre Augen wirkten durch das Lächeln auf ihrem Gesicht wesentlich friedlicher als die jener Frau. Dennoch wagte er es nicht, die Brille abzunehmen, um durch einen Blick auf ihre Aura festzustellen, ob er im Recht oder Unrecht war, schon allein weil ihre fröhliche Stimme ganz und gar nicht nach seiner Feindin klang: „Guten Morgen. Mein Name ist Alona Leigh und ich bin erst vor kurzem aus Verrington nach Lanchest gezogen, um diese Akademie zu besuchen. Ich hoffe, dass wir uns sehr gut verstehen werden.“ Bei ihrem letzten Satz hatte Raymond das unangenehme Gefühl, dass ihr Blick sich auf ihn fokussierte, aber schon im nächsten Moment sah sie deutlich in eine andere Richtung, weswegen er glaubte, sich das wegen seiner Anspannung nur eingebildet zu haben. Allerdings stellte er auch fest, dass er der einzige war, der gerade nicht lächelte, da sogar Joel ein Lächeln für die neue Mitschülerin übrig zu haben schien. Also war es vermutlich nicht weiter verwunderlich, dass sie ihn ansah, den einzigen Miesepeter der Klasse, der sich nicht zu freuen schien. Der Hauch eines schlechten Gewissens machte sich in ihm breit, hielt aber nicht lange genug an, da sie sich gleich danach setzte, damit Mr. Fry mit dem Unterricht anfangen konnte und er die neue Schülerin und sein Verhalten ihr gegenüber erst einmal ganz nach hinten in seinem Bewusstsein verschob. Er könnte sich immer noch später entschuldigen, sobald die Pause angefangen hatte. Nach dem Ende der, überraschend anstrengenden, Stunde, wie er fand, blieb ihm allerdings keine Gelegenheit, sich bei Alona zu entschuldigen. Die anderen Schüler, männlich wie weiblich, scharten sich um ihren Tisch, um sie über allerlei Dinge zu befragen, angefangen mit ihren Hobbys, über Anfragen, ob sie gut in der Schule wäre oder Nachhilfe benötigte, bis zu ihrem Interesse an Verabredungen. Raymond lauschte ihren Antworten nicht, genausowenig wie Joel, der sich ihm nun endlich zuwandte und sich sogar ein wenig zu ihm hinüberbeugte, um leiser sprechen zu können: „He, was hältst du von ihr?“ „Was soll ich von ihr halten?“, erwiderte Raymond verwundert. „Sie ist eine neue Schülerin, mehr nicht.“ Joel blickte ihn prüfend an und neigte ein wenig den Kopf. „Na ja, sie hat dich vorhin ziemlich seltsam angesehen.“ Dass er das sagte, überraschte Raymond noch weiter, immerhin dachte er, sich das nur eingebildet zu haben, aber wenn Joel ebenfalls dieser Meinung war... „Es ist gut möglich, dass sie Interesse an dir hat.“ „Sie hat mich erst einmal gesehen“, erwiderte Raymond. „Und ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick.“ „Ich meinte ja auch mehr, dass du genau ihrem Typ entsprichst.“ Joel klang deutlich frustriert, auch wenn er im ersten Moment nicht verstand, weswegen eigentlich. Erst bei genauerem Nachdenken kam ihm in den Sinn, dass sein Freund möglicherweise versuchte, ihn zu verkuppeln. Allerdings sah er darin nicht den positiven Aspekt – dass Joel wollte, dass es ihm gutging – sondern den negativen: Joel wollte ihn loswerden und das ging am besten, wenn er ihn mit irgendeinem Mädchen zusammenbrachte. Dieser Gedanke ließ seine Stimmung unnötig tief in den Keller sinken, weswegen er auch dann kein Lächeln für Alona übrig hatte, als sie mit einem solchen plötzlich vor ihm stand. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass sie aufgestanden war. „Du bist... Raymond Lionheart, nicht wahr?“ Er nickte schweigend, worauf sie erleichtert aufatmete. „Ah, dann kannst du mir vielleicht helfen? Ich brauche noch ein Buch aus dem Materialraum.“ Die Frage, warum keiner der anderen das tun konnte, lag ihm bereits auf der Zunge, aber da fiel ihm ein, dass er irgendwann einmal zum inoffiziellen Materialwart der Klasse erklärt worden war, da die Lehrer den anderen nicht so sehr vertrauten – was ihm auch zu einigem Spott verholfen hatte. „Natürlich“, sagte er und stand auf. Als er den Raum gemeinsam mit ihr verließ, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie Joel einen Daumen hob, was ihn allerdings nur die Stirn runzeln ließ. Was glaubte er eigentlich, was Alona wirklich von ihm wollen könnte, außer eben dieses Buch? Wie in jeder Pause war auch in dieser der Gang mit Schülern gefüllt, die sich lachend unterhielten und Neuigkeiten aus dem eben erlebten Unterricht austauschten, da sie allesamt aus unterschiedlichen Klassen stammten. Immerhin achtete niemand auf sie beide, deswegen war Raymond eigentlich lieber auf dem Gang unterwegs, als in seinem Klassenzimmer. „Schaust du eigentlich immer so finster?“, fragte Alona plötzlich. So wie sie neben ihm herlief, mit federnden Schritten, die Arme locker hinter dem Rücken verschränkt, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, konnte er sich noch weniger vorstellen, dass es sich bei ihr um die Frau von jener Nacht handelte, weswegen er sich hastig bemühte, zumindest ein wenig zu lächeln. „Ah, natürlich nicht, tut mir Leid. Ich hatte nur eine schwere Zeit in den letzten Wochen.“ „Ist schon gut“, erwiderte sie. „Nicht jeder muss immer lächeln, nur weil er mich sieht, das erwarte ich doch absolut gar nicht. Es hat mich bei dir nur gewundert.“ Vor dem Materiallager blieb er wieder stehen und hielt seinen Ausweis vor den Scanner, der neben der Tür angebracht war. Dieser las den Barcode ein und gab dann mit einem Piepsen und einem grünen Licht zu verstehen, dass das Schloss nun geöffnet war. Im Inneren herrschte ein angenehmer Geruch nach Büchern, sowohl neuen als auch alten, weswegen Raymond sich gern in diesem Raum aufhielt, auch wenn es viel zu viele Dinge gab, die einem Angst einjagen konnten. In einem der Regale, hinter Glas verborgen, befanden sich mehrere konservierte Organe unterschiedlicher Tiere, ebenso präparierte Exemplare, die lebensecht wirkten und einen mit finsteren, furchteinflößenden Blicken taxierten und mit ihren scharfen Klauen und Zähnen drohten, während man an ihnen vorbeilief. In einem anderen Regal wurden Laborutensilien wie Schutzbrillen, Reagenzgläser, Gasbrenner und auch Lötkolben aufbewahrt, auf einem Tisch standen zahlreiche Mikroskope. Das Regal mit den Büchern befand sich in einer der hintersten Ecken, weswegen sie an all dem vorbeigehen mussten, aber zu Raymonds Erleichterung gab Alona keinerlei Kommentar zu all diesen Dingen von sich. Er wusste von vielen Mädchen, die sich in diesem Raum ekelten, sofern sie ihn mal betreten durften und manchmal war leises, erschrockenes Kreischen zu vernehmen, aber sie war vollkommen ruhig, als ob sie nichts hiervon berührte. „Welches Buch benötigst du denn?“, fragte er, als sie schließlich am Regal angekommen waren. Ihr Blick taxierte die aufgereihten Bücher, dann deutete sie auf eine der höheren Reihen, was ihn wieder die Stirn runzeln ließ, da dort keine aus ihrem Jahrgang standen, schüttelte das dann aber ab und streckte sich, um nach dem Buch zu greifen. Gerade als seine Fingerspitzen es berührten, spürte er einen schlagartigen Umschwung der Atmosphäre, gepaart mit einem leichten Stechen in seinem Rücken. „Ich hoffe, du bist bereit zu sterben.“ Es war eindeutig Alonas Stimme, aber nun war sie kalt und bitter, genau wie jene aus dieser Nacht. „Du bist es also wirklich“, stellte er fest. Sie schnaubte leise. „Ich hätte gedacht, du würdest mich erkennen. Offenbar bin ich doch eine sehr gute Schauspielerin... oder du bist einfach nur unsagbar dämlich.“ „Ich würde es eher als naiv bezeichnen... du hast aber ziemlich lange gebraucht, um mich endlich zu stellen.“ Sie bohrte die Spitze der Klinge, die sie hielt, weiter in seine Kleidung, so dass er das Metall auf seiner Haut spüren konnte. „Du hast mir ein Messer in den Bauch gerammt!“, zischte sie wütend. „Selbst ich kann das nicht innerhalb von fünf Minuten heilen!“ Darauf sagte er vorsichtshalber nichts mehr, um sie nicht aus Versehen weiter zu verärgern, in der Hoffnung, dass sie sich so weit beruhigen würde, dass er sie wieder überwältigen könnte. Tatsächlich wurde sie wieder ein wenig ruhiger. „Ich muss dir aber eines lassen: Noch nie zuvor hat es jemand geschafft, so lange vor mir wegzulaufen oder sich sogar zu verstecken. Aber deine geschätzte Freundin Joy wird dich hier auch nicht retten können.“ Sie spie den Namen wie etwas besonders Ekelhaftes aus, was er nachvollziehen konnte, wenn die GS die Hallows genausowenig leiden konnte, wie es die Gegenseite bei ihnen tat. „Dieses Mal wird dich nichts mehr-“ Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem leisen Ächzen, erklang und im nächsten Moment schwand das Stechen in seinem Rücken, als Alona zu Boden fiel und dort bewegungslos liegenblieb. Raymond blickte auf sie hinab, stellte fest, dass sie keine Gefahr mehr darstellte und sah dann zu der Person, die ihn gerettet hatte. „Joel“, stellte er mit einem erleichterten Lächeln fest. Sein bester Freund stand da, ein Mikroskop in der Hand, mit dem er Alona niedergeschlagen hatte und an dem, wie Raymond erschrocken feststellte, Blut und Haare klebten. Obwohl sie gerade zum zweiten Mal versucht hatte, ihn umzubringen, machte er sich Sorgen um sie. Nur weil er nicht sterben wollte, hieß das nicht, dass er wollte, dass sie starb. Aber nach einem kurzen Blick ohne Brille stellte er fest, dass sie noch lebte, ihre dunkelrote Aura lag noch immer auf ihr, so dass er sich Joel zuwenden konnte. „Danke.“ Sein Freund lächelte und winkte hastig ab. „Nichts zu danken. Eigentlich hatte ich ja gehofft, sehen zu können, wie du sie bezirzt, aber so war ich glücklicherweise da, um dich zu retten.“ „Du bist uns gefolgt?“ Als Joel nickte, war Raymond fassungslos. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sie nicht allein waren und ihr offenbar auch nicht. Seine Aura war überraschend unsichtbar, was ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Sicherlich war er problemlos ins Lager gekommen oder hatte es sogar geschafft, die Tür aufzufangen, ehe sie wieder ins Schloss gefallen war. Er stellte das Mikroskop ab und verschwand zwischen den Regalen, allerdings konnte Raymond nach wie vor seine Schritte hören, weswegen er sich keine weiteren Gedanken machte und sich dafür neben Alona kniete, die noch immer bewusstlos war. Wieder spürte er diese Faszination an ihr in seinem Inneren, die durch diese Nähe – und ihre Hilflosigkeit – noch einmal verstärkt wurde und von ihm verlangte, sie näher in Augenschein zu nehmen. Die von Joel zugefügte Verletzung auf ihrem Hinterkopf hatte bereits zu bluten aufgehört und schien glücklicherweise nur oberflächlich, aber unter Kopfschmerzen würde sie vermutlich noch eine Weile leiden müssen. Vorsichtig griff er nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf ein wenig, um ihr Gesicht näher zu betrachten. In den letzten Tagen hatte er sie gedanklich immer als Frau bezeichnet, aber als er sie genauer musterte, stellte er fest, dass sie nicht älter sein konnte als er. Diese Erkenntnis versetzte ihm einen weiteren Stich in seine Brust. Sie war so jung und bereits so voller Hass und Bitterkeit und doch... da gab es etwas in ihrem Inneren, das sie davon abhielt, so bösartig zu sein, wie sie vorgab. Beide Male, bei denen es ihr möglich wäre, ihn zu töten, hatte sie derart lange gezögert, dass er gerettet werden konnte. Warum sollte sie das tun, wenn da nicht etwas Gutes in ihr war? Vielleicht könnte er sie überzeugen, die GS zu verlassen, vielleicht könnte er... Während er noch überlegte, ob und wie er ihr helfen sollte, kehrte Joel mit einem langen Kabel wieder, das er auf dem Arm trug. „Wir sollten sie fesseln“, erklärte er. „Danach können wir entscheiden, was wir mit ihr tun sollen... und tatsch sie nicht an, ihr hattet noch nicht einmal ein Date.“ Sofort zuckte Raymond zurück, obwohl Joel lachte, während er sich neben Alona kniete und damit begann, sie zu fesseln. „Du kennst sie also?“, fragte er, während er damit beschäftigt war, erst ihre Füße und dann ihre Hände zusammenzubinden. Raymond seufzte leise und erzählte ihm von jener Nacht, obwohl er das eigentlich hatte vermeiden wollen. Joel lauschte mit überraschend ernstem Gesichtsausdruck, das Festziehen der Fesseln erschien ein wenig zu schmerzhaft und wütend – Raymond hoffte nur, dass diese Wut nicht ihm galt. Und wie es aussah, hatte er Glück, denn als Joel fertig war und ihm seinen Blick wieder zuwandte, lächelte er verschmitzt. „Mann, das war also dein Geheimnis, was? Das hättest du uns aber ruhig sagen können, Chris und ich haben uns Sorgen um dich gemacht.“ „Habt ihr das?“, fragte Raymond zweifelnd. So wie Christine sich ihm gegenüber am Vortag verhalten hatte, konnte er sich das nicht vorstellen. Aber vielleicht war sie auch nur deswegen so wütend gewesen. Vielleicht war da tatsächlich Sorge die Wurzel des Übels gewesen. „Natürlich haben wir das!“, ereiferte Joel sich sofort. „Nach deinen Albträumen der letzten Zeit, kamst du plötzlich ins Krankenhaus, dann wolltest du deine Brille nicht mehr tragen, obwohl dir das Kopfschmerzen bereitet und du bist gedanklich immer wieder abgedriftet... wir wussten die ganze Zeit, dass du was vor uns verbirgst. Wir haben vorhin erst noch darüber geschrieben.“ Raymond dachte wieder daran zurück, wie frustriert er darüber gewesen war, dass sein bester Freund ihn nicht weiter beachtet hatte, aber offenbar war das Gesprächsthema tatsächlich er gewesen. Diese Nachricht rührte Raymond mehr als er zu sagen vermochte, aber ehe er darauf reagieren konnte, hörte er ein spöttisches Lachen, gefolgt von Alonas Stimme: „Wie kitschig, da wird einem ja schlecht.“ Die beiden wandten sich ihr zu, während sie sich mühelos aufrecht hinsetzte, obwohl ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammengebunden worden waren. Kühl blickte sie die beiden an, selbst ihre Mimik verriet nichts mehr von der fröhlichen neuen Mitschülerin von zuvor, ihre Aura war erdrückend bösartig, genau wie in jener Nacht. Dennoch war Raymond erleichtert, dass sie so schnell wieder wach wurde, immerhin hieß dies, dass es ihr gutging und sie wohl keine bleibenden Schäden zurücktragen würde. „Du bist ziemlich schnell wieder fit“, stellte Joel furchtlos fest. „Pff, ich wurde schon von Kleinkindern geschlagen, die mehr Kraft in den Armen haben als du.“ Seine Mundwinkel zuckten, sein Körper spannte sich augenblicklich an, aber er schaffte es, nicht auf ihre Provokation einzugehen. „Jedenfalls hast du verloren, das siehst du doch auch ein, oder?“ Sie stieß ein spöttelndes Lachen aus. „Das einzige, was ich einsehe ist, dass Idioten wohl sehr gern miteinander Freundschaft schließen. Gleich und gleich gesellt sich wohl wirklich gern.“ Joel und Raymond warfen sich einen fragenden Blick zu, aber keiner von ihnen schien zu verstehen, was sie meinte oder warum sie sich so siegessicher gab. „Was meinst du damit?“, fragte Joel misstrauisch. Plötzlich ertönte ein Geräusch und im nächsten Moment hielt Alona demonstrativ ihre Hände hoch, während die losen Kabelenden zu Boden fielen. Sie genoss den schockierten Ausdruck auf den Gesichtern ihrer Gegenüber, während auch die Fesseln an ihren Füßen abfielen, dann beschloss sie, eine Erklärung hinzuzufügen: „Nur ein Idiot würde versuchen eine Hexe fesseln.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)