Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 3: Albträume -------------------- Er träumte wieder. Er wusste sofort, dass es ein Traum war, nicht nur weil er diesen in den letzten Wochen so oft durchlebt hatte, sondern auch, weil er dieses Wesen, das ihm gegenüberstand, nur dort sah. Es war in keinem Biologiebuch verzeichnet, lediglich in alten mythologischen Geschichten. Ein Wesen mit drei Köpfen, dem eines Löwen, dem einer Ziege im Nacken und dem einer Schlange als Schwanz; eine Chimäre, ein Mythos, der leibhaftig vor ihm stand. Nein, nicht leibhaftig, nur in seinem Traum und doch... Obwohl ihm bewusst war, dass er nur albte, dass er nur aufwachen müsste, um zu entkommen, gelang ihm das nicht. Er war gefangen in der immergleichen Szene, umhüllt von einem Mantel aus Furcht, der ihn zittern ließ, im Ohr die kalte Stimme eines Mannes, den er nicht sehen konnte. „Besiege deine Angst. Umarme den Tod; lass ab davon, dich an dein Leben zu klammern und du wirst sehen, dass es nichts gibt, vor dem du dich fürchten müsstest. Wenn du den Tod schätzt, gibt es keinen Gegner, der dich einschüchtern kann.“ Schmerzen, so echt als ob er sie tatsächlich durchleben würde, durchzuckten ihn, als er einem Angriff des Monsters nicht ausweichen konnte, da er vor Angst wie gelähmt war. Das Blut lief an seinem Arm hinab und trotz des Ratschlags zuvor, wollte er nicht sterben, er wollte das Leben nicht loslassen, nur um den Tod zu begrüßen. Die Stimme von zuvor lachte kalt. „Auf diese Art und Weise verlierst du nur – und zwar nicht nur den Kampf, sondern auch dein Leben.“ Die Chimäre riss ihr Löwenmaul auf und- „Raymond, bist du noch bei uns?“ Er hob weder den Kopf von seinen auf dem Tisch liegenden Armen, noch öffnete er auch nur die Augen. Erleichterung durchströmte ihn wieder einmal, als er erkannte, dass er wach war und keine Gefahr mehr drohte, egal von wem. Jemand berührte ihn sacht an der Schulter. „Raymond?“ „Hm?“ Sein Kopf ruhte immer noch auf seinen Armen. „Oh, gut, du bist wach.“ Die Stimme seines Lehrers Mr. Fry, der einzige Lehrer, bei dem es erlaubt war, zu schlafen. „Ich wollte dich auch nicht wecken, aber ich brauche deine Hausaufgaben. Du weißt schon, ich muss Noten verteilen.“ Ohne etwas zu sagen und immer noch ohne den Blick zu heben – seine Augen waren mit Sicherheit wieder rot und noch nass von den Tränen und das musste nun wirklich keiner sehen – kramte er die bereitgelegten Arbeitsblätter unter seinen Armen hervor und reichte sie Mr. Fry, der sich freudig bedankte. „Du kannst jetzt weiterschlafen.“ Das hatte Raymond zwar nicht vor, aber er war dennoch froh, als er endlich hörte, wie der Lehrer weiterlief und ihm wieder sich selbst überließ. Normalerweise suchte ihn dieser Albtraum nur nachts heim, weswegen er die Schulstunden bei Mr. Fry genutzt hatte, um etwas Schlaf nachzuholen, aber offenbar war sein Unterbewusstsein der Meinung, dass er noch nicht genug gequält wurde und holte das nun nach – und das seit einigen Tagen. Er traute sich kaum noch, die Augen zu schließen, geschweigedenn sich irgendwo hinzulegen und hatte damit in der letzten Zeit die Sorge all seiner Freunde und Bekannten auf sich gelenkt, er konnte nur vom Glück sagen, dass er so wenige von beidem hatte. Aber jene, die da waren, machten sich besonders viele Gedanken, so auch Joel, der ihm auf dem Heimweg wieder einmal aus einem seiner Bücher vorlas: „Als Ursachen für Albträume werden unverarbeitete Tagesgeschehen, traumatische oder traumatisierende Erlebnisse, Stress oder psychische Probleme, aber auch physische Komponenten angenommen.“ „Hm.“ Raymond interessierte sich nicht im Mindesten für das, was in diesem Buch stand und am Liebsten wäre es ihm gewesen, Joel würde das ebenfalls nicht tun. „Und? Hast du Stress oder psychische Probleme?“ Am Liebsten hätte Raymond damit geantwortet, dass seine Freunde ihm beides in letzter Zeit ausgiebig bescherten, doch stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Sieht wohl so aus. Du weißt doch aber, wie das ist. Das ganze Lernen, Professor Liam...“ Er wollte sich auf die Zunge beißen, aber da waren die Worte schon draußen und die befürchtete Erwiderung blieb auch nicht aus: „Ich dachte, du bist ein Genie, was musst du da bitte noch großartig lernen?“ Er hasste es so sehr, hatte es regelrecht satt, dass er das ständig von jedem gesagt bekam und er musste sich schwer beherrschen, besonders in seinem derzeitigen Zustand, Joel nicht einfach anzufauchen. „Ich bin wahrscheinlich kein natürliches Genie. Ich muss genau so lernen wie du auch – ich habe nur das Glück, dass ich mir das alles merken kann. Aber es heißt ja, das Glück ist mit dem Schnelldenker, nicht?“ Joel lachte leise. „Mit dem Tüchtigen, Ray. Du solltest das Verwenden von Sprichwörtern wirklich aufgeben. Aber ich denke, ich sollte langsam aufgeben, bei dir immer ins Fettnäpfchen zu treten.“ „Das wäre nett“, sagte Raymond trocken. Gerade als sein bester Freund sollte er doch immerhin besser wissen, dass es Dinge gab, die man bei ihm nicht ansprechen sollte. Das Waisenhaus und sein vermeintlicher Genie-Status gehörten definitiv dazu und das hatte Raymond ihm auch oft genug gesagt. Er wollte nicht an das Waisenhaus zurückdenken – höchstens an Adam und Eve – und er hielt sich auch nicht im Mindesten für ein Genie. Er mochte das Glück haben, sich Dinge leicht merken zu können und im naturwissenschaftlichen Bereich viele logische Verknüpfungen allein durch sein Nachdenken zu durchschauen, aber dennoch blieb auch ihm nichts anderes übrig als zu lernen und sich vor den Prüfungen fast wahnsinnig zu machen, weil es so dermaßen viel Lernstoff war. Dass er dann jedes Mal erwidert bekam, dass er kein Recht hätte, sich zu beklagen, da er ja ein Genie sei, störte ihn seit Jahren. „Um mal das Thema zu wechseln.“ Joel schloss das Buch endlich und ließ es in seiner Schultasche verschwinden. „Chris macht sich ziemlich viele Sorgen um dich.“ „Hm?“ Seit dem Abend, an dem sie gemeinsam heimgelaufen waren, hatte Raymond nicht mehr mit ihr gesprochen, das war vor drei Tagen gewesen. Zwar gingen sie in dieselbe Klasse und gehörten zur gleichen Clique, aber da Raymond ohnehin wenig sprach, fiel es auch kaum auf, wenn er gar nichts sagte. „Ja, sie hat mich angerufen, um über dich zu sprechen.“ Raymond konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Er war sich äußerst sicher, dass das nur ein Vorwand gewesen war, ein dringend benötigter Grund, um mit Joel zu sprechen und seine Stimme zu hören. „Ich glaube, sie steht auf dich.“ Zumindest das spöttische Lachen konnte er unterdrücken. „Wie kommst du denn darauf?“ „Sie hat mich in den letzten Tagen ziemlich oft wegen dir angerufen.“ Joel wandte ihm nun den Blick zu. „Also, was sagst du dazu?“ Raymond sah nach wie vor stur geradeaus und versuchte, nicht zu grinsen. „Ich habe kein Interesse an ihr – und ich denke, das dürfte sie auch wissen.“ Diese Aussage beruhigte Joel offensichtlich, denn mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, sah er wieder nach vorne. „Gut, immerhin steh ich ja schon auf sie.“ Nun konnte er nicht anders, Raymond grinste. „Und wann sagst du es ihr?“ Teilweise empfand er es wirklich schon als störend, dass beide anscheinend dasselbe für den jeweils anderen fühlten, aber keiner von beiden sich traute, den ersten Schritt zu machen. Er war bislang noch nie verliebt gewesen, aber es fiel ihm dennoch schwer, sich vorzustellen, dass es so unmöglich sein könnte, der anderen Person einfach zu sagen, was man empfand. Doch der sonst so selbstbewusste Joel zuckte bei dieser Frage mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht wenn ich sicher bin, dass sie mich dann nicht auslacht... He, hat sie dir vielleicht mal was gesagt, wie sie mich findet?“ Raymond wäre nichts lieber gewesen als dieses ganze Spiel abzukürzen und seinem Freund einfach zu erzählen, dass Christine quasi nur darauf wartete, dass er sie einmal um eine Verabredung bat oder ihr zu sagen, dass Joel durchaus interessiert an ihr war und sie es einfach mal auf einen Kuss ankommen lassen sollte. Dummerweise hatte er beiden aber versprochen, dem jeweils anderem gegenüber Stillschweigen zu bewahren und so etwas pflegte er auch einzuhalten. „Nein, hat sie nicht. Wir reden immer nur über sehr belanglose Dinge.“ Vielleicht war diese ganze Sache ja der Grund für seine Albträume, aber das erklärte nicht, warum sich alles so echt anfühlte, so als ob er diesen Moment wirklich einmal durchlebt hätte. Die Furcht und die Schmerzen waren so echt, dass er jedes Mal, wenn er davon träumte, weinte – und manchmal sogar, wenn er nur daran dachte. „Ray!“ Er zuckte erschrocken zusammen, als er Joels lauten Ausruf bemerkte. „W-was ist denn?“ Joel blieb stehen und brachte ihn dazu, dasselbe zu tun, ehe er hastig ein Taschentuch hervorkramte, das er seinem Freund dann reichte. „Du hast plötzlich angefangen zu weinen“, erklärte Joel mit besorgter Stimme. Beschämt bedankte Raymond sich, nahm ihm das Taschentuch ab und ging sich damit über die tränenden Augen. „Vielleicht werden deine Albträume auch durch ein Trauma ausgelöst.“ Joel machte sich anscheinend wirklich Sorgen um ihn, normalerweise sprach er nicht gern über düstere Themen. „Du solltest vielleicht mal mit einem Psychologen sprechen.“ „Das hätte mir gerade noch gefehlt.“ Das Letzte, was er brauchte, war eine Person, die versuchte in seinem Unterbewusstsein und seiner Vergangenheit herumzustochern und dabei Dinge aufzuwühlen an die er sich gar nicht erinnern wollte. Es würde schon einen Sinn haben, wenn er das alles vergessen hatte. „Interessiert dich das alles denn gar nicht? Also... ich wäre traurig, wenn ich mich nicht mehr an meine Eltern erinnern würde.“ Raymond musste nicht erst Joels Aura betrachten, um zu wissen, dass sie sich bräunlich verfärbt hatte, ein sicheres Anzeichen für Traurigkeit. Er zuckte mit den Schultern. „Würde ich mich an sie erinnern, könnte das dazu führen, dass ich sie vermisse und das will ich nicht.“ Er empfand das Mitleid oftmals völlig fremder Menschen schon als schlimm genug, da musste er nicht noch Schmerzen in der Verärgerung spüren. „Weißt du... ich habe dich das noch nie gefragt,“, begann Joel und Raymond wusste bereits, dass er die Frage nicht im Mindesten mögen würde, „aber es interessiert mich.“ Er machte noch einmal eine Pause und sah seinen Freund so direkt wie möglich an. „Sehnst du dich denn nicht zumindest nach einer Familie?“ Raymond antwortete ihm nicht, sondern erwiderte seinen Blick nur als ob er mit dieser Frage endgültig bewiesen hatte, dass er kein Feingefühl besaß. Natürlich sehnte er sich nach einer Familie; nach jemandem, der auf ihn wartete, wenn er nach Hause kam; der sich dafür interessierte, wie sein Tag gewesen war und der ihn so akzeptierte wie er war und ihn nicht ständig daran erinnerte, dass er anders war, sei es nun wegen seiner Vergangenheit, wegen seiner Fähigkeit, wegen seiner Intelligenz oder einfach nur wegen der Tatsache, dass er im Gegensatz zu seinen beiden Freunden keine richtige Familie oder auch nur eine Erinnerung an eine solche besaß. Aber er hatte nichts davon und würde so etwas möglicherweise auch nie bekommen, deswegen lohnte es sich für ihn nicht, sich zu viele Gedanken darum zu machen. Am Ende würde er damit nur seine Albträume verschlimmern oder vor lauter Grübeln gar nicht mehr zum Einschlafen kommen. „Ich gehe nach Hause“, sagte er schließlich, um das Gespräch zu beenden und wandte sich bereits ab. „Ich muss die Hausaufgaben erledigen.“ Er war schon einige Schritte weitergelaufen, als Joel ihn noch einmal einholte. „He, willst du heute nicht zum Abendessen vorbeikommen? Meine Mutter würde sich bestimmt freuen und du könntest bei uns übernachten, vielleicht schläfst du dann ja besser.“ Es war seine Art, sich zu entschuldigen, ein Friedensangebot, wenn man so wollte, aber Raymond war noch nicht in der Stimmung, es einfach kompromisslos anzunehmen. „Ich überlege es mir.“ Damit verabschiedete Joel sich mit sichtlich geknickter Stimmung bei ihm und nahm dann einen anderen Weg nach Hause. Kaum war er nicht mehr in seiner Nähe, seufzte Raymond leise. Er wusste ja, dass sein Freund es nicht so meinte und sich lediglich Sorgen um ihn machte und er ihn mit seinem abweisendem Verhalten nur unnötig verletzte – aber er wollte es auch nicht einfach so hinnehmen, dass er sich ständig solche Fragen oder Seitenhiebe anhören musste, auch wenn Joel es nicht so meinte und er möglicherweise einfach nur überreagierte. War es denn wirklich so schwer für ihn ein wenig Rücksicht zu nehmen? Raymond warf ihm immerhin auch nicht andauernd an den Kopf, dass er keine Freunde hatte und seine Aura so außergewöhnlich war, dass er damit als Freak durchging. Er schüttelte den Kopf, um sich selbst zurechtzuweisen. Heute Abend würde er einfach bei den Chandlers essen gehen, dann wäre der Konflikt vorerst wieder aus der Welt geschafft. Nur die Übernachtung, die würde er nicht annehmen, denn das würde nur dazu führen, dass Joel direkt wieder mit einem für ihn unangenehmen Thema anfangen würde und dem wollte Raymond lieber entgehen. Nichtsdestotrotz freute er sich bereits auf eine angenehme Mahlzeit, den Tee – und auch Theias Aura. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)