Ich bin doch nur ein wildes Tier von Arianrhod- ([OneShots]) ================================================================================ Kapitel 3: .dancing girl. ------------------------- I Die Tänzerin schwebte wie ein geflügeltes Wesen über die Bühne, eine Fee, deren Schwingen derartig durchscheinend und zart waren, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht sehen konnte. Sie schwang die Beine und ließ ihre Arme ihren Bewegungen folgen, ein vollkommenes Bild fließender Eleganz. Auf Zehenspitzen trippelte die Ballerina nach links, die Gesichtszüge in entspannter Ruhe, ein Einklang mit sich selbst. Es sah so leicht aus, so einfach. Als könnte jeder diese Bewegungen nachmachen. Als wäre es ein Kinderspiel, eine Kleinigkeit. Aber Lesedi wusste, wie viel Arbeit dahintersteckte, wie viel Anstrengung, Training und Blut. Und sie wusste, dass die meisten Tänzerinnen, ganz egal wie lange sie übten, wie sehr sie sich anstrengten und wie viel sie bluteten, dieses Ziel nicht erreichen würden. Sie selbst war eine von jenen. Tanz war ihre Leidenschaft und Ballett das Medium, das sie sich gewählt hatte – oder vielleicht hatte auch ihre Mutter das gewählt, aber was spielte das für eine Rolle? Aber diese einfache Leichtigkeit, diese ätherische Eleganz hatte sie nie erreicht und inzwischen wusste sie auch, dass dieses Ziel für sie unerreicht blieben würde. Sie folgte der Ballerina auf dem kleinen Bildschirm des Tabletcomputers mit dem Blick, wie sie Pirouetten drehte und fühlte das altbekannte Gefühl von Neid in sich aufsteigen. Lesedi war gut – das wusste sie und das stellte sie auch nicht in Frage. Sie konnte tanzen und nicht nur auf der Bühne, nicht nur nach eingeübten Figuren, nicht nur klassisches Ballett. Aber das da – das war eine ganz andere Liga. Und vermutlich war es das, was der Vorsitz der Oper verlangte, wenn er seine Ballerina auswählte. Oder es war einfach nur ein weißes Mädchen. Mit ihrer dunklen Haut, so schwarz wie es dunkler kaum ging, konnte sie wohl kaum die Hauptrolle im Schwanensee tanzen. Zumindest war dies die Meinung derer, die dies entschieden, und allein darauf kam es an. Und dabei redeten alle nur noch über Mutanten und dass es Rassismus nicht mehr gäbe. Aber für Odette waren schwarze Mädchen immer noch nicht gut genug. Schwarze Mädchen tanzten nur im Hintergrund. Mochte sein, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, als das anders gewesen war, vielleicht nicht in diesem Land, aber anderswo. Doch manchmal war die Menschheit erstaunlich rückschrittlich. Aber Lesedi wollte verdammt sein, wenn sie es nicht wenigstens weiter versuchte, selbst wenn sie sich zwischendurch mit Aushilfsjobs über Wasser hielt. Das war ein geringer Preis für ihr Ziel. Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und konzentrierte sich. Dann schaltete ihren Computer aus, ehe sie ihn zurück in die Umhängetasche schob, und warf noch einen Blick auf das große Operngebäude, in denen Ballette aufgeführt wurden, ehe sie entschlossen darauf zuging. Auf in den Kampf, selbst wenn er aussichtslos wirkte. Starrsinn und Stolz ließen nicht zu, dass sie aufgab. II Adèles Stimme schmeichelte den Ohren, dunkel und rauchig wie sie war, perfekt für den Stil, den sie sich gewählt hatte, die Lieder, die Atmosphäre. Aus den Lautsprechern klimperten die Töne des Pianos, das sie begleitete. Einen tatsächlichen Klavierspieler – und wenn es ein synthetisches Klavier gewesen wäre – hatte man ihr nicht besorgt, aber das hatte sie bei dieser billigen Kneipe auch nicht erwartet. Der Geruch von Zigarettenrauch und Alkohol hing schwer in der Luft und einige abgewrackte Gestalten, die so taten, als hätten sie etwas erreicht, hingen an dem Tresen oder den Tischen herum. Diese Bar war heruntergekommen und billig, von dem falschen, roten Samt bis hin zu den kitschig-goldenen Ausschmückungen an den Möbeln. Aber im Moment war sie Adèles Arbeitsplatz. Zumindest so lange bis sie etwas Besseres gefunden hatte, etwas, da mehr ihrem Niveau entsprach. Es würde diesem nicht unähnlich sein – nur viel stilvoller und edler. Es würden solche Bars sein, an die sie sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte, ähnliche Clubs, in denen schon ihre Mutter gesungen hatte. Als die Tür der Kneipe sich öffnete, blickte Adèle kurz auf. Es war Lesedi, schlank und hochgewachsen wie eine Birke, ein Bild einer Tänzerin mit anmutigem Gang. Das lange Haar hatte sie nach hinten gebunden und gemeinsam mit dem hochgeschlossenen Mantel verlieh es ihr ein strenges Aussehen. Adèle lächelte ihr begrüßend zu, aber Lesedi nickte nur als Antwort, ihre gesamte Körperhaltung drückte Niedergeschlagenheit aus. Das Vortanzen war also nicht gut gelaufen… Die Sängerin schlug einen Moment die Augen nieder – würde sie nicht am Mikrophon stehen und singen, hätte sie geseufzt – aber sie war nicht überrascht. Ihre jüngere Freundin versuchte sich schon so lange an dieser Sache und scheiterte Mal ums Mal. Warum hätte es diesmal anders sein sollen? Aber Lesedi, jung, stur und stolz wie sie war, würde nicht einfach so aufgeben. Sie war einfach nicht für das Ballett geschaffen, sondern für wildere, freiere Tänze und schlichtweg andere. Sie war nicht das ätherische, mystische Wesen, das über die Bühne schwebte, und auch kein kleines, zartes, blasses Ding, das wirkte, als würde es bei der kleinsten Berührung zerbrechen. Sie war stolz und streng, unberührbar und hart wie Stahl. Adèle konnte nur hoffen, dass sie es irgendwann selbst bemerkte. Die beiden Frauen, so unterschiedlich sie auch waren, kannten sich schon Jahre, verbunden durch eine ungewöhnliche, aber tiefe Freundschaft. Begegnet waren sie sich zum ersten Mal im Golden Boulevard, jener Allee, in der sich die Künstler und Straßenmusiker sammelten um Geld zu verdienen, jene Allee, für die diese Stadt so bekannt war. Jene Allee, in der sich absolut jeder hinstellen und mit seinem Talent sein Glück beim Publikum versuchen sollte. Manche Sommer verbrachte Adèle noch immer als Sängerin dort – aber die anderen Jahreszeiten waren ihr inzwischen zu feindlich und sie suchte sich andere Festanstellungen. Inzwischen konnte sie sich das leisten, hatte sich einen Namen geschaffen und sie zweifelte nicht, dass irgendwann die Stelle kommen würde, die sie behalten wollte. Einige große Künstler hatten im Golden Boulevard begonnen, ehe sie wie Kometen in den Himmel der Superstars gestiegen waren, vor allem Musiker. Adèle hatte immer gewusst, dass dieser Weg nicht der ihre war, aber das war auch nie ihr Ziel gewesen. Ihr reichte, was sie hatte, was sie haben würde, wie sie lebte, wo sie singen konnte, dass sie es konnte. Der Golden Boulevard hatte sie zusammengeführt, eine Sängerin und eine Tänzerin, die das Talent der jeweils anderen erkannt hatten und gewillt waren, etwas aus beidem zu machen – etwas, das so wunderbar funktioniert hatte, dass Adèle sie auf einer größeren Bühne hätte sehen können, was sie jedoch bedauerlicherweise noch nie ausprobiert hatten. Und was als Zweckgemeinschaft begonnen hatte, hatte als Freundschaft geendet. Adèle bereute keine Sekunde, keinen Streit und keine Versöhnung, keinen kleinen Witz und keine gemütliche Stunde, zu zweit oder unter weiteren Freunden. III Die drei jungen Mädchen auf der Bühne trugen leichte, kleine Kleider, die gerade genug der Phantasie überließen, um aufs Äußerste anregend zu sein, und schwangen die Beine, als wären sie geboren, um genau das zu tun. Ihre lachenden Gesichter waren geschminkt – beinahe schon bemalt – und sie hatten sichtlich Spaß bei der Sache. Es war ein verrückter, pantomimischer Tanz, ausgelassen, spielerisch und wild. Nichts, was Lesedi bis jetzt so gesehen hatte, mit einem so starken Einschlag von Schauspiel, dass sie die Tänzerinnen auch schon fast aus Aktricen ansehen würde. Es war deutlich zu erkennen, worum es ging, drei Schwestern, die sich um ein Paar langer Strümpfe stritten, weil jeder sie haben wollte. Lesedi konnte den Blick kaum von der Bühne nehmen, ganz egal, wer gerade da oben war. Angefangen hatte die Show mit einem Moderator, einem Komödianten, der den ganzen Saal zum Lachen gebracht hatte. Nach ihm aufgetreten waren ein Zauberer, ein Samba tanzendes Paar, in Seilen hängende Artisten und eine Ausdruckstänzerin, deren Kunst Lesedi nur hatte bewundern können. Zwischendurch war der Moderator immer wieder in Erscheinung getreten und hatte das Publikum in der Geschichte weitergeführt. Für Lesedi war es wie das Eintauchen in eine völlig andere Welt, etwas Neues, Anderes, Aufregendes, Exotisches. Und sie hatte wenig gemein mit der des Balletts, hatte nichts von dessen steriler Erhabenheit oder der Ästhetik, die jedermann mit Ballerina – insbesondere jenen emporgehobenen Primaballerina – in Verbindung brachte. Ihre Mutter würde sicher den Kopf schütteln, wenn sie Lesedis Begeisterung jetzt sehen würde. Sie war immer so stolz gewesen, dass ihre Tochter es so weit gebracht hatte, dass sie auf eine der renommiertesten Ballettschulen des Landes gegangen war (wenn auch nur mit Hilfe eines Stipendiums für drei Jahre) und es anscheinend geschafft hatte, der Arbeiterschicht zu entfliehen. Das Varieté aber, so anders und geheimnisvoll, lockte alte Träume von ihr empor, alte Wünsche, die sie nicht hatte verfolgen dürfen und darüber in Vergessenheit geraten waren. Eine Welt wie diese, würde ihre Mutter sagen, war nicht für sie, ehrlos und nieder, für das gemeine Volk, für jene, die die Feinheiten und Schönheiten des Ballett nicht verstanden – jene, die sie anscheinend zurückgelassen hatte in Armut und nutzlosen Bemühungen. Aber Lesedi würde widersprechen müssen. Das Varieté mochte nicht derartig in der Gesellschaft anerkannt sein, sondern eher ein Nischenmilieu, aber schlechter war es darum sicher nicht. Und es fand sein Publikum. „Die gefällt es hier anscheinend.“ Adèles Stimme riss sie aus der Konzentration und riss ihre Aufmerksamkeit von der Bühne weg. „Huh?“, fragte sie nach und starrte ihre Freundin aus großen Augen aus. Adèle, umwerfend und elegant anzusehen wie immer, ließ weiße Zähne in einem Lächeln aufblitzen, und wiederholte ihre Bemerkung. Lesedi spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht stieg, aber sie nickte. „Dann war es doch eine gute Idee, dich hierher zu bringen.“ Adèle hatte sie eingeladen, als Trost für das verpatzte Vortanzen. „Eine sehr gute.“, bekräftigte die Jüngere. „Danke.“ Dann hob sie die Schultern. „Auch wenn ich lieber die Anstellung bekommen hätte.“ Sie verzog das Gesicht und nippte an dem Getränk, das sie vor sich stehen hatte. Adèle klopfte ihr auf die Schulter. „Lass der Sache Zeit, Liebes. Du wirst deine Chance bekommen. Sie wartet nur auf dich, irgendwo da draußen.“ Lesedi stieß ein kurzes Lachen aus und schüttelte den Kopf, aber sie sagte nichts. Sie wollte diesen Abend nicht kaputt machen und einen Streit anfangen. Oder daran denken, was wieder und wieder schief ging. Aber ihre Freundin, optimistisch und positiv wie immer, stieß sie nur leicht an. „Du musst sie nur finden, Süße. Lass dich nicht hinunterziehen.“ Doch das einzige, was die Angesprochene darauf erwidern konnte, war kurz mit den Schultern zu zucken. Sie war nicht so zuversichtlich, aber was sollte sie sagen? Noch ehe sie dazu kam, sich wirklich Gedanken darum zu machen, sprach eine tiefe Stimme sie von hinten an – oder besser, ihre Freundin. „Adèle? Adèle Levesque?“ Die Sängerin drehte sich auf die Nennung ihres Namens um und blinzelte den Sprecher an, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. Lesedi folgte ihrem Blick. Hinter ihnen stand ein beinahe riesenhafter, blonder Mann mit stechenden, grauen Augen, Ziegenbärtchen und einem erfreut-überraschten Grinsen in dem markanten Gesicht. „Du bist es tatsächlich.“ Über Adèles Gesicht huschte ein Lächeln, das von ihrer Begeisterung sprach, den Mann zu sehen. „Kjetil!“ Sie rutschte von ihrem Hocker und streckte die Hände für eine Umarmung aus. „Wie schön dich zu sehen.“ Er musste sich hinunterbeugen, um sie in die Arme zu nehmen, aber sie schaffte es trotzdem, ihm links und rechts einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Was führt dich hierher? Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist, sonst hätte ich dich angerufen.“ „Das gleiche könnte ich auch über dich sagen, du alter Schwerenöter!“, erklärte Adèle und knuffte dem Mann leicht in die Seite. „Ich dachte, du wärest nach Norwegen zurück?“ „Da war ich auch, aber es hat mich dort nicht sonderlich lang gehalten. Und jetzt bin ich hier.“ Er machte eine Handbewegung, die den abgedunkelten Raum und vermutlich auch die gesamte Einrichtung einfasste. „Wie gefällt es dir? Ich bin ziemlich stolz auf die Show in dieser Saison.“ Die Sängerin warf einen Blick durch den Raum; über die eleganten Möbel, die Bar an der einen Wand, die Bühne, die Dekorationen. „Das Varieté gehört dir? Ich bin überrascht. Hat sich eine deiner Geschäftsideen doch irgendwann ausgezahlt?“ Der Varietébesitzer lachte, tief und volltönend. „Ich habe zuhause wohl doch etwas gelernt. Aber genug der Unhöflichkeiten. Warum stellst du mich nicht deiner wunderschönen Begleitung vor oder hast etwa du etwas verlernt?“ Adèle lachte nur auf das leichte Geplänkel und versetzte: „Das habe ich ganz sicher nicht, Casanova, aber manchmal erwischen selbst mich Überraschungen kalt. Wie diese zum Beispiel.“ Lesedi hatte dem neckenden Gespräch lächelnd zugehört, die beiden waren offensichtlich sehr vertraut miteinander, als hätten sie sich nicht eine längere Zeit nicht gesehen, sondern erst gestern. Vermutlich waren sie mehr gewesen als nur Freunde, aber was auch immer gewesen war, sie hatten sich in Freundschaft getrennt. Manchmal beneidete sie Adèle. Die Ältere schien so leicht überall Kameraden zu finden, Anschluss oder einfach nur wohlmeinende Gesellschaft. Lesedi kam sich jedes Mal und überall fehl am Platze vor, außen vorgelassen, fremd. Jetzt wandte Adèle sich zu ihrer Freundin und erklärte: „Lesedi, das ist Kjetil Hagebak. Er ist ein alter … Freund von mir und anscheinend gehört ihm dieses Etablissement.“ Sie wandte sich wieder um. „Kjetil, eine äußerst gute Freundin von mir, Lesedi Jackson, die beste Tänzerin, die ich je gesehen habe. Ich wette, sie kann jedes deiner Mädchen in den Schatten stellen.“ IV Die Trainingshalle war bis auf die beiden Längsseiten gänzlich verspiegelt. Eine Wand bestand komplett aus deckenhohen Fenstern und die gegenüberliegende war mit Holz vertäfelt. Eine etwa hüfthohe Stange zog sich die gesamte Breite des Raumes entlang und einige junge Mädchen führten Übungen dort aus. Die meisten trugen oft gebrauchte Trikots und abgenutzte Ballettschuhe. Dem Boden sah man die häufige Nutzung an und die Spiegel könnten mal wieder geputzt werden. Diese Halle war definitiv keines der besseren Ballettcenter, aber die Schülerinnen und die wenigen Schüler hier waren nicht mit weniger Leidenschaft dabei als in den auf Hochglanz und Glitzer aufpolierten teuren Schulen. Lesedi stand in der Nähe der Fenster, angestrahlt vom Licht der UV-Lampen, die draußen unter dem Highway angebracht waren, der direkt dort vorbeiführte. Ihre schlanke, geschmeidige Gestalt, biegsam und fest wie ein Schilfhalm, folgte elegant einer Abfolge von Bewegungen. Das lange, zu einem straffen Pferdeschwanz nach hinten gebundene Haar ließ ihr hübsches Gesicht noch strenger wirken als es sowieso schon war und ihre bernsteinfarbenen, von langen Wimpern umgebenen Augen waren halb geschlossen. Eine Gruppe Mädchen zwischen zehn und vierzehn standen in einem großen Kreis um sie herum und sahen fasziniert zu. Es mochte sein, dass sie es aus verschiedenen Gründen nie an eines der großen Balletts schaffen würde – aber hier war sie dennoch die Beste, das Vorbild, das Idol, hinter dem jeder nacheiferte, das Optimum. Die Anfänger wollten sein wie sie, die Jüngsten unter ihnen bekamen sogar strahlende Augen, die Älteren eiferten ihr nach, verglichen sich mit ihr, konkurrierten. Aber Lesedi hängte sie alle ab, mit unnachahmlicher Leichtigkeit und der kühnen Wildheit, die ihr innewohnte, auch wenn sie sie tief in sich verbarg. Sie hatte es so verdient, diese Stelle, die sie wollte, die Hauptrolle. Sie hatte es so verdient, auf der Bühne zu stehen. Sie hatte es so verdient, umjubelt und bewundert zu werden. Und wenn sie es nicht auf die große Bühne schaffte, weil niemand sie ließ, dann würde sie sich irgendwann, wie Adèle sicher war, eine kleinere suchen. Eine andere Bühne, die ein Talent wie ihres begeistert empfing und ihr die Rolle gab, die ihr zustand. Ein anderes, offeneres Publikum, dass ihr zujubelte, so wie diese ihre Mitschüler sie anhimmelten. Und Adèle stand abseits und wünschte sich, dass diese harte Welt ihrer jungen, trotz aller Unerbittlichkeit optimistischen Freundin diesen einen Wunsch erfüllte, für den sie so hart arbeitete. Aber gleichzeitig wusste sie – das würde nicht so sein. V Die Stühle im Donkey-Eared Diner waren hart und unkomfortabel, die Aufmachung in grellem Orange und Hellgrün, was sich grässlich biss, und die hässlichen Uniformen waren ekelhaft unbequem. Lesedi war jedes Mal froh, wenn sie die verhassten Kleidungsstücke wieder ausziehen konnte. Aber das Essen war gut und die Burger und Pfannkuchen galten als die besten der gesamten Stadt, was Kundschaft anlockte. Der verführerische Duft von frisch aufgebrühtem, echtem Kaffee, gebratenen Eiern und Omeletts hing in der Luft. Die wenigen Gäste, die um diese Uhrzeit – der mauen Spanne zwischen Frühstück und Mittagessen – hier waren, unterhielten sich mit gesenkten Stimmen. Eine allgemein friedliche Stimmung hatte sich in dem Lokal ausgebreitet, die die leise Musik aus dem Radio nur unterstützte. Lesedi fragte gar nicht mehr, warum der Besitzer des Diners, Raniero Aalders, nicht die Inneneinrichtung umbauen ließ oder zumindest ein paar bequemere Sitzangelegenheiten heranschaffte. Eine anständige Antwort hatte sowieso noch nie jemand auf diese Frage bekommen. Dennoch war das Diner gut besucht, nicht nur von seiner Stammkundschaft, sondern auch von jenen, die hörten, wie gut das Essen hier war – Mundpropaganda war die wirksamste Werbung für dieses Lokal und sie wirkte. Auch wenn die Uniformen der Kellnerinnen schrecklich waren, an allem anderen ließ es der Chef nicht mangeln und Lesedi war froh darum. Sie brauchte nicht viel zum Leben, aber sie musste ihre Tanzstunden irgendwie bezahlen, und obwohl ihr Lehrer beim besten Willen nicht zu den hundert besten der Stadt gehörte, so nahm er doch eine Summe, die sie gerade so bezahlen konnte. Und lieber sparte sie an ihrem Essen oder ihrem Schlaf als an ihren Tanzstunden. Sie wollte nicht in diesen Teufelskreis hineinrutschen, der aus Job-Vortanzen-keine Stelle finden-keine Übung mehr haben bestand und für so viele Künstler das Aus bedeutete. Die Stelle im Donkey-Eared Diner war darum perfekt für sie, mit ihrer verhältnismäßig guten Bezahlung, den äußerst flexiblen Arbeitszeiten, dem relaxten Chef und den tollen Kolleginnen. Die Zeit, in der sie nicht mehr zu tun hatte, als die Gäste im Auge zu halten, ob diese nicht vielleicht noch einen weiteren Wunsch hatten – wie im Moment – verbrachte sie mit einfachen Übungen im Hinterzimmer, Entspannung oder ähnlich. Im Moment saß sie auf einem der Barhocker, ihren Tabletcomputer vor sich, und schaute Videos an. Die Musik war so leise gestellt, dass sie beinahe im Gedudel des Radios unterging, das nur dann nicht lief, wenn die antike Jukebox zum Einsatz kam. Seit Tagen schon klickte sie sich durch Videos auf verschiedenen Internetkanälen, die meisten aufgenommen durch Phoneras, die kleinen in die Smartphones eingebauten Aufnahmegeräte. Von Varieté (was ihr am besten gefiel) über Kabarett (was lustig war, aber nicht ganz ihre Sparte traf) bis hin zu Burlesque (was sie vermutlich niemals tun könnte) war vermutlich alles dabei, was dieses Gebiet der Bühnenkunst zu bieten hatte. Dieser eine Besuch, den Adèle ihr in Kjetils Varieté spendiert hatte, hatte sie nicht mehr losgelassen. Ihre Faszination schien nur mit jedem Video weiter zu steigen und je tiefer sie in diese so fremdartig wirkende Welt eintauchte, desto größter wurde sie. Und da sie sich keinen weiteren Besuch in einem Varieté leisten konnte, hatte sie den anderen, weniger berauschenden, aber dafür eindeutig günstigeren Weg gewählt und ins Internet eingetaucht um dort zu recherchieren. Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass das Etablissement des Norwegers sehr schnell eine Art Kultstatus erreicht hatte. Es war keines jener großen, in die Dutzende von Menschen passten und wo es mehrere Räume und verschiedene Shows gab, sondern verhältnismäßig klein. Aber die Darbietungen – im Grunde schon Spektakel zu nennen – galten als außergewöhnlich selbst für das Außergewöhnliche und die Künstler zählten zu der Crème de la Crème der Szene. Bei jedem Video, das sie ansah, stellte sie sich die hypothetischen Fragen, wie es hinter der Bühne ablief, wie lange die Leute brauchten, um ihre Auftritte vorzubereiten, und wer überhaupt das Programm aufstellte. Wie es wäre, ein Teil dieser Welt zu sein. Und jedes Mal, wenn sie diesen Punkt erreicht hatte, riss sie sich gewaltsam zurück und verließ ihren Computer, um sich der Kaffeemaschine zu widmen, einen der Tische oder den Tresen abzuwischen, Servietten oder Speisekarten oder Geschirr zu ordnen. Aber jedes Mal trieb es sie zurück zu ihrem kleinen Rechner und den Videos darauf, die sie noch ansehen wollte, von tanzenden Mädchen und Paaren, Zauberern, Artisten, Feuerkünstlern und all den anderen Gestalten, die ihr so phantastisch vorkamen und unveränderlich Teil der Welt des Varieté waren. Und zu der Frage, wie es dort war, und dem Wunsch, ein Teil davon zu sein. Sie fragte sich, ob es sehr viel anders war als die Welt des Balletts, die so konkurrenzbetont und rivalisierend war und so hart, dass so viele an ihr zerbrachen. Vermutlich schon. Kaum etwas war so erbarmungslos wie Ballett, bei dem es nur um Perfektion ging und darum diese mühelos erscheinen zu lassen. „So interessant?“, wollte Myranda, die andere Kellnerin, die diese Schicht Dienst hatte, plötzlich wissen und Lesedi zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe ihren Computer vom Tresen gefegt hätte. „Erschreck mich doch nicht so!“, rief sie aus und Myranda lachte mit funkelnden Augen. „Tut mir leid. Aber hab ich wissen können, dass du so vertieft darin bist, dass du nicht mal merkst, wenn ich mich neben dich stelle? Da hat dich ja ein richtiges Fieber gepackt.“ Lesedi hob verlegen die Schultern. „Manchmal bin ich wie taub, wenn …“ Sie verstummte und vollendete den Satz nur in Gedanken, als das Klarsicht in ihr erwachte. … wenn die Leidenschaft sie wirklich mitriss. Bis jetzt war ihr das nur passiert, wenn sie sich dem Thema widmete, dem sie ihr Leben verschrieben hatte: dem Ballett. Dem Tanz, genaugenommen, aber der war bei ihr immer so unveränderlich mit dem Ballett verknüpft, dass das eine ohne das andere kaum vorstellbar war, unveränderbar miteinander verbunden. Aber auch das hier war Tanz, ein Teil jener Welt um Kunst, Bewegung, Können und der Vorführung. Und diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. VI „Du wirst doch nicht etwa krank, oder?“ Adèle bekam beinahe ein schlechtes Gewissen, als sie sah, wie Lesedi heftig zusammenzuckte. Die Angesprochene wandte ihr das Gesicht zu, der Ausdruck unleserlich. Sie war schon seit einiger Zeit zerstreut und etwas neben sich. Wann immer sie die Gelegenheit hatte, wann immer man sie ließ, schweiften ihre Gedanken ab und ihre Aufmerksamkeit schwand. Sie sagte nicht, wohin; sie sprach überhaupt nicht darüber, aber Adèle konnte es sehen. Da war etwas, das ihre Freundin beschäftigte und wenn diese irgendwann darüber sprechen wollte, würde sie da sein, aber im Moment holte selbst sie nichts aus ihr heraus. Ein Denkprozess hatte sich in Lesedi in Gang gesetzt, das war deutlich zu erkennen. Eine Veränderung, über die die jüngere Frau noch nicht sprechen wollte und sich vielleicht noch nicht einmal selbst im Klaren war. Vermutlich würde es noch einige Zeit dauern, bis sie zu einem Ergebnis gekommen war – mit welchem Thema auch immer sie überhaupt beschäftigt war. Adèle jedenfalls war gespannt, wohin das alles führte, und hoffte, dass es sie weiterbrachte. In den letzten Jahren war sie immer nur auf der Stelle getreten, hatte hart gearbeitet – im Job sowie im Training – nur um nicht zurückzufallen und war jedes Mal doch wieder zu Boden gestoßen worden, wann immer sie die Hoffnung auf eine Stelle im Ballett gehabt hatte. Adèle war so stolz auf sie, dass sie nicht irgendwann entlang dieses langen, harten Weges einfach aufgegeben und alles hingeworfen hatte. Nicht viele hatten die Stärke dazu, diesen stahlharten Willen, die stillschweigende Hoffnung, doch noch das Ziel zu erreichen, trotz allem Widerstand, allen Hürden, aller Ablehnung. Und davon kannte Lesedi, weiß Gott, sicher genug. Davon hatte sie genug gespürt, hatte man ihr genug ins Gesicht geschlagen. Adèle wusste es, denn sie hatte sie eine so weite Strecke ihres schweren Weges begleitet, hatte gesehen, wie sie Mal ums Mal gestolpert und gefallen und Mal ums Mal wieder aufgestanden war. Hatte gesehen, wie sie beinahe daran zerbrochen war, jedes Mal ein Stückchen näher an der Niederlage, an der Hoffnungslosigkeit. Aber jetzt veränderte sich alles, es war ihr anzusehen, in ihrer Haltung, ihrer Ausstrahlung, ihrem gesamten Verhalten. Die Zuversicht, mit der sie in die Stadt gekommen war um zu lernen und zu tanzen, und die ihr Stück für Stück genommen worden war, weil man ihr keine Chance gegeben hatte, kam mit aller Macht zurück. Und es stand ihr gut. „Nein.“, antwortete Lesedi. „Mir geht es gut. Ich mache mir zur Zeit … nur ein paar Gedanken.“ VII Menschen schoben sich durch die Straßen, nur auf ihren Weg achtend und das, was vor ihnen lag. Einige sprachen hastig in ihre Smartphones, Geschäftsleute fummelten auf ihren Tabletcomputern herum und Mütter zerrten ihre quengelnden Kinder hinterher. Autos schlängelten sich langsam durch die Straßen, im Gegensatz zu den meisten Fahrradfahrern, die mit ihrem halsbrecherischem Tempo nicht nur sich, sondern auch die Fußgänger gefährdeten. Alles in allem ein normaler Tag in einer dicht besuchten Einkaufspassage wie dieser. Von der Trainingshalle waren Lesedi und Adèle direkt hergekommen, ihr Ziel war das große Opernhaus, das einen Mittelpunkt für das Viertel bildete. Dort hatte sie erneut ein Vortanzen und Adèle hatte versprochen, sie diesmal zu begleiten, ein persönliches Maskottchen, wie sie sich lachend ausgedrückt hatte, ein Glücksbringer. Vielleicht half es sogar. Doch wie auch immer es lief, es war die letzte Chance, die Lesedi dem Ballett gab. Sie wusste nicht genau, wann sie diesen Entschluss gefasst hatte, aber inzwischen stand er fest und unverrückbar. Sie konnte nicht ewig einem Traum nachjagen, der so weit weg und unerreichbar war. Und warum sollte sie? Wenn das Ballett ihr keine Chance gab, warum sollte sie umgekehrt entgegenkommender sein? Sie hatte eine andere Idee, eine, die hoffentlich besser klappen würde. Das Opernhaus befand sich in keinem der Türme, die den Großteil der Gebäude hier ausmachten, sondern auf einer der Plattformen, ein frei stehender Bau, prachtvoll wie jene in alter Zeit, wenn auch in völlig anderem Stil – Stahl und Glas herrschten vor und der Architekt musste ein Künstler sein, denn es wirkte leicht und absolut nicht hart oder kalt, wie man es bei diesen Materialien eigentlich erwarten sollte. Einige Stufen führten zum Haupteingang hinauf und bei jedem Schritt schlug ihr ihre Sportstasche gegen die Beine. Sie fühlte sich seltsam gelöst, sicher – als hätte sie nur gebraucht, diesen einen Entschluss zu fassen. Plötzlich stand ihr die ganze Welt offen, mit all ihren Möglichkeiten, ihren Chancen, ihren glücklichen Zufällen. Wie hatte sie sich nur auf diese eine Sache versteifen können? Beinahe hatte sie alles verpasst. Am oberen Treppenabsatz blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken. Die Sonne spiegelte auf den verglasten Flächen des Gebäudes, was zeigte, wie weit oben in der Stadt sie wirklich waren, und sie musste gegen das helle Licht blinzeln. Adèle war eine beständige Präsenz neben ihr, still und zuversichtlich, und sie lächelte ermutigend, als Lesedi ihr einen Blick zuwarf. „Du machst das, Liebes. Denk daran, was ich über Chancen gesagt habe.“ „Sie warten nur?“, hakte die Tänzerin nach, aber sie wartete nicht auf eine Antwort. „Vielleicht tun sie das.“ Sie hob die Schultern. Aber vielleicht nicht unbedingt hier. Vielleicht muss man sein Blickfeld erweitern, sich anderswo umsehen. Vielleicht war es das, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte. „Hör zu, Adèle. Wenn sie mich hier wieder nicht nehmen…“, begann sie und musste sich unterbrechen. Es war nicht einfach, ein so altes Ziel loszulassen, eines, an dem sie so lange festgehalten hatte, stur und verbohrt wie sie war. Sie musste heftig schlucken und schloss für einen Moment die Augen, um die aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bringen – da war der Aufbruch und die Aussicht, die ganze Welt plötzlich zu Füßen zu haben, doch da waren auch Bitterkeit, Wehmut und die Enttäuschung, es doch nicht geschafft zu haben. Die dunkle Stimme ihrer Freundin holte sie in die Gegenwart zurück. „Du wirst es schaffen. Denk positiv. Du bist hier, du bist in Topform, die Sonne – die richtige Sonne – lacht dich an, dieses Ballettensemble gilt als sehr fortschrittlich und ich werde dich anfeuern. Wie kann es da schief gehen?“ Lesedi gestattete sich ein müdes Lächeln, das überhaupt nicht zuversichtlich wirkte. „Vielleicht. Vielleicht nutzt es nichts. Aber – wenn ich es nicht schaffe… Kannst du dann deinen Freund aus Norwegen fragen, ob ich bei ihm vortanzen kann? Vielleicht nimmt er mich.“ Adèle starrte sie an, ihre Augen groß und rund wie Steine, ihre Kinnlade undamenhaft beinahe auf ihrer Brust. Anscheinend gab es doch noch Dinge, die diese gelassene, weltgewandte, beherrschte Frau aus dem Konzept brachten. Erstaunlich, dass selbst Lesedi es konnte. „Aber… aber, Lesedi…?“ Diese hob die Hand. „Ich hab lange darüber nachgedacht.“, erklärte sie mit ruhiger, fester Stimme. „Und ich glaube nicht, dass ich große Chancen in der Ballettwelt habe. Hier, das ist das letzte Mal, dass ich für ein Ballett vortanze. Glaub mir, diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, aber ich denke, dass es besser ist, für mich. Vielleicht war der Gegenwind, den ich immer bekommen habe, einfach ein Zeichen dafür, dass das nicht die richtige Art von Tanz für mich ist. Dass ich etwas anderes machen soll. Dass ich noch andere Chancen habe und mich nicht nur auf diese eine Richtung versteifen darf, die mir immer nur den Stinkefinger gezeigt hat. Und weißt du was? Ich fühle mich gut. Besser als seit … Jahren, wirklich. Als hätte ich endlich eine Chance, verstehst du? Als müsste ich nur danach greifen. Und das werde ich tun.“ Sie nickte, entschlossener denn je. „Also? Stellst du mich Kjetil vor oder fragst du, ob ich bei ihm vortanzen kann? Vielleicht braucht er noch eine Tänzerin. Oder gibst du mir wenigstens seine Nummer, damit ich selbst fragen kann?“ Das Lächeln, das jetzt auf Adèles schöne Züge trat, war breit, erfreut und ehrlich. „Natürlich werde ich das tun. Lesedi, ich werde dich unterstützen, egal, was du tust. Und ich glaube ehrlich, dass du beim Varieté besser aufgehoben wärest als bei dem Ballett. Aber jetzt gehst du da rein.“ Sie deutete auf das große Tor der Oper, ihre Stimme wild und bestimmend. „Und zeigst diesen Lackaffen da drinnen, was für eine großartige Tänzerin du bist. Und wenn sie dich nicht nehmen – das ist ihr Verlust. Du hast etwas Besseres verdient, als ständig anzufragen und zu warten.“ Lesedi lachte und dieses Mal erschien ihr die Eingangstür des Gebäudes nicht wie das Maul einer Bestie, sondern wie das Tor in den Sand einer Arena. Und sie nahm die Herausforderung an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)