Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 25: 25. Kapitel ----------------------- Paige hatte sich in Ryons Bibliothek in einem alten Atlas das Land angesehen, das sie bereisen würden. Außer dem Nildelta, das grün in der gemalten Landschaft schimmerte, konnte von purem Leben sicher nicht die Rede sein. Als sie nun zum Landeanflug auf den Flughafen von Kairo ansetzten, hatte sich dieser Eindruck noch nicht geändert. Vom Flugzeug aus war Paige die Landschaft öde und eintönig erschienen. Nicht gerade eine Wüste, aber die Verwandtschaft zu diesem Landstrich war trotz verschiedener großer Ansiedlungen nicht zu verkennen. Der Pilot hatte ihnen vor dem Sinkflug mitgeteilt, dass in der Hauptstadt gerade trotz des beginnenden Herbstes 32°C herrschten. Etwas, dem Paige mit gemischten Gefühlen entgegen sah. Sie hatte sich dem veränderten Klima entsprechend in leichte, karmellfarbene Stoffhosen und eine helle Bluse gehüllt. Dazu ihre Haare zu einem Zopf geflochten und wenn nötig, würde sie auch diese Scheußlichkeit von Hut aufsetzen, den sie besorgt hatte. Alles war besser als ein Sonnenstich. Die kleine Maschine setzte mit einem Hüpfer auf und rollte anschließend zum Hangar für Privatflugzeuge, wo sie über eine kleine Leiter aussteigen konnten. Es fühlte sich so an, als würden sie direkt gegen eine flirrende Hitzemauer laufen. Paige musste keine zwei Schritte tun, bevor sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Und doch war sie erstaunlich aufgeweckt nach diesem langen Flug und sah sich fasziniert in den Gebäuden um, durch die sie von einem Flughafenmitarbeiter geführt wurden. Während die Visaangelegenheiten erledigt wurden, saßen sie in einem klimatisierten kleinen, sauberen Raum. Der Lounge für Privat- und erste Klasseflieger. Dort servierte man ihnen sogar eisgekühlte Getränke, Tee oder wahlweise frische Melonen. Paige entschied sich für einen Becher Ananassaft und wartete geduldig, bis man ihr ihren Pass wiederbrachte. Flora Burke bedankte sich und lief dann hinter ihrem Begleiter her in die verglaste, mit illuminierten Palmen geschmückte Eingangshalle. Sie hatten von London aus bereits ein Hotel gebucht. Ohne zu Murren hatte Paige Ryons Entscheidung akzeptiert und wartete nun geduldig auf den Wagen, der sie ins Four Seasons bringen sollte. Wenn es nur annähernd so aussah, wie auf den Bildern, die sie gesehen hatte, erinnerte es sie an die alten Agatha Christie - Filme, die sie gesehen hatte. Luxus pur. Und wenn es das Budget erlaubte, würde sie zu gern das Spa ausnutzen. Eine Schaummassage hörte sich einfach zu verlockend an, um es nicht auszuprobieren. Im Flugzeug hatte er Paige den Fensterplatz überlassen, damit sie die Landschaft beobachten konnte, während er nur wenig Interesse dafür hegte. Stattdessen las er noch ein wenig in dem Buch, das der Grund für diese Reise darstellte. Ryon versuchte sich durch die Beschreibung der Eindrücke schon einmal darauf vorzubereiten, was da auf sie zukommen könnte, aber er war noch nie in Ägypten gewesen und konnte sich somit dürre Landschaften, vermummte Einheimische und den orientalischen Flair nicht wirklich vorstellen. Aber es würde auf jeden Fall nicht langweilig werden, das war sicher. Schon beim Aussteigen, verschlug es ihm fast den Atem. Im Flugzeug hatten angenehme Temperaturen geherrscht und bei ihnen zu Hause waren zwanzig Grad schon warm gewesen, aber hier herrschten nach Angaben des Piloten sogar 32°. Genau so kam es ihm auch vor. Ryon hätte am liebsten auch noch das dünne Baumwollhemd und die Ockerfarbene Leinenhose ausgezogen, so heiß war ihm schon nach den ersten Atemzüge. Aber zum Glück war sein Körper überdurchschnittliche Wärme gewöhnt, weshalb er nicht gleich zerfloss wie ein Wasserfall. Trotzdem war es unangenehm und die leichte Brise vermochte es auch nicht, ihm Kühle zu spenden, wenn sie über seine Haut strich. Zum Glück war es im Warteraum angenehm klimatisiert, während alles für ihre Ankunft geregelt wurde. Ryon begnügte sich währenddessen mit einem Glas Eiswasser und dem Beobachten der anderen Reisenden, bis man ihnen die Pässe brachte und es weiter gehen konnte. Wieder hinaus in die Hitze. Vor dem Eingang des Flughafens standen nicht nur unzählige Taxis sondern auch die ein oder anderen schwarzen Wagen, die auf ihre Kundschaft warteten. Ryon umschlang den Griff seines Koffers etwas fester, als er einen geschniegelt und geputzt aussehenden Chauffeur ein Schild mit dem Namen ‚Mr. Ryan Anderson‘ hoch halten sah. Nur ein weiterer gefälschter Name in der langen Liste seiner gefälschten Namen. „Hier entlang.“, meinte er zu Paige und deutete auf den Wagen, der sie zum Hotel bringen würde. Kurz stellten sie sich dem Fahrer vor, der vorzüglich Englisch sprach, wie man es von Angestellten eines Hotels wie das Four Seasons auch absolut erwarten konnte, ehe dieser ihr Gepäck verstaute und sie sich währenddessen auf die Rückbank des Autos schoben. Abermals blies ihnen angenehm kühle klimatisierte Luft entgegen, die langsam aber sicher Kopfschmerzen bei Ryon auslöste. Er konnte sich trotzdem nicht entscheiden. Kopfschmerzen oder Hitze. Letztendlich entschied er sich für Kopfschmerzen. Die waren leichter zu ignorieren. Es gab unglaublich viel zu sehen, nicht nur während der Fahrt, sondern auch im Hotel. Sehr viel hatten Ryon und Paige nicht mit einander gesprochen, aber das war auch absolut nicht nötig gewesen. Immerhin wollte sicherlich auch sie ihre Einrücke erst einmal ganz für sich aufnehmen. Obwohl Ryon sich fast sicher war, dass er nicht ganz so viel Begeisterung aufbrachte, wie sie. Immerhin, vom Stil her, erinnerte es ihn wage an sein Elternhaus. Vielleicht war es hier noch pompöser, noch luxuriöser und verschnörkelter, aber durchaus mit angemessener Eleganz und gutem Stil. Dieses Mal gab es keine Probleme mit den Zimmern, die er reserviert hatte. Zwei Einzelzimmer, die nebeneinander lagen, aber beide für sich fast so groß waren wie eine kleine Wohnung. Wenn sie hier mehr als nur ein paar Tage verbringen mussten, dann war eine gewissen räumliche Freiheit garantiert nicht verkehrt. Während sie ohne ihr Gepäck im Fahrstuhl hoch fuhren, denn das hatte man bereits auf ihre Zimmer gebracht, holte Ryon etwas aus seiner Hosentasche und streckte es Paige hin. „Hier. Ich weiß zwar nicht, ob wir es brauchen werden, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher.“ In seiner Hand hielt er ein kleines, rotes Handy, dass exakt auf die Farbe von Paiges Schuppen abgestimmt war. Was auch immer er sich dabei gedacht hatte, er würde es sicherlich nicht weitererzählen. „Meine Nummer ist auf der Eins eingespeichert. Du kannst es aber auch so jederzeit benutzen, solange du damit Empfang hast. Das Ladegerät bringe ich dir später vorbei.“ Hier in Ägypten kam sich Paige in dem großen, luxuriösen Hotel noch genauso fehl am Platze vor, wie damals in Paris. Aber der Umgang mit Ryon fiel ihr inzwischen zumindest ein wenig leichter. Sie konnte mit weniger Gedanken neben ihm her in die Eingangshalle gehen, die für ihren Geschmack fast etwas zu vollgestellt und glänzend wirkte. Der Luxus schien aus jeder Pore polierten Holzes zu quellen, während die verschiedenen Sessel und Canapes unter der Last von bestickten Kissen beinahe ächzen mussten. Paige war in diesem Ambiente zwischen Erstaunen und erschlagen werden hin und her gerissen. Daher bekam sie noch nicht einmal die Anmeldung richtig mit und wie ihr die Schlüsselkarte für ihr Zimmer in die Hand gedrückt wurde. Erst als sie mit Ryon im Aufzug stand und die kleinen leuchtenden Ziffern über der Tür beobachtete, die kontinuierlich anstiegen, spürte sie die Müdigkeit der Reise. Ihr Körper konnte sich nicht recht entscheiden, ob er vom Flug völlig fertig oder wegen der wenigen Bewegung aufgedreht sein sollte. Paige würde es einfach auf eine Dusche und etwas Ausruhen ankommen lassen. Sehr viel Zeit würden sie sich für so etwas wahrscheinlich sowieso nicht lassen. Die Spuren waren kalt genug, es sollte sich nicht mehr Sand darüber anhäufen, als es sowieso bereits der Fall war. Ryon richtete das erste wirkliche Wort an sie, als sie nur noch ein Stockwerk von ihrem entfernt waren. Ein kleines 'Pling' fiel mit dem Moment zusammen, in dem er ihr das kleine Mobiltelefon in die Hand legte. Als sie die Farbe erkannte, musste sie schmunzeln. "Danke." Sie würde es sicherlich nicht dazu benutzen ein ewiges Ferngespräch mit Ai zu führen. Aber wenn sie doch eine Weile hier in diesem fremden Land verbringen sollten, dann war die Option mehr als willkommen. Zwischen ihren Türen verabschiedeten sie sich und Paige ging langsam in ihr Zimmer. Saugte jedes kleine, erstaunliche Detail des Raumes in sich auf und war von der Aussicht völlig geplättet. Deshalb stand sie auch eine Weile nur vor dem Fenster, sah hinaus und überlegte, ob es hier wohl ähnlich schwierig oder leicht sein würde, die übernatürlichen Bewohner zu finden, wie bei ihrer letzten Reise. Zumindest würde es mit der Temperatur für sie keinen der lästigen Zwischenfälle mehr geben, die Ryon ausgesprochen ungern wiederholen würde. Ihr ging es genauso. "Obwohl sie nun ein paar Tage hier war, habe ich immer noch nicht mit ihr darüber gesprochen." Sie saßen auf einer Bank, mit Blick auf den Garten. Ai hatte ihre Hände über dem Mantel auf ihren Bauch gelegt und streichelte sanft darüber. "Ich denke, dass sie es verstehen wird, aber..." Etwas traurig sah sie zu Tyler auf und nahm seine Hand. "Die Chancen stehen schlecht, dass sie hier bleiben will. Ob ihr sie nun einladet oder nicht. Selbst wenn es Ryon nichts ausmacht... Ich denke, dass sie zu stolz ist, sich hier niederzulassen. Außerdem ist die World Underneath ihr Zuhause." Sie hätte wirklich mit Paige sprechen sollen. Darüber, dass sie hier bleiben wollte. Wo ihr Baby die besseren Chancen auf ein gutes Leben hatte. Und es ging ihr schon eine Weile nicht mehr nur allein um ihren Nachwuchs. Ai lachte leise, als Tyler 'ihre beiden' mit dem Film-Archäologen verglich. Irgendwie passte die Vorstellung von Kakihosen und einem Schlapphut genauso gut auf Paige, wie sie auf Ryon passte. Nämlich überhaupt nicht. "Du hast Recht." Sie drückte seine Hand ein wenig fester und lächelte ihn an. "Bevor das Baby nicht auf der Welt ist, wird sie mich sicher nicht allein lassen. Da müsste schon Einiges passieren." Ihr Lächeln wurde kleiner, als ihr Tyler mit seiner nächsten Frage so zu sagen das Stichwort gab. "Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob sie zusammen passen würden. Über Ryon kann man sich so gar keine Meinung bilden." Es folgte eine lange Pause, in der Ai darüber nachdachte, wie sie die folgenden Worte formulieren sollte, ohne Paige zu verunglimpfen. "Aber das kann unter Umständen genau der richtige Weg sein. Paige ist diesbezüglich etwas ... übervorsichtig." Das war die beste Formulierung, die sie fand. Dafür, dass sie den netten Barkeeper, der schon ewig hinter ihr her war, ihr den Hof machte, noch nicht einmal geküsst hatte. Und das, obwohl sie ihn mochte. "Über das Verhältnis zu ihrem Vater schweigt sie sich meistens aus, aber er ist der Grund dafür, dass sie denkt, kein Mann könnte sie auf Dauer gern haben. Geschweige denn lieben." Ihre dicken schwarzen Haare flossen über ihrer beiden Schultern, als sie sich an Tyler lehnte und auf ihre verschlungenen Finger sah. "So, wie ich sie kenne, würde ich sagen, sie denkt noch nicht einmal daran, dass sie mehr sein könnten, als Freunde. Aber den Anspruch hat sie auf jeden Fall." Das hatte man daran gesehen, wie sie mit ihm umging. Nicht nur den Männern war das Verhalten der beiden bei diesem speziellen Mittagessen aufgefallen. "Denkst du denn, dass er sie an sich heran lassen wird?" Tyler schloss einen Moment lang die Augen und genoss das Gefühl von Ais warmen Körper an seinem und wie der Duft ihrer Haare ihm in die Nase stieg. Ein warmes Lächeln umspielte dabei seinen Mund und wurde sogar noch breiter, als er an Ryon und Paige dachte. „Ich denke, dass sie genau die Art von Frau und Persönlichkeit ist, die es schaffen könnte, seinen Panzer zu durchbrechen. Vielleicht wird es länger dauern, als bei normalen Beziehungen, bis die beiden auf die Idee kommen könnten, dass Freundschaft alleine für sie beide vielleicht gar nicht das zutreffende Wort ist. Aber wenn du sagst, dass Paige ebenfalls ihre Probleme in diesen Dingen hat, dann finde ich, passen die beiden gut zusammen. Es wäre gar nicht so abwegig, dass sie sich unbewusst gegenseitig helfen könnten, diese Hürden zu nehmen.“ Langsam drehte er sich etwas zu Ai herum, um ihr in die Augen sehen zu können. Das Lächeln war immer noch da, als er mit seiner anderen Hand sanft über ihre Wange strich. „Im Augenblick mag unser Eisklotz noch im Winterschlaf sein, aber wenn Paige ihn erst einmal aufgetaut hat, dann wird er sicher auf sie aufpassen. Früher einmal war er umsichtig, liebevoll, zärtlich und immer auf das Wohl seiner Liebsten bedacht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich so viel daran geändert haben soll. Außerdem, wenn er sich noch ein einziges Mal in seinem Leben dazu bereit erklären sollte, zu lieben, denkst du nicht auch, dass er diese Liebe dann je stehen lassen könnte?“ Wenn das Unmögliche möglich werden würde und Paige für Ryon einmal wirklich die Eine im Leben sein sollte, dann würde er lieber sterben, als sie gehen zu lassen. Einen weiteren Verlust könnte er womöglich nicht mehr verkraften. Tyler strich zärtlich mit seinem Daumen über ihren Handrücken. Er erwiderte ihren Blick und stellte wie schon oft in letzter Zeit fest, dass dieser Frau nicht nur die Schwangerschaft sehr gut bekam, sondern auch ihr Gesicht gesünder und vitaler aussah. Wenn er daran dachte, wie abgemagert sie gewesen war, als sie hier ankam, konnte er sich kaum vorstellen, dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelte. „Ich kann dir leider nicht sagen, was die Zukunft bringt. Aber im Augenblick ist sicher, dass die beiden noch eine ganze Weile damit beschäftigt sein werden, Indiana Jones zu spielen. Außerdem wird sie sicherlich nicht die Geburt verpassen wollen. Also viel Zeit, in der sich sehr viel verändern kann.“ Seine Worte waren etwas kryptisch. Er wollte nichts andeuten, von dem er nicht absolut sicher war, dass es passieren würde, aber Tyler war sich dafür ziemlich sicher, dass da etwas im Gange war. „Was hältst du eigentlich von unseren beiden? Glaubst du, sie würden zusammen passen?“ Einer Eingebung folgend, hatte er diese Frage gestellt. Ai kannte Paige besser, als jeder andere, soweit er wusste. Gerne würde er ihre Meinung dazu hören, auch wenn das Verhältnis der beiden nicht weiter von Belang war, wenn es um das ging, was er für Ai empfand. Denn das wuchs von ganz alleine, jeden Tag immer weiter an. Ryon ließ nur einen kurzen Blick über das Mobiliar schweifen, ehe er auch schon sein Hemd geöffnet hatte und es abstreifte, während er ins Bad marschierte. Auch hier war es angenehm temperiert, aber er wollte jetzt trotzdem die Reise von sich waschen. Das luxuriöse Bad mit der rießigen Duschkabine war ihm da nur ganz recht. Er stand länger unter dem Wasserstrahl als höflich war, aber einen Fuß auf die Fließen vor der Dusche zu setzen, würde bedeuten, das Abenteuer begann. Er würde sich anziehen, Paige anrufen und sich danach erkundigen, wie weit sie selbst war und ob sie bereit war, mit ihm auf Tour zu gehen, um mit den Nachforschungen zu beginnen. Dass sie hier nicht ihre Zeit verbrachten, um Urlaub zu machen, war natürlich im Vorhinein klar gewesen, trotzdem hoffte er auch darauf, sich etwas die Gegend ansehen zu können. Schließlich zwang er sich doch dazu den lauwarmen Wasserstrahl abzustellen, der ihn angenehm gekühlt hatte, sich abzutrocknen und anzuziehen. Er föhnte sich noch rasch die Haare, obwohl er sie bei der Temperatur durchaus lufttrocknen hätte lassen können. Aber als Gast dieses Hotels musste man selbst auch eine gewisse Etikette einhalten. Mit einer Hand voll Datteln und seinem eigenen Handy, setzte er sich auf die ausladende Couch und drückte die Kurzwahltaste für Paiges Nummer. Natürlich hätte er auch einfach eine Tür weiter anklopfen können, aber so konnte er gleich einmal ausprobieren, ob mit den Handy immer noch alles in Ordnung war, wie vor ihrer Abreise. Mit einem Hechtsprung übers Bett, bei dem ihr das Handtuch ein wenig vom Körper glitt, ergriff sie ihre Hose und suchte in der Tasche nach dem Handy. Zuerst hatte sie das Läuten nicht gehört oder es zumindest nicht als das gedeutet, was es tatsächlich war. Sie hatte noch nie so etwas wie ein Handy besessen. "Hallo?", hauchte sie etwas atemlos und versuchte gleichzeitig das kleine Telefon unter die nassen Strähnen ihres Haars zu stecken, anstatt damit noch den Anrufer vor ihrem Ohr zu dämpfen. Nicht ganz überraschend hörte sie Ryons Stimme. "Du weißt, dass ich nebenan wohne, oder?" Mit einem Grinsen auf dem Gesicht ging sie zur gemeinsamen Wand hinüber und klopfte mit einer Tasse dagegen, in der sie sich Tee gemacht hatte und die immer noch herum stand. Bei seinem feinen Gehör, würde das Geräusch vielleicht sogar bei ihm ankommen. "Hm? Ja, gib mir noch zehn Minuten, dann bin ich angezogen und fertig für's Abenteuer." Sie legte auf und zog sich schnell ein paar geeignete Sachen an, bevor sie exakt zehn Minuten später aus der Tür trat und Ryon gegenüber stand. "Diesmal fragen wir aber einfach nach dem Weg, ok?" Als er ein leises Klopfen an der Wand hörte, war das wie eine Untermalung für Paiges Worte. Natürlich war er sich bewusst, dass sie nebenan wohnte. Bewusster hätte ihm das gar nicht mehr sein können. Aber genau darum ging es ja. Unnötige Dinge zu tun, die unnötig Geld kosteten, um sich unnötig die Zeit etwas zu vertreiben oder sich mit unnötigem Geplänkel aufzuhalten. Denn eigentlich, hätte man das amüsant finden können, wenn er denn etwas empfinden würde. So aber verabredete er sich mit ihr im Flur und legte auf. „Natürlich können wir das versuchen, aber … ich weiß nicht, wie dein Arabisch aussieht, aber meines ist ziemlich eingerostet.“ Oder besser gesagt, er hätte nicht einmal Hallo oder Ja und Nein auf dieser Sprache sagen können, obwohl er sich sogar einen Sprachführer mitgenommen hatte. Für alle Fälle, nur war er noch nicht dazu gekommen, ihn zu lesen. „Was hältst du davon, wenn wir uns einfach einmal auf dem Basar umsehen? Ich meine, wir sind weiter weg von London, als bisher. Wir haben sicher etwas Zeit und Tyler hat mich gedrängt ihm ein paar der orientalischen Gewürze mitzubringen, die es bei uns Zuhause nur in dürftiger Qualität gibt.“ "Ich gebe die Hoffnung immer noch nicht auf, dass es irgendwo auf dieser Welt eine Stadt gibt, in der die Unterwelt mit einem Schild als Stadtteil ausgewiesen wird." Mit ernsterem Gesichtsausdruck, als es die Aussage erforderte, hatte sie mit dem Zeigefinger in der Luft herum gewedelt und dann mit einem Grinsen zu Ryon aufgesehen. Nichts. Mit Mühe und Not verkniff sie sich ein Seufzen und sprach dann in ruhigem Ton weiter. "Ok, lass uns für Tyler einkaufen gehen. Hier gibt es doch so viele Touristen, dass ich mir vorstellen könnte, dass die Sprachbarriere nur eins der kleineren Probleme wird." Sie dachte darüber nach, welche Kreaturen wohl hier am häufigsten beheimatet waren. Bestimmt war der Anteil an Feuerdämonen relativ hoch. Dazu lud das Klima einfach ein. Und die Sphinx stand auch nicht ganz ohne Grund hier in der Nähe herum. An die Wand des Aufzugs gelehnt sah sie Ryon an. "Glaubst du, dass es hier irgendwo Greife gibt?" Ihre Augen strahlten bei der hoffnungsvollen Frage ein wenig. Diese Fabeltiere waren mehr oder weniger Paiges Einhörner. Schon immer hatte sie einen sehen und als Kind sogar einen als Haustier haben wollen. Natürlich war es eine völlig abwegige Vorstellung diese riesigen, geflügelten Tiere einzusperren, aber Kinderphantasien konnte man mit Fakten nur selten zerstören. "Ich würde zu gern mal einen berühren. Sie müssen wunderschön sein." „Greife?“ Ryon drehte seinen Kopf zu Paige herum und sah sie an. Eigentlich hätte man jetzt irgendeine Reaktion erwarten können. Ein Lächeln, ein Stirnrunzeln oder wenigstens das fragende Heben einer Augenbraue, aber da war nichts. Stattdessen richtete er seinen Blick wieder auf die geschlossenen Fahrstuhltüren. „Alles was ich über Greife weiß, ist die Art, wie sie aussehen. Wie sie allerdings leben und vor allem wo, übersteigt meinen Horizont.“ Und um ehrlich zu sein, er wusste zwar, dass es viele seltsame Wesen auf der Welt gab, hätte aber nicht gedacht, dass hier noch mehr herum streunten, als angenommen. Greife hätte er nun wirklich den Mythen und Legenden zugeschrieben und nicht den atmenden Tatsachen. Es gab wohl immer noch etwas über die Anderswelt dazuzulernen. „Wer weiß, vielleicht sehen wir ja wirklich welche. Interessant wäre es auf alle Fälle.“ Der Fahrstuhl blieb mit einem leisen Glockenton stehen und die Türen öffneten sich. Nun denn, auf ins Abenteuer! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)