Tödliches Spiel: Auftakt von UrrSharrador (Das Leben ist kein Spiel. Der Tod schon ...) ================================================================================ Kapitel 3: Auge um Auge ----------------------- Ein ungewohntes Gewicht um seinen Hals herum und kaltes Metall an seiner Wange waren die ersten Eindrücke, die er hatte, als er aufwachte. Es war völlig finster um ihn herum und roch muffig nach feuchter Kellerluft. Er saß auf einem Stuhl, Kälte kribbelte über seinen nackten Oberkörper. Wo war er? Mit den Händen ertastete er etwas, das sich wie eine eiserne Halskrause anfühlte. Er bemühte sich, daran zu rütteln und sie abzustreifen, doch sie saß so fest wie seine Krawatte an einem normalen Arbeitstag – und war ungleich stabiler. Über ihm entflammte eine Glühbirne und das Licht stach so grell in seine Augen, dass ihm ein brennender Schmerz ins Hirn schoss. Er presste die Lider zusammen. Sein linkes Augenlid antwortete mit einem pochenden Schmerz. Irgendwo vor ihm knisterte etwas. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, aber vor allem das linke wehrte sich mit aller Kraft: Er konnte es nur halb aufmachen; es war wohl zugeschwollen. Genau in Sichtlinie stand ein alter Röhrenfernseher auf einem Holzschemel, der das Rauschen verströmte. Der Bildschirm hatte sich in das Schlachtfeld eines Ameisenkrieges verwandelt. Es dauerte einen Moment, bis ein Gesicht sichtbar wurde: Es war die bleiche, längliche Visage eines Mannes von unbestimmbarem Alter – auf den ersten Blick konnte man ihn auch mit einer Frau verwechseln –, langem dunklem Haar und gelben Schlangenaugen. „Hallo, Kakashi“, ertönte eine Stimme wie Schmirgelpapier. „Ich gehe davon aus, dass Sie nicht nur wissen, wer ich bin, sondern auch, in welcher Lage Sie sich befinden.“ Und ob er das wusste. Kakashi schluckte. Seit die Akatsuki-Spezialeinheit den ersten Orochimaru-Fall entdeckt hatte, hatte er die Entwicklung der Dinge genauestens verfolgt. Das erste Opfer, der Lehrling eines Ingenieurs für Maschinenbau, hatte mit seinem eigenen Blut den Namen Orochimaru auf den Boden geschrieben. Es hatte bald neue, ähnliche Fälle gegeben, die daraufhin von der innerhalb der Akatsuki-Einheit gegründeten Soko den Namen Orochimaru-Fälle erhalten hatten. Das war nichts anderes als der Name ebenjenes Ingenieurs, der der Polizei allerdings entwischt und anscheinend vom Rand der Welt verschwunden war – oder sich in ihrem Schatten versteckte. Nachdem er sein Gesicht eine Weile wirken gelassen hatte, fuhr Orochimaru fort: „Sie sind ein Mann, der sich der Erfüllung der Gesetze verschrieben hat. Ihre Aufgabe ist es, schlechte Menschen zu bestrafen und somit die guten vor ihnen zu schützen. Sie haben in ihrem Fach eine Perfektion erreicht, die man sich nur wünschen kann. Dennoch haben Sie mich enttäuscht. Kaum eine Handvoll Leute wissen von den Geschehnissen vor vier Jahren. Wir beide kennen sie jedoch, Kakashi, und wir wissen auch, welche Verfehlung Sie damals begangen haben. Sie haben ihren Gerechtigkeitssinn ihren Gefühlen untergeordnet. Sie, der Sie unzählige Verbrecher hinter Gitter gebracht haben, brachten es nicht übers Herz, die Schuld eines Kindes zu beweisen – eines Kindes, das mittlerweile zu einem Verbrecher herangereift ist, was hätte verhindert werden können, wenn Sie damals die richtige Entscheidung getroffen hätten. Sie wissen nun, weswegen Sie sich heute vor mir verantworten müssen. Ein Spiel wird testen, ob sie noch über den nötigen Scharfblick verfügen, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Und um Sie etwas mehr zu fordern, werden Sie nicht nur um ihr eigenes Leben spielen, sondern auch um das eines weiteren Kindes: Ihrer Tochter.“ Kakashi sog scharf die Luft ein. Der Kerl hatte … Stumm formten seine Lippen den Namen seiner Tochter. Sie war sein Ein und Alles, seit ihre Mutter gestorben war … „Ich hoffe, ich habe nun Ihre volle Aufmerksamkeit“, fuhr die rauchige Stimme des Schlangenmannes fort. „Kakashi, Sie waren bisher bei jeder Verhandlung erfolgreich, wenn Sie es wollten. Manche sagen, Sie hätten einen Blick für Details, und Ihnen entginge nicht das geringste Muskelzucken in den Gesichtern der Angeklagten. Heute werden wir sehen, ob Sie auch in der Lage sind, nach innen zu blicken. Falls Sie es noch nicht getan haben, empfehle ich Ihnen, in den Spiegel neben sich zu sehen.“ Kakashi folgte seiner Anweisung und blickte in einen polierten Motorradspiegel, der an einer simplen Eisenstange befestigt war – und erstarrte. Nicht nur dass sein linkes Auge, wie vermutet, blutig und fast zugeschwollen war, er sah auch endlich das Ding, das er um den Hals trug: Es war eine doppelte Maske, oder eher ein auseinandergebrochener Helm: Eine Hälfte stand von seinem Nacken ab, die zweite wuchs aus der eisernen Apparatur unterhalb seines Kinns – und war voller spitzer Nägel. Kakashis Atem ging schneller. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und sah, wie sich weiße Dampfwölkchen vor seinen Lippen bildeten, während Orochimaru fortfuhr: „Ich denke, Sie sind mit dem Begriff eiserne Jungfrau vertraut. Ich nenne dieses Gerät das eiserne Gesicht. Sie haben neunzig Sekunden Zeit, den Schlüssel dazu zu finden. Sollten Sie ihr Schloss nicht in dieser Zeit öffnen, wird die Maske zuklappen wie eine fleischfressende Pflanze. Ich werde Ihnen verraten, wo der Schlüssel sich befindet, zutage fördern müssen Sie ihn allerdings selbst. Ich habe ihn unterhalb Ihres linken Augapfels versteckt. Das notwendige Werkzeug finden Sie in der Kiste vor Ihnen. Sind Sie bereit, ihr legendäres Habichtauge zu opfern, um Ihr Leben und das Ihrer Tochter zu retten? Sie müssen wählen. Das Spiel ist eröffnet.“ Der Fernsehbildschirm verwandelte sich wieder in ein Gewimmel aus schwarzen und weißen Punkten. Kakashi zwang sich zur Ruhe. Er lauschte. Lief die Zeit schon? Nein, Orochimaru konnte unmöglich wissen, dass er schon wach war. Allerdings war auch das Video genau darauf abgestimmt gewesen … Eine Zeitschaltuhr, natürlich. Das grelle Licht hätte ihn so oder so geweckt, danach kam das Video … Und schlagartig wurde ihm klar, dass er keine Zeit verlieren durfte. Im gleichen Moment begann eine Uhr in seinem Nacken zu ticken. Kakashi sprang von dem Hocker auf und stürzte zu der Werkzeugkiste, die vor seinen Füßen stand. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er hineinlangte und ein sauber blitzendes Skalpell in der Hand hielt. Er zögerte einige wertvolle Sekunden, ehe er sich wieder zu dem Spiegel umwandte und das Messer zu seinem Auge hob. Sein Sharingan … Ein guter Freund von ihm namens Obito hatte es einst besessen. Als er bei einem Abendessen bei Kakashi und seiner Frau Rin zu Besuch gewesen war, hatten bewaffnete Männer die Wohnung gestürmt. Sie wollten sich an Kakashi rächen, weil sie ihn für den lebenslangen Arrest eines Kumpanen von ihnen verantwortlich sahen. Die Polizei kam fast sofort danach, es gab einen Schusswechsel; Obito wurde tödlich verletzt, Kakashi verlor sein linkes Auge. In seinem letzten Atemzug bot Obito ihm an, ihm eines seiner Sharingan-Augen zu schenken, und Rin, eine medizinische Kunoichi, führte die Operation durch. Mit diesem Auge hatte Kakashi tatsächlich viele Verbrecher genau analysieren und überführen können. Leider hatte es nicht verhindern können, dass Rin ein Jahr später bei einem Autounfall ums Leben kam. Erinnerungen an seinen verlorenen Freund flammten in seinem Kopf auf. Kakashi näherte die Klinge seinem Auge und musste sich zwingen, nicht zu blinzeln. Es tränte plötzlich wie verrückt und schmerzte höllisch … Kakashi hielt die Luft an. Das Skalpell zitterte. Seine Finger waren schweißnass. Kleine Schmerzpunkte flimmerten vor seinem Auge … Er stieß die Luft aus. Er konnte es nicht. Wer konnte sowas auch schon? Er hatte von Ninjas gehört, die bereitwillig einen Arm für eine Sache opferten, aber das hier war doch etwas anderes … Nein. Es ging um seine Tochter. Kakashi atmete tief durch und hob das Skalpell wieder ruhig. Ganz ruhig, ganz ruhig … Nur ein kleiner Ruck … Nein, das reichte nicht aus, der Schlüssel musste tief unten sein, er würde etwas graben müssen … Eine Welle aus Übelkeit schlug über ihm zusammen. Nein, nein … Mach schon! Stich zu!, befahl er seiner Hand, aber sie rührte sich nicht. Er musste … Er würde … Kakashi trat einen Schritt zurück und schleuderte das Skalpell zu Boden. Klimpernd landete es in einer Nische zwischen der Fernsehkommode und der uralten Badewanne daneben. Keuchend sammelte Kakashi seine Gedanken. Im Spiegel sah er, dass die Zeiger der Uhr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten. Er hatte noch etwa vierzig Sekunden Zeit … Was tat er da eigentlich? Dieses Auge gehörte ihm nicht, er hatte es schon einmal verloren … Den Schmerz würde er überstehen … Leise fluchend warf er sich nach vorne und streckte die Hand nach dem Messer aus. Es lag gerade etwas außerhalb seiner Reichweite – natürlich. Kakashi schwitzte wie verrückt. Staub und Dreck vom Boden klebten sich an seiner Haut fest, als er sich streckte, so sehr es ging. Der eiserne Kragen war zu breit, als dass er durch den schmalen Spalt passte – auch von oben kam er nicht an das Messer heran. „Komm schon, komm schon“, murmelte er. Das konnte doch nicht so enden … Er kugelte sich fast die Schulter aus, als es ihm endlich gelang, das Messer mit den Fingerspitzen zu berühren. Noch ein Stück … Sein zitternder Finger stupste das Skalpell an und schob es noch ein Stück zur Wand. Kakashi hätte am liebsten geschrien. Die Uhr in seinem Nacken tickte unerbittlich weiter. Ein Schweißtropfen lief in sein wundes Auge und brannte dort wie ein Funken. Kakashi konnte ein schmerzvolles Aufkeuchen nicht verhindern, als sein verrenktes Schultergelenk mit einem glühenden Zucken, das sich bis in seine Fingerspitzen fraß, protestierte – dann hielt er das Messer in der Hand. Er fasste es so fest, dass die scharfe Schneide seiner Haut einige Bluttropfen abrang, dann sprang er auf und lief zum Spiegel zurück. Er hatte nicht einmal mehr zehn Sekunden. Erneut setzte er das Messer an und … Er konnte es einfach nicht. Wieso fiel ihm diese eine Bewegung so schwer? Die Zeit schien stillzustehen, als ihm klar würde, dass ihm die notwendige Willenskraft fehlte. Aber wie konnte das sein? Das Leben seiner Tochter stand auf dem Spiel … Es kam ihm vor, als wäre es totenstill um ihn herum. Nur das Ticken der Uhr bewies, dass die Zeit nicht stehen geblieben war. Er würde es tun, sagte er sich, er musste sein kleines Mädchen retten … Aber die Zeit war bereits zu knapp. Kakashi sah mit vernichtender Klarheit ein, dass es zu spät war. Den Schlüssel hervorzuoperieren und das Schloss rechtzeitig aufzubekommen, mit den Schmerzen, die er haben würde – das war nicht mehr möglich. Im Spiegel sah er seine Zeit ablaufen. Sieben Sekunden, sechs Sekunden … fünf … Er zwang all sein Chakra, auf geregelten Bahnen zu laufen. Wie ein siedender Blitz war ihm eine letzte Möglichkeit durch den Kopf geschossen. Sie war verzweifelt und vollkommen wahnsinnig und würde mit ziemlicher Sicherheit nicht funktionieren … Aber er klammerte sich so fest an diese winzige Hoffnung, wie er es vermochte. Sein Atem wurde langsamer, er zwang sich zur inneren Ruhe und konzentrierte sich, so stark er konnte. Die Schmerzen in seiner Schulter, seinem Auge und seiner Hand halfen ihm dabei, nur das Hier und Jetzt zu sehen. Drei Sekunden, zwei … Das Klicken wurde hektischer. Kakashis Herz klopfte ihm bis zum Hals. Eine Sekunde … Die Zeit war um. Etwas knatterte, als würde sich ein Zahnrad wahnsinnig schnell drehen. Kakashi riss die Augen auf. Sein linkes, verletztes Auge sandte einen roten Schmerzblitz in sein Gehirn. Er sah alles durch einen Nebel. Wie in Zeitlupe sah er die Maske zuklappen, die Stacheln schienen gierig nach ihm greifen zu wollen. Sein Auge schien zu explodieren. Kakashi stieß einen Schrei aus – etwas knallte hart gegen seinen Hinterkopf und vernichtete seinen Gleichgewichtssinn. Er stürzte hart zu Boden und blieb liegen. Sein Atem ging noch immer. Er schmeckte den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge. Sein Gesicht war ein einziger Schmerz. Vorsichtig tastete er nach seinem Hinterkopf und spürte Metall. Die eiserne Maske war gegen seinen Kopf gedonnert, gottlob waren an der Rückseite keine Stacheln angebracht gewesen. Unter dem Metall sickerte Blut von einer Platzwunde hervor, aber das war seine geringste Sorge. Immer noch schwankend stand Kakashi auf. Er kämpfte gegen eine heftige Übelkeit an, ihm war kalt und schwindelig. Hatte er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen? Mit zitternden Fingern zog er den Spiegel zu sich. Sein linkes Auge musste er reflexartig zusammenkneifen, als wäre ihm etwas hineingefallen. Er hatte Angst davor, was er sehen würde. Dann gab er sich einen Ruck. Sowohl aus seinem Mund als auch aus seiner Nase, die aber nicht gebrochen aussah, lief Blut. Das war dem Sturz zuzuschreiben; er hatte sich auf die Zunge gebissen. Ansonsten schien sein Gesicht heil, sah man von dem roten Fleck auf seiner Stirn ab, der eine schöne Beule werden würde. Doch da waren keine tödlichen Eisenstacheln zu sehen. Sein Blick glitt zu seinem Hals hinab. Der eiserne Ring, aus dem die beiden Maskenhälften wuchsen, war noch da. Der vordere Teil jedoch, der beinahe in sein Gesicht gesprungen wäre, war verschwunden. Bis kurz vor sein Kinn reichte die Eisenschale noch, dann war sie wie glatt abgehackt. Kakashi atmete tief durch. Gesetzt den Fall, dass er nicht so gut wie tot war und in seinen letzten Atemzügen halluzinierte, hatte er es geschafft. Er hatte mit seinem Kamui noch nie einen derartigen Gegenstand in so kurzer Zeit in eine andere Dimension verfrachtet, die Technik selbst beherrschte er erst seit zwei Jahren. Aber Not verlieh wohl wirklich Flügel … Danke, Obito. Mit einem Mal schwappte seine Erschöpfung über ihm zusammen und löschte jegliches Bewusstsein aus. Er konnte gerade noch verhindern, dass er ebenso unelegant fiel wie kurz zuvor, dann wurde ihm schwarz vor Augen.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)