Kakao von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Das Antiquitätengeschäft im Regen -------------------------------------------- Hallo und Willkommen zu Kakao :)! Holt Euch einen Kakao, stellt euch den Regen vor, der sanft gegen Eure Fenster trommelt, und los geht's! Viel Spaß^^! ____________________ Zuerst kam der Wind. Er huschte aus seinem Versteck, entfaltete sich im Laub der Bäume und begann dann immer wilder durch die Straßen zu brausen. Er trieb graue, schwere Wolken am Himmel zusammen und kühlte die drückend heiße Luft. Er benahm sich so auffällig und roch so eindeutig, dass die Menschen im Freien überall das Weite suchten. Beziehungsweise die Nähe von vier Wänden und einem stabilen, wasserundurchlässigen Dach. Innerhalb von Minuten waren die Straßen ausgestorben. Nur einer stand noch da. Ein junger Mann im schwarzen T-Shirt und mit windzerzausten Haaren. In irgendeiner Seitengasse, in der Mitte des Fußwegs, wie festgewachsen. Er hatte den Kopf gesenkt, in den Händen hielt er einen Comic. Wie hypnotisiert huschten seine Augen über die Zeichnungen und Sprechblasen. Hochkonzentriert blätterte er um und las weiter, ohne auch nur im Geringsten auf seine Umwelt, die fliehenden Menschen oder die klare Drohung über seinem Kopf zu achten. So war das bei Tim schon immer gewesen. Egal, wo er hinging, er nahm einen Comic mit und er las ihn, wann immer sich ihm eine Gelegenheit dazu bot. Also im Bus, auf der Toilette, unter dem Tisch im Vorlesungssaal und so weiter. Manchmal halt auch im Gehen. Und wenn es besonders spannend wurde und er nichts hatte, um sich hinzusetzen, dann blieb er – wie zum Beispiel gerade jetzt – wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen und blendete seine Umgebung einfach komplett aus. Seine Familie hatte sich immer darüber lustig gemacht. Schon mit zwei Jahren hatten sie über ihn gescherzt: Gebt ihm ein Heft mit vielen bunten Bildern und ihr könnt ihn überall in der Fußgängerzone parken und in ein, zwei Stunden wieder abholen. Das hatte sich in all den Jahren nicht geändert. Deshalb war Tim der einzige Mensch in der Stadt, der von dem beginnenden Regen überrascht wurde. Abgesehen vielleicht von ein paar Laborassistenten, die sowieso so gut wie nie das Tageslicht sahen. Die ersten Tropfen fielen noch leise und unbemerkt. Aber dann, als die Wolken all ihre Schleusen öffneten und das Gesicht des Comichelden vor Tims Augen verschwamm, hob er den Kopf und blinzelte zum Himmel, als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen. Innerhalb von Sekunden war sein Gesicht klatschnass. „Oh…,“ sagte er verwundert, „Mist…!“ Er drückte den Comic an sein Herz und lief los. Er rannte eine Straße hinauf, die andere hinunter. Er bog um zwei Ecken. Er sprang über den Rinnstein, schlug nach links und rechts ein paar Haken, aber dem Regen entkam er trotzdem nicht. Kalt und schwer trommelte er auf seine Klamotten und durchnässte ihn bis auf die Haut. Tim prustete und stürmte auf die nächste Tür zu. Sie gehörte zu einem Geschäft und verkündete geöffnet. Tim hastete die paar Stufen hoch und warf sich dagegen. Mit einem beruhigenden Klingeln schwang die Tür auf. Tim seufzte und atmete schwer. Kaltes Regenwasser rann ihm über den Rücken und über das Gesicht. Die Haare klebten in seiner Stirn und tropften auf seine Schultern. Er schüttelte sich wie ein Hund, schloss die Tür hinter sich und legte seinen Comic hingebungsvoll auf die nahe Fensterbank, damit er etwas trocknen konnte. Dann sah er sich um. „Hallo?“, rief er. Niemand antworte. Niemand stand hinter dem mit Klimbim beladenen Ladentisch. Nur eine graue und ziemlich fette Katze hockte neben der hübschen, altertümlichen Kasse. Sie fixierte Tim empört, wie alle Katzen unbekannte Menschen empört fixieren, die ohne Vorwarnung und ohne schriftliche Berechtigung in ein ruhiges Zimmer poltern. Tim fuhr sich durch die tropfnassen Haare. „Hallo,“ sagte er zu der Katze und lächelte. Sie lächelte nicht zurück. Stattdessen verengte sie die gelben Augen zu Schlitzen und wandte den Kopf ab. Tim machte ein paar bedachte Schritte in den Laden hinein, während draußen der Regen unentwegt gegen die Fensterscheiben prasselte. Es schien sich um ein Einrichtungsgeschäft zu handeln. Jedenfalls machte es auf Tim diesen Eindruck, denn es war bis oben hin vollgestopft mit Möbelstücken und Dekorationsgegenständen. An jeder Wand standen mindestens vier große, hölzerne Schränke und Regale, glänzend und bis oben hin voll mit Vasen, Masken, Bechern und Gläsern, Büchern, Tellern, Dosen und Kerzenständern. An den Stellen, wo kein Schrank die Wand blockierte, hingen Bilder in vergoldeten Rahmen, eine Kuckucksuhr und ein Spiegel, für den Prinzessinnen gemordet hätten. Der Parkettboden war bedeckt von weichen, verzierten Teppichen. Überall standen Esstische, Couchtische, Schreibtische, Stühle, Sessel, Hocker, Lampen, Statuen, Gartenbänke, noch mehr Vasen und Kommoden herum und – sofern das möglich war – mit noch mehr Vasen, Geschirr, Kästchen, Puppen, Kissen, Körben, Urnen, Pokalen, Handtaschen, Musikinstrumenten, Spielbrettern, Uhren, Figürchen und antiken Telefonen vollgestellt. Alles war in das sanfte Licht von runden Wandlampen getaucht. „Hallo.“ Tim schrak aus seiner stummen Betrachtung. Irgendwo von der linken Seite war ein junger Mann mit dunklen Augen, ernstem Gesicht und kariertem Hemd in dem verwinkelten Raum aufgetaucht. Er lächelte und schlängelte sich elegant durch das Labyrinth aus Tischplatten und hohen Stapeln aus Krimskrams zu Tim hinüber. Dass er dabei nichts umstieß, fand Tim enorm. „Willkommen in Antiquitäten Hellbing,“ sagte der Fremde freundlich. „Ach so, Antiquitäten,“ erwiderte Tim und musterte das Chaos mit anderen Augen – tatsächlich war das die Gemeinsamkeit zwischen den ganzen unterschiedlichen Dingen: sie waren mehr oder weniger antik. „Ich dachte, hier gibt’s vor allem Vasen und Möbel. Wegen der ganzen…Vasen und Möbel.“ „Nee, wir verkaufen Antiquitäten. Steht übrigens auch draußen dran. Deshalb gibt’s hier auch mehr als nur Vasen und Möbel.“ „Klingt einleuchtend. Echt ein schöner Laden.“ „Danke.“ „Aber ich will trotzdem nix kaufen. Ich hab nur Schutz gesucht vor–,“ „–dem Regen, ich seh schon. Du bist ja ziemlich nass geworden. Willst du vielleicht…ein Handtuch?“ „Ein antikes?“ „Nein,“ der junge Mann gluckste, „Irgendwo hab ich auch ein neuzeitliches Handtuch gesehen. Willst du es?“ „Gern, vielen Dank.“ Er nickte und trat dann durch eine dunkle Holztür hinter dem Ladentisch. Während er fort war, wischte Tim sich über das Gesicht und rieb sich die feuchtkalten Arme. Er sah zum Ladentisch hinüber und betrachtete die graue Katze, die nach wie vor bewegungslos zwischen einer Büste und der Kasse thronte. Tim spitze die Lippen und maunzte die typischen Zwitschergeräusche, die viele Menschen zu machen pflegten, wenn sie eine Katze anlocken wollten. Bei diesem dicken Exemplar funktionierte es jedoch nicht. Die Katze ignorierte Tim als wäre er eine ebenso schweigende Antiquität wie alles andere im Raum. „Na? Versuchst du dich mit Amor anzufreunden?“, fragte die Stimme des Antiquitätenjungen aus dem Türrahmen belustigt. Tim grinste. „Ja, aber ich fürchte, Amor kann mich nicht leiden.“ „Das ist normal. Er mag dich erst, wenn du ihn eine Weile gefüttert hast.“ „Hast du es probiert?“ „Oh ja und ich habe drei Jahre gebraucht. Hier ist dein Handtuch.“ „Danke sehr.“ Tim nahm das neuzeitliche Handtuch und rubbelte sich damit die Haare ab. „Und ich hab dir auch einen Pullover von mir mitgebracht,“ fuhr der Antiquitätenjunge fort und reichte ihm etwas, das weich und gestreift war, „Wie sieht‘s mit der Hose und den Schuhen aus?“ „Das geht beides. Danke.“ Mit ein wenig Mühe zog sich Tim das durchweichte T-Shirt über den Kopf und schlüpfte in den angenehm trockenen, warmen Pullover. Er war ihm ein wenig groß. „Ah…,“ sagte er dankbar und grinste sein fürsorgliches Gegenüber an, „Das ist viel besser. Darf ich mein T-Shirt hier irgendwo aufhängen?“ „Klar, such dir einfach einen Stuhl aus.“ „Muss ich ihn dann kaufen?“ „Nein,“ der Antiquitätenjunge grinste, „Keine Sorge. Willst du vielleicht irgendwas Warmes trinken? Einen Tee?“ „Ich bin nicht so der Tee-Typ,“ antwortete Tim und hängte sein T-Shirt über einen hübschen, schlanken Stuhl, der leichte Ähnlichkeit mit einem Thron hatte. „Wir haben auch so einen Kakao zum Aufgießen. Schmeckt ganz gut.“ „Das ist besser.“ „Okay, bin gleich zurück.“ „Darf ich mich solange umsehen?“ „Sicher. Aber versuch, dabei nix umzuschmeißen. Hier funktioniert leider alles nach dem Dominoprinzip.“ „Verstehe. Ich passe auf.“ Mit einem sonderbar heimeligen Gefühl in der Magengegend blickte Tim dem Antiquitätenjungen nach. Er war sich sicher, dass er kleine Geschwister hatte. Jemand, der einem durchnässten Fremden einen eigenen Pullover und Kakao anbot, musste daran gewöhnt sein, sich um Andere zu kümmern. Tim ließ seinen Comic zurück und begann dann ganz langsam und vorsichtig den Balanceakt durch diese Welt aus zerbrechlichen Stalagmiten. Manchmal musste er seitwärts gehen, um nichts umzuwerfen. Fasziniert blickte er sich um. Hier gab es alles in dreifacher Ausführung. Und alles war so alt und schön und magisch. Ein Paradies für Sammler. Und für wissbegierige, phantasievolle Kinder, die gerne Verstecken spielten. Als kleiner Junge hätte er diesen Ort geliebt. Bestimmt gab es dutzende geheimer Schlupfwinkel, in denen man ungestört Comics lesen könnte. Neugierig ging Tim eine kleine Treppe hinauf und spähte um einen riesigen Kleiderschrank in eine Ecke am Fenster. Ihm ging das Herz auf. „Ohhh…,“ machte er hingerissen. Er stand vor dem größten und schönsten Ohrensessel, den er jemals gesehen hatte. Ein Bild von einem Ohrensessel sozusagen. Er war mit goldfarbenem Velour-Stoff bezogen und schimmerte im warmen Licht einer Stehlampe, deren Schirm wie eine Blüte geformt war. Durch den weichen Teppich am Boden, die zwei Wände aus Antiquitätentürmen und die bunten Laken, die gebauscht unter die Decke gehängt worden waren, kam sich Tim wie in einer geschützten Höhle vor. Das leichte Klopfen des Regens gegen die Fensterscheibe verstärkte dieses Gefühl noch. „Na? Ich sehe, du hast schon eins unserer Juwelen entdeckt.“ Tim drehte sich zu dem Antiquitätenjungen um, der lächelte und in jeder Hand einen dampfenden Becher hielt. „Der ist ja umwerfend!“ „Nicht wahr? Leider unverkäuflich. Ein Familienerbstück.“ „Sehr ärgerlich. Darf ich mich trotzdem mal reinsetzen?“ „Na klar.“ Tim strahlte, schob sich an einem kleinen und selbstverständlich schwer bepackten Mahagonitischchen vorbei und ließ sich in dem Sessel nieder. Es war wie eine Umarmung. Tim seufzte wohlig. „Ich fühl mich wie mein eigener Opa.“ „Aber er ist doch bequem, oder?“ „Super!“ „Hier hast du deinen Kakao.“ „Danke. Jetzt fühl ich mich noch opamäßiger.“ „Soll ich dir vielleicht noch eine Pfeife geben?“ „Habt ihr eine?“ „Merken Sie sich eins, lieber Freund: Wir haben hier alles. Alles, was Ihr Herz begehrt.“ „Ist das euer Werbeslogan?“ „Allerdings und er ist sehr erfolgreich.“ „Glaub ich gern. Darf ich die Pfeife sehen?“ „Gern, einen Moment.“ Behutsam stellte der Antiquitätenjunge seine volle Tasse auf dem letzten freien Platz des Mahagonitischchens ab und verschwand im Labyrinth. Tim trank einen Schluck Kakao und schmiegte sich verzückt in die Lehne des Sessels. So könnte er es ewig aushalten. Dieser herrliche Sessel, die himmlische Ruhe. Schade, dass sein Comic immer noch bei der Tür auf der einen Fensterbank trocknete. „So…,“ sagte der Antiquitätenjunge, in der einen Hand hielt er einen kleinen Holzkasten, in der anderen einen Schemel zum Sitzen. Er gab Tim den Holzkasten und setzte sich ihm gegenüber, während Tim die wunderhübsche, glänzende Pfeife auspackte und sie interessiert betrachtete. „Hast du schon mal Pfeife geraucht?“, erkundigte sich der Antiquitätenjunge. „Nee, noch nie,“ entgegnete Tim, „Du?“ „Ja, früher mal mit meinem Großvater.“ „Kannst du sie anzünden?“ „Sicher, soll ich?“ „Ja!“ „Gut, hilf mir mal, den Tisch leer zu machen. Dann zeig ich dir, wie es geht.“ Sie standen auf und räumten gemeinsam all die Kostbarkeiten von dem kniehohen Tischchen und verteilten sie auf die umstehenden Kommoden. Anschließend stellte Tim den Pfeifenkasten darauf, trank heißen Kakao und sah dem Antiquitätenjungen dabei zu, wie er die Pfeife vorbereitete. Ihm fiel etwas ein. „Wie heißt du eigentlich?“ „Vukan,“ antwortete der Antiquitätenjunge. Tim stutzte. „Wie? Vulkan?“ Der Antiquitätenjunge mit dem seltsamen Namen lachte. „Nein, Vukan. Ohne L. Und du?“ „Tim. Vukan… Das ist aber nicht Deutsch, oder?“ „Meine Mutter kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Aus Bosnien-Herzegowina, um genau zu sein.“ „Ach so. Aber du bist hier geboren oder wie?“ „Ja, genau. Mein Vater ist Deutscher.“ „Und kannst du das sprechen? Äh...,“ "Serbokroatisch?" "Ja." „Ein wenig. Aber Deutsch spreche ich besser. Bin halt hier aufgewachsen.“ „Und wie hängst du hier am Laden?“ „Er gehörte meinem Großvater. Nach seinem Tod haben ihn meine Eltern übernommen. Ich übernehm manchmal und verdien mir damit ein bisschen Geld. Für mein Studium und so.“ „Was studierst du?“ „Klassische Archäologie und Ägyptologie.“ „Wow. Das ist bestimmt interessant oder?“ Vukan, der Antiquitätenjunge, lächelte und zuckte die Schultern. „Meistens. Was ist mit dir?“ „Elektrotechnik.“ „Krass. Ist ja was ganz anderes. Ist es so hart, wie es klingt?“ Diesmal lächelte und zuckte Tim. „Meistens.“ „Und in deiner Freizeit liest du Comics?“, fragte Vukan und nahm einen Schluck Kakao. „Genau!“, Tim lachte, „Hast du es auf der Fensterbank liegen sehen?“ „Ja, ich bemerke immer sofort, wenn etwas Neues im Laden auftaucht.“ „Deshalb hast du mich auch sofort bemerkt, was?“ Vukan hob den Blick und grinste. „Erraten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)