Gedankensplitter von w-shine (100 Storys) ================================================================================ Kapitel 15: 62. Erinnerungen an damals -------------------------------------- Langsam beuge ich mich vor und hebe das Bild auf, welches auf dem Boden vor mir liegt. Es ist ein Bild von mir und meinem Vater damals als wir auf Rügen waren, als ich elf Jahre alt war und wir im Strandkorb gefaulenzt und wie wild Mau-Mau gespielt haben. Meine Schwester und mein Bruder haben ab und zu auch mitgespielt, aber oft waren sie damit beschäftigt im Wasser zu toben und unsere Mutter in den Wahnsinn zu treiben. Ich kann fast immer noch ihre Stimme hören wie sie ruft, dass wir nicht so weit heraus schwimmen sollen, weil sie keine Lust habe ins Wasser zu rennen und uns zu retten. Fast vierzig Jahre ist das jetzt her und wenn ich dieses Bild so anschaue kommen so viele gute Erinnerungen an meine Kindheit hoch, damals als das Leben noch einfach und unbeschwert war. Jetzt bin ich verheiratet, habe selbst Kinder. Meine Älteste hat ihre Koffer gepackt und ist zum Studium nach England gegangen. Jetzt hören wir einmal die Woche etwas von ihr, wenn wir zusammen vor Skype sitzen und sie davon berichtet, was sie alles so erlebt hat. Unsere Erlebnisse sind meistens weniger spektakulär, arbeiten, Kollegen, Schule, Klassenkameraden, all das ist bei weitem nicht so spannend wie das, was sie erlebt. Ich schaue etwas wehmütig auf das Foto in meiner Hand. Die Unterseite ist leicht angesengt vom Feuer und vorsichtig puste ich die Asche, die drauf liegt, weg. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und als ich den Kopf wende, sehe ich in das Gesicht meines älteren Bruders. „Schon enorm, was so ein Feuer anrichten kann.“ Ich nicke nur und schaue dann wieder nach vorne ebenso wie er. Etwas verloren stehen wir vor dem Ascheberg und den ausgebrannten Gemäuern, die einmal unser zu Hause waren. Das Feuer hat unser Elternhaus in Asche verwandelt und alles, was es auf seinem Weg gefunden hat gleich mit. Als ich meine Mutter mit leerem Blick, gesenktem Kopf und gebeugten Schultern einige Meter von uns stehen sehe, fällt erst wirklich auf, dass sie schon fast achtzig Jahre alt ist. Vorher war mir das gar nicht so recht bewusst. Natürlich habe ich bemerkt, dass die Zeit nicht spurlos an ihr vorüber gegangen sind, dass sie Falten bekommen hat, die Haare langsam grau wurden, sie nicht mehr so recht hören und sehen konnte und für alles etwas länger brauchte, aber nie sah sie so alt und verzweifelt aus. Nicht einmal, als unser Vater vor einigen Jahren gestorben ist. Sie habe all die schönen Erinnerungen an die vielen Jahre mit ihm, das helfe, hat sie immer gesagt. Aber nun, da sie vor der Asche ihrer Existenz steht und all die Erinnerungsstücke verschwunden sind, scheint es schwer, diesen Optimismus und diese Positive aufrecht zu erhalten. Wehmut und Trauer hat uns alle auf eine merkwürdige Art und Weise erfasst, als wir in der Ruine unserer Vergangenheit stehen. „Schau mal.“ Mein Bruder beugt sich nach vorne und zieht einen der wenigen nicht komplett zerstörten Gegenstände aus dem Schutt hervor. „Erinnerst du dich noch?“ „Ja… natürlich…“ Vorsichtig, als ob es das Zerbrechliste auf der Welt ist, nehme ich den Gegenstand in die Hand. „Du hast dieses blöde Tröte damals geliebt und ständig einen Lärm damit gemacht und uns alle in den Wahnsinn getrieben!“ Mein Bruder lacht leise bei der Erinnerung daran. „Oh ja…“ Ich grinse für mich hin. Dann stehen wir wieder einen Moment schweigend da. „Wir kriegen das hin, oder?“ „Natürlich“, sagt mein Bruder und drückt meine Schulter leicht. „Die Versicherung wird wahrscheinlich alles bezahlen und für die Erinnerungen von damals haben wir doch uns und unser fotographisches Gedächtnis.“ Und als ich sein Augenzwinkern sehe, weiß ich, dass alles gut werden wird und dass wir es schaffen werden unsere Mutter aus der Lethargie zu holen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)